1000 x Dialog, 1000 x Toleranz Laudatio von Barbara Stolterfoht, Staatsministerin a.D., anlässlich der Ehrung der „Lindenstraße“ mit der Skulptur „Dialog & Toleranz“ des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes

Vor ziemlich genau 19 Jahren, am 8. Dezember 1985, ziehen Siegfried und Elfie Kronmeyer ein in die Lindenstraße Nr. 3, München. Mit dieser Folge hält auch die Lindenstraße selbst Einzug in unsere Wohnzimmer. Die Handlung ist da noch wenig spektakulär: Klausi Beimer hat die Masern, Benny Beimer ist im Stimmbruch, Marion Beimer hat einen neuen Freund. Joschi Bennarsch produziert Lindenblütenhonig, ein Mietvertrag wird unterschrieben und Else Kling studiert das Führungszeugnis des neuen Mitmieters. Alles in allem wenig spektakulär – und dennoch der Auftakt einer Erfolgsgeschichte, wie sie das deutsche Fernsehen selten gesehen hat.

Heute ist die Lindenstraße eine unter vielen Serien, aber sie ist dennoch weiter einzigartig: „Verbotene Liebe“, „Marienhof“, „Unter uns“, „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ und – nomen est omen - „Samt und Seide“ spielen in der Welt der Reichen und Schönen und zeigen eine Welt, wie sie mit der Realität ihrer Zuschauer wenig zu tun haben dürfte.

Die in diesen Sendungen propagierte Ethik kommt nicht weit über eine populäre Interpretation Macchiavellis hinaus. Andere Serien – vom „Forsthaus Falkenau“ über die „Schwarzaldklinik“ bis zum „Traumschiff“ – transportieren ein konservatives Weltbild und achten peinlich genau darauf, dass gesellschaftliche Probleme und gesellschaftliche Gruppen, die nicht in die heile Welt der Serien passen, außen vor bleiben. Das Weltbild all dieser Serien verhält sich damit zur Wirklichkeit wie das Landschaftsbild einer Schneekugel zum Geschehen am Bahnhofsvorplatz.

Anders die Lindenstrasse. Sie macht die Lebenswelt des durchschnittlichen Menschen zum Thema – und ist damit bis heute ein Exot unter den Serien geblieben, nachdem die „Wiecherts von Nebenan“, die „Drombuschs“, „Motzki“ und einige andere Versuche längst gescheitert sind. Dabei ist der Ansatz selbst nicht neu.

- Seite 1 - In Großbritannien brach 1960 erstmals die Serie „Coronation Street“ mit der amerikanischen Tradition, dass Serien im Milieu derer zu spielen haben, die sich über Geld keine Sorgen machen müssen – von „Dallas“ über den „Denver Clan“ bis hin zu „Sex and the city“. „Coronation Street“ dagegen spielte im Arbeitermilieu und wurde seinerseits zu einer ungemein erfolgreichen Serie.

Auch in Deutschland gab es Ansätze dazu, beispielsweise Anfang der 70er Jahre Rainer Werner Fassbinders „Acht Stunden sind kein Tag“. Fassbinder thematisierte darin den Alltag des Werkzeugmachers Jochen, die Wohnungssuche älterer Menschen, vernachlässigte Kinder und die Verlagerung des Arbeitsplatzes. Der WDR setzte die Sendung dennoch – und manche meinen: deswegen – bereits nach fünf Folgen wieder ab.

Eine leidvolle Fernsehzuschauererfahrung ist heute: Ein gesellschaftskritischer Ansatz endet im Fernsehen immer da, wo die Diskussion um die Quote beginnt. Die Lindestraße ist – und auch dies gilt es zu würdigen – die Ausnahme von dieser Regel.

Sie schafft es, persönliche und gesellschaftliche Probleme zu thematisieren, ohne zu moralisieren. Sie ist kein Spiegel der Gesellschaft, aber auf den wenigen Quadratmetern in der Lindenstraße bündeln sich Problemlagen in erheblicher Konzentration.

Herbert Lichtenfels, Autor der Schwarzwaldklinik, formulierte deshalb anfangs: Die Menschen seien „lieber krank in der Schwarzwaldklinik als gesund in der Lindenstraße.“ Heute halten die Zuschauerinnen und Zuschauer der Lindenstraße weiter die Treue. Die Schwarzwaldklinik gibt es dagegen schon lange nicht mehr.

Was macht den Erfolg der Lindenstraße aus? Vor allem ist es, dass die Sendung in der Darstellung der Entwicklungen, Irrungen und Verwirrungen der dargestellten Charaktere immer authentisch bleibt. Bei keinem der Charaktere hat man das Gefühl, er könne eben nicht in der Wohnung nebenan leben. In den Rubriken der Boulevardpresse haben die Darsteller deshalb auch keinen festen Platz. Das kommt auch nicht von ungefähr: Während in einer regulären Soap meistens nicht einmal mehr als zwei Minuten Sendezeit auf eine Szene verwandt werden, lässt man den Charakteren in der Lindenstraße Zeit, um sich zu entwickeln. Eine Schwangerschaft dauert so in der Lindenstraße neun Monate – wie im Leben eben.

