Forum für historische Kommunikationsforschung

ZEIT

Spiitc Aufarbeitung der Rolle der Zeitungswissenschaft 1933— 1945

„Das Große Tabu“ Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit

Faszination Drittes Reich Kulturmetropole 1938

was mein ... wirkliches Leben ist“ Über Alfred Schütz

Anmerkungen zu den Österreichischen Film-Tagen 1987

4/87 Jahrgang 2 Mcdieninhaber und Herausgeber: Verein „Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK)“, 1014 Wien, Postfach 208; Vorstand des AHK: DDr. Oliver Rathkolb (Obmann), Dr. Hannes Haas (Obmann-Stv.), Dr. Roman Hummel (Obmann-Stv.), Dr. Wolfgang Duchkowitsch (Geschäftsführer), Dr. Peter Malina (Geschäfts- führer-Stv.), Margit Suppan (Kassierin), Dr. Theodor Venus (Kassier-Stv.), Margit Steiger (Schriftführerin), Dr. Fritz Hausjell (Schriftführer-Stv.)

Korrespondenten: Dr. Hans Bohrmann (Dortmund), Dr. Robert Knight (London), Dr. Arnulf Kutsch (Münster), Dr. Edmund Schulz (Leipzig)

Redaktion: Vorstand des AHK; redaktionelle Leitung dieses Heftes: DDr. Oliver Rathkolb, Dr. Theodor Venus

Hersteller: Satz und Layout: Ulrike Horak Druckvorlage: Fa. Adolf Holzhausens Nfg., 1070 Wien, Kandlgasse 19—21 Druck: HTU, Wirtschaftsbetriebe Ges. m. b. H., 1040 Gußhausstraße 27—29

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ISSN 0259—7446 Medien & Zeit 4/87

Inhalt Editorial

Die späte Einsicht. Ein Essay über die fehlende Bereits 1987 wirft der ,März 1988" seine dunklen Aufarbeitung der Rolle der Zeitungswissenschaft Schatten auf Österreich, und die politisch aktive zwischen 1933 und 1945. Öffentlichkeit stellt sich die manchmal bange Frage, Hannes H a a s ...... 3 wie dem ,Anschluß 1938" an das Deutsche Reich in „Die Geschichte entläßt niemanden“. Das große der gegenwärtigen Diskussion um den , Waldheim- Tabu Österreichs: Sein Umgang mit der Ver­ Komplex' adäquat,gedacht' werden könne, ohne sich gangenheit. erneut im Spiegel der westlichen demokratischen Peter Malina...... 12 Kultur zu blamieren. Faszination Drittes Reich Kunst und Alltag Da sich die Redaktion von Medien & Zeit der Kulturmetropole Salzburg 1938. Gedanken zu dieser Problemstellung gemacht hat, Gert Kerschbaumer...... 24 sollen die folgenden Beiträge auf einen für Juni 1988 geplanten Sammelband von Medien <£ Zeit über Die Tangenten Veruntreute Wahrheit. Hitlers Propagandisten in „... was mein Traum, meine Phantasie, mein Österreich ’38’ sozusagen ,einstimmen'. wirkliches Leben ist.“ Ein Hinweis auf Alfred Schütz. Hannes Haas thematisiert jenen Reflcxionsbc- Eugen Semrau...... 30 reieh, der von Wissenschaftlern meist ausgeklammert wird, da er die ,Geschichte' der eigenen Forschungs­ Rückblicke und Ausblicke. Anmerkungen zu den disziplin betrifft und damit an den eigenen Wurzeln österreichischen Film-Tagen 1987. rüttelt im konkreten Fall an der Rolle der Zeitungs­ Georg H aberl...... 33 wissenschaft im Dritten Reich seit 1933. Rezensionen Da diese Nummer ausschließlich ,Tabu-Themen' Hannes Haas, Wolfgang Duchkowitsch...... 34 gewidmet ist, setzt sich Peter Malina am Beispiel des Sammelbandes Das Große Tabu, hrsg. v. Anton Pelinka und Erika Weinzierl, mit den vielschichtigen Analyseebenen der ,Bewältigung' der NS-Vergangen- heit in Österreich auseinander. Dieser Aufsatz geht über den üblichen Rahmen einer Rezension hinaus, da der Autor grundsätzliche Überlegungen über den gesamten Bereich der viel diskutierten und umstritte­ nen ,Österreichischen Vergangenheitsbewältigung' anstellt. Als konkrete Fallstudie innerhalb dieses umfang­ reichen Themenkatalogs beschreibt und analysiert Gert Kerschbaumer die Nationalsozialistische Machtübernahme' in der Salzburger Kulturszene 1938. Dank der freundlichen Unterstützung durch den Otto Müller Verlag ist es möglich, einen Vorab­ druck zu publizieren. Die umfassende Monographie Kerschbaumers über Faszination Drittes Reich. Kunst und Alltag der Kulturmetropole Salzburg 193S wird im Februar 1988 erscheinen. Am Beispiel der politischen Auseinandersetzungen über die Literaturszene in Salzburg vor und und unmittelbar nach dem A n­ schluß' wird der kulturpolitische Grad der Nazifizie- rung und Faschisierung mit erschreckender Deutlich­ keit nachvollzogen ein Zeitgemälde, das sicherlich noch zu einer Reihe von Diskussionen Anlaß geben wird. ? Medien & Zeit 4/87

Abgerundet wird dieses Sehwerpunktheft mit für die nächsten Jahre skizzieren und mithelfen, biographischen Betrachtungen Eugen Semraus über umfassende Programmvorstcllungen einer kritischen den aus Österreich vertriebenen und in die USA historischen Kommunikationswissenschaft zu ent­ emigrierten Soziologen und Sozialwissenschaftler Al­ wickeln abseits der programmierten fred Schütz. Jubiläumsgeschichtsschreibung mit Kurzzeitgedächt­ nis. Medien & Zeit wird diesen Themen sicherlich Die Redaktion ist sich darüber im klaren, daß auch in den folgenden Jahren Aufmerksamkeit schen­ trotz individuell-inhaltlicher Dichte die Beiträge Fragmente bleiben ,müssen1, doch sollen sie paradig­ ken. matisch einige notwendige Forschungsschwerpunkte

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Wolfgang D uchkowitsch, Dr. phil., Lehrbeauftragter am Institut für Publizistik und Kommunikationswissen - Schaft der Universität Wien Georg Haberl, Dr. phil., Fi Im Wissenschaftler; Lehrbeauftragter am Institut für Publizistik und Kommunika - tionswisscnschaft der Universität Wien Hannes Haas, Dr. phil., Universitätsassistent am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien Gert KeRSCHBAUMER, Dr. phil., Historiker in Salzburg Peter Mai.INA, Dr. phil., Bibliothekar am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien L ugen SEM RAU, Dr. phil., Universitätsassistent am Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien Medien & Zeit 4/87 3

gegenüber dem Nationalsozialismus haben sich die Wissenschaften eines nur nach der Aufarbeitung Hannes Haas dieser ungeklärten historischen Konflikte möglichen unbelasteten Neuanfanges beraubt. Die späte Einsicht Während Wissenschaftsgeschichte prosperiert, mangelte es bis vor wenigen Jahren noch an konzen­ Ein Essay über die fehlende Aufarbeitung trierten Anstrengungen, diese spezielle Wissen­ der Rolle der Zeitungswissenschaft schaftsgeschichte' zu behandeln. Mainstream-The­ zwischen 1933 und 1945 men einer Wissenschaft sehen eben anders aus: Wenn von Fachgeschichte die Rede ist, so meint dies v. a. die E Geschichte der Vorläufer, der universitären Institu­ tionalisierung, neuerdings die biographisch-narrative Beschreibung der Karriereverläufe prominenter In einem kürzlich in der Zeit erschienenen Arti­ Fach Vertreter, die Untersuchung früher Themen und kel mit dem Titel Methodenrausch im Vakuum1 be­ Forschungsansätze sowie Methodeninnovationen, rührt der Germanistikprofessor und Fachkritiker die sich in der einen oder anderen Form adaptiert an Joachim Dyck dunkle Punkte der Fachgeschichte und heutige Erfordernisse (wieder)entdecken lassen. Nur deren mangelnde Verarbeitung. „Germanistik und selten aber werden die neuralgische Zeitspanne Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie“ hat­ 1933—1945 und das Verhalten der Exponenten des te das Thema des Germanistentages, dem dieser Faches zum Untersuchungsobjekt. Das hat seine Referattext entstammt, gelautet. Trotz der augen­ Gründe: Die involvierte Forschergeneration hatte scheinlichen formalen Themen Verfehlung trifft er den wenig Interesse an der Aufarbeitung der eigenen Kern eines für viele Wissenschaften zentralen Pro­ Vergangenheit und cxkulpierte sich häufig mit Hin­ blems, das nach wie vor allgemein traurige Aktualität weisen auf die distanzierte Haltung dem Regime beansprucht: die beschämende Tabuisierung der eige­ gegenüber, mit der Eigendefinition des Emigranten nen Fachgeschichte in den Jahren 1933 und 1945. Vor nach Innen. Wer zur physischen Emigration gezwun­ dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der zuneh­ gen war bzw. sich aus Gewissensgründen dafür ent­ menden budgetären Aushungerung der Geistes- und schieden hatte, blieb auch nach der Befreiung von der Gesellschaftswissenschaften stellt er sich scharf gegen NS-Herrschaft vergessen. Auch das offizielle Öster­ die geläufigen Strategien vorauseilender Anpassung reich hatte cs verabsäumt, die Vertriebenen und dieser Wissenschaften an erwartbare künftige Gesell- Emigrierten zurückzubitten, ihnen entsprechende schaftsbedürfnisse durch die opportunistische Suche Möglichkeiten für ihre Rückkehr bereitzustellenL möglicher wissenschaftlicher Marktnischen zum Nut­ Was bleibt, ist peinlicher Zynismus, der sich auf die zen einzelner Institute und Personen, aber zum Scha­ „großen Töchter und Söhne beruft, die dieses Land den des Faches. Statt dessen plädiert Dyck für eine hervorgebracht hat und die es in der Welt zu etwas „historische Selbstbesinnung“, für eine konzentrierte gebracht hätten“ (und wie dergleichen Formulierun­ kritische Aufarbeitung der Geschichte der Disziplin gen noch heißen mögen) und geflissentlich die weite­ vor allem im Dritten Reich und des jedenfalls bruchlo­ ren Erklärungen zu den Hintergründen ihrer ,Aus­ sen, meist auch folgenlosen Überganges in eine elfen- landstätigkeit' verschweigt. Die überwiegende Zahl beintürmene Sicherheit des ,geschützen Bereiches' Universität und der Flucht in die esoterische Sicher­ der ,Nachgeborenen' wiederum will die wissenschaft­ heit der konfliktfreien Themen. liche Qualifikation nicht mit möglicherweise karriere- feindlichen Außenseiterthemen unter Beweis stellen, Seine zentralen Thesen treffen nicht bloß auf die friktionsfreicre Themen lassen sich da allemal Germanistik, sondern im selben Maße auch auf finden. andere Fächer, nicht zuletzt die (damalige) Zeitungs­ Wie aber kann eine wissenschaftliche Disziplin wissenschaft zu. Für diese wie für jene gilt Dycks systematischen Zugang zu ihrer Vergangenheit fin­ Feststellung: „Der Wechsel aus der Diktatur in die den? Dazu bieten sich verschiedene Wege an: Demokratie bereitete ihr ebensowenig Schwierigkei­ ten wie vormals der Weg aus der Demokratie in die Diktatur. (...). Sie ist ihrer Liebe zur Konformität treu Geschichte der Vorläufer geblieben und hat, wie alle Deutschen, möglichst Geschichte der Institutionalisierung lange vermieden, Trauer über ihre furchteinflößende Analyse der wissenschaftlichen Entstehungsmi Rolle während des Dritten Reiches hochkommen zu lieus lassen.“2 Durch Verdrängung und Vermeidung der - biographische Forschungen zu den Fachvertre Frage nach der moralischen Schuld, nach den Ursa­ tern chen und Folgen der bedingungslosen Servilität Methoden- und Theoriegeschichte 4 Hannes Maas Medien & Zeit 4/87

Untersuchungen der wissenschaftlichen Produk­ das kritische Selbstbild über die Haltung der Disziplin tion (Bücher, Diplomarbeiten, Dissertationen, und ihrer führenden Fachvertreter, der Servilität des Habilitationsschriften, Aufsätze, Rezensionen Faches dem NS-Regime gegenüber, im Beitrag von etc.) Joachim Dyck; die Auseinandersetzung mit den infra­ strukturellen Rahmenbedingungen am Beispiel der Bleiben wir noch bei der Germanistik: Wie weit Verlagsgeschichte von Murray G. Hall; schließlich als gelten die einleitend referierten Befunde Dycks für die dritten Weg die Studie von Gerhard Renner. Diese österreichische Germanistik? Auch hier steht die genannten Möglichkeiten und darüber hinaus noch Beschäftigung mit der Geschichte des Faches und die natürlich zentrale Analyse der literarischen Pro­ seinen prominenten Vertretern quantitativ nicht im duktion sowie methodisch die Bereicherung durch Mittelpunkt konzentrierten Forschungsinteresses der Fallstudien, die im Einzelfall das Symptomatische Disziplin, die wichtigsten Arbeiten werden von jünge­ jeweils genauer und konkreter demonstrieren, enthält ren Wissenschaftern geleistet. Im Zentrum der Unter­ der von den Klagenfurter Germanisten Klaus Amann suchungen stehen zunächst die infrastrukturellen und Albert Berger herausgegebene Band: Österreichi­ Voraussetzungen und Veränderungen, die am Ende sche Literatur der dreißiger Jahre1. Darin werden die der Ersten Republik, während des austrofaschisti- ideologischen Voraussetzungen, die sich ja 1933 und schen Ständestaates und schließlich nach dem A n ­ 1938 änderten, ebenso behandelt wie die Übergänge schluß4 geschaffen wurden. Ich denke dabei an die zur,Neugermanistik4 an den Innsbrucker, Grazer und beispielhafte Verlagsgeschichte von Murray G. Hall4, Wiener Instituten, also die legitimatorischen Funktio­ die etwa im Zusammenhang mit der Beschreibung der nen der ,Neugermanistik4 mit der Betonung des Verlags-,Arisierungen4 nach dem Anschluß4 zu hefti­ Österreichertums und dem anschließend notwendigen gen, z. T. vor Gericht anhängigen Kontroversen Richtungswechsel zum Deutschtum. Zieht man zu führte. Gerade bei so rechercheintensiven Arbeiten den genannten Arbeiten noch jene von Klaus Amann zeigt sich auch das forschungspolitische Problem der über die Geschichte des P. E. N.-Clubs8 oder von in Österreich ungewöhnlich restriktiv praktizierten Friedbert Aspetsberger über das Literarische Lehen und mit dem Datenschutzgesetz begründeten langen im Austrofaschismus9 heran, dann zeigt sich, daß die Archiv- und Aktensperren. Eine Liberalisierung in österreichische Germanistik durchaus auf Arbeiten der Handhabung dieser Vorschriften für wissen­ zur Disziplingeschichte zumindest bis 1938 verweisen schaftliche Zwecke, wie sie in fast allen westlichen kann. Über die Germanistik im Dritten Reich ist aber Demokratien üblich ist, könnte das Land dem peinli­ auch in Österreich noch vieles nachzuholen. chen Vorwurf entziehen, unter dem Vorwand des ln der Einleitung zu ihrem Band stellen Amann Schutzes der Daten letztlich bloß die unangenehme und Berger Überlegungen an, warum die wissen­ Vergangenheit zu schützen5. schaftliche Behandlung dieser Fragen erst jetzt begon­ Ebenfalls zur erwähnten Infrastrukturforschung nen werde. Sie kommen zum Schluß, daß es ganz zählen Arbeiten wie die Dissertation Gerhard Ren­ offensichtlich „eines Generationswechsels in der Lite­ ners6 über den Bund deutscher Schriftsteller Öster­ raturwissenschaft (bedurft hatte, Anm. H. H.), ehe die reichs, einer noch im Ständestaat gegründeten NS- Dunkelzonen der österreichischen Literaturgeschich­ Vorfeldorganisation. Um den Zugang zum großen te der jüngeren Zeit, jener in der aktuellen Politik und deutschen Markt offen zu halten, leisteten diese in der Medienindustrie oft mit Mahndaten (,19334, österreichischen Schriftsteller vorauseilend Gehor­ ,1934‘, ,19384) beschworenen dreißiger Jahre, einer samkeitsadressen und begeisterte Sympathiekundge­ schärferen Ausdeutung unterzogen werden konn­ bungen für den Nationalsozialismus. Einige unter ten.4410 ihnen wurden und werden aber durchaus für würdig Ein solches Mahndatum steht mit dem Gedenk­ befunden, in Schulbüchern für die Jugend beispielhaft jahr 1938 unmittelbar bevor und seit Jahresmitte ’87 vertreten zu sein. Ihr Bekenntnis zum Austrofaschis­ werden die entsprechenden Forschungsprojekte vor­ mus wie später zum Nationalsozialismus hat zu bereitet, sind die Verträge mit den Buchverlagen keinen Proteststürmen der Germanistik geführt. Die fixiert, erscheinen bereits die ersten Bücher, die damit Kritik einzelner Forscher konnte diesen Umstand dem für kommendes Jahr erwarteten Publikations­ mangels institutioneller Unterstützung nicht mit ent­ boom marketingversiert vorauseilen, haben die Me­ sprechendem Druck öffentlich machen. Hier liegt ein dien ihre Programme zum Gedenkjahr geplant. Ge­ eindeutiges Versagen der Wissenschaft vor, die sich schichte hat Konjunktur. Aber über diese begrüßens­ mutiger und vor allem schon früher mit dieser Proble­ werte Tatsache hinaus muß ergänzt werden: Die matik hätte auseinandersetzen müssen. termingerechte Thematisierung von Vergangenheit Ich habe bisher für die Germanistik paradigma­ und der zu den jeweiligen Mahndaten gestellte gesell­ tisch drei Zugangsmöglichkeiten für eine Auseinan­ schaftliche Auftrag ihrer Aufarbeitung müssen dersetzung mit der Geschichte aufgezeigt: zunächst Medien & Zeit 4/87 Zeitungswissenschaft 1933 1943 5

notwendigerweise unter dieser Kurzfristigkeit leiden. Studien zur Soziologie unter dem Nationalsozialis­ Dem Zwang, möglichst rasch ,Ergebnissek zu präsen­ mus unter dem Titel Geist und Katastrophe,6. Carsten tieren, stehen die jahrelang verabsäumten Quellen- Klingemann stellte die Frage nach Unerwünschten und Grundlagenforschungen gegenüber. Damit be­ Traditionsbeständen deutscher Soziologie zwischen steht auch die Gefahr, die Chance einer wirklich 1933 und /94517, René König publizierte zum Ver­ grundsätzlichen Enttabuisierung der Vergangenheit meintlichen Ende der Soziologie vor der Machtergrei­ des Landes und seiner Institutionen leichtfertig zu fung des Nationalsozialismus^ und 1981 widmete die vergeben. Denn die für diese Aufarbeitung bercitge- Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholo­ stellten großzügigen Mittel sind auch — eine gie diesem Thema ein von M. Rainer Lepsius heraus­ Investition zur Verbesserung des nachhaltig rampo­ gegebenes Sonderheft19. nierten Images Österreichs. Erst eine über den Ge­ Daß es die Geschichtslüge über das eigene Fach denktermin hinausgehende Ermöglichung der For­ auch in der Soziologie gibt, ist Ausgangspunkt für die schungsarbeiten kann gültiger Gradmesser dafür sein, erwähnte Arbeit des Bielefelder Soziologen Ramm­ wie sehr die Forschungsverwaltung an profunder stedt. Die These, daß mit der Machtergreifung durch Vergangenheitsrecherche interessiert ist. Es ist also den Nationalsozialismus das Fach zu bestehen aufge­ gut, wenn Geschichte Konjuktur hat, aber schlecht, hört habe, widerlegt er mit Literaturhinweisen in wenn sie von der Konjuktur abhängig ist. einem 220-seitigen (!) Anhang: Soziologische Literatur im Dritten Reich20. Er zeigt als weiteres Indiz, daß die II. Zahl der Lehrstühle für Soziologie 1944/45 ebenso größer war als 1933/34 wie die Zahl der wissenschaft­ Für die Publizistik- und Kommunikationswis­ lichen Mitarbeiter. Sein Fazit: Die Soziologie habe es senschaft muß festgehalten werden, daß sie sich mit erst während des Dritten Reiches wirklich geschafft, der eigenen Vergangenheit viel zu wenig und wenn, sich universitär zu etablieren. Und so wie ,1933‘ keine dann nur sehr selektiv beschäftigt hat. Weder liegt wirkliche Zäsur für das Fach bedeutet habe, wäre eine zusammenfassende Geschichte des Faches vor, auch ,1945‘ keine gewesen. Eine angewandte Sozial­ wie sie die Ursprünge bis in die 20er Jahre abdeckend wissenschaft vermag letztlich für jedes Herrschaftssy­ von Otto Groth11 in Angriff genommen worden war, stem wichtige Funktionen zu erfüllen. Es ändern sich noch eine größere Synthese der einzelnen Institutsge­ (meist) die Institutsbesetzungen, (manchmal) die Me­ schichten, die zudem noch aufgrund unterschiedlicher thoden, (fast immer) die wissenschaftlichen Referenz­ Schwerpunktsetzungen der Bearbeiter erschwert größen des Faches und vor allem die Themen der wird. Gesamtschauen wie sie etwa in jüngster Zeit für Arbeiten. die Soziologie von Otthein Rammstedt12 vorgelegt wurden, fehlen für unser Fach. Der Siegener Soziolo­ Rammstedts Thesen werden allerdings in Zweifel ge Thomas Herz13 nimmt den deutschen ,Historiker- gezogen: In einer Rezension bestreitet Carsten Klin­ streir zum Anlaß, um das Verhältnis zwischen den gemann21 die behauptete Kontinuität der Soziologie Soziologen und dem Nationalsozialismus grundsätz­ v. a. nach 1945 und wirft Rammstedt vor, dieser habe licher zu problematisieren. Er kritisiert, daß mit bei seinem imposanten Literaturanhang über soziolo­ Ausnahme von Jürgen Habermas kein Soziologe bei gische Schriften im Dritten Reich vieles aufgenom­ dieser Kontroverse um die Einschätzung des Dritten men, was eigentlich über den Fachbereich der Sozio­ Reiches Position ergriffen hat und fragt nach den logie hinausgehe. Dieser Vorwurf stimmt zwar, aber Gründen dafür. ,,Bei der Suche nach einer Antwort er trifft nicht. Rammstedt versammelt gerade auch im auf diese Frage muß man zunächst feststellen, daß engeren Sinne der Zeitungswissenschaft zuzuschrei­ deutsche Soziologen sich vor dem zweiten Weltkrieg bende Beiträge unter der Überschrift Soziologische intensiv, danach kaum für das Dritte Reich, seine Schriften, aber selbst wenn man ein Drittel der Ursachen und Konsequenzen, interessiert haben.“ 14 Angaben kürzte, blieben Intention und Leitthese des Dieser Befund muß gewiß relativiert werden, zumin­ Autors gestützt. Wie die Zeitungswissenschaft hat dest für den hier behandelten Zusammenhang, denn auch die Soziologie im Dritten Reich finanziell und Herz geht es primär darum, Gründe für eine diagno­ personell bestens ausgestattet (weiter)bestehen kön­ stizierte Konfliktscheue und weitgehende Abstinenz nen. Dennoch darf über die Tatsache einer weitrei­ der Soziologen von großen Debatten und gesellschaft­ chenden und noch heute spürbaren intellektuellen lichen Kontroversen nach 1945 aufzuzeigen. Denn die Zäsur durch die Emigration führender Sozialwissen­ Vergangenheit des Faches selbst ist inzwischen zu schafter — für Österreich seien beispielhaft die Na­ einem mehrfach und kontinuierlich behandelten men Paul F. Lazarsfeld und Alfred Schütz22 genannt Thema geworden: Ralf Dahrendorf befaßte sich da­ keinerlei Zweifel bestehen. Und darum ist auch mit 196515, Urs Jäggi et ai. veröffentlichten 1983 eine Wissenschaftsgeschichte, die die Jahre 1933 bis 6 Hannes Haas Medien & Zei! 4/87

