Mit emotionaler Wucht : von Alejandro González Iñárritu

Autor(en): Ranze, Michael

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Filmbulletin : Zeitschrift für Film und Kino

Band (Jahr): 53 (2011)

Heft 313

PDF erstellt am: 25.09.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-864205

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Mit emotionaler Wucht biutiful von Alejandro Gonzalez Inarritu

Alejandro Gonzalez Inarritu ist ein Meister der dern, emotionale Wucht, aber auch kritische Authentizität. Verschränkung. Egal ob (2000), Der Regisseur wirft einen Blick auf soziale Missstände und (2003) oder zuletzt babel (2006) - stets verwebt der mexikanische Gegensätze. Er verbindet das Schicksal von Menschen, die Regisseur unterschiedliche Erzählstränge und setzt sich nicht kennen und doch in einem Punkt, in einem dabei einzelne Elemente aus Struktur und Zeit zu einem Moment, tragisch berühren. Ohne eine sorgfältige Inszenierung, einzigartigen Filmmosaik neu zusammen. Dabei fächert er mehrere ohne einen makellosen Schnitt wäre das nicht möglich. Milieus auf, so wie in amores perros, mehrere durch ein Schicksal verbundene Gruppen, so wie in 21 grams, sogar mehrere Kulturen und Kontinente, so wie in babel. Durchs Labyrinth Anlass der Erzählung kann ein Unfall sein, ein Gewehrschuss, biutiful ist nun sein linearster, zugänglichster Film. in jedem Fall eine Erschütterung, deren Stosswellen sich in Das bedeutet: Der Regisseur konzentriert sich, im Gegensatz verschiedenen Richtungen ausbreiten. Der kontinuierliche zu den Vorgängern, auf eine Hauptfigur und verfolgt chronologisch Wechsel zwischen den Erzählvignetten unterstreicht die deren letzte Lebenswochen. Doch Alejandro Gonzalez gegenseitige Abhängigkeit der Protagonisten. Nichts geschieht, Inarritu wäre nicht Inarritu, wenn er nicht in Subplots ohne dass es nicht jemand anderen beträfe. Dieses vignetten- verschiedene Webfäden auswürfe, die der Held aufgreifen und hafte Erzählen ist sicher von den Filmen eines Robert Altman mühsam miteinander verknüpfen muss. Er schickt seinen (nashville, short cuts) und eines Jim Jarmusch (mystery Helden durch ein Labyrinth, das viele Wege, aber nur ein Ziel train, night on earth) beeinflusst. Das Aufsplittern hat: Er muss das Leben mit dem Tod versöhnen. Da gibt es der Geschichte verleiht Inärritus Filmen, wie bei den Vorbil¬ keine gesicherten Antworten. EQ FILMBULLETIN 2.11

Im Mittelpunkt von biutiful steht Uxbal. Alejandro Barcelonas Drogen verkaufen. Durch Handauflegen stellt er Gonzalez Inärritu, der zusammen mit Amando Bo und Nicolas sogar Verbindung mit Verstorbenen her - gegen Bares, Giacobone auch das Drehbuch schrieb, charakterisiert ihn versteht sich. Das ist die eine Seite. selbst als «liebenden Vater, aufgewühlten Liebhaber, verlorenen Die andere zeigt ihn als verständnisvollen Vater, der Sohn, Geschäftsmann im Untergrund, sensiblen sich mit liebevoller Strenge um seine beiden Kinder, Mateo Spirituellen, Produkt-Piraten, einen Mann mit schlechtem und Ana, kümmert. Das muss er auch, denn seine Ex-Frau Gewissen, einen Überlebenden der Grossstadt». Ein Mann mit leidet an einer bipolaren Störung und ist dem Alltagsleben vielen Talenten also, die sich teilweise widersprechen und nicht mehr gewachsen. Uxbal ist trotz seiner illegalen Aktivitäten gegenseitig aufheben. und falschen Entscheidungen ein guter Mann. Doch die Uxbals Welt ist Santa Coloma, ein Vorort Barcelonas, Verhältnisse entziehen sich mehr und mehr seiner Kontrolle. in dem Senegalesen, Chinesen und Pakistani, Sinti und Dann entdeckt er beim morgendlichen Gang zur Toilette Blut

Roma, Rumänen und Indonesier friedlich und ohne Probleme im Urin. Die Diagnose: Prostatakrebs, der schon auf die Leber auf engstem Raum zusammenleben. Eine Art Parallelwelt, übergegriffen hat. Uxbal hat nur noch zwei Monate zu leben. wenn man so will, denn von Integration in die spanische Erst jetzt beginnt der eigentliche Film - die Geschichte eines Gesellschaft kann keine Rede sein. Und schon ist man bei Mannes, dem die Zeit davonläuft. Verzweifelt versucht er, im babel, in dem es ebenfalls um Abschottung und Einwanderung, komplizierten Labyrinth seines Lebens einen Ausweg zu Rassismus und Vorurteile ging. Inärritu zeigt uns finden, die Disparatheit seiner zahlreichen Geschäfte zu einem ein unbekanntes Barcelona. Dies ist nicht mehr die heimliche sinngebenden Ganzen zu fügen. Aber alles, was er mit den Hauptstadt Europas mit bedeutender Kultur und besten Absichten anfasst, zerrinnt ihm in den Händen. aufregendem Nachtleben. Dies ist eine Stadt der Illegalen und Immigranten, der Verbrecher und Polizisten, des Elends und des Schmutzes. Keine Spur von Sommer und Touristen. Bewegende Darstellung Barcelona - eine düster-gefährliche Metropolis. Es ist fast schon beängstigend mit anzusehen, wie Javier Bardem sich diese Rolle anverwandelt hat. Die Sorgen und Nöte drücken wie Blei auf seine Schultern, man sieht es Alles zerrinnt seinem gebeugten, schleppenden Gang und dem schweiss- Uxbal beschäftigt, zusammen mit seinem älteren, tropfenden Gesicht an. Bardem, der so abgrundtief böse sein unzuverlässigen Bruder Tito, illegal chinesische Einwanderer, konnte in no country for old men, so bestimmt verführerisch die für wenig Geld in einem düsteren Keller Taschen und in Vicky CRISTINA Barcelona und so feurig Sweatshirts nähen und gleich nebenan auf Pritschen schlafen. charmant in eat pray love, trägt das ganze Leid, den Er kopiert illegal Filme und verscherbelt sie. Er verdingt sich unausgesprochenen Schmerz, die beklemmende Trauer, die spürbare als Mittler zwischen schwarzen Dealern, die in der Innenstadt Todesangst seiner Filmfigur wie ein Kreuz mit sich herum. FILMBULLETIN 2.11 KINO IN AUGENHÖHE ES