- Seite 2 - Die Lindenstraße ist kein Spiegel der Realität, aber sie erzählt eben auch nicht nur herkömmliche Geschichten. Sie bietet vielmehr einen Raum, in welchem die Hoffnungen und Wünsche der Charaktere mit der sozialen Realität konfrontiert werden. Es gibt auch keine klare Rollenverteilung nach dem Gut-Böse-Schema und das „Happy end“ ist keineswegs programmiert.

Wie ein Prisma einen Lichtstrahl bricht, wird in der Lindenstraße das Haus Lindenstraße Nr. 3 als Summe individueller Schicksale präsentiert.

Jeder Charakter hat seine Stärken und Schwächen, und Wünsche münden in der Lindenstraße gerade nicht im Auftritt der guten Fee, sondern mitunter auch in einer verwerflichen Handlung, wenn beispielsweise ein unerfüllter Kinderwunsch in der Entführung eines Säuglings mündet oder wenn die mangelnde Chance, Kindererziehung und Beruf zu verbinden, in der Ruhigstellung des Kindes mit Medikamenten endet.

Das heißt aber auch: Die Lindenstraße nimmt den Zuschauer ernst. Sie will keine Kunstwelt schaffen, die nichts mit der Wirklichkeit der Menschen zu tun hat. Sie schafft Identifikationsangebote, sie erkennt die alltägliche Erfahrung an, dass zwischen Wunsch und Wirklichkeit im Alltag eine beträchtliche Kluft ist. Sie will kein Lehrstück bieten, sie präsentiert nicht moralisierend Handlungsanweisungen für die Menschen, sondern sie stellt sie demokratisch zur Debatte. Die Lindenstraße regt an, zum Nachdenken und zum Handeln, und sie thematisiert offen gesellschaftliche Probleme.

Nicht jeder wird alle nun fast 1000 Folgen verfolgt haben, ich eingeschlossen, weshalb ich einige Beispiele nennen möchte, wie soziale Probleme thematisiert werden.

Die Lindenstraße ist dabei nicht nur reich an Folgen, sondern wirkt manchmal auch folgenreich. So wusste das nordrhein-westfälische Gesundheitsministerium im November 1988 zu berichten, dass die Anfragen aus der Bevölkerung bzgl. der Aufklärung über AIDS sich verdoppelt hatten, nachdem Benno Zimmermann in der Lindenstraße an AIDS erkrankte.

- Seite 3 - Benno Zimmermann wurde in der Sendung aufgrund dieser Krankheit als Schreiner in einer Behindertenwerkstatt entlassen, was Chris in der 149. Folge dazu bewegte, den damaligen bayerischen Staatssekretär Peter Gauweiler derart zu beschimpfen, dass ein vierjähriger Rechtsstreit über drei Instanzen die Folge war, bevor das Oberlandesgericht Köln die Redefreiheit der Lindenstraße bestätigte. Im Bayerischen Rundfunk fiel das Zitat übrigens der Schere zur Opfer.

Während Migranten in anderen Serien nur in Form des reichen Prinzensohnes vorkommen, der als DJ in einem Szeneclub arbeitet, scheut die Lindenstraße nicht davor zurück, auch Abschiebungen zu thematisieren. So wird Mary, die in der Lindenstraße mit dem griechischen Wirt Vasily zusammenlebt, in einer Folge abgeschoben. Die Scheinehe zum Erwerb der Aufenthaltserlaubnis kommt aber ebenso vor die die junge Türkin, die vor einer Zwangsheirat in der Türkei vor ihrer Familie in die Lindenstraße flüchtet.

Einen gesellschaftlichen Skandal erzeugte die Lindenstraße, als ein Kuss zwischen Carsten Flöter und seinem Freund Robert mit der gleichen Selbstverständlichkeit gezeigt wurde, wie auch heterosexuelle Liebesbeziehungen dargestellt werden. Im Zuge der Wiedervereinigung verließ auch die Lindenstraße Haus Nr. 3 und drehte Folge 334 im ostdeutschen Borna. Später noch tourte die Lindenstraße durch 15 ostdeutsche Städte, einfach um den Menschen näher zu kommen. Im Januar 1991, als der Golfkrieg die Welt und die Menschen in Sorge hielt, thematisierte die Lindenstraße auch dies kritisch. Der Streit um die Atomkraft kam ebenso vor wie das Windrad, was als Alternative sich bis Anfang 1992 auf dem Dach der Lindenstraße drehte.