1 045 ausspart oder nur oberflächlich beschwichtigend Forschungen zur Fachgeschichte präsentiert hat, streift, unbrauchbar, weil sie nicht imstande sein beendet. Neben Kutsch sind in diesem Zusammen­ kann, Brüche wie Kontinuitäten in der Entwicklung hang vor allem Winfried B. Lerg25, Hans Bohr­ der Disziplinen vor den kausalen Hintergründen zu mann26, Rüdiger vom Bruch27 etc. für die Bundesre­ reflektieren. publik sowie Theodor Venus28, Wolfgang Duchko- witsch29, Michael Schmolke30 und Fritz Hausjell31 III. für Österreich zu nennen. Worin liegt aber der Grund dafür, daß erst so Germanistik und Soziologie sollten hier paradig­ spät mit der notwendigen Fachgeschichtsforschung matisch als Unterstützung der These herangezogen begonnen wurde? Gewiß gab es lange Zeit den werden, daß benachbarte Disziplinen mit vergleichba­ Wunsch, diese Vergangenheit zuzudecken. Erst in den rer Bedeutung im Dritten Reich mittlerweile, wenn letzten Jahren ist das Fach in die Phase seiner auch mit großer Verspätung, an die Aufarbeitung Konsolidierung eingetreten, eine Entwicklung, die ihrer Geschichte herangegangen sind. Dennoch sahen auch Verunsicherung durch unangenehme Wahrhei­ und sehen sic sich fachintern mit dem Vorwurf der ten über die eigene Geschichte möglich macht. Denn mangelnden Erinnerungsarbeit konfrontiert. In der eine Konsolidierung ohne Einbeziehung dieser, durch Publizistik- und Kommunikationswissenschaft findet verstärkte Forschungsanstrengungen noch genauer weder solche Kritik, noch eine breit angelegte Debatte zu klärenden Rolle der Zeitungswissenschaft während um die lange tabuisierte Rolle des Faches im Dritten des Nationalsozialismus kann nicht akzeptiert wer­ Reich statt. Wie in den beiden genannten Disziplinen den. Sie würde das Fachgebäude letztlich auf mor­ wurde mit der Behandlung der Fachvergangenheit schem und brüchigem Fundament errichten. In die­ erst spät begonnen. Nicht nur die heute im Zusam­ sem Zusammenhang kommt der Medien- und Kom­ menhang mit verstärkter interdisziplinärer Vorge­ munikationsgeschichte jetzt und künftig große Be­ hensweise wieder deutlicher werdende Nähe der Pu­ deutung zu. Gerade ihr muß aber auch der Vorwurf blizistik- und Kommunikationswissenschaft zu den gemacht werden, bei der früheren Vergangenheitser­ angeführten Fächern, sondern auch ihre weitgehend forschung versagt zu haben. Nach dem Ende der NS- ähnliche Entwicklung während des Dritten Reiches, Herrschaft, als das Fach darauf bedacht war, allzu machen sie für einen Vergleich geeignet. Wie aus der intensive Staatsnähe und Verwertbarkeit seiner Er­ Germanistik die völkisch-deutsche Wissenschaft, aus gebnisse zu verhindern, flüchtete es sich in (meist) der Soziologie die Lehre von der Gemeinschaft des belanglose ,Spiegel-Arbeiten1 und — auch zeitlich Volkes und eine Soziotechnik (Stichwort: Soziologie möglichst entlegene Themen. als Waffe) wurde, kam auch der damaligen Zeitungs­ Erst die sozialwissenschaftliche Erneuerung zu wissenschaft eine wichtige Rolle im NS-System zu. Sie Beginn der 60er Jahre, die mit dem Re-Import von legitimierte wissenschaftlich die nationalsozialistische Methoden und Theorien der in die Emigration ge­ Propaganda, die Strategien zentralisierter Medienlen­ zwungenen deutschen und österreichischen Wissen­ kung und Zensur, die Knebelung der freien Mei­ schafter möglich geworden war, führte zum Bedeu­ nungsäußerung, die Unterdrückung jfeglichen kriti­ tungsschwund der bis dahin dominierenden alten schen Denkens. Für ihre Dienste wurde sic mit einer Zeitungsgeschichte. Die geschwächte Position im deutlichen Verbesserung der Infrastruktur und einer Rahmen der Gesamtdisziplin, die nach den Studienre­ Aufwertung ihrer bis dahin marginalen Rolle an den formen in der wissenschaftlichen Vorbildung für Universitäten belohnt. Aber Zeitungswissenschaft als Kommunikationsberufe die Chance sah, als ein Fach sozialwissenschaftlich ausgerichtete Gesellschaftswis­ mit intensivem Praxisbezug gesellschaftliche Aner­ senschaft war angesichts verordneter Lehrpläne und kennung und damit einhergehend bessere Ausstat­ kontrollierter Fachperiodika unmöglich geworden. tung der Institute mit Planstellen und höheren Bud­ Sieht man von den diversen Institutsgeschichten, gets zu erreichen, verhinderte jede Weiterentwicklung den Nachrufen auf Fachkollegen und biographischen und Neuorientierung. Die bis dahin dominierende Hinweisen auf einzelne Wissenschafter, in denen ihre Publizistikgeschichte wurde in der Folge zunehmend Rolle während der tabuisierten Jahre häufig bloß verdrängt. Bis Ende der 70er Jahre waren es Fragen gestreift wurde, ab, kann man bis gegen Ende der 70er der Medienwirkungs- und Kommunikationsfor­ Jahre von einem fortwährenden Prozeß des Verdrän- schung, auf methodischem Gebiet die zunehmende gens und Vergessens im Fach sprechen: von der Sicherheit im Umgang mit dem Instrumentarium großen Stille. Sie wurde erst mit dem Erscheinen der auch elaborierterer Formen der Inhaltsanalyse sowie richtungsweisenden Untersuchung über Rundfunk- späterzunehmend Fragen der Umstrukturierung und Wissenschafter im Dritten Reich von Arnulf Kutsch23, Neuorgansisation des Mediensystems, das durch die der auch in mehreren Aufsätzen24 biographische schrittweise Einführung neuer Medien in Bewegung Medien & Zeit 4/87 Zeitungswissenschaft 1933 1945 7

geraten war, die im Mittelpunkt forscherischen Inter­ Betrachtungsweise medialer und kommunikativer esses standen. Phänomene, der Anfang also einer Zeitungswissen­ schaft mit theoretischem Schwerpunkt, krude unter­ Seit Anfang der 8()er Jahre erlebt die Mcdicnge- brochen worden sei. „Die nationalsozialistische schichte auf ihrem Weg zu einer umfassenderen Herrschaft, deren Hochschulpolitik die Ausübung Kommunikationsgeschichte im Fach einen neuen kritischer Gesellschaftswissenschaft unmöglich Aufschwung. Die gegenwärtige Stagnation in der machte, unterband abrupt die Verfolgung eines sol­ Gesamtdisziplin macht die Kommunikationsge­ chen Fo r sch u n gs weges.3 3 schichte zum ausbeutbaren Fundus für ,neue‘ Ansätze und Methoden, der nächste Paradigmenwechsel will IV. schließlich rechtzeitig erkannt und (mit)eingeleitet werden. Die neue Medien- und Kommunikationsge­ Für die damalige Zeitungskunde ist eine intensi­ schichte wird zunehmend nicht mehr ausschließlich ve personelle und ideologische Verbindung zum NS- von den sogenannten ,Nur-Historikern‘ im Fach be­ Regime evident. Die Disziplin hatte in einem System, trieben, was den Wissenstransfer zum bzw. vom dessen Macht in hohem Maße auf einem immensen Gesamtfach erleichtert. Die Fortschritte sind unüber­ Propagandaaufwand, der intentionalen Gleichschal­ sehbar: methodische Innovation durch praktizierte tung aller publizistischen Mittel und Aussagen, der Interdisziplinarität und grenzüberschreitende, inter­ beschränkten Zulassung zum Journalismus und einer nationalisierte Fachdiskussion32 haben ihr auch ent­ Flut von Eingriffen und Presseanweisungen basierte, sprechende Anerkennung im eigenen Fach, in dem sie zentrale Aufgaben. früher bisweilen belächelt worden war, verschafft. „Zeitungswissenschaft als Gesamtdisziplin wie Schließlich ist es auch die Kommunikationsgeschich­ auch die Versuche Theoretischer Publizistik" übernah­ te, die jene für das Gesamtfach so wichtige Leistung men im Dritten Reich die Funktion von Korre­ der Konsolidierung schaffen muß, nämlich die von spondenz und Legitimation. Die fachlichen Dyck einleitend geforderte lückenlose Aufarbeitung Aussagen korrespondierten in den Jahren 1933—1945 der Fachgeschichte. Diese Aufgabe müßte vornehmli- mit den insbesondere von Hitler und Goebbels schrift­ ches Ziel einer ,nachgeborenen" Forschergeneration lich fixierten, faschistischen Vorstellungen von effek­ sein, die dabei von Kollegen/ -innen unterstützt tiver Propaganda und legitimierten zugleich deren werden sollte, die diese Zeit selbst miterlebt haben. jeweils praktische Umsetzung.“36 Ein solches einzurichtendes Großprojekt könnte Daß nicht-systemkonforme Meinungen nur we­ neben den bereits genannten — auf einige kürzlich nig Chance auf Durchsetzbarkeit hatten, zeigt der erschienene Vorarbeiten zurückgreifen. Fall des Bücher-Nachfolgers am Leipziger Institut, Reichlich Material enthält ein von Rüdiger vom des promovierten Kunsthistorikers und Wiener Kor­ Bruch und Otto B. Roegele herausgegebener Band: respondenten des Berliner Tagblattes, Erich Everth37. Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch- Er war einer der wenigen Zeitungswissenschafter, die institutioneile Stationen der deutsehen Zeitungswissen­ offen Kritik an NS-Maßnahmen zu üben wagten. schaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts^.Die Nachdem er auf dem Kongreß Das freie Wort am 19. Bedeutung solcher Arbeiten für das Fach wurde vom Februar 1933, nur 16 Tage nach dem Erlaß restriktiv­ Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- ster Presse-Notverordnungen, für die Aufrechterhal­ und Kommunikationswissenschaft richtig einge­ tung der Pressefreiheit eingetreten war, wurde er zwei schätzt. Er kaufte den Band auf und schickte ihn an Monate später zunächst vom Dienst suspendiert und seine Mitglieder. Aber auch hier — so verdienstvoll anschließend aus gesundheitlichen Gründen emeri­ die Intention des Bandes ist — dominiert die Veräste­ tiert. Everth verstarb ein Jahr später. lung, die auf die Geschichte einzelner Institute und Unter der Vorgabe: Wie kann die Zeitungswis­ Wissenschafter reduzierte Sichtweise. Die übergeord­ senschaft am besten das Regime und dessen Politik nete Geschichte des Faches, seiner Ideen, Ansätze und unterstützen? nahm die öffentliche Diskussion um Themenkanons etc. ist nach wie vor ungeschrieben. den Stellenwert und die Richtung der Zeitungswissen­ Auch wenn mit der kürzlich erschienenen Arbeit schaft in den Fachorganen breiten Raum ein. Die von Lutz Hachmeister Theoretische Publizistik. Studi­ Einigkeit mußte verordnet werden, ihr waren intensi­ en zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft ve Richtungskämpfe vorangegangen. Im stark praxis­ in Deutschland34 ein beachtlicher Versuch vorlicgt, orientierten „Zeitungsverlag“ wurde der Ansatz der den Weg weist, wie eine solche noch ausständi­ Hans Amandus Münsters, das Stoffgebiet von der ge Fachgeschichte aussehen sollte. Hachmeister be­ Presse auszuweiten und allgemein alle „publizisti­ tont, daß mit der nationalsozialistischen Machtüber­ schen Führungsmittel“, also auch Film und Rund­ nahme eine gerade erst aufgekommene kritische funk, miteinzubeziehen, strikt abgelehnt. In einem 8 Hannes Haas Medien & Zeit 4/87

Beitrag unter der Rubrik „Zeitungskunde“ mit dem Heydrichs Sicherheitsdienst“ war43. Münster ver­ Titel Zeitungswissenschaft 1er am Scheideweg38 erhal­ stand es, die Rolle der nunmehr instrumentalisierten ten diese Pläne eine schroffe Abfuhr. Auffallend ist Zeitungswissenschaft in der Weimarer Republik dabei die strenge Personalisierung des Problems, nachträglich als systemkonforme Vorbereitungsar­ indem eben nicht über die notwendige Entscheidung beit auf die Zeit und die Ziele des Nationalsozialismus für oder gegen diesen Weg des Faches geschrie­ zu interpretieren: „Die Zeitungswissenschaft leistete ben, sondern das Problem als Verirrung einiger — soweit sie zur Kritik an alten Pressesystemen erzog Wissenschafter abgetan wird. „Jenseits der Wirklich­ Unterminierarbeit, die dem neuen Staat zugute­ keit schwebende Theorie oder hierhin und dorthin kommt. Indem wir Zeitungswissenschaftler den Glau­ schwankender Dilettantismus kann aber nicht ge­ ben an das alte Pressewesen mit zerstören halfen, (...), meint sein, weil das für die deutsche Wissenschaft von haben wir die neue Zeit, die eine andere Zeitung jeher undenkbar war. Um so mehr ist es undenkbar fordert, mit vorbereitet.“44 Jetzt machte es sich das für eine nationalsozialistische Wissenschaft, die es Fach zur Aufgabe, die Propagandapraxis des Regi­ sich zum Ziel gesetzt hat, am tatkräftigen Aufbau mes als volksgemeinschaftlich nützlich zu legitimie­ vorbereitend und fördernd mitzuwirken.“39 Das urei­ ren. gene und alleinige Forschungsgebiet der Zeitungswis­ senschaft sei und müsse die Presse bleiben. Eine V. Ausweitung der Untersuchungsobjekte würde zu minderqualitativer Verzettelung führen. Gerade das Die österreichische Zeitungswissenschaft stellt aber könne man sich auf gar keinen Fall leisten, denn aus mehreren Gründen ein Sonderkapitel dar. Ihre und mit diesen Worten schließt der Beitrag — „Die Vorgeschichte kann von mehreren Daten ausgehen. Presse hat hohe Aufgaben und mit ihr die Zeitungs­ Ich will hier nicht die Ahnensuche, die noch in den wissenschaft.“40 Nur wenig später heißt es bereit im Anfängen steckt, beginnen und etwa auf fachrelevan­ Titel eines Beitrages präzisierend: Zeitungswissen­ te theoretische Schriften aus der Zeit des Vormärz etc. schaft auf eigenem Boden. Klar umgrenztes Arbeitsge­ eingehen, sondern mich auf die Geschichte der Insti­ biet^ . Der Artikel verrät einiges von der großen tutionalisierung des Faches an den österreichischen Skepsis, die von seiten der Praxis der Zeitungswissen­ Akademien und Universitäten nach 1933, also wäh­ schaft entgegengebracht wurde. Der „Zeitungsver­ rend des austrofaschistischen Ständestaates konzen­ lag“, so die Betonung, habe sich immer wieder mit trieren. Der Weg zur österreichischen Zeitungswissen­ großem Einsatz hinter dieses Fach gestellt. Seine schaft ist von vertanen Chancen markiert. Die erste Aufgabe sei, wissenschaftlich die Presse — und nur vergebene Möglichkeit war die Anfrage des ungari­ diese — und ihre Möglichkeiten im Dienste der schen USA-Emigranten Joseph Pulitzer gewesen45. Staatsführung und des Volksganzen zu erforschen. 1903 wollte er vom österreichischen Journalistenclub Allerdings müßten sich Macht und Einfluß der Wis­ „Concordia“ wissen, wie eine „Hochschule für Jour­ senschaft in der Bereitstellung der Untersuchungser­ nalisten“ aufgebaut und organisiert werden müsse. gebnisse erschöpfen. Anwendung und Umsetzung der Nach — zu langen Beratungen und Verzögerungen gewonnenen Erkenntnisse sei ausschließlich Sache der der Concordia erhielt er die Antwort, man müsse politischen Führung: „Die Frage: Wann und jedenfalls ein journalistisches Seminar durchführen wie ist die Presse politisch einzusetzen, und in Verbindung dazu eine Zeitung gestalten. Das wird nicht durch wissenschaftlich auf- war natürlich nicht gerade eine curriculare Großlei­ gestellte Gesetze, sondern durch den po­ stung der Wiener Journalistenvereingung, aber diese litischen Instinkt beantwortet.“42 hatte nur wenig Interesse, adäquate Ausbildungswege Nach der Gleichschaltung des Faches 1933 war für Journalismus zu finden. Das didaktische Reper­ es der „Deutsche Zeitungswissenschaftliche Ver­ toire erschöpfte sich in den klassischen Praktikerprin­ band“ (DZV), der unter seinem Leiter, Dr. Walther zipien: „Begabung“ und „learning by doing“. Die Heide, zentralen Einfluß auf die weitere Entwicklung Institutionalisierung erfolgte, zunächst noch außer­ nahm. Heide, gemeinsam mit Karl d’Ester auch halb der Universität, auf Initiative des Obmannes der Gründungshera usgeber der Zeitungswissenschaft, „Gewerkschaft der Journalisten Österreichs“, des machte das Fachorgan zur offiziellen Zeitschrift des Christlich-Sozialen Hermann Mailler und des Vize­ DZV und aus einem Forum wissenschaftlicher Dis­ präsidenten des Hauptverbandes der Zeitungsverle­ kussion, das die Zeitschrift bis dahin in hohem Maße ger, Rudolf Erber. Mit der Gründung der „Österrei­ gewesen war, ein wissenschaftliches Verordnungsor­ chischen Gesellschaft für Zeitungskunde“ war der gan. Die Regimenähe und personellen Verflechtungen entscheidende Schritt zur Etablierung des Faches in zwischen Staat und Fach werden auch aus der Tatsa­ Österreich getan. Die „Gesellschaft“ richtete gemein­ che deutlich, daß Münster „Vertrauensmann in sam mit der österreichischen Pressekammer 1937 ein Medien & Zeit 4/87 Zeitungswissenschaft 1933 1945 9

Journalistenausbildungsprogramm ein, das sechs Se­ schule einzugliedern. Die Fakultät richtete mehrere mester dauern sollte und vorwiegend von Praktikern Schreiben an das Ministerium, in denen es betonte, geleitet wurde. Nach dem ,Anschluß' mußte dieser das Institut behalten zu wollen. Ende 1945 wurde Kurs eingestellt werden46. Die „Gesellschaft“ wurde auch ein Überblick über die Inhalte und die ideologi­ ebenfalls aufgelöst und verboten. „Die leitenden sche Ausrichtung der geplanten Vorlesungen und Persönlichkeiten der Gesellschaft für Zeitungskunde, Seminare dem Ministerium übermittelt. Um mögli­ Eduard Ludwig, Friedrich Funder und Edmund chen Einwänden zuvorzukommen, wurden die Auf­ Weber wurden in der Nacht vom 11. zum 12. März gaben der Zeitungswissenschaft in strenger Abgren­ 1938 verhaftet und kurz darauf ins Konzentrationsla­ zung zu den unter dem Nationalsozialismus verfolg­ ger Dachau überstellt.“47 ten Zielen definiert: Schwerpunkte sollten in Lehre Bereits unmittelbar nach dem ,Anschluß1 zeigte und Forschung, der wissenschaftlichen Weiterqualifi­ sich im Zusammenhang mit der Frage, wohin das kation der Mitarbeiter und der „wissenschaftlich Vereinsvermögen (Bibliothek und 8.000 RM) transfe­ soliden Ausbildung des Praktikers“ liegen. Und riert werden solle, daß sich die Nationalsozialisten weiter: „Hierzu ist stärkste Betonung der wis­ Gedanken um die Zukunft der Zeitungskunde in senschaftlichen Aufgabe und intensive Anpassung Österreich gemacht hatten. Otto Dietrich, Pressechef an den demokratischen Geist, den österreichischen der Reichsregierung, schrieb dem Reichskommissar Staatsgedanken und die internationale Stellung und Gauleiter Joseph Bürckel am 30. August 1938, Österreichs notwendig. Im Gegensatz zur nationalso­ man möge das gesamte Vermögen des Vereins treu- zialistischen Auffassung und der von dem früheren händisch dem DZV übergeben, da „binnen kurzem in Institutsdirektor geübten Arbeitsweise wird nicht Wien ein Institut für Zeitungswissenschaft in Über­ Aktualität zum Ausgangspunkt und die Arbeit des einstimmung mit mir errichtet wird.“48 Das Institut Institutes nahezu ausschließlich parteipolitischen wurde auch tatsächlich, allerdings erst am 7. Mai Propagandazwecken dienstbar gemacht, vielmehr 1942, offiziell eröffnet. Auf die Gründe für die lange wird die wissenschaftliche Darstellung des Zeitungs­ Verzögerung liegen keine Flinweise vor. Von Walther wesens vornehmste Grundlage einer Ausbildung sein, Heide, der sich intensivst um die Gründung des deren Ziel in erster Linie der wissenschaftliche For­ Instituts bemüht hatte, wurde der noch rasch habili­ scher, in zweiter Linie der seriös vorgebildetc Redak­ tierte Karl Kurth49 zum Leiter bestellt. Für das teur ist.“52 Die Doyenne der Wiener Medien- und Neuigkeits-Weltblatt betonte Kurth am Tag der Er­ Kommunikationsgeschichtsforschung, Marianne öffnung, es sei erste Aufgabe des Instituts, „der Presse Lunzer-Lindhausen, damals Assistentin, später Pro­ vorgebildeten Nachwuchs zuzuführen.“ Als weitere fessorin und Ordinaria des Institutes, erinnert sich an Schwerpunkte nannte er die Erforschung der Presse­ die Schwierigkeiten des Ncubeginns und die Last der politik sowie der Geschichte der Presse. In seinem Hypothek der Vergangenheit: „Nach Beendigung des Eröffnungsvortrag ging er auf die „gegenwärtigen Krieges, als aus der Ostmark wieder Österreich, die Aufgaben der Presse und besonders die erzieherische Zweite österreichische Republik, wurde, begann eine und kämpferische Funktion“ ein, auf einer parallel in Zeit schwierigster äußerer Bedingungen. In den Früh­ Wien abgehaltenen Arbeitstagung der Dozenten der lingstagen des Jahres 1945 stand das Wiener Institut Zeitungswissenschaft sprach er über die „Zeitungs­ vor dem Zusammenbruch. Niemand wollte mit der wissenschaft im Kriege“50. Ab dem Wintersemester Zeitungswissenschaft, dieser „Nazieinrichtung“, wie 1943/44 hielt Kurth eine Vorlesung für Hörer aller sie allgemein genannt wurde, auch nur das geringste Fakultäten an der Universität Wien mit dem Titel: zu tun haben.“53 Der Nachrichtenkampf der Woche51. Diese angeführ­ Die Definition der Aufgaben des Faches beinhal­ ten Aktivitäten gingen weit über die definierten tete also in der Form von Direktiven die intensive Aufgaben des Wiener Institutes hinaus, sie sind Bearbeitung der Pressegeschichte, aber einer mög­ zugleich Belege für die bedingungslose Instrumentali- lichst entfernten Pressegeschichte. Die unmittelbare serung des Faches, dessen Image auch in der unmittel­ Vergangenheit, deren Aufarbeitung und vor allem die baren Nachkriegszeit stark nationalsozialistisch be­ Frage nach der moralischen Schuld, der Anbiederung setzt war. an das NS-System, wurde wie in allen anderen Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus Wissenschaften nicht bzw. nicht ausreichend nach­ bedurfte es intensivster Anstrengungen der philoso­ drücklich gestellt54. phischen Fakultät, um das Institut an der Universität zu halten. Die Hochschule für Welthandel hatte Interesse gezeigt, die bereits vor dem Zweiten Welt­ krieg dort abgehaltenen zeitungswissenschaftlichen Vorlesungen fortzuführen und das Institut der Hoch­ 10 Hannes Haas Medien & Zeit 4/87