Ein Blick in seine unsteten, niedergeschlagenen Augen offenbart zur Charakterisierung von biutiful gewählt: Der Regisseur sein ganzes Dilemma: Da liebt einer das Leben und hat es habe einen «emotionalen Tsunami» geschaffen. In der doch verloren - obwohl es noch soviel zu ordnen gibt. Tat, Alejandro Gonzalez Inärritu überrollt den Zuschauer mit Trotzdem hat Inärritu zusammen mit Bardem eine einer emotionalen Wucht und erzählerischen Themenvielfalt, Darstellung erarbeitet, die auch eine Geschichte der Hoffnung die - wenn man überhaupt davon sprechen will - die entfaltet. Uxbal akzeptiert seinen nahen Tod, er vergibt sich einzige Schwäche des Films ist. Der Regisseur will möglichst viel selbst und anderen und fühlt mit seinen Kindern, die bald sagen, über Krankheit und Tod, Hoffnung und Vergebung, Waisen sein werden - so wie er selbst ohne Vater aufwuchs. Verbrechen und Ausbeutung. Ein wenig hat er das Mass verloren. All das ist in Bardems bewegender, anrührender Darstellung Doch vielleicht ist es gerade diese Masslosigkeit, die aus enthalten. Es ist zweifellos die beste des vergangenen seinem Film ein so beeindruckendes und magnetisierendes Kinojahres (biutiful wurde bereits bei den Filmfestspielen von Meisterwerk gemacht hat. Cannes 2010 uraufgeführt). Dafür wurde Javier Bardem zurecht für den Oscar nominiert. Michael Ranze

Masslos Stab Regie: Alejandro Gonzalez Inärritu; Buch: Alejandro Gonzalez Inärritu, Armando Bo, biutiful, benannt nach einem Schreibfehler eines Nicoläs Giacobone; Kamera: Rodrigo Prieto; Schnitt: Stephen Mirrione; Ausstattung: Brigitte Broch; Kostüme: Bina Daigeler, Paco Delgado; Musik: Gustavo Santaolalla der Kinder, beginnt ganz leise, mit einem Flüstern. Vater und Tochter sprechen über einen Ring, der seit Generationen Darsteller (Rolle) Javier Bardem (Uxbal), Maricel Alvarez (Marambra, Uxbals Ex-Frau), Hanaa weitergereicht werde. Doch sehen die Hände. Während wir nur Bouchaib (Ana), Guillermo Estrella (Mateo), Eduard Fernandez (Tito, Uxbals Bruder), der Vater dem Mädchen den Ring überstreift, wechselt das Cheikh Ndiaye (Ekweme, Uxbals Arbeitspartner), Diaryatou Daff{Ige, Ekwemes Frau), Cheng Tai Shen (Hai), LuoJin (Liwei), George Chibuikwem Chukwuma (Samuel), Lang Bild zu einem Wald. Die Bäume sind kahl, zwei Männer grauen Sofio Lin (Li), Yodian Yang (Chino Obeso), Tuo Lin (Barman), Xueheng Chen (Chino - einer von ihnen ist Uxbal - treffen sich in der Kälte, eine Bodega) tote Eule liegt im Schnee. Wiederum etwas, was auf eine Produktion, Verleih Legende zurückgeht. In wenigen Momenten entwerfen Inärritu Menageatroz, Mod Producciones, in Co-Produktion mit Ikiru Films, in Zusammenarbeit mit Focus Features International unter Teilnahme von Television Espahola und Te- und sein ständiger Kameramann Rodrigo Prieto eine levisio de Catalunya; Produzenten: Alejandro Gonzalez Inärritu, Fernando Bovairajon entrückte, unwirkliche Traumwelt, die dem Realismus der nun Kilik; Co-Produzenten: Sandra Hermida, Ann Ruark; assoziierte Produzenten: Alfonso Cuarön, Guillermo del Toro. Mexiko 2010. Farbe; Dauer: 138 Min. CH-Verleih: folgenden Geschichte zu widersprechen scheint und ihm so Spanien, PathéFilms, Zürich zusätzliche Kraft verleiht. Nicht von ungefähr haben zwei Filmjournalistinnen aus unterschiedlichen Ländern, Betsy Sharkey aus Los Angeles und Katja Nicodemus aus Berlin, denselben Terminus