Menschen mit Behinderungen wurden in der Lindenstraße ganz selbstverständlich als Charaktere und Darsteller eingebunden: In unserer Medienlandschaft ist es aber leider keine Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich ist es auch nicht, dass die Probleme von Alleinerziehenden bei der Erwerbstätigkeit Gegenstand einer Serie sind, genauso wenig wie es selbstverständlich ist, dass Sucht, Krankheit, Leid und Tod thematisiert werden. In der Lindenstraße kommt dies alles vor: Magersucht und Schwerhörigkeit, Bulimie und AIDS, Arbeitslosigkeit und Armut, Homosexualität und Flüchtlingsfragen, ungewollte Kinderlosigkeit und selbst kontroverse Themen wie Sterbehilfe werden in der Serie thematisiert. Eine heile Welt gibt es dort nicht. Selbst die Familie als Zufluchtsort erscheint in der Lindenstraße nicht mehr intakt – ganz wie in der Wirklichkeit.

- Seite 4 - Die Liste der Beispiele ließe sich schier unendlich fortsetzen. Kaum ein gesellschaftlicher Misstand, kaum ein soziales Problem, welches nicht schon in der Lindenstraße stattgefunden hätte. Licht und Schatten des Alltags und die Boshaftigkeit und Großartigkeit der Menschen, das ist Gegenstand der Lindenstraße. Dieser Kontrast schärft den Blick für den eigenen Alltag. Wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, sind dabei nicht passiv, sondern haben Teil.

Die Lindenstraße steht mit ihrem Wirken in nahezu 1000 Folgen für Dialog und Toleranz im besten Sinne. Sie ist unparteiisch, aber parteilich für jene, die sich aus eigener Kraft nicht artikulieren können. Sie wirkt als Serie, in dem das Fernsehen als Medium der Aufklärung genutzt wird.

Aber nicht nur das: Die Darstellerinnen und Darsteller wirken auch außerhalb der Sendung, indem sie sich mit ihrer Prominenz und ihrem Engagement für soziale Anliegen einsetzen.

Wenn wir heute die Lindenstraße würdigen, dann würdigen wir nicht nur die Serie selbst als eine Institution, sondern auch das Engagement der Darstellerinnen und Darstellern.

Ihnen, lieber Herr Geissendörfer, und den heute hier anwesenden Darstellerinnen und Darstellern, möchte ich auch dafür herzlich danken.

Der PARITÄTISCHE hat den Künstler Robert van de Laar gebeten, die Begriffe Toleranz, Offenheit und Vielfalt – Prinzipien des PARITÄTISCHEN und zugleich Charakteristika der Lindenstraße – künstlerisch zu interpretieren. Ergebnis seines Schaffens ist die PARITÄTISCHE Skulptur „Dialog und Toleranz“. Der Künstler selbst schrieb dazu: „Dialog und Toleranz sind Begriff, die Eigenschaften und Fähigkeiten beinhalten, die in Handlungen ihren Ausdruck finden, Die Hände, auf beiden Seiten der Arbeit angebracht, sollen dieses Handeln repräsentieren. Durch eine zugewandte (eigene) Seite wird die andere Seite (die des anderen) sichtbar. Beide Seiten ergänzen sich“.

Diese Skulptur „Dialog und Toleranz“ wird heute erst zum zweiten Mal vergeben.

Erhalten wird sie das Team der Lindenstraße als Auszeichnung für sein Wirken vor und hinter den Kameras, für fast 1000 Folgen des Dialogs und praktizierter Toleranz.

- Seite 5 - Der Medienkritiker Georg Seeßlen schrieb einmal über die Lindenstraße: „Das, was wir von der Welt wissen können, wenn wir Zeitung lesen und ihr nicht ganz trauen, das ist auch in der Lindenstraße vorgekommen. Die Lindenstraße ist nur ein bisschen und nur ein bisschen deutsche Familienserie, vielmehr ist sie eine Institution geworden, eine deutsche Chronik, in der man sich so viel „Wahrheit“ über die laufenden Ereignisse abholt wie einst vom Spiegel. (…) Wir brauchen die Lindenstraße, sonst hätten wir gar kein Gewissen mehr“.

Ich bin froh, dass der Intendant des WDR, Fritz Pleitgen, in einem Schreiben an unseren Verband deutlich gemacht hat, dass er die Bedeutung der Lindenstraße für die Gesellschaft, aber nicht zuletzt auch für die Reputation des Senders hoch schätzt.

Fritz Pleitgen schrieb: „Die Sendung ermutigt dazu, sich für andere zu interessieren, ihre Nöte wahrzunehmen und Solidarität zu üben. Sie emanzipiert, in dem sie engstirnige Tabus bricht und zu fortschrittlichem Denken anregt, und zwar nachhaltig wie kein anderes Programm.“

Dem kann ich nur zustimmen, und deshalb ist es mir heute eine besondere Freude, Herrn Hans W. Geissendörfer und den anwesenden Darstellerinnen und Darstellern – Frau Peplow, Herrn Luger und Herrn Vincon – stellvertretend für das ganze Team der Lindenstraße als höchste Auszeichnung unseres Verbandes die Skulptur „Dialog & Toleranz“ zu überreichen.

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