VI. 1 Joachim Dyck: Methodenrausch im Vakuum. Ein Plädoyer Jur historische Selbstbesinnung statt Anpassung an ungewissen Zukünfte. In: Die Zeit, Nr. 43 vom 16. Oktober 1987, 71. In seiner Dissertation halt Fritz Hausjell fest, daß 2 Ebd. die frappierenden personellen Kontinuitäten, die es I Friedrich Stadler: Erst vertrieben, dann verdrängt. Der über die historischen Zäsuren 1933/34, 1938 und 1945 Exodus der Intelligenz vor und nach dem ,Anschluß‘ Ein unge­ hinaus im österreichischen Journalismus gab, daß die schriebenes Kapitel österreichischer Zeitgeschichte. Wiener Zeitung Mitschuld an Verbrechen des NS-Regimes, ganz vom 6. November 1987, Beilage: Extra zum Wochenende, 1. 4 Murray G. Hall: Österreichische Verlagsgeschichte 1918— allgemein die intensive Verstrickung dieser Berufs­ 1938, Wien, Köln, Graz 1985. Vgl. dazu meine Rezension in: gruppe in den Nationalsozialismus, von den Journali­ Publizistik I (1987) 1431'. sten nicht aufgearbeitet worden sei. Die belastenden ■ Vgl. auch F. Stadler (Anm. 3) a. a. O. Akten waren nämlich nach einem Abkommen der 6 Gerhard Renner: Österreichische Schriftsteller und der Na­ Parteien aus dem Jahre 1946 der Journalistengewerk­ tionalsozialismus ( 1933 1940). Der ..Bund der deutschen Schrift steiler Österreichs" und der Aufbau der Reichsschriftumskammer in schaft übergeben worden, die Behandlung dieser so der .,Ostmark“, Frankfurt am Main 1986. Vgl. dazu meine wichtigen Problematik wurde somit der öffentlichen Rezension in: Publizistik 3 (1987) 389 f. Kontrolle entrückt55. Mehr als 20 Jahre schwiegen die 7 Klaus Amann, Albert Berger (Hrsg.): Österreichische Litera­ österreichischen Journalisten über ihre Rolle in dieser tur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse, institutionelle Zeit. In der dann langsam wachsenden Zahl von Voraussetzungen, Fallstudien, Wien. Köln. Graz 1985. 8 Klaus Amann: P. E. N. Politik, Emigration, Natio­ Erinnerungsbüchern dominierten die Ent­ nalsozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub, Wien 1984. lastungsargumente. Schuldbekenntnisse oder 9 Friedbert Aspetsberger: Literarisches Leben im Austrofa­ Sei bst vorwürfe wegen der eigenen Gedächtnislosigkeit schismus:, Königstein/Ts. 1980. sollten die Selbstdarstellung nicht trüben. „Dem 10 Amann, Berger (Anm. 7), 7. österreichischen Journalismus kann deshalb ein gros­ II Otto Groth: Die Geschichte der deutschen Zeitungswissen­ ses Maß an Verdrängung sowie eine eigenartige schaft Probleme und Methoden, München o. J. 12 Otthein Rammstedt: Deutsche Soziologie 1933— 1945. Die Geschichtslosigkeit attestiert werden.“56 Einen nicht Normalität einer Anpassung, Frankfurt am Main 1986. unwesentlichen Beitrag für die Infrastruktur des Ver- 1-1 Thomas Herz: Nur ein Historikerstreit ? Die Soziologen und gessens und Verdrängens leistete aber auch die Me­ der Nationalsozialismus, ln: Kölner Zeitschrift für Soziologie und dien- und Kommunikationsgeschichte mit der weitge­ Sozialpsychologie 39 (1987) 560—370. 14 Ebd., 561. henden Ausklammerung dieser Zeit als Forschungs­ 15 Ralf Dahrendorf: Soziologie und Nationalsozialismus. In: gegenstand. Der verlorenen Erinnerung, dem lücken­ Andreas Flitner (Hrsg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozia­ haften Gedächtnis konnte mangels genauer Recher­ lismus., Tübingen 1965, 108— 125. chen und Aktenuntersuchungen nicht nachgeholfen 16 Urs Jüggi et al. (Hrsg.): Geist und Katastrophe: Studien zur Soziologie im Nationalsozialismus, Berlin 1983. werden. 17 Carsten Klingemann: Vergangenheitsbewältigung oder Ge­ Unserem Fach ist es also nicht anders ergangen schichtsschreibung ? Unerwünschte Traditonsbestände deutscher So­ ziologie zwischen 1933 und 1945, Ms. 1984. als den Parteien, Verbänden, Institutionen und den 18 René König: Über das vermeintliche Ende der deutschen Menschen in diesem Land. Der Psychoanalytiker, Soziologie vor der Machtergreifung des Nationalsozialismus. In: kritische Erforscher und Mahner der „Österreichi­ Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 36 (1984) schen Seele“, Erwin Ringel, hat es auf den Punkt I—42. Dieser Artikel argumentiert gegen die These Helmut gebracht: Die Österreicher haben sich nach 1945 von Schelskys, die deutsche Soziölogie habe bereits vor 1933 aus intellektuellen Mängeln ein Ende gefunden. Die Tatsache, daß der Vergangenheit offensiv abgewendet, sie haben die Schelsky selbst 1939 für Soziologie habilitiert worden war, wird als Flucht angetreten „aus der notwendigen Verarbei­ „massiver Selbstwiderspruch“ des Kritikers gewertet. tung in die Arbeit.“57 Mit aufgekrempelten Hemdsär­ 19 M. Rainer Lepsius (Hrsg.): Soziologie in Deutschland und meln als Symbol der Zeit haben sie den Österreich 1918—1945, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Wiederaufbau des Landes geleistet und dabei auf die Sozialpsychologie, Sonderheft 23, 1981. 20 Rammstedt (Anm. 12), 191—412. Gesundung der Seele, den so dringend notwendigen 21 Vgl. die Rezension von Carsten Klingemann in: Soziologi­ moralischen Wiederaufbau vergessen. Für die Gegen­ sche Revue 10 (1987) 174— 176. wart muß die wichtigste Arbeit die Aufarbeitung der 22 Vgl. dazu auch den Beitrag von Eugen Semrau in diesem Vergangenheit sein, einer Vergangenheit, in die wir Heft. alle direkt oder indirekt verstrickt und in der wir 2^ Arnulf Kutsch: Rundfunk Wissenschaft im Dritten Reich. Geschichte des Instituts für Rundfunk Wissenschaft der Universität gefangen bleiben, solange die kollektive Erinnerungs­ Freiburg, München, New York, London, Paris 1985. leistung ausbleibt. Die .Arroganz der Nachgebore­ 24 Z. B.: Karl Oswin Kurth (1910— 1981). Ein biographischer ne rf ist dabei gewiß fehl am Platz, ihre moralische und Hinweis zur Geschichte der Zeitungswissenschaft. In: Publizistik 3 wissenschaftliche Aufrichtigkeit bleibt aber als Auf­ (1981) 397—413; gern, mit Josef Hackforth: Von der Zeitungskunde trag. zur Kommunikationswissenschaft. Zur Geschichte des Instituts für Publizistik an der Universität Münster. In: Institut für Publizistik Münster (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft in Münster 1919— Medien & Zeit 4/87 Zeitungswissenschaft 1933— 1945 II

1982, Münster 1982, 8 ff. Vgl. auch Anm. 26. 46 Vgl. Venus (Anm. 28), 121 sowie Hans Heinz. Fabris: 25 Vgl. neben vielen anderen etwa: Winfried B. Lerg: Paul Österreichs Beitrag zu Kommunikationswissenschaf t und-förschung: Felix Lazarsfeld und die Kommunikationsforschung. Ein bio-bihlio- Zwischen Aufbruch und Verhinderung. In: Publizistik 2 (1983) 204— graphisches Epitaph. In: Publizistik 1 (1977) 72—88. 220; wiederabgedruckt in: Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): 26 Vgl. etwa: Hans Bohrmann, Arnulf Kutsch: Pressege­ Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Textbuch zur schichte und Pressetheorie. Erich Everth ( 1878— 1934). In: Publizi­ Einführung in ihre Teildsiziplin, Wien 1986, 25—39. stik 3 (1979) 386—403; Hans Bohrmann, Arnulf Kutsch: Karl 47 Venus (Anm. 28), 121. d 'Ester ( 1881 1960). A nmerk ungen aus A nlaß seines 100. Geburts­ 48 Zit. nach Venus, ebd. tages. In: Publizistik 4 (1981) 575—603. Hans Bohrmann, Arnulf 49 Zu Karl Kurth vgl. Arnulf Kutsch: Karl Oswin Kurth (Anm. Kutsch: Der Fall Walther Heide. Zur Vorgeschichte der Publizist ik- 24). wissenschaft. In: Publizistik 3 (1974— 1975) 805 ff. 50 Wiener Kronenzeitung vom 10. Mai 1942. 27 Vgl. Rüdiger vom Bruch: Zeitungswissenschaft zwischen 51 Vgl. Susanne Preglau-Hämmerlc: Die politische und soziale Historie und Nationalökonomie. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der Funktion der österreichischen Universität. Von den Anfängen bis zur Publizistik als Wissenschaft im späten deutschen Kaiserreich. In: Gegenwart. Mit einem Vorwort von Anton Pelinka, Innsbruck Publizistik 4 (1980) 579—607; ders.: Zeitungskunde und Soziologie. 1986. 189 f. Zur Entwicklungsgeschichte der beiden Disziplinen. In: Manfred 52 Venus (Anm. 28), 125. Bobrowsky, Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Wege zur Kom­ 53 Marianne Lunzer-Lindhausen: Wege der Pressegeschichte munikationsgeschichte, München 1987, 138— 150. am Wiener Institut. In: Bobrowsky, Langenbucher (Anm. 27). 28 Vgl. v. a. Theodor Venus: Zur historischen Tradition der 111 116, hier 113. österreichischen Zeitungswissenschaf t. Ein Beitrag zur Institutionali­ ■<54 Vgl. dazu den jüngst erschienenen Band von Joseph I laslin- sierung aus Anlaß der Wiedereröffnung des Wiener Instituts Jur gcr: Politik der Gefühle. Ein Essav über Österreich, Darmstadt und Zeitungswissenschaft 1946. In: österreichische Gesellschaft für Neuwied 1987. Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (Hrsg.): Österrei­ ss Friedrich I lausjcll: Österreichische Tageszeitungsjournali­ chisches Jahrbuch Jur Kommunikationswissenschaft 4 (1986/87). sten atn Beginn der Zweiten Republik (1945— 1947). Eine kollektiv- Hannes Haas und Kurt Luger (Red.), Wien 1987, 115—130. biographische Analyse ihrer beruflichen und politischen Herkunft, 29 U. a. Wolfgang Duchkowitsch (Hrsg.): Mediengeschichte. Phil. Diss. Salzburg 1985; vgl. auch Fritz Hausjell: Zwischen Forschung und Praxis. Festgabe Jur Marianne Lunzer-Lindhausen Tradition und Neubeginn. Pressejournalisten in Österreich nach dem zum 65. Geburtstag, Wien, Köln, Graz 1985. Zweiten Weltkrieg, in: Bobrowsky, Langenbucher (Anm. 27), 30 Michael Schmolke leitet ein Forschungsprojekt zur Frühge­ 659 669, hier 666. schichte der Disziplin, das v. a. biographische Untersuchungen zu 56 Ebd., 667. den frühen Fachvertretern und Vorläufern beinhaltet. 57 Erwin Ringel in der TV-Sendung Cafe Central vom 3. 31 Vgl. etwa: Fritz Hausjell: Verdränger als Aufarbeiter ? Der November 1987. Beitrag österreichischer Medien zum Bewußtseinsstand über Österreich (er) unter dem NS-Regime. Anmerkungen und Thesen, Ms. 1987. 32 Vgl. jüngst: Hannes Haas: Welche Zukunft hat die Kommu­ nikationsgeschichte? Eine Rundfrage mit Antworten von Ulrich Saxer, Jürgen Wilke, Michael Schmolke, Kurt Koszyk, Walter Homberg und Bodo Rolika, in: Medien & Zeit 3 (1987) 2 12. 33 Rüdiger vom Bruch, Otto B. Roegele (Hrsg.): Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch-institutionelle Statio­ nen der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1986. 34 Lutz Hachmeister: Theoretische Publizistik. Studien zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in Deutschland, Berlin 1987. 35 Ebd., 15. 36 Ebd., 42 f. 37 Vgl. zu Erich Everth: Bohrmann, Kutsch (Anm. 26). 38 Wis.: Zeitungswissenschaftler am Scheideweg. In: Zeitungs­ verlag 39 (1938), Nr. 10 vom 5. März 1938, 148. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Wis.: Zeitungswissenschaft auf eigenem Boden. Klar um­ grenztes Arbeitsgebiet. In: Zeitungsverlag 39 (1938), Nr. 22 vom 28. Mai 1938, 323. 42 Ebd. 43 Hachmeister (Anm. 34), 49. 44 Ebd., 50. 45 Vgl. Peter Eppel: .Condordia soll ihr Name sein ...'. 125 Jahre Journalisten- und Schriftstellerverein ,Concordia' — Eine Dokumentation, Wien, Köln, Graz 1984; bzw. meine Rezension der Bände: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.): Outstanding International Press Reporting. Pulitzer Prize Winning Articles in Foreign Corre­ spondance. Vol. 1. 1928— 1945; Vol. 2. 1946—1962. Berlin, New York 1986. In: Publizistik 1—2 (1986), 220 f. 12 Medien & Zeit 4/87

massive Realitäten gewesen ist, die man nicht wahrha­ ben wollte, zeigt sich nun mit aller Deutlichkeit: P eter M a u n a Österreich und seine nicht bewältigte, nicht aufgear­ „Die Geschichte entläßt niemanden" beitete und nicht bearbeitete Vergangenheit sind ins Gerede gekommen. Nicht zuletzt durch die histori­ Das große Tabu Österreichs: sche Nachhilfestunde der Massenmedien mußte die Sein Umgang mit der Vergangenheit Geschichtswissenschaft in Östereich zur Kenntnis nehmen, daß vieles von dem, was im Verlaufe der Österreich hat nach 1945 lange Zeit in der letzten zwanzig Jahre in den Studierstuben erarbeitet Illusion gelebt, sich der Welt alsein Land präsentieren und in wissenschaftlichen Publikationen niedergelegt (und verkaufen) zu können, das von der Geschichte worden ist, nicht das öffentliche Bewußtsein zu errei­ leben könne, ohne sich mit ihr auseinandersetzen zu chen vermochte. Es wäre nun sicherlich verfehlt, sich müssen. Vor allem dann, wenn es darum ging, die beleidigt oder resigniert in die Bastionen der Wissen­ faschistische Vergangenheit zur Sprache zu bringen, schaft zurückzuziehen. Notwendig ist es hingegen, wollte man am liebsten alles vergessen und vergeben sich gerade jetzt selbstkritisch und selbstbewußt zu­ wissen. Fester Bestandteil dieses nationalen, bei öf­ gleich, den Fragen der Öffentlichkeit zu stellen und in fentlichen Anlässen und Feierstunden immer wieder einen Diskurs über Möglichkeiten und Grenzen histo- präsentierten allzeit glücklichen geschichtsträchtigen rischer Aufklärung durch Wissenschaft einzutreten. und zugleich geschichtslosen Österreich waren zwei Anton Pelinka und Erika Weinzierl haben mit dem historische Mythen: Österreich als das ,erste' Opfer des von ihnen herausgegebenen Sammelband „Das Gro­ Nationalsozialismus und die „Stunde Null" des Jah­ ße Tabu. Österreichs Umgang mit der Vergangen­ res 1945. Während mit der Fiktion des überwältigten, heit" einen Beitrag zu der in Österreich immer wieder vergewaltigten Österreich im Jahre 1938 die Frage verweigerten „Trauerarbeit" vorgelegt, wobei es ih­ von Mitschuld und Mitverantwortung für das Un­ nen vor allem darum ging, die „von außen kommende Kritik durch eine Kritik von innen zu ergänzen“ (S. 7). rechtsregime des Nationalsozialismus außer Streit So enstand eine Sammlung von bemerkenswerten gestellt wurde, suggerierte die Fiktion der „Stunde Null" einen nach der Niederlage des Nationalsozialis­ Texten, in denen engagierte Historiker, Zeitzeugen mus vollkommen unbelasteten Neubeginn und gab und Publizisten, Germanisten und Psychoanalytiker damit endgültig die Möglichkeit, alles, was vorher in vesuchten, den Spuren dieser verdrängten, nicht zur Österreich, an Österreichern und durch Österreicher Kenntnis genommenen österreichischen Vergangen­ geschehen war, einfach dem Vergessen anheim fallen heit nachzugehen und sich nach den Ursachen der zu lassen. permanenten Verdrängung zu fragen. Für die „Nach­ geborenen" entstand auf diese Weise ein überaus beeindruckendes Kompendium verschiedenster An­ sätze und Erklärungsversuche, das nicht nur eine Fülle von Detailinformationen zur österreichischen Zeitgeschichte, sondern und dies scheint mir im gegenwärtigen Zeitpunkt besonders wichtig eine Reihe von Passagen enthält, die nachdenklich machen sollten nachdenklich über das große Tabu Vergan­ genheit, das nun auch von einigen Tabu-Verletzern im wissenschaftlichen Bereich offengelegt worden ist.

1 ,,Jetzt, nachdem die Welt erfahren hat, daß ein Aussehwitz möglich gewesen war, muß sie sich ändern; es muß alles anders, besser werden, damit Gaskammern und zweieinhalb Jahre exekutierter Massenmord, der zum Alltag gehörte, unmöglich würden. “ Hermann Langbein (S. 8) Im historischen Rückblick ließe sich vermuten, daß 1945 das geschah, was von Geschichte immer Ges(ch)ichlslos oder: „Ich kann mich nicht erinnern.“ wieder gefordert wird: aus den Erfahrungen (sprich: Daß dieses Vergessen ein Vergessen gegen aus der Geschichte) zu „lernen". Die Erfahrung des Medien & Zeit 4/87 Österreichs Umgang mit der Vergangenheit 13

Hermann Langbein war es freilich, daß die Welt nach Stimmung gegen diese Minderheit beschämend stark Ausschwitz in der Phase des Wiederaufbaus und der angeheizt. Und keine politische Gruppierung kann Rekonstruktion Österreichs an allem anderen mehr sich davon freisprechen“ (S. 15). Für den „Zeitzeu­ interessiert war als an der Aufarbeitung des für viele gen41 Langbein sind die Ereignisse des Jahres 1986 in gerade noch bedrängende Gegenwart gewesenen Österreich ein Schock: „Wir haben aber deswegen Schreckens des nationalsozialistischen Terrorsy­ nicht resigniert. Solange wir dazu imstande sind und stems. Fragen der Tagespolitik und politische Kam­ solange die Möglichkeit dazu erhalten bleibt, werden pagnen traten im Sinne einer politischen „Beschäfti­ wir Gespräche mit der jungen Generation suchen. gungstherapie“ auch in seiner Partei an die Stelle einer Aberdaß andere sie nicht alseine Art Alibi betrachten ernsthaften Auseinandersetzung mit dem, was eben und uns dabei allein lassen dürfen, jungen Menschen überstanden worden war: „Sprach man mit jeman­ behilflich zu sein, für sich Schlußfolgerungen aus dem dem und erwähnte dabei Ausschwitz, dann konnte dunkelsten und daher wichtigsten Kapitel der man nahezu regelmäßig die gleiche Reaktion beob­ Zeitgeschichte zu ziehen, muß jetzt jedem Verantwor­ achten: Mitleidvoll wurde man angeblickt und der tungsbewußten deutlich sein“ (S. 15). Aufarbeitung Gesprächspartner wich dem Thema aus, als ob er uns der Vergangenheit heißt für ihn daher nicht, Schüle­ schonen wollte. Ich hatte die Empfindung, daß dieses rinnen und Schüler bis ins Detail über den NS-Terror Mitleid geheuchelt und eher die eigene Schonung zu „unterrichten44: „Es ist weder nötig noch zielfüh­ beabsichtigt war“ (S. 9). rend, alle Einzelheiten zu schildern, die wir erleben Die Ereignisse der letzten beiden Jahre sind für hatten müssen. Das Schwergewicht verlegen wir nach Hermann Langbein Anlaß für eine kritische Selbst­ Möglichkeit auf das Problem, welche mörderische analyse, zugleich aber auch ein Hinweis darauf, daß Ideologie es möglich gemacht hat, daß Tausende an nun deutlich geworden ist, was zum Repertoire der dem Massenmord mitwirkten, die keineswegs von Vergangenheitsverdrängung in Östereich seit 1945 vornherein als Abartige oder Sadisten bezeichnet gehörte: „Die österreichische Lebenslüge, die da werden konnten. Junge sollen so veranlaßt werden, lautet: ,Wir sind 1938 besetzt worden, wir sind 1945 die ideologischen Wurzeln, die auch gegenwärtig befreit worden, was dazwischen geschehen ist, dafür spürbar sind, rechtzeitig zu erkennen und sich vor können wir nichts4, hat ihre Kraft erschreckend ihnen in acht zu nehmen.44 (S. 12). deutlich bewiesen. Sie wurde die ganzen Jahre hin­ durch mit Fleiß von Politikern aufgebaut. Und nur zu 2 gern spricht man sie nach. Selbst sich seriös gebende ,, Sc hu Id kann von Opfern verziehen werden, die Autoren sprechen von d er,Stunde Null4 im Jahr 1945; Verzeihung bedeutet für den Schuldigen Erleichterung als ob es vorher nichts gegeben hätte, was uns weshalb sie ja von den Opfern immer wieder massiv Österreicher betrifft. Damit wird jedes Nachdenken, eingefordert wird. Mit der Scham muß jeder unab­ jede Auseinandersetzung erspart44 (S. 13). Dieser hängig von eventuell vergebenden Opfern selbst österreichische „Schmäh“ hat seine eigene Sprache: fertig werden. Wer sich schämt, muß etwas tun, etwas „Anschluß44 und „Besetzung“verschleiern, daß es sich verändernV dabei um Okkupation und Befreiung handelte; „be­ Nadine Hauer (S. 35) setzt44 ist Österreich im Bewußtsein vieler während der Jahre 1945—1955 gewesen; die deutsche Okkupation Die Diskussion um die Aufarbeitung der Vergan­ hingegen wird bestenfalls unter Anführungszeichen genheit des Nationalsozialismus ist bislang noch immer noch als „Anschluß44 bezeichnet. Vergessen immer vorwiegend auf die schrecklichen Täter kon­ wird dabei eines: Österreicher waren überproportio­ zentriert. Dadurch werden jene entlastet, die weniger nal an den nationalsozialistischen Verbrechen betei­ Schreckliches oder auch gar nichts getan und nur ligt, und auch Österreicher führten „Hitlers Krieg“. „dabei44 gewesen sind. Für die Journalistin Nadine Der österreichische Widerstand gehörte nach 1945 Hauer ist daher die bislang immer wieder geübte zwar zu einem politisch immer wieder eingesetzten Frontstellung „Opfer Täter44 ein Grund dafür, daß Argument, wenn es darum ging, unter Berufung auf der Zugang zu einem wesentlichen Element des natio­ die Moskauer Deklaration den Anteil Österreichs an nalsozialistischen Unrechtsregimes verstellt wird, da seiner „Befreiung“ hervorzuheben: „Sobald der tatsächlich der großen Zahl der Opfer nur eine relative Staatsvertrag abgeschlossen war, waren die Wider­ kleine Anzahl „direkter“ Täter gegenüberstand. Die standskämpfer uninteressant. Diese kleine Minder­ Konfrontation hätte jedoch zwischen den Opfern und heit fiel bei den ersten Wahlen nicht ins Gewicht. der vergleichbar eher großen Zahl von Mit-Tätern Dort, wo der Widerstand am aktivsten und effektiv­ und Mit-Läufern geschehen müssen, die selbst direkt sten gewesen war in dem Teil Kärntens, in dem nicht an Unrechtshandlungen beteiligt gewesen sind unsere Kärntner Slowenen leben wurde die und sich subjektiv durchaus als „Unschuldige44 und 14 Peter Malina Medien & Zeit 4/87 damit auch als Nichtverantwortliche fühlen. Mit dem Er ist niemals kritisch hinterfragt und in seinen biologischen Ende der Generation der Täter und der Auswirkungen auf gesellschaftliches und individuelles Mitläufer sei das Problem freilich nicht gelöst. Gerade Verhaltens damals wie heute aufgearbeitet worden: die Ereignisse der beiden letzten Jahre widerlegten „Damit“ — so Nadine Hauer - „wird das Dilemma „die bis zum Überdruß geäußerte Behauptung, mit zum zweifachen: im persönlichen Bereiche zum endlos dem Aussterben der ,Erlebnis-Generationen4 auf bei­ transportierten Eltern-Kind-Konflikt ..., in Gesell­ den Seiten würden sich alle Vergangenheitsprobleme schaft, Politik und Wirtschaft zum Konflikt zwischen von selber lösen, wäre eben diese Vergangenheitsauf­ Starken und Schwachen, zwischen Macht und Ohn­ arbeitung daher überflüssig“ (S. 28). macht, wobei Stärke und Schwäche sowie Macht und Die gegenwärtige Diskussion um die Aufarbei­ Ohnmacht ja auch im familiären Bereich die zentrale tung der Vergangenheit verschiebt sich immer mehr Rolle spielen44 (S. 34). Tabuisierung geschieht auch in auf eine Konfrontation zwischen den Kindern und der Gegenwart. Das Hinterfragen des „normalen44 Enkelkindern der beiden Gruppen. In der Erkenntnis, Alltags und die Aufdeckung der Verstrickung der daß „ganze Generationen durch das nationalsoziali­ Eltern in diese „Normalität“ bedeutet im Grunde ja stische System vor allem psychisch geschädigt wur­ auch, „die eigene Normalität, die eigene Sozialisation, den“ (S. 30), ist für Nadine Hauer daher eine „Bewäl­ die eigene (Nicht-) Fähigkeit zum Widerstand in weit tigung“ nur mit der „anderen“ Seite gemeinsam harmloseren Situationen zu hinterfragen. Auch hierin möglich. Beschädigungen waren sowohl die Opfer wie hat die stillschweigende Weitergabe von Verhaltens­ die Täter und deren Kinder permanent ausgesetzt weisen perfekt funktioniert“ (S. 33). und dies vor allem dann, wenn die eigene Lebensge­ Während das Eingeständnis von „Schuld“ oder schichte unaufgearbeitet blieb und durch Verschwei­ Mitschuld in der Generation der Mitläufer und gen zumindest auf Zeit verdrängt werden sollte. Aus Mittäter nicht mehr auf dieselben Widerstände stößt der Bundesrepublik ist bekannt, daß dieser durch wie bisher, bleibt das Gefühl der „Scham“ über das, permanente Tabuisierungsversuche entstandene was geschehen ist, immer noch im Hintergrund. Die „blinde Fleck“ der persönlichen wie der kollektiven „Nachgeborenen44 stehen heute vor der notwendigen Geschichte ein immer wichtiger werdender Bestand­ Aufgabe, die Erfahrungen der Auseinandersetzung teil von Psychotherapien wird. Daß diese Entwick­ mit einer belastenden Vergangenheit in die konkrete lung in Österreich derzeit nur in Ansätzen zu beob­ Gegenwart zu transponieren: „Scham kann jemand achten ist, heißt nicht, daß es auch nicht hierzulande nur empfinden über das, was er selbst getan oder dieses Problem gibt: „Die historische ,Lebenslüge4, unterlassen hat, in seinem täglichen Leben, keines­ Österreich wäre das erste Opfer Hitler-Deutschlands wegs nur im Zusammenhang mit den Juden. Das gewesen, hat es nur stärker verstellt und in bewährt würde aber auch ein Hinterfragen des heutigen Ver­ österreichischer Manier unterschwellig belassen. Die haltens erfordern. Und diese Frage besteht für die psychischen Störungen sind jedoch um nichts geringer nachfolgenden Generationen in ungeminderter Be­ als in der Bundesrepublik Deutschland; die ,Mittäter4 deutung: ,Wie würde ich mich in einer solchen Lage sind die gleichen. Und ebenso sind es die individual- verhalten? Wie verhalte ich mich in meinem Alltag und sozialpsychologischen Störungen, die sich in heute, wenn ich mit Unrecht neben mir (nicht nur Österreich auch gesellschaftlich und in der politischen allgemein politisch und weit weg) konfrontiert wer­ Kultur niederschlagen“ (S. 31). de?4 Empfinden Jugendliche heute Schuld oder In der Übernahme der Tabus der Eltern durch Scham, wenn sie Zusehen, wie ein Ausländer be­ die Kinder entstand ein Vakuum, das erst die Enkel­ schimpft wird ? Ziehen sie daraus Konsequenzen ? Die generation mit Erinnerungsversuchen aufzufüllen im­ Erfahrung zeigt, daß dies im allgemeinen nicht so ist. stande sein wird. Konfliktstoffe, die nicht bearbeitet Die NS-Ideologie mit ihren Auswirkungen in der Zeit sind, werden über Generationen hinweg den „Nach­ von 1938 bis 1945 hat diese Frage bis heute konkret geborenen44 übertragen. Familiäre Konflikte (Still­ gehalten. Sie ist jedoch bis heute unbeachtet und schweigen durch die Generation der Beteiligten und unbeantwortet geblieben: als Dauertrauma44 (S. 35). Tabuverletzung durch die Generation der Nachfol­ Scham ist immer auch mit der Einsicht von genden) und gesellschaftliche Konfliktstoffe sind da­ Ohnmacht verbunden. Sie ist daher auch eine Heraus­ bei nicht von einander zu trennen. Vor allem der als forderung für eine Leistungsgesellschaft, die nur den gesellschaftliches Leitbild wirkende und verwendete „Erfolg44 honorieren möchte. Während „Schuld“ Sozialdarwinismus ist es, der nach der Ansicht Nadine immer noch das Gefühl vermittelt, etwas „getan44 zu Hauers nach 1945 in anderer Verkleidung nahezu haben, bedeutet Scham, sich damit auseinanderzuset­ ungebrochen — diesmal als „Leistungsanspruch44 an zen, warum dies so möglich gewesen ist und zu die Gesellschaft und den einzelnen und als Ideologie begreifen, daß man an sich etwas geschehen habe der Tüchtigkeit und des Durchsetzens — weiterlebte. lassen. Sich nach den Ursachen dieser „Ohnmacht“ Medien & Zeit 4/87 Österreichs Umgang mit der Vergangenheit 15 zu fragen (auf die übrigens immer wieder rekuriert in ihrem Gegenstück, der manischen Abwehr des wird mit dem Hinweis, man habe ja nichts tun Ungeschehenmachens und der Flucht nach vorne“. können), ist eine wesentliche Voraussetzung für per­ Statt sich mit dem Verlorengegangenen erinnernd sönliche und gesellschaftliche Veränderungen (S.35). auseinanderzusetzen, bleibt dasErlebnisdes Verlustes Wenn von „Schuld“ geredet wird, dann ist in der unbearbeitet und wirkt so unbewußt weiter. Regel immer die Schuld anderer gemeint, und die Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit Nachfolgegeneration spielt dieses Spiel mit: „ auch sie prägt Täter wie Opfer und wirkt in ihrer geglückten ist nicht schuld, sondern die Eltern sind es, die sie wie in ihrer mißglückten Aufarbeitung in die Gesell­ nicht informiert haben. Und selbstverständlich ist sie schaft hinein. Spielen bei den „Opfern“ Fragen der auch nicht schuld am Unrecht, das nach dem Krieg „Überlebensschuld“, „Selbsthaß“ und „Identifika­ geschehen ist und heute geschieht immer sind es die tion mit dem Aggressor“ eine bedeutsame Rolle, so ist ,anderen', die ,Bösen' “ (S. 39). Für Nadine Hauer die Aufarbeitung durch jene, die als Täter und heißt dies letzten Endes — so die pessimistische Mittäter überlebten, vielfach noch unbekannt. „Auf­ Schlußfolgerung -, daß sich im Grunde im wesentli­ klärung“ über Vergangenheit ist nach Mendelssohn chen nicht viel verändert hat: „Geblieben ist auch die unter einem dreifachen Aspekt zu sehen: „In der Verteufelung der Kommunisten, ebenso die der Ju­ philologischen Tradition humanistischer Aufklärung den, der Fremdvölker; es gibt also keine Änderung der sind wir damit beschäftigt, Wortbildungen wie ,End­ Grundstruktur der NS-Ideologie; die Teilung in ,Gu­ lösung' und ,Holocaust' zu entmystifizieren, um sie in te' und ,Böse' ist geblieben, wird immer wiederholt der Folge durch das W ort,Massenmord' zu ersetzen. und weitergegeben'' (S. 39). Erst diese Benennung erschließt diezweite Dimension aufklärerischen Wirkens, in der Gerichtsbarkeit: 3 Mord ist strafwürdig. Wer also übernimmt die Ver­ antwortung? Schließlich ist der dritte Aspekt — jener „Immer noch befindet sich die deutschsprachige der sexuellen Aufklärung in der These enthalten, es Psychologie inmitten der Auf räumungsarbeit, in Öster­ handle sich wohl bei aktiver oder stillschweigender reich sind wir vielleicht nicht einmal so weit. Es kann Beihilfe zum Massenmord um eine kollektive Regres­ einen dabei das Gefühl der Ohnmacht überkommen, sion in der psycho-sexuellen Dynamik die Möglich­ oder von Angst, daß diese Arbeit eine nicht zu bewälti­ keit zu einer Position der Verantwortung in einer gende Aufgabe dar st eilt." differenzierten Auseinandersetzung von Liebe und Felix de Mendelssohn (S. 42) Haß gegenüber einem anderen, fremden Menschen Auch für den Psychoanalytiker Felix de Men­ werden aufgegeben zugunsten primitiver Empfindun­ delssohn gehört das „Dritte Reich“ nur in historischer gen von allmächtiger Erlösung und globaler Verfol­ und politischer, nicht aber in psychologischer Hin­ gung“ (S. 48). sicht der Vergangenheit an. Vieles vom Vergangenen Die permanente Abwehr der Erinnerung ist für ist immer noch gegenwärtig, weil es nicht zur Kennt­ Mendelssohn mit ein wesentlicher Grund für den nis genommen und kaum aufgearbeitet worden ist. politischen Immobilismus im Österreich der Gegen­ Diese „Aufräumungsarbeit“ als „Kampf um die wart. Als das eigentliche psychische Trauma sei der Erinnerung“ ist ein mühseliges, frustrierendes Unter­ „Verlust“ Hitlers als Verlust eines narzistisch über­ nehmen, das seinen Preis hat. Auch die psychologi­ höhten Ich-Ideals und der damit wiedererlebten kind­ sche Praxis „trägt für uns zuweilen Züge einer endlo­ lichen Allmachtsvorstellungen zu verstehen. Die me­ sen und elendiglichen Verarbeitung und Wiederver­ lancholische Reaktion auf diesen Verlust bewirkte wertung von tödlichem, immer neu produzierbarem zunächst eine massive Derealisierung und die Abwehr Müll“ (S. 42). Die Aufarbeitung der Vergangenheit von Trauer um die Schuld. Erinnerung geschah vor als Unternehmen der „Bewältigung“ ist zu verstehen, allem in der Aufrechnung der eigenen Schuld gegen ist für ihn mit dem Versuch einer „gewalttätigen“ die der anderen; die rasche Identifizierung mit den Umkehrung der tatsächlichen Vehältnisse assoziiert. „Siegern“, die kollektiven Anstrengungen im Wieder­ Sein besonderes Interesse gilt daher der „Aufklärung“ aufbau (als Zeichen eines manischen Ungeschehen- übereine zeitgeschichtliche Vergangenheitsaneignung machenwollens) und die Ersetzung der Trauer durch in Österreich und der Frage, inwieweit kollektive die Identifikation mit den unschuldigen Opfern sind Trauer überhaupt in einer Gesellschaft wirksam wer­ die Anzeichen einer kollektiven Abwehr von Schuld, den könne. „Trauerarbeit“ ist für Mendelssohn die die letzten Endes sich selbst an die Stelle der tatsächli­ Fähigkeit, sich bewußt von etwas zu trennen und chen Opfer zu setzen begann und dann — so Mendels­ Vergangenes zu erinnern, zu wiederholen und durch­ sohn — „böse Mächte“ und Verleumdungen als zuarbeiten. Unterbleibt diese Trauerarbeit, dann Ursache dafür angab, daß die solange anscheinend so „entstehen Fixierungen, wie in der Melancholie oder perfekt verdrängte Vergangenheit plötzlich wieder 16 Peter Malina Medien & Zeit 4/87

zum Problem der Gegenwart wurde. Ausschau, ist die Enttäuschung einfach und beschä­ Vergangenheits-Bewältigung betrifft tiefe mend“ (S. 54). Für Mendelssohn ist daher die Demo­ Sehichten des gesellschaftlichen Bewußtseins und des kratisierung des Unterrichts eine wesentliche Voraus­ Verständnisses der Vergangenheit wie auch der gegen­ setzung für die Überwindung der autoritären und wärtigen Lebenspraxis. Alexander und Margarete totalitären Spuren der Vergangenheit: „Was an sol­ Mitscherlich haben im übrigen bereits vor Jahren chen Spuren im Alltag der Schüler in und außerhalb schon daraufhingewiesen, daß ein bloßer Generatio­ der Schule heute auffindbar ist, wäre zu einem zu nenwechsel diese Mechanismen von Verdrängung erinnernden ,Damals4 in Beziehung zu setzen, sonst und Schuldabwehr nicht so einfach zu unterbrechen kann nichts durchgearbeitet werden. Zeitgeschichte imstande sein wird. Gelernte Verhaltensmuster sind zu unterrichten kann auch heißen, ihre Manifestatio­ schwer zu modifizieren. Vermittlung von Vergangen­ nen im Hier und Jetzt klarzustellen und Formen zu heitswissen und Stiftung neuer Umgangsweisen mit finden, die diese wiederum für den einzelnen emotio­ der Vergangenheit und der Gegenwart sind daher eine nal nachfühlbar und somit verständlich machen“ (S. wesentliche Voraussetzung für die Überwindung der 56). Begrenzungen und Eingrenzungen durch eine nicht­ bewußte, weiterwirkende Vergangenheit. In diesem 4 Kontext ist die Debatte westdeutscher Historiker um “Why throw dirt ...? Don’t let’s warm up former die Singularität der Konzentrationslager für Men­ horrors. You can’t change anything.’’ delssohn ein Signal für eine deutlich werdende anti­ aufklärerische Tendenz auch innerhalb der Ge­ Elisabeth Schwarzkopf in der „New York Times“ schichtsschreibung: „Sie soll für die Erinnerung in der über ihre Vergangenheit (S. 68) Gegenwart festhalten, was in der Vergangenheit pas­ siert ist; aber sie soll auch Noch-Gegenwärtiges, das In der unmittelbaren Nachkriegszeit war die aus der Vergangenheit herrührt, in die Vergangenheit Auseinandersetzung mit der (eigenen) Vergangenheit verbannen. Geschichtsschreibung als Kulturleistung eine Lebensfrage für alle jene, die ungeschadet ihrer ist eine Kompromißbildung zwischen Wunsch und Korrumpierung und Mit-Täterschaft weiterleben Abwehr. Die eigene Vergangenheit soll sozusagen wollten, als wäre nichts geschehen. Dabei ging es um libidinös besetzt werden, nicht zuletzt, weil sie einem sehr konkrete Fragen, die sich auf Stellenbesetzungen, in vielen noch Angst machen kann — ihre unangeneh­ Einfluß und Interessen bezogen. Für Österreich als men Abkömmlinge können aber zugleich auf den dem „Land der Geiger und Tänzer44 spielte dabei die Platz eines abgeschlossenen, abgckapselten Stücks Pflege der kulturellen Tradition eine nicht unbedeu­ Geschichte verwiesen werden“ (S. 54). tende Rolle. Der Rückzug auf die „Kultur44 und die Neben Verdrängung und Verleugnung sind Hi- Traditionen Österreichs, seine Glanzleistungen und storisierung und Justifizierung der Vergangenheit Errungenschaften in der (fernen) Vergangenheit sollte wesentliche Teile einer Abwehrstrategie, die die Ver­ die „Errungenschaften“ des Dritten Reiches, an de­ gangenheit von der Gegenwart zu lösen versucht: Mit nen auch Österreich teilgehabt hatte, vergessen ma­ der Niederschreibung der Vergangenheit soll diese chen. zugleich auch „außer Kraft“ gesetzt werdön; die Im Rückblick zeigt sich, daß die österreichische Justifizierung zielt im Grunde auf eine schrittweise Kulturszene in einer Mischung von Naivität, Unver­ Außerkraftsetzung des Rechtsbewußtseins und die ständnis und berechnendem Opportunismus es ver­ nachträgliche Fiktion des Befehlsnotstandes (S. 54). stand, nahezu bruchlos von der Kunstausübung im Dazu kommt, daß damit eine kollektive Gewissens­ Faschismus in den Kunstbetrieb des demokratischen entlastung durch den Abwehrmechanismus der Ver­ Nachkriegsösterreich überzugehen und weiterhin schiebung erzielt wird (einer steht da, angeklagt für „Kunst44 zu machen — so als wäre nichts geschehen. viele, die sich in ihm nicht wiedererkennen wollen) (S. So wie Elisabeth Schwarzkopf der Meinung war, sie 57). habe nur für die Kunst gelebt, und dabei von den Angesichts dieser kollektiven Bedingungen von jeweiligen Rahmenbedingungen dieser Kunstaus­ Vergangenheitsarbeit ist es nicht verwunderlich, daß übung absehen wollte, so führte die Fixierung auf die Historiker mit ihren Studien so wenig Wirkung auf einen im gesellschaftlichen Vakuum angesiedelten das kollektive Bewußtsein auszuüben vermochten. Begriff von „Hochkultur“ dazu, daß sich die „alten44 Der Befund ist für Mendelssohn auch für Österreich Kräfte auch in der österreichischen Kunstszene nach enttäuschend: „Eine neue Aufklärung muß sich auch 1945 wieder zu etablieren vermochten. In dem Beitrag in einer liberalen Öffentlichkeit finden, die einer des Wiener Historikers Oliver Rathkolb wird deut­ humanistischen Tendenz kritischer Entmythisierung lich, wie sehr Widersprüche und eine ex post kaum verpflichtet ist. Halten wir danach in Österreich verständliche Toleranz für die Kunstschaffenden des Medien & Zeit 4/87 Österreichs Umgang mit der Vergangenheit 17

Dritten Reiches die unmittelbare Nachkriegszeit be­ Künstler hat Rathkolb an mehreren Beispielen (Elisa­ stimmten. Selbst die sowjetischen Kulturoffiziere beth Schwarzkopf, Herbert Karajan, Attila Hörbiger, stellten (entgegen dem immer wieder kolportierten Paula Wessely und Karl Böhm) ausführlich darge­ Klischee der bolschewistischen Barbaren) zunächst stellt. die institutionellen Rahmenbedingungen kaum in Persönlicher Opportunismus, Ignoranz und wen­ Frage. Bemerkenswert ist weiterhin, daß die neuen dige Anpassung an die jeweiligen Gegebenheiten sind Kulturfunktionäre an der Spitze von Staatsoper und gewiß wichtige personengeschichtlich relevante Ein­ Burgtheater vor allem die restaurative Funktion ihrer zelheiten. Sic sind Elemente einer Entwicklung, die Institutionen in den Vordergrund stellten. Entspre­ insgesamt dadurch gekennzeichnet ist, daß die Frage chend einem traditionellen Konzept von Hochkultur der Entnazifizierung der österreichischen Gesellschaft hatte die Moderne in Österreich so gut wie keine nach einigen Ansätzen nach 1945 sehr bald gegenüber Chancen. Die Pflege der Klassik bot überdies die tagespolitisch wichtigeren Fragen in den Hintergrund Möglichkeit, jede Diskussion über peinliche Kontinu­ gestellt wurde. Dazu kam, daß der „Wiederaufbau itätsfragen beiseite zu lassen. und der Kalte Krieg ... seit 1946/47 die inhaltlichen Dieses Beharrungselement im Musikbetrieb muß­ Überlegungen hinsichtlich einer politischen Ausein­ te allerdings nach den Überlegungen Rathkolbs be­ andersetzung mit dem Nationalsozialismus völlig sonders die Auseinandersetzung um die „faschisti­ verdrängt“ hatten: „Auf seiten der Alliierten setzte sche“ Vergangenheit der Kunstschaffenden bestim­ sich die Politik der ideologischen und ökonomischen men, da der Primat einer perfektionistischen Repro­ Westintegration durch, und die Sowjetunion selbst duktion traditioneller und „klassischer“ Kunstwerke hatte gerade in Entnazifizierungsfragen eine viel zu einen Einsatz reproduzierender Künstlerinnen und wechselhafte Politik verfolgt, als daß sie ihre rigide Künstler unumgänglich notwendig machte (S. 64). So Haltung ab 1946 politisch hätte untermauern können. gehörten zum Beispiel von 117 Philharmonikern 45 So unpolitisch sich in diesem Zusammenhang manche (also rund 40%) der NSDAP an, von denen allerdings Künstler gaben, so deutlich spürten sie, wie umwor­ nur wenige (etwa 9%) entlassen wurden. ben sie waren. Es gab für sie daher auch keinen Die Fixierung auf einen nicht weiter hinterfrag­ Grund, ihre Haltung während der NS-Zeit zu reflek­ ten, „unpolitischen“ Begriff von Kunst ermöglichte tieren“ (S. 73). Dazu kam, daß die österreichische den Mitgliedern der österreichischen Kunstszene die Emigration nur sehr zögernd nach Österreich zurück­ Weiterarbeit in der demokratischen Republik, ohne kehrte: „Doch gerade durch eine bewußte und umfas­ daß ernstlich die Frage nach den Zielsetzungen und sende Rückführung von Künstlerinnen und Künst­ der Instrumentalisierung ihrer Kunstausübung im lern aus dem Exil oder zumindest durch temporäre nationalsozialistischen Herrschaftssystem gestellt Gastverträge hätte man jene austrozentrierte Treib­ werden mußte. Der Konflikt zwischen „Gesinnung“ hausatmosphäre vermieden, in der zwar ständig über und künstlerischer Perfektion wurde niemals offen kulturelle Entnazifizierung diskutiert wurde, aber zur Sprache gebracht, geschweige denn aufgearbeitet. außer von Berufsverboten und deren möglichst rasche Im Ausland freilich (Rathkolb sieht hier zurecht eine Aufhebung über nichts anderes geredet wurde. Die erschreckende Parallele zu den Ereignissen der letzten künstlerische Elite wurde dadurch keineswegs ani­ Monate in Österreich) wurde diese stillschweigende miert, sich mit ihrem eigenen politischen Verhalten zu „Bewältigung“ der Vergangenheit ohne sichtbare beschäftigen, denn die Kontinuität zu den Jahren vor Zeichen konkreter und ernster Beschäftigung mit 1945 wurde von Monat zu Monat stärker und bald ihren politischen und gesellschaftlichen Implikatio­ hatte das Publikum jene Dirigenten vergessen, die wie nen keineswegs goutiert, und eine für April 1946 beispielsweise Josef Krips und andere die Salzburger geplante Auslands-Tournee der Wiener Philharmoni­ Festspiele und die Wiener Staatsoper über eine ker mußte nicht zuletzt deswegen abgesagt bzw. ,Durststrecke4 von zwei Jahren gebracht hatten44 (S. verschoben werden. Die Frage, um die es ging, hatte 74). damals der Chefredakteur des „Wiener Kurier“, Bedenklich stimmt, daß schon in einer Umfrage Hendrik J. Burns, folgendermaßen formuliert: aus dem Jahre 1946 52 Prozent der Befragten der „Braucht Wien und braucht Österreich heute ein Meinung waren, ehemaligen NS-Mitgliedern sollte es philharmonisches Orchester, das voll und ganz der wieder gestattet sein, ihrer künstlerischen Tätigkeit Tradition entspricht oder soll das neue Österreich ohne Rücksicht auf ihren Einsatz für das „Dritte und das neue Wien vorübergehend ein weniger gutes Reich“ nachzugehen (S. 82). „Es scheint heute je­ Orchester besitzen — dafür jedoch ein neues und doch,“ — so Rathkolb in seinem Resume zum Fall wirklich demokratisches?“ (S. 67) Die Widersprüch­ Hörbiger-Wessely „daß die nachgeborenen Gene­ lichkeit der Auseinandersetzungen mit der faschisti­ rationen jetzt jene Fragen stellen, die 1945 bis 1947 schen Vergangenheit belasteter Künstlerinnen und nicht beantwortet wurden. Geschichstfälschung und IS Peter Malina Medien & Zeit 4/87

Betrug an der Wahrheit wäre es, dieser durchaus der wohl mit eine der Bedingungen für den Sieg berechtigten Forderung nicht nachzukommen. Hät­ faschistischer Bewegungen“ gewesen ist (S. 86). ten die ängstlichen Biographen der Kulturelite, hätten Die „Dämonie der Gemütlichkeit“ eines „Herrn die naiven Schulbuchautoren nicht diesen Themen­ Karl“ (1961) wollte von den Gemütlichen ebenso kreis ausgeklammert, oder hätten die Betroffenen in wenig akzeptiert werden wie Zykans „Staatsoperette“ ihrer öffentlichen Tätigkeit über derartige Probleme oder Pevny-Turrinis „Alpensaga“ . Für Karl Müller gesprochen die Posse , Burgtheater4 wäre nie ge­ ist die österreichische Literatur nach 1945 im Grunde schrieben worden“ (82f.). durch zwei „Literaturen“ gekennzeichnet. Auf der einen Seite jene, die sich einem „Niemals vergessen !“ verpflichtet fühlt und von Schuld und politischer Verantwortung der Täter, von Widerstand und Völ­ kermord spricht: „da ist von Anklage, Mahnung, Warnung und Verpflichtung die Rede ... und vom 5 ,Aufruf zum Mißtrauen (uns selbst) gegenüber4 “ (S. 88). Auf der „anderen“ Seite stehen jene, „deren Vertreter sich, sicher nicht minder betroffen und ,, Wo sonst also wurde die prägendste Geschiehts- subjektiv ehrlich, der Katastrophe des Zusammen­ erfahrung der Österreicher, der Untergang der Demo­ bruchs der alten nationalsozialistischen Ideale, Sehn­ kratie, der faschistische Terror und imperialistische süchte und Hoffnungen widmen. Fragen der Identi­ Krieg in allen Tiefen, in allen politisch-ideologischen, tät, Gefahren der Verharmlosung, des Ausblendens, materiellen, moralischen und psychischen Folgen und des heimlichen bis offenen Legitimierens und Zu­ mit all den offenen Fragen breiter und intensiver rechtrückens im nachhinein, des doppelzüngigen und besprochen als in der Literatur ?“ bewußtseinslosen, sprachunkritischen Umgehens mit Karl Müller, (S. 90f.) sich und der Vergangenheit prägen das Bild“ (S. 89). Zunächst schien es so, als hätte die Literatur Die Vergangenheit ist niemals einfach „tot“ : sie dieser „Belasteten“ in jeder Hinsicht abgewirtschaftet lebt in den Überlebenden weiter. Der Salzburger (S. 92). Zur Vorgeschichte des Jahres 1945 gehört Germanist Karl Müller hat sich in seinem Beitrag den freilich nicht nur die nationalsozialistische Tradition: „NS-Verlassenschaften“ der österreichischen Litera­ „die reichsdeutsche Literatur- und Kulturpolitik traf, tur als jenem Bereich der Kultur gewidmet, in dem die als sie auch in der ,Ostmark4 ungehemmt ,arbeiten4 Aufarbeitung der Vergangenheit immer wieder, mit konnte, bereits auf eine hausgemachte österreichische sehr verschiedenen Ergebnissen und von sehr ver­ Enge, die auch auf das Konto der ständestaatlichen schiedenen Voraussetzungen und Erfahrungen ausge­ Kulturpolitik verbucht werden muß. Diese hatte sich hend, zur Sprache gekommen ist: „Wo sonst in der literatur-ideologischen Prämissen verschrieben, die in österreichischen Kultur nach 1945 als in der österrei­ vielen Aspekten der nationalsozialistischen Auffas­ chischen Literatur wurden die Ungeheuerlichkeiten, sung aufs Haar glichen. Vereinheitlichung und Zen­ die Dramen, Verbrechen und das Ausmaß an Leid, surdenken waren auch in Österreich in Mode geraten. Schuld, präpotenter und dummer wie naiver Verleug­ Auch hier war das sogenannte bodenständige Schrift­ nung, von Verdrängung und anmaßendem Weitertun, tum im „Aufwind44 (S. 93f.). Die Suche nach der als ob nichts geschehen wäre, genauer, ehrlicher, österreichischen Vergangenheit wird nicht daran Vor­ umfassender, komplexer und differenzierter behan­ beigehen können, daß dieses Österreich vor 1938 kein delt?“ (S. 85) Die österreichische Nachkriegsgesell­ „Garant weltbürgerlicher Offenheit44 gewesen ist (S. schaft freilich stand diesen Versuchen verständnislos 94). Otto Basil, der Herausgeber des „Plan44, hat bis feindlich gegenüber. Einen Grund dafür sieht schon Ende 1945 die Themen der österreichischen Müller zurecht darin, daß in der Aufarbeitung der Diskussion um die Hinterlassenschaften des Faschis­ Vergangenheit durch Literatur immer auch die eigene mus benannt: Entnazifizierung und Selbstverantwor­ Identität entscheidend in Frage gestellt wird und die tung und die Frage nach der Kontinuität der österrei­ Trägheit von Vorurteilen es mit sich bringt, daß chischen Literatur nach 1945. Es mag angesichts der „anderes“, Fremdes, Feindliches nicht herangelassen gegenwärtigen Auseinandersetzungen überraschend wird (S. 86).Ödön von Horvaths „Geschichten aus sein, daß in der unmittelbaren Nachkriegszeit gerade dem Wienerwald“ zum Beispiel stießen anläßlich ihrer auf dem Gebiete der Literatur die Diskussion um die österreichischen Erstaufführung 1948 auf die Empö­ österreichische Vergangenheit am Beispiel einiger rung des Publikums nicht zuletzt deswegen, weil es „Fälle44 (Müller nennt Waggerl und Weinheber) zu­ ihm „seinen eigenen kleinbürgerlichen Mief vorsetzte, mindest ansatzweise begonnen wurde. Wesentlich Medien & Zeit 4/87 Österreichs Umgang mit der Vergangenheit 19 entscheidender war es jedoch, daß diese scheinbar geht daher in seiner hartnäckigen literarischen „Suche ernstlich in Frage gestellte Literatur sehr bald wieder nach einer patriotischen Utopie“ zu Recht bis in die salonfähig werden konnte. Müller zitiert in diesem Monarchie zurück. Ein Ansatzpunkt dazu ist das Zusammenhang eine Passage aus Friedrich Heers Bekenntnis zum österreichischen Patriotismus, der Beitrag in dem Sammelband ,,Vom Reich zu Öster­ dieses Land als Heimat von „deutschen“, sloweni­ reich“: ,,Die Schatten, die Verengungen, die Animosi­ schen, kroatischen, magyarischen und tschechischen täten, die Cliquen, die Ghettos, die sich damals ... Österreichern begreift und aus der Vergangenheit nur bildeten, prägen heute noch tief, von unten her, jene Bereiche in die Gegenwart hineinnimmt, die in ein Mentalität und Sentimentalität, Hochmut und Eitel­ bislang so gut wie gar nicht hinterfragtes Klischee keit, Selbst Verschlossenheit in den einzelnen Szene­ eines Österreich zu integrieren sind: „Wir können rien, die in den neun Bundesländern formal ,Öster­ aber nicht den in die Vergangenheit entschwindenden reich' bilden“ (S. 105). Bildern in verzückter Wehmut nachwinken, sofern sie Erschreckend deutlich wird, daß es in der Re­ uns schmeicheln, die anderen aber übersehen. Die staurationsphase nach 1945 grundsätzlich (trotz aller Geschichte entläßt niemanden“ (S. 126). politischen Hypothek) jene „leichter“ hatten und jene Daß bei der Aufarbeitung der Vergangenheit problemloser gesellschaftlich akzeptiert wurden, die Lebenserfahrungen ganz wesentlich beteiligt sind, hat sich nicht gegen die „Tradition“ sondern in ihr der Journalist und Schriftsteller Thomas Pluch in bewegten: „Wollte man zum Beispiel über den Natio­ seinem Beitrag am „Modellfall Kärnten“ gezeigt. nalsozialismus schreiben, dann wares nicht opportun, Wesentlich ist die „Optik“ (S. 18) anders gesagt der die Methode Paul Celans, Ilse Aichingers oder Inge- Zugang zur Vergangenheit, der in ihm ein spezifisches borg Bachmanns usw. zu verwenden, sondern jene Bild der Geschichte Kärntens entstehen ließ, das von von Kurt Ziesel oder Bruno Brehm“ (S. 107). Als einem Freund-Feind-Denken geprägt gewesen ist. Beispiel für die österreichische Art der Vergangen­ Bilder prägen die Vorstellungswelt und die Einstel­ heitsauseinandersetzung führt Müller Karl Heinrich lung: „Im optischen Vergleich konnte diese Gemein­ Waggerl an. Dieser wandte sich zwar gegen die schaft nur aus den Söhnen des Lichts bestehen, „Nachurteile“ als die schlimmste Form der Vorurteile inkarniert in den Deutschkärntnern, die den Mächten und meinte, die Saat der Gewalt werde immer wieder des Bösen, den Südslawen, die Stirne boten“ (S. 18f.). keimen, „solange wir uns mit eitler Selbstgefälligkeit Für Thomas Pluch ist Kärnten ein „Spezialfall öster­ nur um das kümmern, was geschehen ist, und nicht reichischer Vergangenheitsbewältigung“, da hier die einsehen lernen, warum es geschehen konnte“ (S. Ideologie der Wertigkeit und Schuldhaftigkeit natio­ 102). Tatsächlich jedoch ging es ihm wesentlich naler Zugehörigkeit immer noch auf „fruchtbaren darum, „Ruhe und Friede“ für seine dichterische Boden“ fällt (S. 19f). Salopp ausgedrückt: im natio­ Arbeit abseits aller Diskussionen um seine politische nalen Kärntner Mensch-ärgere-Dich-Spiel rücken die Belastung zu finden. Er konnte (oder wollte) nicht „deutschen“ Kärntner immer schon bei der Geburt einsehen, daß das Herbeischreiben von Glück in zwei Felder vor - „der Slowene hingegen setzt wegen seiner Heimat-Dichtung von den Nazis mißbraucht seiner Abstammung von Haus aus einmal beim werden konnte, denen er „bewußtlos“ in die Hände Würfeln aus“ (S. 20). Durch die Verschleierung von gearbeitet hatte (S. 103). Gegensätzen wird eine Harmonie konstruiert, die es in der historischen Realität so nicht gab: Aus einem auch 6 historisch belegten „Verständnis“ beider Volksgrup­ pen im 10. Jahrhundert wird dann ein „Schulterklop­ „Die Bewältigung der Vergangenheit kann nicht in fen“, das auf den Schultern der Minderheit ein der gegenseitigen persönlichen An- und Aufrechnung ungebrochenes Mißverständnis austrägt (S. 25). der begangenen Irrtümer und Verbrechen der jeweils Thomas Pluch nennt vor allem drei Strategien, anderen Seite bestehen, sondern nur in einer selbst mit die einer Aufarbeitung entgegenstehen und die es leidlosen Analyse der durch falsches Bewußtsein her­ letztlich verhindern, daß die Dinge beim Namen vorgerufenen Katastrophen, aus deren Verantwortung genannt werden: der Wertkonservativismus, ein neuer sich keine der handelnden Personen mit der Ausflucht Patriotismus und (als traditionelles Element österrei­ fortstehlen kann, ,man habe von nichts gewußt'." chischer politischer Kultur) ein profunder Antikom­ ' Felix Kreissler (S. 131) munismus. In der Diktion Pluchs „drei Käseglocken, Die Konzentrierung der Diskussion auf die um den Gestank von Faschismus, Rassismus und österreichische jüngste Vergangenheit (so notwendig Chauvinismus zu überdecken. Alle drei Begriffe sind und wichtig sie ist) hat bislang weitgehend verdeckt, Mutationen von ursprünglich konstruktiven Gesin­ daß auch die Vor-Vergangenheiten Österreichs so gut nungen: Heimatliebe mutiert zu Fremdenhaß, Freude wie gar nicht aufgearbeitet sind. Wolf In der Maur an der Leistung zur Verachtung der Schwachen und 20 Peter Malina Medien & Zeit 4/87

Behinderten und Freiheitsliebe zu Unduldsamkeit Lebensperspektive: „Erst ein Abgehen von der in und Unterdrückung. Abneigungen, die aus Zuneigun­ Österreich so verbreiteten Praxis der Selbstbcmitlei- gen hervorgehen und die sogar in Aggression Um­ dung, während man anderen gegenüber ohne Milde schlagen“ (S. 25). vorgeht, ermöglicht echtes Aufarbeiten, echte Trauer­ Felix Kreissler hat in seinem Beitrag ergänzend arbeit, nicht nur vor allem über das eigene Schicksal, dazu einen Katalog dessen zusammengestellt, „was sondern über das Schicksal, das anderen bereitet noch alles bewältigt werden muß“ und an erster Stelle wurde und an welchem so manche in Österreich aktiv jene österreichische Tradition genannt, die immer oder passiv mitgewirkt haben“ (S. 131 f.). noch im historischen Rückblick die „anderen“ für den Dies bedeutet für Kreissler letzten Endes, nun Verfall der Donaumonarchie schuldig erklärt. An ganz entscheidend Friedenspolitik und Friedensarbeit zweiter Stelle fuhrt er zum Syndrom des Minderhei­ als wesentliche Elemente der österreichischen Na­ tenhasses die „Zwillingsbrüder“ Pangermanismus tionswerdung zu verstehen, wobei im Anschluß an ein und Antisemitismus an, und drittens gehe es nun um Wort von Friedrich Heer in „Frieden leben“ nur die Neuformulierung des Verhältnisses von Österrei­ bedeuten könne: in Konflikten zu leben, sich auf den chern zum Dritten Reich, das immer noch unter dem „Gegner“ einzulassen, immer wieder, unser ganzes Aspekt der „Pflichterfüllung“ gesehen wird. „Die Leben (S. 140). Zu dieser Identität von einem neuen, notwendige Würdigung der Rolle der KZ-lnsassen, anderen Österreich gehörte es aber auch, zu begreifen, Widerstandskämpfer und Exilanten bei der Konsti­ daß Identität „haben“ nicht gleichbedeutend ist mit tuierung und Bewußtwerdung der österreichischen einer immerwährenden Harmonie. Sie ist nur dann Nation erfordert es, das Problem der Pflichterfüllung möglich, wenn wir uns als Individuen wie als Teil eines einmal grundlegender zu betrachten“ (S. 1361'.). Eine Kollektivs jene tausend Irrtümer eingestehen, die wir Klärung wäre nach der Einschätzung Kreisslers, und im Verlaufe unseres Lebens durchgemacht haben. Sie hier ist ihm zuzustimmen, ein wesentlicher Schritt zur zu erkennen und als Teil unseres Lebens zu akzeptie­ Bewältigung und „Trauerarbeit“ zugleich: „Trauer ren, ist ein Weg, um aus Schaden „klug“ zu werden nicht nur um die Opfer, sondern auch Trauer über die und unsere Identität (wieder) zu finden (S. 141). Für eigenen Irrtümer, Fehlleistungen und nachfolgenden Felix Kreissler ist die Nationswerdung Österreichs Verdrängungen“ (S. 137). Viertens schließlich bedürfe ganz gewiß ein Beitrag zur Bewältigung der Vergan­ auch die Praxis der österreichischen Demokratie einer genheit. Dazu gehört aber auch das Eingeständnis grundsätzlichen Aufarbeitung: „Solange nicht ein­ von historischen Fehlentwicklungen, nicht gelösten deutig klargestcllt ist, daß die Geburt der Zweiten Konflikten und „Irrtümern“. Denn: „Nur eine von Republik in erster Linie Ergebnis eines antifaschisti­ jedem Selbstmitleid und Gejammer freie Analyse der schen Kampfes war“ (S. 137). Dazu gehöre auch die Ursachen und Auswirkungen dieser Niederlagen auf Überwindung eines unterscheidungslosen Antikom­ die Identitätsfindung der Österreicher kann zur nöti­ munismus, der in Fortführung des nationalsozialisti­ gen historiographischen Aufarbeitung führen“ (S. schen Antibolschewismus die politische Kultur der 142). Zweiten Republik entscheidend geprägt hat und noch immer mitprägt. Konkret heißt dies immer noch: 7 „Jede Mitwirkung einer Partei (oder eines einzelnen) ,,Es kann keine Versöhnung mit jener Tradition am politischen Geschehen mußte und muß noch gehen, die, hätte sie in der Uniform der großdeutschen immer durch ein antikommunistisches Glaubensbe­ Wehrmacht gesiegt, eben dieses Österreich, diese Repu­ kenntnis erkauft werden, sonst erfolgt politische, blik endgültig ausgelöscht hätte. Versöhnung ist mög­ gesellschaftliche und berufliche Ausschließung“ (S. lich mit Menschen, mit ehemaligen Nationalsozialisten; 138). Versöhnung ist nicht möglich mit dem Geist, für den Für Felix Kreissler ist die „Nationswerdung“ diese Menschen einmal eingetreten sind. ‘ ‘ Österreichs eine Frage der Bewältigung wie der Anton Pelinka (S. 152) Trauerarbeit zugleich. Dies nicht zuletzt deswegen, weil sich am Beispiel des Wegs Österreichs zu seiner In der Diskussion um die „Bewältigung“ der kollektiven Identität zeigen läßt, daß sehr viel noch österreichischen faschistischen Vergangenheit wird unbearbeitet und verdrängt geblieben ist. Nations­ gerne vergessen, daß damit eine Periode der österrei­ werdung und Nationsbewußtwerdung sind Stationen chischen Geschichte gemeint ist, in der Unterdrük- eines Prozesses, in dem die Aufarbeitung der Vergan­ kung, Gewalt und Terror sich ganz besonders gegen genheit und die Trauerarbeit über die Opfer miteinan­ den inneren Feind richteten, der durch seinen Wider­ der in Beziehung gesetzt werden müssen“ . (S. 131). stand wie durch seine Verweigerung der vom Regime Notwendige Voraussetzung dafür ist freilich eine gesetzten Normen Widerspruch und Gegensatz signa­ grundlegende Veränderung der österreichischen lisierte. Der in Innsbruck tätige Professor für Medien & Zeit 4/87 Österreichs Umgang mit der Vergangenheit 21

Politikwissenschaft Anton Pelinka hat für diesen Authentizität und „Wahrheit“ beanspruchen. Für lebensfeindlichen, terroristischen Umgang des NS- den Historiker ist die These des „verführten“, im Regimes, das sich gegen alle jene richtete, die mit Grunde „naiven“ Volkes, das einer entschlossenen seinen Zielsetzungen und Vorstellungen nicht in Ein­ Gruppe von „Verführern44 hilflos ausgeliefert gewe­ klang zu bringen waren, den gewiß umstrittenen sen ist, so nicht haltbar. Es müssen vielmehr auch Begriff „Bürgerkrieg“ geprägt und damit jene ver­ ökonomische, soziale, ideologische und emotionale drängte mörderische Lebenspraxis des NS-Regimes „Anreize44 vorhanden gewesen sein, die eine Unter­ gemeint, in der Österreicher Österreichern ans Leben stützung beziehungsweise ein „Ertragen“ des NS- gingen: „Auf beiden Seiten der Fronten dieses Bürger­ Regimes ermöglichten. krieges standen Österreicher. Österreicher sprachen Auf seiner Suche nach solchen Elementen plau­ Terrorurteile im Namen des Führers, Österreicher sibler Unterstützungsmechanismen führt Hanisch an mordeten in Konzentrationslagern, Österreicher de­ erster Stelle im Anschluß an die Modernisierungs­ nunzierten, Österreicher bereicherten sich am Eigen­ theorie einen beschleunigten „Modernisierungs­ tum ihrer verfolgten Mitbürger. Und ihre Opfer schub44 an, der traditionelle Bindungen lockerte, den waren ebenfalls Österreicher österreichische Ju­ Industrialisierungsprozeß beschleunigte, konservati­ den, österreichische Zigeuner, und eben Österreicher, ve Autoritäten und Eliten in Frage stellte und unter die politisch als Gegner bekannt waren“ (S. 144). dem Sog der Attraktivität einer „Leistungs“- Dieser „Bürgerkrieg“ wurde durch den Sieg der Gesellschaft ein bisher nicht ausgeschöpftes Aktivi­ Alliierten entschieden. Für die Strategie des Verdrän- tätspotential mobilisierte. Der Führermythos ent­ gens und Vergessens in Österreich war es wichtig, daß sprach durchaus auch sehr realen Sehnsüchten und schon in der „Geburtsstunde“ der Zweiten Republik Frustrationen; der Mythos der „Volksgemeinschaft44 wesentliches ausgeblendet wurde: „Vergessen“ war, hatte auch die Funktion, den NS-Alltag zu durchbre­ daß die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auch chen und „Klassenschranken“ zu verwischen, wobei von Österreichern mitgetragen. Vergessen war, daß als Folge der propagandistischen Aufwertung der das österreichische Regime, das im März 1938 vor den Arbeiterschaft auch die Entwicklung eines neuen Nationalsozialisten kapituliert hatte, seit 1933/34 in Selbstbewußtseins nicht zu verkennen ist; die „An­ Österreich eine dikatorische Herrschaft etabliert, schlußsehnsucht44 der Österreicher war mit sicherlich Grund- und Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt und ein Grund, daß die Okkupation Österreichs durch die Arbeiterbewegung nach deren gewaltsamen Un­ Deutschland im März 1938 als die Erfüllung eines terdrückung im Februar 1934 endgültig in den Unter­ jahrhundertelangen Traumes propagandistisch in­ grund gedrängt hatte. Trotzdem konnten Repräsen­ strumentalisiert werden konnte. Im Zuge des Krieges tanten des „Austrofaschismus“ nun im Rahmen der freilich wurde die Kehrseite dieses Modernismus neugegründeten österreichischen Volkspartei als immer deutlicher, und zusehends wurde das Österrei­ „Antifaschisten“ auftreten. Vergessen war schließlich chische rehabilitiert und als „Rettungsweg44 aus dem auch, daß der von den Nationalsozialisten realisierte Krieg entdeckt (S. 160), wobei sicherlich auch die „Anschluß“ zu einem wesentlichen Bestandteil der Hoffnung eine Rolle spielte, durch die bewußte Abset­ politischen Phantasie auch des demokratischen Öster­ zung von „den“ Deutschen nach Kriegsende besser reich vor 1933/34 und bis in den Zweiten Weltkrieg behandelt zu werden und sich damit auch aus der hinein gehört hatte; Karl Renner, der im Jahr 1938 Verantwortung „herausschleichen44 zu können. Das den NS-Anschluß in einer öffentlichen Erklärung Ende ? „Es kamen die Amerikaner. Nach einer kurzen unterstützt hatte, war als Vertreter der sozialistischen antifaschistischen Phase bestätigte der Kalte Krieg Partei einer der Unterzeichner der Unabhängigkeits­ den traditionellen Antikommunismus. Viele Natio­ erklärung der neuen Republik Österreich (S. 145). nalsozialisten hatten das Gefühl, doch den richtigen Ernst Manisch, Professor für Neuere Geschichte Kampf geführt zu haben44 (S. 161). in Salzburg, hat, ausgehend von „Erfahrungen aus Bestimmend für die Geschichte der Zweiten Re­ der Provinz“, am Beispiel eines regional umgrenzten publik als „einer Geschichte des Vergessens“ (Pelin­ Bereiches (Salzburg) einen „Versuch, den Nationalso­ ka) war es, daß nach 1945 die politisch entscheiden­ zialismus zu ,verstehen4 “ vorgelegt. Nationalsozialis­ den Kräfte auf Grund ihrer historischen Erfahrungen mus ist für ihn im Rückblick wesentlich geprägt durch die neue Republik als Antwort auf die Fragmentie­ das gleichzeitige Aufarbeiten sehr verschiedener Le­ rung4 der österreichischen Gesellschaft“ der Zwi­ bens-Geschichten, die sich auf jeweils verschiedenen schenkriegszeit verstanden (S. 146). Als Ergebnis Erfahrungshintergründen ereigneten. Dies führte da­ eines partiellen Lernprozesses der neuen (alten) politi­ zu, daß sich der Historiker bei der Aufarbeitung des schen Großgruppen begann sich die Zweite Republik Nationalsozialismus mit sehr verschiedenen „Ge­ als „Elitenkartell44 zu etablieren, das in einem umfas­ schichten“ konfrontiert sieht, die alle, jede für sich senden Kompromiß sich die gegenseitige Beteiligung 22 Peter Malina Medien & Zeit 4/87 an der Macht und „Mäßigung“ garantierte. Im Aufwertung ehemaliger Nationalsozialisten ließen ge­ Gegensatz dazu wurden für die „Bewältigung“ der gen Ende der vierziger Jahre das Thema „Wider­ Erfahrungen des „Zweiten Bürgerkriegs“ (1938 stand44 geradezu zu einem politischen Tabu werden. 1945) jedoch keine entsprechenden Instrumentarien In den folgenden Jahren entwickelte sich langsam die geschaffen und statt dessen versucht, diese für alle Erforschung des österreichischen Widerstandes, wo­ Beteiligten leidige und leidvolle Periode nach Mög­ bei sich allmählich der Schwerpunkt von der Untersu­ lichkeit zu „vergessen“ : „Die österreichischen Natio­ chung des organisierten politischen Widerstandes hin nalsozialisten wurden mehr oder minder oberflächlich zu individuellen Verweigerungen und verschiedenen entnazifiziert4. Sie wurden zunächst an den Pranger Formen oppositionellen Verhaltens verlagerte. Fazit gestellt, vereinzelt jedoch sofern es sich um Promi­ für Anton Pelinka: „Wenn diese Republik endlich nente oder Experten handelte trotz nationalsoziali­ über eine wahltaktisch motivierte Integrationsstrate­ stischer Vergangenheit früh eingegliedert und von der gie gegen den Nationalsozialismus, historisch und Entnazifizierung vorzeitig ausgenommen“ (S. 146) aktuell, hinauskommen will, muß sie die Fronten klar und sehr bald von den etablierten Parteien als Stimm­ machen — die Fronten des Bürgerkrieges von 1938 bis reservoir in das jeweils eigene Lager eingegliedert. In 1945; die Fronten einer massenmörderischen Ausein­ der Formulierung von Anton Pelinka: „Der Logik andersetzung, deren Wurzeln weit vor 1938 zurück rei­ liberaler Demokratie entsprechend, verhielten sich chen.44 (S. 152). SPÖ und ÖVP marktkonform; sie kämpften um die Stimme der (ehemaligen) Nationalsozialisten. Und 8 wie es der Logik eines solchen Wettkampfes ent­ „Nur eine Humanität und Solidarität vermittelnde spricht, bedeutet dies auch eine inhaltliche Öffnung in Erziehung dureh Elternhaus, Sehule, Religionsgemein- diese Richtung“ (S. 148). schäften und Gesellschaft sowie die Kenntnis vergange­ Konkret hieß dies, daß der antinazistische Kon­ ner Schuld auch im eigenen Volk können auf lange Sieht sens des Jahres 1945 sehr bald durch die Bereitschaft eine Veränderung zum Besseren erhoffen lassen.“ beider großen Parteien verdeckt wurde, den „Ehema­ Erika Weinzierl (S. 194) ligen44 entgegenzukommen, was sich an spektakulären Einzelfällen (Borodajkewycz, 1949/1965, Reinthal- In der Korrespondenz Hermann Brochs mit ler, 195£/1957, Reder, 1985) immer wieder deutlich Volkmar von Zühlsdorff aus den Jahren 1945— 1949, zeigte (S. 148). Dahinter stand die Notwendigkeit, die Erika Weinzierl in ihrem Beitrag auszugsweise daß dieses Österreich, das sich aus realpolitischen ausführlich zitiert hat, werden immer wieder jene Gründen durchaus mit Erfolg nach 1945 der Welt als Fragen angesprochen, die seither die Diskussion um erstes Opfer des Nationalsozialismus präsentiert hat­ Verdrängen und Vergessen entscheidend geprägt ha­ te, nach 1945 mit dem Österreich jener zu leben hatte, ben: das Verhältnis zwischen Opfer und Täter und die da als Mittäter oder ihre „Pflicht“ tuende, sich Problematik von Vergebung, Sühne und Schuld. Dies grundsätzlich „unpolitisch44 verstehende Gefolgsleute geschah auf dem Hintergrund einer Entwicklung, die die nationalsozialistische Herrschaft gestützt und un­ in den Diskussionen nach 1945 dadurch „erklärt“ und terstützt hatten. Dazu gehört es auch, daß der Wider­ zugleich entschuldigt wurde, daß die Konsequenzen stand gegen das nationalsozialistische Terrorregime der lebensvernichtenden, lebensfeindlichen politi­ in Österreich im Gegensatz zu anderen faschistisch schen Praxis der Nationalsozialisten nicht bekannt besetzten Ländern in das historische Traditionsgut gewesen seien. Erika Weinzierl hat daher im zweiten des allgemeinen Geschichtsbewußtseins nur zögernd Teil ihres Beitrages einen beeindruckenden Katalog Eingang fand. von Maßnahmen zusammengestellt, der deutlich Ein Grund dafür lag nach der Einschätzung von zeigt, daß sich Ausgrenzung und Marginalisicrung Wolfgang Neugebauer, dem Leiter des Dokumenta­ der Juden in aller Öffentlichkeit und auf dem Hinter­ tionsarchivs des österreichischen Widerstandes, der grund eines gesellschaftlich sanktionierten antisemit­ in seinem Beitrag Ergebnisse und Perspektiven der ischen Grundkonsenses vollzogen, f ür den österrei­ „Widerstandsforschung in Österreich44 zusammen­ chischen Anteil am Nationalsozialismus ist es wesent­ faßt, sicherlich darin, daß in der Phase des Wiederauf­ lich, in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß der baus und der Konjunktur ein politischer Pragmatis­ faschistische Rassismus mit dem Einmarsch deutscher mus und (in den historischen Wissenschaften) eine Truppen in Österreich eine neue „Qualität“ erhielt: in profunde Theoriefeindlichkeit Fragen der Vergan­ der „Ostmark44 nahmen — entgegen mancher Schutz­ genheitsaufarbeitung in den Hintergrund drängten; behauptungen nach 1945 die nationalsozialisti­ das Abflauen des antifaschistischen „Geistes von schen Judenverfolgungen einen besonders raschen 1945“ und der damit zusammenhängende Prozeß der und brutalen Verlauf, denn „schließlich mußten fünf zunehmenden Integration und gesellschaftlicher Jahre nachgeholt werden, und das geschah44 (S. 181): Medien & Zeit 4/87 Österreichs Umgang mit der Vergangenheit 23

Juden waren nun schikanösen Ausnahmegesetzen nicht immer von deckungsgleichen Ansätzen her ausgeliefert, wurden immer mehr an den Rand der verwendet worden. Nun wird es darum gehen müssen, Gesellschaft gedrängt und kriminalisiert, und „ver­ die verschiedenen Möglichkeiten des Umgangs mit schwanden" vor den Augen der Öffentlichkeit der Vergangenheit, aber auch die verschiedenen „Ver­ nach und nach aus dem Gesichtsfeld der Bevölkerung. gangenheiten“ dieses Österreich einmal offenzulegen Daß über 112.000 österreichische Juden emigrieren und damit bearbeitbar zu machen. Voraussetzung mußten, kann nicht unbekannt geblieben sein; daß dafür ist es allerdings, bereit zu sein, in einen umgrei­ ihnen der Großteil des Vermögens geraubt wurde, fenden Kommunikationsprozeß einzutreten, der Be­ mußten jene Österreicher wissen, die davon profitier­ schädigungen, Verfehlungen und Verweigerungen ten; daß sie ihre WoJmungen räumen mußten, war ernst nimmt und Kritik wie Selbstkritik als wesentli­ wohl jenen bekannt, die diese bezogen; daß mit den che Voraussetzung historischer Erkenntnis begreift. Deportierten im Osten Schlimmes geschah, wurde von vielen geahnt, wenn auch sicherlich nicht in allen Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit. Details „gewußt“. Dies alles freilich ereignete sich in I Irsg. von Anton Pelinka u. Erika Weinzierl, Wien: Verl. d. österr. der Tradition eines Antisemitismus, der als Vernich­ Staatsdruckerei 1987 (Edition S.). 197 S. tungsphantasie zunächst „nur“ in den Köpfen Reali­ Die Beiträge: Hermann Langbein: Darf man vergessen ? (S. 8— 16); tät war, unter bestimmten, geänderten politischen Thomas Pluch: Modellfall Kärnten (S. 17—27); Nadine Hauer: NS- Trauma und kein Ende (S. 28—42); Felix de Mendelssohn: Psycho­ Voraussetzungen jedoch entsetzliche Wirklichkeit analyse als Aufklärung (S. 42—59); Oliver Rathkolb: .... Für die werden konnte. Voraussetzung dafür war nicht zu­ Kunst gelebt". Anmerkungen zur Metaphorik österreichischer Kul­ letzt auch eine selektive Wahrnehmung der Wirklich­ turschaffender im Musik - und Sprechtheater nach dem Nationalso­ keit, die nicht zur Kenntnis nehmen wollte, was zialismus (S. 60- 84); Karl Müller: NS-Hinterlassenschaften. Die geschah, und sich überdies in einer gesellschaftlichen österreichische Literatur in ihrer Auseinandersetzung mit österreichi­ schen Gewaltgeschichten (S. 85— 113); Wolf In der Maur: Auf der Tradition befand, wonach Antisemitismus als durch­ Suche nach einer patriotischen Utopie (S. 114— 126); Felix Kreissler: aus „salonfähig“ galt: „Die gerade im christlichen Nationswerdung und Trauerarbeit (S. 127 142); Anton Pelinka: Österreich lang währende antisemtische Tradition, Der verdrängte Bürgerkrieg (S. 143— 153); Ernst Hanisch: Ein die jahrelange maßlose Judenhetze des Nationalsozia­ Versuch, den Nationalsozialismus zu ,.verstehen“ (S. 154— 162); lismus und die auf Gehorsam und Obrigkeitsgläubig­ Wolfgang Neugebauer: Widerstandsforschung in Österreich (S. 163— 173); Erika Weinzierl: Schuld durch Gleichgültigkeit (S. 174— keit orientierte Erziehung haben der ,Schuld durch 195). Gleichgültigkeit" den Weg bereitet“ (S. 194). Das Eingangszitat ist dem Beitrag von Wolf in der Maur * * * entnommen (S. 126), die Illustration der Zeitschrift Publik-FO­ RUM 14, Heft 9 ( 1985), S. 23. Die Frage nach der Verantwortung, „Schuld“ und „Bewältigung“ der Vergangenheit wurde in letzter Mit dem Sammelband „Das große Tabu“ liegt Zeit in der wissenschaftlichen Literatur in Österreich mehrfach nun ein redlicher Versuch vor, sich von verschiedenen gestellt. Ergänzend sei daher für den gegenwärtigen Stand der Perspektiven und Wissenschaftsrichtungen her mit Diskussion verwiesen auf: Literatur der Nachkriegszeit und der 5()er Jahre in Österreich. Hrsg. v. Friedberl Aspetsberger u. a„ Wien der österreichischen Vergangenheit auseinanderzuset­ 1984 (Schriften des Instituts für Österreich künde. 44/45); Öster­ zen. Sicherlich ist manches noch zu hinterfragen, wie reichbewußtsein Vergangenheitsbewältigung Neutralitätspoli­ zum Beispiel die These Anton Pelinkas vom „Zweiten tik. Hrsg. v. Albert G. Absenger, Wien 1986 (Schriftenreihe zur österreichischen Bürgerkrieg“ oder Ernst Hanischs Lehrerfortbildung im berufsbildenden Schulwesen. 97); Verdrängte Ansätze, den Nationalsozialimus zu „verstehen“; Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945—1955: Hrsg. v. Sebastian Meissl, Klaus-Dieter Mulley, Oliver Rathkolb, sicherlich sind da und dort (so etwa im regionalge­ Wien 1986; Vergangenheitsbewältigung. Schulheft Heft 43 (1986). schichtlichen Bereich) noch Ergänzungen notwendig; Erich Fried, Nicht verdrängen, nicht gewöhnen. Texte zum Thema sicherlich sind die Fragen von „Schuld“ und Versöh­ Österreich. Hrsg. v. Michael Lewin. Wien 1987; Erwin Ringel, Zwr nung, vor allem aber der Begriff der „Trauerarbeit“ Gesundung der österreichischen Seele. Wien 1987; Josef Haslinger, Politik der Gefühle. Ein Essay über Österreich. Darmstadt, Neu­ wied 1987. 24 Medien & Zeit 4/87

Vorstellungsbereich wird aktiviert. Die Heilserwar­ tung erfährt dabei allerdings eine entscheidende Um­ G FRT K e r s c h Ba u m CR wertung; sie bedingt die Unterwerfung unter den Staat und dessen Repräsentanten. Faszination Drittes Reich Kunst und Alltag der Kulturmetropole Volksabstimmung Salzburg 1938* Zwischen dem 11. März und dem 10. April 1938 mußte die Rettung über 1 000 von Hysterie erfaßten

* * * Menschen Erste Hilfe leisten; der Göring-ßesuch brachteesauf 198 und der Hitler-Besuch auf 214. Die Jubel verse in der Presse triumphalen Auftritte der NS-Prominenz, Görings und Hitlers, einige Tage vor der „Volksabstimmung“ Die Macht des Umbruchs1 bildeten die Höhepunkte der spontanen und insze­ Vom II. auf den 12. März 1938. nierten „festlichen Revolution“ in Salzburg. Diese Nacht vergeß ich nie! Am 6. April 1938 waren im Carabinieri-Saal der Diese Nacht so voller Spannung Residenz die Vertreter der „Stände in den herrlichen nach den Jahren der Entmannung, Festgewändern der alten Zeit“, Trachtengruppen, der des Betruges, der Verbannung Volksliedchor der Salzburger Mittelschüler unter und der dumpfen Lethargie. Prof. Gehmacher und der „Heimatdichter“ Otto Diese Nacht vergeß ich nie ! Pflanzl angetreten, um den „Befreier des Landes“, Wie sie durch die Straßen zogen, Adolf Hitler, ihre Huldigung in einem „Begriaßungs- wie die ersten Wimpel flogen über breiten Mensehenwogen — Busch’n“ darzubringen. „Unser“ Otto Pflanzl (inoffi­ immer, immer sch ich sie! zielle Salzburger Landeshymne Mei Hoamat, mei Salzburg) trug als Sprecher der „Stände“ in Mundart Und auch das vergeß ich nie: hinter dicken Rollgardinen ein „prächtiges Gedicht“ vor, das „in ergreifender lauern die Systemruinen Weise der Sehnsucht dieses Landes, aus der Nacht und die Zähne klappern ihnen. zum Licht geführt zu werden“, Ausdruck gegeben Tja, nun kommt die Reih an sie! habe. Die Schlußstrophe der Jubelhymne enthält, wie Die Kapazität des Salzburger Volksblattes, einer nicht anders zu erwarten, die Unterwerfungsformel2: Tageszeitung des Bürgertums, die weder „kommissa­ „Ein Sieg-Heil ! dem liahn Führer, risch“ geführt zu werden noch die „Blattlinie“ zu Z’tiafst vom Herzen, daß’ goar gellt, ändern brauchte, scheint für die Schlammflut des Deutschland, Deutschland über alles. Dilettantismus zu gering gewesen zu sein, denn die Über alles in der Welt !“ Redaktion mußte schon am 17. März 1938 die Bei der Übertragung der Göring- und Hitler- „Dichter“ um Verständnis bitten, daß das Blatt „die Reden, die im Zuge der „Volksabstimmungs“- Fülle der dichterischen Mitteilung“ nicht erfassen Propaganda gehalten wurden, setzte die Regie ein könne. Am darauffolgenden Tag erklärte sich das Element der verordneten Dramaturgie, die Einbezie­ Volksblatt außerstande, alle „Gedichte und Gesänge, hung der eroberten „roten“ Straße, in die Praxis um. die den großen Umbruch im deutschen Österreich Die Rundfunkgeräte hatten an den Fenstern zu feiern“, auch nur auf ihren Wert hin zu prüfen, stehen, damit die Bevölkerung auf der Straße mithö­ geschweige denn sie zu veröffentlichen. Sic mögen in ren konnte. Die Regie des Hitler-Spektakels scheute der Redaktion abgeholt werden. keinen technischen Aufwand. Auf allen Plätzen der Dennoch bot das Volksblatt etlichen Feiertags­ Altstadt waren jeweils mehrere „Riesenpilze“ (große und Konjunkturschriftstcllcrn wie Leo Bini, Monika Lautsprecher) installiert. Die Technik machte es Kainzncr, Heinz Jonke-Zellhof, Otto Pflanzl, Loni möglich, daß „das Salzburger Volk eine der rührend­ Scitz-Ransmayr, August Ramsauer, Isabella Maura­ sten, ergreifendsten Huldigungen miterleben konnte. cher, Franziska Buchstätter, Augustin Ableitner und Es war der Lautsprcher, der sie übertrug; aber hier auch bekannten Schriftstellern wie Josef Weinheber sandte, von Herzblut genährt und durchpulst, die (Heimat), Herybcrt Menzel (Reih’ (lieh ein!) und Technik wärmste Lebensströme aus: als aus dem Gerhard Schumann (Der Retter) einen Tummelplatz. Lautsprecher das ,Sieg Heil !‘ Meister Pflanzls vor „Machtergreifung“ und „Umbruch“, der durch dem Führer erklang, da stimmte alles Volk auf Gewalt vollzogene Bruch mit dem „System“ wird von Straßen und Plätzen ergriffen darin mit ein. So, wie es ihnen als naturhafter, mythischer und religiöser Vor­ zum Schlüsse die deutschen Hymnen sang. ... Die gang hingestellt. Sie suggerieren Heilserwartungen, ganze Stadt ein Bekenntnis, eine Erfüllung.“3 Aufbauillusionen und das Zeitlose. Der religiöse Medien & Zeit 4/87 Kulturmetropole Salzburg 1938 25

Diese durch Technik vermittelte Teilhabe setzte fentlich den Verrat am „Ständestaat“ bekennen. Selbständigkeit nicht frei, lähmte sie, schaffte eine Am 16. März 1938 teilte das Salzburger Volks­ repressive Aufnahmesituation, bewirkte die Entpoliti­ blatt in der Rubrik „Vorsichtsmaßnahmen“ lapidar sierung der Menschen. mit, die Salzburger Wohnung des Staatsrates Dr. h. c. Augustin Ableitner schmiedete anläßlich des Franz Karl Ginzkey sei polizeilich durchsucht wor­ Göring-Auftrittes in Salzburg einen das lokalbezoge­ den. Einige Tage danach hieß es, die Hausdurchsu­ ne Stierwascher-Motiv variierenden Vers, der gefühls­ chung in Abwesenheit Ginzkeys sei aufgrund einer bewegt und aus der Wir-Perspektive heraus ein Ver­ ,irrigen“ Anzeige erfolgt. Die Wohnung sei nach sprechen abgibt, das jedoch keinen Widerspruch persönlicher Vorsprache beim Sicherheitsdirektorder duldet4. Staatspolizei sofort wieder freigegeben worden. Die Wiener Neuesten Nachrichten zeigten jedoch wenig „Am zehnten sind wir alle da und jeder schmettert: Hitler ja !" Verständnis für den „Mantelwender“. Er mußte sich am 10. April 1938 in einem Artikel überdas Kunstle­ In dem mit religiösen und traditionellen Motiven ben Salzburgs sagen lassen, er sei in seinem Dichter­ und Sprachbildern gespickten agitatorischen Vers tum konsequenter gewesen „als in seiner politischen Palmesel wünscht „Blasi“ den verschlafenen Zeitge­ Haltung, die mitunter schwankte“. Gegen diese nicht nossen den furiosen Herrgott auf den Leib, er soll unberechtigt erhobenen und sogleich sich bestätigen­ ihnen den Vorwürfe nahm Ginzkey öffentlich Stellung. Zii „Feuer unter den Hintern stecken, seiner Entlastung führte er an, daß er sich im Staatsrat daß sie aus ihren Betten spritzen offen und rückhaltlos als „nationaler Dichter“ be­ und wie geschossen zur Urne flitzen."5 kannt habe, daß er „im Reiche“ habe anfragen lassen, Das Salzburger Volksblatt präsentierte seinen was man zu dieser Stellung meine, was positiv ausge­ Lesern am Tage vor der „Volksabstimmung“ eine fallen sei, und daß er rege Verbindungen mit zahlrei­ Reihe „Deutscher Worte“, ein vom Reichspropagan­ chen Männern nationaler und nationalsozialistischer dahauptamt Wien zusammengestelltes Material zur Gesinnung unterhalten habe. Auch dürfte doch seine Mobilisierung der Bevölkerung. Die vor 1938 von Aufnahme in den „von der Regierung höchst ungern meist verstorbenen Persönlichkeiten getätigten Aus­ gesehenen Bund der deutschen Dichter Österreichs“, sprüche bildeten den Grundstock für die nun erfüllte dessen Vorstand einstimmig auf seiner Seite stehe, zu „Sehnsucht“ nach dem Zusammenschluß aller Deut­ seiner Rechtfertigung genügen8. schen, und die 1938 erhobenen „Künstlerstimmen“ Karl Heinrich Waggerl etablierte sich schon 1933 von Paula Wessely, Wilhelm Furtwängler, Karl Wag­ mit seinem deutschnational und antisemitisch gefärb­ gerl u. a. dokumentierten die Begeisterung und for­ ten Beitrag Dichtung und Journalismus in Heinz derten zur Abgabe der Ja-Stimme auf:6 Kindermanns Anthologie Des deutschen Dichters Sendung der Gegenwart im Kreise der deutschvölki- „Mögen alle Sünden verziehen sein, nur eine nicht: schen Literaturprominenz9. jetzt noch zu zweifeln oder zu verneinen ! Waggerl erhielt 1934 den im gleichen Jahr gestif­ Karl Heinrich Waggerl." teten Würdigungspreis des austrofaschistischen Staa­ Das Reichspropagandahauptamt Wien erstellte tes für „seine echter Naturverbundenheit entquellen­ über die Zeit vom 15. März bis 10. April 1938 einen de Erzählkunst“ und für die Bereicherung der öster­ Gesamtbericht, der alle „Bekenntnisse“ und „Künst­ reichischen Kultur und des „Schatz(es) deutscher lerstimmen“ von Persönlichkeiten beinhaltet, vom Dichtung“ . Im gleichen Jahr würdigte ihn der „Ka­ Altbundespräsidenten Hainisch über Kommerzialrat tholische Pressedienst für Kultur, Dichtung und Le­ von Schoeller bis hin zu K. H. Waggerl, die in der ben“ für seinen „tiefen Blick für Menschliches und Presse propagandistisch verwertet wurden7. Naturhaftes“. Waggerl trat dem 1936 gegründeten „Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs“ bei. Der gewendete Mantel 1937 nützte er die Gelegenheit einer Einladung zur Ginzkey und Waggerl „Dichterwoche für grenzland- und auslandsdeutsche Der Wahlsalzburger Franz Karl Ginzkey kam Dichter“ in Berlin zu einer politischen Demonstra­ wegen seiner im „Ständestaat“ eingenommenen Stell­ tion: Er überbrachte ein „geheim“ über die Grenze ung und erhaltenen Auszeichnung ins Schußfeld. Den gebrachtes Huldigungsschreiben an Hitler mit den neuen Machthabern genügte das „Dichterbekennt­ Unterschriften von angeblich fast sämtlichen Ein­ nis“ des Ehrendoktors der Wiener Universität (1932), wohnern seines Heimatortes10. des Staatsrates (1934) und des dreimaligen Mitglieds Franz Karl Ginzkey und Karl Heinrich Waggerl der Staatspreis-Jury offensichtlich nicht als Loyali­ zählen zu jenen Schriftstellern, die erstens im Austro­ tätsbeweis. In Zugzwang gebracht, mußte er öf­ faschismus mit Ehrungen, Preisen und öffentlichen 26 Gert Kerschbatimer Medien & Zeit 4/87

Funktionen bedacht wurden, die aber zweitens mit poetischen Lorbeeren, die von mystischen und nationalsozialistische Bekenntnisse abgegeben haben religiösen Sprachbildern strotzten. Im Gedicht Der und als „ostmärkische Dichter“ vereinnahmt wurden Führer heißt es12: und die drittens nach 1945 erneut ihren Platz im „Der Erwählte bedarf nieht der Wahl; kulturellen Leben einnahmen und von öffentlichen er führt sehon von Anfang. und privaten Instanzen bzw. Organisationen ausge­ Seht, schon ist er die Mitte der Welt ! zeichnet oder geehrt wurden. Seine Schrift ist aus Sternen Prominente Literaten des Ständestaates erhoben und die Ewigen sehn ihre „Dichterstimmen“ und lieferten Propaganda­ wie mit Augen voll Glanz auf den Ihren.“ sprüche, für die sogar ein „Ehrenhonorar“ (Waggerl Bekenntnisbücher erhielt 200 RM), bezahlt wurde. Der Literaturwissen­ schaftler Amann qualifiziert das Verhalten dieser Im Sommer 1938 kam das vom „Bund der Gruppe, unter Berücksichtigung einer Reihe von deutschen Schriftsteller Österreichs“ herausgegebene subjektiven, sozialpsychologisch erklärbaren Moti­ Bekenntnisbuch österreichischer Schriftsteller auf den ven, als Verrat am „Ständestaat“ 11. Markt. Unter den „Bekennern“ befinden sich so bekannte Autoren wie Richard Billinger, Bruno Geburtstag Hitlers Brehm, Egmont Colerus, Egon Cäsar Conte Corti, Franz Karl Ginzkey, Paula Grogger, Robert Hohl­ Das NS-Salzburg als Teil des Deutschen Reiches baum, Mirko Jelusich, Hans Kloepfer, Erich Land­ huldigte „seinem Befreier“ auch anläßlich dessen grebe, Max Mell, Joseph Georg Oberkofler, Josef Geburtstag 1938 in einer vom NS-Gaukulturamt Friedrich Perkonig, Erwin H. Rainalter, Friedrich Salzburg organisierten Feier im Großen Saal des Schreyvogl, Hermann Stuppäck, Franz Turnier, Josef Mozarteums. Der Saal war mit NS-Symbolen deko­ Weinheber und Josef Wenter sowie die Salzburger riert. Die vom Gaukulturamtsleiter Sepp Piffrader für Autoren und Mitglieder des Bundes Karl Heinrich die Hitler-Feier im Festspielhaus des Jahres 1933 Waggerl, Hans Springenschmid und Erna Blaas. In geschaffene Kolossalbüste des Diktators befand sich Waggerls Beitrag heißt es u. a.: auf dem Podium. Repräsentanten der Partei, des Staates und der Wehrmacht waren anwesend. Eine Das millionenfache „Ja“ der Deutschen am 10. April ist mehr Abteilung der HJ marschierte unter Trommelwirbel als ein Bekenntnis brüderlicher Verbundenheit, es ist ein lauter auf und postierte sich im Halbkreis um das Orchester. Ruf in die Welt. Mit diesem Tage ist in Wahrheit der große Krieg zu Ende. Wir Leute, die wir damals von den Fronten Das weitere Programm lief nach dem üblichen heimkehrten, glaubten wir denn jemals wirklich an den Frie­ Schema Musik-Rede-Musik ab. Der Komponist den? Sind wir nicht bewußt oder unbewußt immer Soldaten Friedrich Frischenschlager dirigierte seine Festfanfa­ geblieben, warteten wir nicht insgeheim auf eine letzte große re Weit laßt die Fahnen wehen. Dann sprach Landes­ Entscheidung? Nun hat Adolf Hitler für uns alle gehandelt. statthalter Reitter in Vertretung des Gauleiters. Nun Die zweite vom „Bund der deutschen Schriftstel­ bildete die vom Kapellmeister der Bayrischen Staat­ ler“ herausgegebene Anthologie Gesänge der Ost­ soper, Meinhard von Zallinger, dirigierte Ouvertüre mark. Ein Dichtergruß, stellte der „Mantelwender“ zu den Meistersingern das feierliche Verbindungsele­ Franz Karl Ginzkey zusammen. Sie beinhaltet unter ment. Auf diesen musikalischen Einschub folgte die anderem Texte von Erna "Blaas und Hans Deißinger1 \ Festrede, die der Leiter des Deutschen Schulverein­ Der Literaturmarkt wurde von solchen Werken sorchesters, Prof. Dr. Eugen Müller, hielt. Dann 1938 und 1939 geradezu überschwemmt. Die Konjun- boten die Salzburger Liedertafel und der Salzburger turprodukte Kampfund Glaube. Gedichte österreichi­ Männergesangsverein Josef Reiters Deutschen Volks­ scher Dichter 1933 bis 1938 und Heimkehr ins Reich, ruf. Der Leiter des Gaukulturamtes sprach die herausgegeben vom Wiener Theaterwissenschaftler Schlußworte. Darauf erklang das Niederländische Heinz Kindermann, offerieren fast alle NS-Texte der Dankgehet in einer Neubearbeitung von Frischen­ Salzburger Lyrikerin Erna Blaas14. schlager. Am Schluß stand das obligate Unterstel- Auch Literatur- und Kulturzeitschriften schenk­ lungsritual: das Abspielen und Absingen der Lieder ten dem Ereignis ihre Beachtung. Am bemerkenswer­ der Nation. testen ist das Sonderheft zur Heimkehr Deutsch- Aus Anlaß des Geburtstages Hitlers gastierte am Österreichs ins Reich der Zeitschrift Das Innere Reich, 20. April 1938 im Landestheater das Berliner Schiller­ in dem 28 österreichische Autoren mit 240 Seiten (sic) theater mit Calderons Schauspiel Der Richter von vertreten sind. Auch in der im „Ständestaat“ gegrün­ Zalamea. deten Kulturzeitschrift Die Pause, deren Herausgeber Der Hitler-Kult fand freilich auch in der „Dich­ und Redakteure zwar 1938 ausgewechselt wurden, tung“ seinen Niederschlag. Erna Blaas und Franziska aber deren „Blattlinie“ keinen tieferen Bruch erlitt, Buchstätter bekränzten den „Befreier“ und „Retter“ kamen Lobredner zu Wort15. Medien & Zeit 4/87 Kulturmetropole Salzburg 1938 27

1939 scheint der Sättigungspunkt für öffentlich Heine, Börne, Auerbach, Schnitzler, Wassermann, zelebrierte Bekenntnisse zu „Führer, Reich und An­ Mühsam, , Döblin, Tucholsky, Feucht- schluß“ erreicht worden zu sein. Da erschien 1940 wanger, Sternheim, Schickelé, Friedrich Wolf, Else (1939 fertiggestellt) unter dem programmatischen Lasker-Schüler, Brod, Werfel, Kerr, Roda-Roda, Titel Jetzt ist es anders das Buch des katholischen und Bruno Frank und Vicki Baum. sozialkritischen Autors Georg Rendl16. Dieses unter Die Moderne fehlte auf der „Entrümpelungsli­ dem politischen Druck entstandene Buch legitimiert ste“ nicht. Doch das Ausmaß der Diffamierung und die NS-Herrschaft durch eine geschickt montierte radikalen Bekämpfung der modernen Kunst war im Gegenüberstellung der sozialen Situation vor und Vergleich zum deutschen „Vorbild“ von 1933 deutlich nach dem „Anschluß“ . Es sind Ausschnitte aus seinen kleiner, denn die Kulturfunktionäre des Ständestaa­ sozialkritischen Texten der 30er Jahre, an die jeweils tes bekämpften schon zwischen 1934 und 1938 die ein apologetischer Kommentar anschließt: pazifistische, marxistische und zum Teil auch kritisch­ bürgerliche Literatur18. In der Beseitigung der „kul­ „Jetzt ist es anders. turbolschewistischen Pseudoprodukte“ seien sich Jetzt arbeiten sie, jetzt werken sie, jetzt braucht man sie wieder, jetzt sind sic eingefiigt in den lebendigen Kreislauf des Schaf­ Austrofaschismus und der deutsche Faschismus einig fens. Sie müssen nicht mehr durch das Land ziehen, vor den gewesen. Der nationalsozialistische „Kampf gegen Fenstern stehen und vom kargen Almosen leben, das Werk Schmutz und Schund“ habe 1933 „gar überschwengli­ ihrer Hände, da und dort verrichtet, nährt sie wieder, sie und che katholische Begeisterung“ erweckt, meint der ihre Familien.“ Literaturwissenschaftler Alfred Pfoser19. In dem 1938 entstandenen Text Erlebnis Reichs- Auch für Österreich dürfte gelten: Die völkisch­ autobahn schildert Rendl die Reichsautobahn als ein nationalen Kräfte errangen bereits vor dem „An­ Zeichen deutscher Erneuerung, deutschen Wiederauf­ schluß“ nicht nur auf dem Gebiet der Massenromane stiegs, als ein Beispiel und Wahrzeichen „jungen eine beherrschende Position, sondern auch im Bereich deutschen Geistes, dieses formenden, gestaltenden der Vermittlung und Deutung von Literatur. Die bauenden Geistes, der Denkmale setzt, Denkmale, die Moderne verlor unter dem Austrofaschismus die einen Anfang bejubeln.“ wenigen Einflußbereiche, die völkische Literatur er­ oberte die leeren Positionen, doch erst mit dem Bücherverbrennung „Anschluß“ wird die völkisch-nationale und natio­ auf dem Residenzplatz nalsozialistische Literatur zur dominierenden Macht Der Feldzug „wider den undeutschen Geist“ in allen Literaturinstanzen. begann „geräuschlos“ und „schlagartig“ in den „Um- Die „Aktion wider den undeutschen Geist“, die bruchstagen“, erstreckte sich auf alle mit der Herstel­ „Säuberungs- und Entrümpelungsaktion“ auf der lung und Verbreitung befaßten Instanzen der vor Grundlage der „zum Schutz von Volk und Staat“ 1934 relativ autonomen Kulturgesellschaft. Das öf­ verordneten „schwarzen Listen“ mit „verbrennungs­ fentliche Signal zur „Ausmerzung“ gaben der Landes­ würdigen“ Büchern, gipfelte in der Bücherverbren­ schulrat für Salzburg und die Gauwaltung des NS- nung, die effektvoll inszeniert wurde. Lehrerbundes, zwei personell verknüpfte Instanzen, Die in „herzlichem“ Ton an die Bevölkerung der erst sechs Wochen nach dem Staatsstreich und zwei Stadt Salzburg ergangene erste Einladung zur Teil­ Tage vor dem unrühmlichen Höhepunkt: Schüler- nahme bekam zwei Tage später eine militärische und Lehrerbüchereien seien einer genauen „Revi­ Appellform: „Das deutsche Salzburg ist zur Stelle! sion“ zu unterziehen, so die technokratische Um­ Heil Hitler!“ schreibung des Vandalenaktes. Sämtliche Bücher jü­ Das von Karl Springenschmid, Schriftsteller, discher Autoren und Bücher, die aus der Dollfuß- Leiter des Salzburger Schulwesens und des NS- Schuschnigg-Zeit stammten und rein klerikalen Zwek- Lchrerbundes, erstellte Programm lautete: ken dienten, seien im Hof des Mirabellschlosses Regie und oberster Richter: Karl Springen­ (Magistrat und Deutsches Volksbildungswerk-Zen­ schmid trale) abzugeben. Es sei eine Schande, solche Bücher Ort: Salzburg, Residenzplatz weiterhin in einem deutschen Hause zu behalten, Zeit: 30. April 1938, Vorabend des „Nationalen lautete die indirekte Drohung17. Feiertages des deutschen Volkes“, Der Appell „Deutsche, lest keine jüdischen Bü­ Akteure und Statisten: HJ- und NSLB-Mitglie- cher!“ beinhaltet die Namen von Autoren „eindeutig der, Schüler, SS- und SA-Angehörige, ein Soldat, ein jüdischer Herkunft“, in der Mehrzahl „pazifistische, Musiker, ein Arbeiter und ein Bauer = „Volksge­ defaitistische und bolschewistische“ Autoren, linksin­ meinschaft“ , tellektuelle Expressionisten, Marxisten, aber auch Handlung: Feuergericht über jüdische, klerikale liberale und konservative Bürgerliche, darunter und sozialistische Bücher. Dom und Residenz, eine 28 Gerl Kerschbaumer Medien & Zeit 4/87 architektonische Kulisse, die Tradition und Heimat Akademikern und Studenten, 1938 aus Lehrern und symbolisiert, der kurz zuvor aufgestellte Maibaum, Schriftstellern. Wäre der „Pölbel“ gewaltsam in die symbolischer Mittelpunkt der Präsentation der „heiligen Hallen“ des Geistes eingedrungen, hätte es Volksgemeinschaft, militärische Anordnung, NS- im Bürgertum Entrüstung gegeben. So aber vernichte­ Uniformen, Fackeln, Lieder, Feuersprüche und ein ten Bürgerliche „ihre“ Kultur. Scheiterhaufen bildeten das feierliche, „sakrale“ und martialische Szenarium der inquisitorischen Hand­ Emigration Widerstand lung. Stefan Zweig verließ bereits 1934 Salzburg, auch Die Statisten und Akteure marschierten nach aus politischen Gründen (Niederschlagung des Arbei­ Einbruch der Dunkelheit auf. Das Lied Als Jungen teraufstandes). Die Salzburger Kulturszene schwieg. wurden wir Soldaten erscholl. Dann hielt Springen- Auch Waggerl, in den 20er Jahren auf der Suche nach schmid, Regisseur und oberster Richter des gespensti­ einem Verlag von Zweig unterstützt, enthielt sich schen Gewaltaktes, eine „treffliche“ Ansprache. Ob­ jeder kollegialen Stellungsnahme. jekt der verbalen Attacke war der politische Katholi­ 1938 beschlagnahmte die Gestapo das Haus zismus, waren die Autoren der „Systemzeit“, die den „Wiesmühlc“ in Henndorfbei Salzburg, das dem zum Glauben für politische Zwecke „mißbrauchten“, und Zeitpunkt des „Anschlusses“ in London weilenden deren Werke, die den „Aufbrauch einer wahrhaft Wahlsalzburger gehörte. Zuckmayer deutschen Kultur“ behinderten. Ihre Vernichtung blieb im Exil. Den ehemaligen „Sammelpunkt jüdi­ würde der „deutschen Freiheit“ eine Gasse in der scher und freimaurerischer Literatur“, die „Wies- Stadt hauen, die man das deutsche Rom genannt miihle“ in Henndorf, ergaunerte sich ein deutscher habe. Verleger. Salzburg verlor den zweiten und letzten Nun entzündeten ein Vertreter der „deutschen anerkannten Repräsentanten der liberal-bürgerlichen Jugend“ den Scheiterhaufen „und rasch brannte Literatur. eine mächtig lodernde Flamme empor, die Umge­ In der 1947 erschienenen Anthologie Vom bung, Residenzbrunnen, Häuser und Maibaum ne­ Schweigen befreit, einer Werkauswahl verfemter Lyri­ benan erhellend“20. Jugendliche reichten die Bücher ker, wird die Meinung vertreten, Jakob Häringer habe von Hand zu Hand. Die Regie machte somit jeden einige der schönsten deutschen Gedichte geschrieben, Beteiligten zum Mittäter. Einige Werke, welche die sie könnten im Volksmund umgehen, einst werde man „Vernichtung besonders verdienten“, wurden stell­ fragen, wer ihr Verfasser gewesen sei22. vertretend für alle anderen „dem reinigenden Feuer Die glaubwürdigsten gedruckten biographsehen überantwortet“, begleitet von „kernigen Urteilssprü­ Hinweise finden sich bis heute in dem von Wulf chen“. Jeder Spruch beinhaltete schlagwortartig ein Kirsten verfaßten Nachwort der Lyrikersammlung In behauptetes Verbrechen, das es auszumerzen gelte, die Dämmerung gesungen, herausgebracht in der und „Ideale“, die zu verwirklichen seien. Zum Kreis DDR und nicht in Österreich. Der vermutlich 1898 in der Exekutoren der Urteile gehörten Kinder, Jugend­ Dresden-Neustadt geborene „Jakob“ (Johann Franz liche und HJ-Mitglieder. Die Akteure hatten die Albert) Häringer führte ein Vagabundendasein. Das „Reinigung“ ihrer Kultur jeweils selbst zu exekutie­ bayerisch-österreichische Grenzgebiet wurde ihm zur ren21: Heimat. Vor und während des Ersten Weltkrieges Ein zehnjähriger Schüler: lebte er erstmals mit Unterbrechungen in Salzburg, in „Ins Feuer werf ich das Sc hu sehnig g-Blatt Jimg-Öster reich, Hellbrunn, wo seine Eltern ein Restaurant gepachtet das uns zum Verrai an Volk und Reich bringen wollte! Wir hatten. Die Familie Häringer wechselte oft den Ort, aber, die Jugend Adolf Hitlers, wollen eins sein mit dem betrieb ein „unruhiges Gewerbe“. Jakob war deut­ Reich !“ scher Staatsbürger, er mußte zum Militärdienst ein­ Ein Musiker: rücken, wurde 1918 als Invalide entlassen, lebte zur „Der Jude Siegfried Jakobsen schrieb dieses Buch über den Zeit der Räterepublik in München, nahm an der Juden Max Reinhardt. Mög das Feuer auch Schimpf und Schande verzehren, die unserer deutschen Stadt von diesem Novemberrevolution als Sympatisant und Mitläufer Geschmeiß geschah. Frei und deutsch sei die Stadt Mozarts!“ teil. Nach acht Tagen Haft ginger wieder frei. In diese Zeit fällt seine erste schriftstellerische Tätigkeit: An Ein Arbeiter: „Karl Winter, der rote Vize des schwarzen Bürgermeisters den König Liebknecht ! von Wien, hat dieses Buch geschrieben. Für Moskau gut, uns In den Jahren 1925 bis 1928 sei Häringer im Zenit deutsche Arbeiter aber rührt es nicht. Uns hat ein andrer ins seines bescheidenen Ruhms gestanden, meint Kirsten. Herz geschrieben. Adolf Hitler, de erste Arbeiter unseres Die renommierten Verlage Kiepenheuer und Zsolnay Volkes !“ nahmen sich seines Werkes an. Doch von Gedichten Die Organisatoren dieser Zerstörungsaktion re­ allein konnte auch damals niemand leben. Häringer krutierten sich aus dem Bildungsbürgertum, 1933 aus schrieb fließbandartig an wohlhabende und bekannte Medien & Zeit 4/87 Kulturmetropole Salzburg 1938 29

Kollegen gerichtete Bettelbriefe, er müßte schon aus 1 Blasi (August Ableitner): Peggy, mein schnaubendes Pferd diesem Grund in der Literaturgeschichte berücksich­ und wie es mich getragen hat durch Österreich, den Ständestaat, Salzburg, Wien, Leipzig 1939, 75. tigt werden. Ende der zwanziger Jahre wurde aus dem 2 SV ( = Salzburger Volksblatt) 8. 4. 1938, 13. Getriebenen ein Gehetzter, und das wegen einiger 3 SV 1. 4. 1938, 2. Bagatelldelikte. Der wohl in Zusammenhang mit der 4 SV 28. 3. 1938, 12. Verfolgung ausgebrochene Haß gegen den Staat und 5 SV 9. 4. 1938, 24. alle Autoritäten schlägt sich in der „berüchtigten“ 6 SV 9. 4. 1938, 16. 7 Gesamtbericht des Reichspropagandahauptamtes Wien, Sammlung Das Schnarchen Gottes (1931) nieder: Abt. II, ZI. 1203/46. „Wer zu blöd fürn ärgsten Mist, | wird ein teutscher K SV 16. 3. 1938, 12; 22. 3. 1938. 9; 15. 4. 1938, 5. Sau-Jurist“. 9 Karl Heinrich Waggerl: Briefe. Eine Auswahl, hgg. von Lutz Über die Vermittlung Georg Rendis kam im Besch, Salzburg 1976, 60ff. Karl Müller: Zur ( Dis-)Kontinuität katholischen Salzburger Verlag Anton Pustet das österreichischer Literatur seit den 30er Jahren: Kar! Heinrich Waggerl ( 1897- 1973). Ein Erfolgsautor der 50er Jahre, in: Litera­ Büchlein Vermischte Schriften heraus. Aus diesem tur in Österreich von 1950 bis 1965. - Walter Buchebner Tagung Anlaß würdigte die Wiener katholische Monatszeit­ 1984 in Neuberg an der Mürz (1985), 52- 74. schrift für Kultur und Politik den „Salzburger Dich­ 10 Karl Heinrich Waggerl: Briefe (Anm. 9), 25. Heinz Kinder­ ter“ . Die Nationalsozialisten nahmen nun den sich in mann (Hrsg.): Heimkehr ins Reich. Großdeutsche Dichtung aus den schützenden Schoß der katholischen Kirche wer­ Ostmark und Sudetenland 1866— 1938, Leipzig 1939, Einführung, Salzburger Kunstchronik, März—April 1937, Heft 2. fenden „Irrenhauspoeten“ ins Visier und bürgerte 11 Klaus A mann: Die literaturpolitischen Voraussetzungen und Haringer im Juli 1936 aus. Was dieser vom faschisti­ Hintergründe Jur den ,, Anschluß" der österreichischen Literatur im schen Deutschland hielt, brachte er in dem Text Jahre 1938, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 101 (1982) 216— Deutschland-Ode (1935) zum Ausdruck. Eine eindeu­ 244, 238f. tigere Stellungnahme gegen das NS-Regime ist von 12 Erna Blaas: Der Führer (1939), zit. nach: Dies.: Rühmung und Klage. Neue Gedichte, Berlin, Wien, Leipzig 1944, 100. keinem etablierten Salzburger Schriftsteller abgege­ 13 Bekenntnisbuch österreichischer Schriftsteller, hgg. vom ben worden. Während des Einmarsches der deutschen Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs, Wien 1938. Truppen verbarg sich Haringer angeblich im Atelier Gesänge der Ostmark. Ein Dichtergruß, hgg. vom Bund der des Salzburger Malers Josef (Pepi) Schulz, floh dann deutschen Schriftsteller Österreichs, zusammengestellt von Franz in die Tschechoslowakei. Karl Ginzkey, Leipzig 1938. 14 Kampf und Glaube. Gedichte österreichischer Dichter 1933— „Ich bin den Henkern mit tausend Todesnöten entkommen. 1938, hgg. von Hein Stünke, Potsdam o. J. (1938). Heinz Gestern verbrachte ich zehn Stunden im Wasser, um die Kindermann (Hrsg.): Heimkehr ins Reich (Anm. 10). tschechische Grenze zu erreichen, gehetzt von der Gestapo. 15 Das Innere Reich. Zeitschrift für Dichtung, Kunst und Wann endlich sieht die Welt ein, was ihr vom Hakenkreuz deutsches Leben, hgg. von Paul Alvcrdes und Benno von Mechow, blüht ?“ München, 5. Jg. 1938/39, Maiheft. Die Pause. Nationalsoziali­ stische Kulturzeitschrift, 3. Jg. 1938, Heft 5. Zweig, Zuckmayer und Haringer gingen in das 16 Georg Rendl: Jetzt ist es anders ... Eingeleitet und hgg. von Exil, keiner kam nach Salzburg zurück. Dem Salzbur­ Prof. Dr. Karl Plenzat, Leipzig 1940 (Eichblatts Deutsche Heimat­ ger Volksblatt waren die Exilautoren (F. Werfel, L. bücher 142/43). Frank, A. Döblin, F. Wolf, R. Leonhard, A. Kanto- 17 SV 28. 4. 1938, 6f. IX Klaus Amann: P. E. N. Politik — Emigration — National­ rowicz, H. Marchwitza, A. Seghers, H. Kesten u. a.) sozialismus. Ein österreichischer Schriftstellerclub, Graz, Wien nur mehr ein Objekt des Hohnes und Spottes: „Jüdi­ 1984. — Klaus Amann und Albert Berger (Hrsg.): Österreichische sche Schmicrfinke, dekatente Literaten und perverse Literatur der dreißiger Jahre, Graz, Wien, Köln 1984. Friedbert Menschheitsbeglücker haben sich hier (Mexiko, Aspetsbcrgcr: Literarisches Leben im Austrofaschismus. Der Staats­ Anm.) zu einer edlen Gemeinschaft zusammengefun­ preis, Königstein /Ts. 1980. Gerhard Renner: Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus: Der ..Bund der deutschen den.“23 Über die in den Kerkern und Konzentrations­ Schriftsteller Österreichs“ und der Aufbau der Reichsschrifttums­ lagern gemarterten und ermordeten Menschen schüt­ kammer in der ,,Ostmark“, Diss. Wien 1981. — Die verbrannten tete Ableitner seine stinkende Poetenjauche. In der Bücher 10.5.1933. Redaktion: A. Pfoser und F. Stadler, Institut für Stadt Salzburg aber existiert noch heute eine Wissenschaft und Kunst, Wien 1983. Ableitner-Straße. 19 Alfred Pfoser: Öffentliche Reaktionen in Österreich auf die Bücherverbrennung 1933, in: Die verbrannten Bücher (Anm. 18), 4-9. 2(UI SV 2. 5. 1938, 9fl. 22 Zit. nach: Jakob Haringer: In die Dämmerung gesungen. Dieser Beitrag ist ein auszugsweiser Vorabdruck aus der im Ausgewählte Gedichte. Hgg. von Wolf Kirsten, Berlin und Weimar o ..!., Otto Müller Verlag, Salzburg, im Februar 1988 erscheinenden 155. Gespräch mit Hildemar Holl am 23.6. 1986; einige Informatio­ Publikation Faszination Drittes Reich. Das Buch stellt eine überar­ nen Holls sind in diese Darstellung eingeflossen. — Nachwort Jürgen beitete und stark gekürzte Fassung der vom Verfasser vorgelegten Serke: Jakob Haringer: Das Schnarchen Gottes und andere Gedichte, Dissertation an der Universität Salzburg dar und ist ein Markstein München, Wien 1979, 118. in der Erforschung der Alltagsgeschichte der NS-Zeit in Salzburg, 23 SV 17. 8. 1940, 6f. in dem zahlreiche auf Salzburg bezogene Quellen zum erstenmal aufgearbeitet werden. Medien & Zeit dankt dem Verleger für seine Zustimmung, einen Vorabdruck aus diesem Buch zu bringen. 30 Medien & Zeit 4/87

promoviert. Anschließend trat er als Finanzjurist in den Wiener Bankverein ein und begann damit eine berufliche Tätigkeit, die er bis wenige Jahre vor T angenten seinem Tod ausüben sollte. Ab 1931 arbeitete Schütz für das Pariser Bankhaus Gaston Dreyfuss & Cie., was ihm Gelegenheit zu einer ausgedehnten Reisetä­ „ ...was mein Traum, meine Phantasie, tigkeit verschaffte. Dies sollte sich in späteren Jahren mein wirkliches Leben ist.“ noch als Vorteil erweisen. Denn nicht zuletzt durch Ein Hinweis auf Alfred Schütz. seine zahlreichen Auslandskontakte hatte Schütz, der jüdischer Herkunft war, die Zeichen der Zeit richtig Eugf.n Semrau erkannt und schon im Jahre 1937, anläßlich einer längeren Geschäftsreise durch die Vereinigten Staaten Die individuelle Erfahrungswelt des Alltags mit und Kanada seine Emigration vorbereitet. Nach dem ihren vielfältigen Sinnbezügen zum Ausgang sozial­ Anschluß Österreichs blieb er in Paris und emigrierte wissenschaftlicher Erkenntnis zu machen ist ein Ge­ im Juli 1939 in die USA. Dort arbeitete er zunächst in danke, welcher seit einiger Zeit auch in der Kommuni­ seinem Brotberuf für ein New Yorker Bankunterneh­ kationswissenschaft eine gewisse Attraktivität ge­ men, wurde aber gleichzeitig immer stärker von seiner nießt. Über die Ursachen solcher Bestrebungen darf wissenschaftlichen Tätigkeit in Anspruch genommen. spekuliert werden: Sicher liegen sie zum Teil in der Dieser Doppelbelastung hielt er nicht lange stand: anhaltenden Krise eines positivistisch ausgerichteten Alfred Schütz starb im Frühjahr 1959 in New York. Empirismus, der seinen Rationalitäts- und Objektivi­ Sein Interesse für die Grundprobleme der Sozial­ tätsanspruch auch gegen eine zunehmend komplexer wissenschaften muß relativ früh geweckt worden sein. werdende Welt- und Wirklichkeitserfahrung vertei­ Dafür war sicherlich das eigenartige geistige Klima digt. Ins Positive gewendet liegen sie aber auch im verantwortlich, welches das Wien der Jahrhundert­ fortschreitenden Reifungsprozeß unserer Wissen­ wende auszeichnete, speziell das Gedankengut des schaft; im Suchen nach tragfähigen Grundlagen für „Wiener Kreises“, dessen bedeutendste Protagoni­ eine sinnvolle Ordnung und Interpretation der Über­ sten Otto Neurath, Rudolf Carnap und Hans Rei- fülle empirischen Materials, geboren aus der Kurzat­ chenbäch Zeit- und Altersgenossen von Schütz waren. migkeit der „Agenda Setting-Uses and Gratification Im Laufe seines Jusstudiums waren es aber seine Schweigespirale -Transaktionsansatz“— Moden. Lehrer, der Nationalökonom Ludwig Mises und der Jürgen Habermas hat mit seiner Theorie des Rechtsphilosoph Hans Kelsen, welche den jungen kommunikativen Handelns so einen Versuch unter­ Studenten zu einer intensiven Auseinandersetzung nommen und die Alltagserfahrung, welche aller wis­ mit den handlungstheoretischen Grundlagen einer senschaftlichen Erkenntnis „vorgängig“ ist, zur Basis empirischen Sozialwissenschaft hinführten. Besonde­ jeder fundierten sozialwissenschaftlichen Erkenntnis ren Stellenwert bekam dabei das Werk von Max gemacht*. Er reaktiviert in seiner Studie Konzepte, Weber. welche sich bei George Herbert Mead, Emile Durck- Der wissenschaftliche Status von Schütz war der heim und vor allem bei Max Weber finden. Der eines Privatgelehrten. Seine Arbeiten entstanden fast Habermas’sche Entwurf ist aber auch von der Gedan­ vollständig nach Feierabend oder in den Urlaubszei­ kenwelt eines Wiener Soziologen inspiriert, für den ten. In Wien und später auch in den USA hatte Schütz der Versuch des Verstehens von sozialem Handeln aus wenig Kontakt mit der akademischen Szene. Seine den Sinnbezügen der subjektiven Existenz heraus tragenden Gedanken kamen aus dem Gedankenaus­ Programm und Herausforderung seines wissenschaft­ tausch mit Freunden im Briefwechsel, im Ge­ lichen Lebens war: Alfred Schütz. spräch. Diese Art der Kommunikation erlaubte es Als der Wiener Verlag Julius Springer im Jahre ihm auch, seine Thesen und Ideen einem ständigen 1932 ein Buch mit dem Titel Der sinnhafte Aufhau der kritischen Dialog auszusetzen, sie zu überprüfen und sozialen Welt herausbrachte, war dessen Verfasser, zu präzisieren. der am 13. April 1899 in Wien geborene Bankange­ Wegweisend für Schütz’ wissenschaftliches Œuv­ stellte Alfred Schütz gerade 33 Jahre alt2. In den re waren vor allem die Begegnungen mit Edmund wissenschaftlich-akademischen Kreisen seiner Hei­ Husserl, später mit Aron Gurwitsch und dann im matstadt war er praktisch unbekannt. Schütz hatte amerikanischen Exil mit Talcott Parsons. Mit Hus­ nach dem Besuch des Gymnasiums und einem zwei­ serl, zu dessen Gedankenwelt er eine zunehmende jährigen Kriegsdienst in der österreichisch-ungari­ Distanz entwickelte, kam Schütz schon 1932 in Kon­ schen Armee, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs takt, unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buches mit dem Studium der Rechtswissenschaften an der Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Er besuchte Universität Wien begonnen und dort um 1920 herum Medien & Zeit 4/87 Hinweise auf Alfred Schütz 31

den Philosophen im Laufe der nächsten Jahre regel­ seines Buches Das Problem der Relevanz unter dem mäßig in Freiburg, lehnte aber das Angebot Husserls Autorennamen Paul Schütz — was wohl mehr bedeu­ ab, dessen Assistent zu werden. Die politischen Ereig­ tet, als lediglich einen editorischen Lapsus. Erst 1978 nisse dieser Jahre, welche für Schütz bereits die findet er in einer repräsentativen Publikation des Konturen der Katastrophe zeigten, ließen ihm diesen Verlages C. H. Beck seinen Platz als „Klassiker des Schritt nicht geraten erscheinen. soziologischen Denkens“ neben so illustren Namen Den Sozialpsychologen Aron Gurwitsch lernte wie Max Weber, George Herbert Mead, Max Scheler Schütz in Paris kennen, als er seine Emigration oder Karl Mannheim. vorbereitete. Es war dies der Beginn einer lebenslan­ Diese bis heute anhaltende Ignoranz der österrei­ gen Freundschaft und eines außerordentlich ertrag­ chischen Sozialwissenschaften darf da nicht weiter reichen wissenschaftlichen Dialogs über die von Hus­ verwundern. Sie ist wohl auch auf den Umstand serl aufgeworfenen Themen, welcher erst mit dem zurückzuführen, daß Schütz schon in seiner Wiener Tode von Schütz endete. Zeit eine gewisse Distanz zur empirischen Soziologie In den Vereinigten Staaten versuchte der Emi­ entwickelte, die gleichfalls im Wien der 30er Jahre vor grant sehr bald mit den in Harvard beheimateten allem durch Paul Felix Lazarsfeld entscheidende Soziologen in Kontakt zu kommen, deren Ideen er Impulse erhielt. Obwohl sich Schütz ausdrücklich sich am meisten verbunden fühlte. Zentralfigur dieses nicht als Gegner einer empirischen Vorgehensweise Kreises war damals Talcott Parsons. Schütz hatte verstand, schien er doch in der Phase des Re-Imports Parsons The Structure o f Social Action schon 1938 zu sozialwissenschaftlicher Konzepte nach dem Ende des studieren begonnen und registrierte eine weitgehende Zweiten Weltkriegs als scheinbarer Antipode des Parallelität der Ausgangspunkte: Auf der Grundlage „Säulenheiligen“ Lazarsfeld und dessen wissen­ der Weber’schen Ideen, die Soziologie als Wissen­ schaftstheoretischem Fürsprecher Karl Popper, schaft von sozialem Handeln zu konzipieren er hoffte gleichsam die „falsche“ Tradition zu repräsentieren. daher auf eine fruchtbringende Auseinandersetzung Dabei wäre es voreilig, Alfred Schütz als ver­ mit dem damals wohl renommiertesten Sozialtheore­ schwommenen Phänomenologen zu etikettieren. tiker. Aber es kam nicht zu mehr als einem Briefwech­ Franz Borkenau, der den sinnhaften Aufbau der sel im Jahre 1941, der die unterschiedlichen Positio­ sozialen Welt in der gleichfalls 1932 gegründeten nen dokumentiert, aber auch als Beleg für Parsons Zeitschrift Jur Sozialforschung rezensierte, stellte fest: Unwilligkeit gelten kann, sich auf die Diskussion „Er stellt das rationale Verstehen sozialer Gebilde im abweichender Meinungen einzulassen3. Sinne Webers dem intuitiven Verstehen Diltheys, das Schütz’ Kontroverse mit Parsons dürfte auch mit ihm als unwissenschaftlich giltyicharf gegenüber. Das dafür verantwortlich gewesen sein, daß sein umfang­ gründliche, in der Beweisführung tadellos korrekte reicher gewordenes Werk in der amerikanischen So­ Werk ist reich an Anregungen nach vielen Richtun­ ziologie dieser Jahre kaum Beachtung gefunden hat. gen.“ 3 In der Tat enthält das Schütz’sche Œuvre eine Schütz entfaltete zwar relativ bald nach seiner Emi­ Fülle von modern anmutenden Ideen, welche vor gration Aktivitäten in verschiedenen wissenschaftli­ allem der stagnierenden Theoriediskussion in den chen Vereinigungen und wurde auch Vorstandsmit­ Sozialwissenschaften, aber auch einer vielfach zur glied der „International Society of Phenomenology“. bloßen Datenproduktion verkommenen Forschungs­ Aber erst im Jahre 1952 bekam er eine Professur für praxis wichtige Impulse geben könnten. Soziologie und Sozialpsychologie an der „New Eine Darlegung selbst der wichtigsten Grundzü­ School for Social Research“ in New York. Dort ge des Denkens von Schütz würde mehr Platz bean­ konnte er in den wenigen, ihm noch verbleibenden spruchen, als hier zur Verfügung steht. Daher muß ein Lebensjahren eine intensive Lehrtätigkeit entfalten, knapper Hinweis genügen: Für eine Kommunika- die auch Zeugnis für die außerordentliche Fruchtbar­ tionswissenschaft, welche sich der Analyse von For­ keit seiner wissenschaftlichen Gedanken ablegte. Zu men sozialen Handelns verschrieben hat, welche zwi­ seinen bekanntesten Schülern zählten damals unter schenmenschliche Verständigung intendieren, wäre anderem Peter Berger und Thomas Luckmann4. vor allem jene Überlegung furchtbar zu machen, die Doch Alfred Schütz war und blieb ein Außensei­ Schütz die „subjektive Perspektive“ nennt. Er ver­ ter, Vertreter einer wissenschaftlichen Randposition, steht darunter nicht die Aufhebung der von Weber abseits vom „Mainstream“ der herrschenden Lehre. geforderten Trennung zwischen der Produktion wis­ Unterschätzt zu Lebzeiten, dann fast vergessen und in senschaftlicher Erkenntnisse und der Bewertung der­ seinem Heimatland nach wie vor nahezu unbekannt, selben durch den Forscher, sondern die Betonung repräsentiert er in nahezu exemplarischer Weise ein eines fundamentalen (Schütz nennt ihn wesensmäßi­ „österreichisches Schicksal“. Noch 1971 druckte der gen) Unterschieds zwischen der Realitätssicht des im renommierte Suhrkamp-Verlag eine erste Auflage Alltag handelnden Individuums und der des ana­ 32 Eugen Sem rau Medien & Zeit 4/87 lysierenden Beobachters. Ist es im einen Fall die die Realität des Don Quijote schreibt, „daß ich dem Perspektive des lebendigen Erlebens, so ist es im Anderen selbstverständlich unterstelle, daß er irgend­ anderen Fall die des ordnenden Betrachtens. Sozial­ einer der unzähligen Sinnprovinzen den Akzent des wissenschaftliehe Erkenntnis steht und lallt mit der Wirklichen erteilen kann und daß dieser Andere es Fähigkeit des Forschers, jene Sinnbezüge zu verste­ aber für ebenso selbstverständlich hält, daß auch mir hen, welche dem alltäglichen Tun und Fühlen der Möglichkeiten offen sind, um zu definieren, was mein Menschen zugrunde liegen. D'ese sind jedem analyti­ Traum, meine Phantasie, mein wirkliches Leben schen Beobachten bereits vorgegeben und mit einem ist.“6. rein rationalen Zugriff „von Außen“ nicht zu erfas­ sen. Die Interpretation der Sozialwelt durch den Beobachter setzt immer ein Verstehen der Sinnbezüge des Beobachtenden voraus, die für diesen subjektiv 1 Siehe dazu Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Geltung haben. Handelns, 2 Bände, Frankfurt a. M. 1981. Für eine Analyse von Kommunikationsprozes­ 2 Die meisten der biographischen Daten stammen aus einer ausgezeichneten Darstellung von Leben und Werk des Alfred sen würde die Forderung eines Rekurses auf die Schütz von Richard Grathoff. In: Dirk Käsler (Hrsg.): Klassiker Alltagswelt etwa bedeuten, daß kommunikative soziologischen Denkens, Band 2, München 1978, 388—416. Handlungen, welche dem Forscher im Sinne des 3 Vgl. dazu Alfred Schütz, Talcott Parsons: Zur Theorie Verständigungspostultats rational „sinnvoll“ erschei­ sozialen Handelns. Ein Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1977 (stw 202). nen, für die Handelnden selbst ganz andere Funktio­ 4 Von diesen beiden Autoren liegt vor: Peter Berger, Thomas nen haben können. So kann beispielsweise der Kon­ Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, sum von Medieninhalten als Ritual erlebt werden, Frankfurt a. M. 1969. genauso wie etwa die Arbeit eines Journalisten von 5 Zeitschrift für Sozialforschung, 1 (1932) Heft 415. anderen Motiven geleitet werden kann, als von denen 6 Das Zitat entstammt dem erwähnten Schütz-Beitrag von Richard Grathoff. Schütz hatte den Aufsatz, über die Realitätspro­ der Verständigung mit einem Rezipienten. Beider blematik in einem seiner letzten Lebensjahre in spanischer Sprache Handeln wird einem lediglich rational analysierenden verfaßt. Beobachter als Versuch einer wechselseitigen Verstän­ digung erscheinen: in Wahrheit aber ist dies ein Kleine Bibliographie konstruiertes Artefakt. Werke von Alfred Schütz Schütz unterscheidet also scharf zwischen Alltag Der sinnhafte Aufhau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die und Wissenschaft, zwischen verschiedenen „Sinnpro­ verstehende Soziologie, Frankfurt a. M. 1234 56 1981 (stw 92). vinzen“ (provinces of meaning), innerhalb derer die Gemeinsam mit Talcott Parsons: Zur Theorie sozialen Handelns. Handelnden ihre Handlungen jeweils als „rational“ Ein Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1977 (stw 202). und sinnvoll erleben können, ohne daß sich diese Sekundärliteratur einem empirisch-kategorialen Zugriff erschließen Thomas Luckmann: Alfred Schütz, Kölner Zeitschrift für Soziolo­ würde. Darin liegt die Aktualität von Schütz: In der gie und Sozialpsychologie 13 (1961) 768—770. Überzeugung, daß Wirklichkeit nicht nur konstruiert Richard Grathoff, Walter Sprondel (Hrsg.): Alfred Schütz und die wird, sondern daß Kommunikation auf der Voraus­ Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften, Stuttgart 1979. setzung beruhen muß, wie Schütz in einer Studie über Medien & Zeit 4/87 33

die während des Dritten Reiches in Gefangenschaft gerieten, obwohl sie nicht politisch tätig waren. Die Rückblicke und Ausblicke Kamera zeigt ausschließlich die Gesichter der Frauen während ihrer Erzählung. Es ist kein im eigentlichen Anmerkungen zu den österreichischen Sinne gestalteter Film, obwohl die Interviews natür­ Film-Tagen 1987 lich geschnitten und montiert sind, sondern Doku­ mente für weitere Arbeit und Diskussion, ganz sicher Als mit Klavierbegleitung im festlichen Rahmen auch im schulischen Bereich. Das neue Selbstbe­ die rekonstruierte Fassung des Stummfilmes Sodom wußtsein der Dokumentarfilmer zeigte sich unter und Gomorrha zu sehen war, erlebte man im prall anderem an der Präsentation der AG Dokumentar­ gefüllten Kinosaal den Höhepunkt des diesjährigen film, die ein Symposium in diesem Bereich für das nationalen Filmfestivals. Der Film aus dem Jahre nächste Jahr ankündigte, in dem Wissenschafter und 1922 füllt ein Defizit an neuen Spielfilmen des Jahres. Filmemacher aus dem In- und Ausland zu Worte Michael Kertesz (später Curtiz) drehte dieses kommen werden. ehrgeizigste Projekt der Sascha-Produktion, mit der Von den Filmen sei die Videoproduktion Beans Ästhetik von Griffith im Hinterkopf. on toast — an unofficial story of Liverpool von Das österreichische Filmarchiv hat aus den Be­ Hermann Peseckas und Sigrid Schöberl hervorgeho­ ständen mehrerer ausländischer Archive versucht, ben. Sie untersuchten die Lage der arbeitslosen Ju­ eine komplette Fassung zu erstellen. Leider fehlten gendlichen in dieser Stadt. Dabei ist die filmische letztendlich erhebliche Teile des Filmes, so daß man Ausarbeitung höchst interessant. Naturgemäß spielt sich am Ende mit Standbildern und zeitgenössischen die Pop-Musik eine große Rolle und im Stile von Texten behelfen mußte. Was bleibt, ist aber der Videoclips wird die Musik immer wieder unterlegt wesentliche Hinweis auf die Wichtigkeit der Konser­ und kommentiert damit auch die angebotenen Infor­ vierung alter Filme, die über den filmgeschichtlichen mationen. Das große Problem der Dokumentarfil­ Wert hinaus auch von allgemeiner historischer Bedeu­ mer, nämlich die Möglichkeit des Kinoeinsatzes, kam tung sind. auch zur Sprache, eingebettet in eine ausführliche Das zeigte sich auch bei der Filmschau Franz Diskussion zur Kino- und Verleihsituation, die im Antel, die allerdings ohne eine begleitende Veranstal­ Bereich der sogenannten Programm- und Kulturki­ tung in den Geruch der Bejubelung des umstrittenen nos eine problematische Lage zeichnete. Die Wichtig­ Regisseurs kam. Tatsache ist, daß von seinem ersten keit des Mediums für die wissenschaftliche Arbeit, die abendfüllenden Spielfilm Das singende Haus nur eine ja weit über das Medium hinausgeht, wurde letztend­ Nitrokopie vorhanden ist, die in einer Videokopie lich auch in einer Diskussion der Gesellschaft für gezeigt wurde. Die Notwendigkeit der Aufarbeitung Filmtheorie gezeigt, in der über die Vermittlungspro­ in materieller Hinsicht und wissenschaftlicher Weise bleme zwischen Theoretikern und Praktikern gespro­ wurde aber zumindest angedeutet. chen wurde. Hier zeigten sich etliche Anknüpfungs­ Der Umgang mit der Vergangenheit war natür­ punkte und mögliche gemeinsame Arbeitsbereiche. lich ein Jahr vor 1988 ein wesentlicher Pro­ Der Umgang mit den audio-visuellen Medien ist zu grammschwerpunkt. Zwei Beispiele seien herausge­ problematisieren, von Seiten der Produktion, Rezep­ griffen. tion und der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Georg Haberl Karl Brousek versuchte in seiner Dokumenta­ tion Rückkehr unerwünscht Konzentrationslager Mauthausen die Geschichte dieser nationalsozialisti­ schen Vernichtungsmaschine nachzuzeichnen. Diese Produktion der SHB hielt sich in ihrer Ästhetik sehr an die Vorbilder des ORF: biografische Interviews, zeitgenössische Filmdokumente und Bilder zu gespro­ chenen Texten werden zu einer inhaltsreichen Melan­ ge verwoben, die den Zugang eher erschwert als erleichtert. Dem projektierten Einsatz in den Schulen wird das nicht unbedingt zugute kommen. Weniger ein gestalteter Film als ein brauchbares Dokument ist Keine gebrochenen Frauen, ein Produk­ tion des Instituts für Politikwissenschaft der Universi­ tät Innsbruck und der Gesellschaft für politische Aufklärung. Andreas Riedler befragte einige Frauen, 34 Rezensionen Medien & Zeit 4/87

Rezensionen Nationalsozialismus, die er penetrant deutlich im Bekenntnisbuch österreichischer Schriftsteller ausbreitete, erwähnt Hackermüller nicht einmal. Statt dessen schreibt sie: „Roda Roda verdankt dieses ROTRAUT H a c k ER MÜLLER: Einen Handkuß der Gnädig­ Lob sowohl seinem schriftstellerischen Ehrgeiz und Einfallsreicht­ sten. RODA RODA. Bildbiographie. Wien, München: Herold um als auch einer Portion Bauernschläue.“ (S. 132). Roda verfaßte Verlag 1986. 280 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. während des Weltkrieges allein für die Neue Freie Presse über 700 Artikel und arbeitete daneben auch für Berliner, Budapester und Die vorliegende Biographie ist die popularisierte Fassung einer andere Wiener Zeitungen. Darunter befänden sich aber - so die germanistischen Dissertation der Autorin über Roda Roda. Ro­ Autorin - keine ,peinlichen Haßgesänge' im Stile einer Alice traut Hackermüller zeichnet die Passagen seines Lebens, die Schalek, aber auch keine ,trockenen Reportagen' (!). Er habe sich literarischen und journalistischen Anfänge, seine Erfolge als Ver­ vielmehr bemüht, seinen literarischen Ansprüchen gerecht zu fasser humoristischer Beiträge, Theaterstücke, seine Tätigkeit als werden „wie seiner Verpflichtung als Vertreter des Propaganda­ Kriegsberichterstatter, die Arbeit beim Film, die Emigration dienstes“. Das sind Widersprüche, die auch durch geschicktere zunächst in die Schweiz und von dort in die USA, der letzten Station interpretatorische Verrenkungen nicht aufzulösen wären. Hacker­ seines Lebens. Der Nachlaß Roda Rodas ist der Autorin zur müller versucht, allzu Gegensätzliches unter einen Hut zu zwingen: Verfügung gestanden. Sie zeigt eine Fülle bis dato wenig bekannter Da entsprechen seine Texte zunächst „durchwegs den Vorstellun­ Facetten seiner Persönlichkeit, die über das von ihm selbst kreierte gen der Obrigkeit“, im nächsten Satz hält sie aber fest, Roda habe und gepflegte Bild des Bonvivants, des k. u. k.-Fossils und Küß’ die seine „persönliche Integrität als Schriftsteller“ festigen wollen. Hand-Offiziers hinausreichen. Sie skizziert eindringlich und berüh­ Oder, als weiteres Beispiel: Er weist offen auf „Informationsbe­ rend die Exiljahre, eine Beschreibung, die paradigmatisch für die schränkungen“ hin, aber einige Zeilen später schon „ gelingt (es) existentiellen Probleme von Künstlern in der Emigration stehen ihm mühelos, den Leser von seiner Glaubwürdigkeit zu überzeu­ kann. Im November 1940 hatte Roda eine Verständigung der gen.“ Schweizer Behörden erhalten mit der Aufforderung, das Land bis Die Identifikation mit ihrem Forschungsgegenstand treibt die Jahresende zu verlassen. Der faksimilierte Bescheid enthält die Autorin so weit, mit Roda gleich die gesamte Kriegspropaganda als Bemerkung: Défense de collaborer à des journeaux, revues, radio System gegen Kritik zu verteidigen: „Daß trotzdem immer wieder suisse:/ faktisch also das Berufsverbot. In den USA verschlech­ Stimmen laut werden, die den Wahrheitsgehalt der Berichterstat­ tern sich trotz, seiner Voraussicht, die ihn schon vor 1938 tung in Frage stellen, kann auch Roda nicht verhindern.“ Als Vermögen in die Vereinigten Staaten überweisen ließ seine Flcißaufgabc übernimmt sie auch noch die Verteidigung Rodas finanziellen Verhältnisse rasch: Das Gesparte allein reicht nicht, gegen Karl Kraus, der über die „Kricgsgerüchtcrstatter“ (Fritz Geld zu verdienen aber ist sehr schwer. Er schreibt für einige Löhner), diesem „Alpdruck aus Roda Roda und Schalek Schalek“ Emigrantenzeitungen, die Einkünfte bleiben aber dürftig ... (Kraus), in den letzten Tagen der Menschheit zu Gericht gesessen Dieses letzte Viertel der Biographie versöhnt. Es entschädigt war. Sie schreibt: „Hätte Karl Kraus den Menschen Roda Roda den Leser für eine allzu unkritische, distanzlose Bewunderung der besser gekannt, wäre er vielleicht zu einem anderen Urteil über ihn Autorin für den Gegenstand ihrer Arbeit. Besonders deutlich wird gekommen.“ das im Zusammenhang mit seiner journalistischen Tätigkeit. Roda Neben diesen Mängeln besteht ein zentraler methodischer hatte neben seiner Offizierslaufbahn bei der k. u. k.-Armee bereits Nachteil der Arbeit darin, daß die Autorin über die arbeitsökono­ humoristische Beiträge und Anekdoten für Zeitschriften wie die misch sicherlich recht aufwendige Aufarbeitung des Nachlasses Jugend oder den Simplicissimus verfaßt. Ab 1901 erschienen im hinaus die adäquate und unbedingt erforderliche Recherche der Feuilletonteil von Danzers Armee-Zeitung seine humoristischen historischen Zusammenhänge nicht leistet. Diese sozialen, poiti- Alltagsbetrachtungen unter dem Titel Wiener Rundgänge. Seinen schen, kulturellen etc. Umfeldbedingungen im Wechselspiel mit journalistischen Scoop landete er, als er einige Urlaubstage in Leben und Werk Rodas in Beziehung zu setzen, hätten den Wert Ragusa eingelegt hatte, durch höhere Gewalt. Gerade zu dieser Zeit dieser trotz allem informativen Biographie gewiß erhöht. ereignete sich dort ein schweres Erdbeben, das er exklusiv an Hannes Haas deutsche, italienische und österreichische Zeitungen verkauft. 1905 sichert sich die Neue Freie Presse seine Mitarbeit als Kriegsberich­ THEODOR HERZE: Ein echter Wiener. Feuilletons, kommen­ terstatter für den Kriegsfall und entsendet ihn häufig zu großen tiert von André Heller. Wien: Edition Wien, Jugend und Volk o. .1. Manövern im In- und Ausland. Disziplinäre Schwierigkeiten beim 175 Seiten. Militär führen zu seiner Beurlaubung, die ihm ausreichend Zeit zum Schreiben verschafft. KLAUS DETHLOFF (Hrsg.): Theodor Herzloder Der Moses des Nach dem Ende seiner Militärlaufbahn gründet er, wofür er Fin de siècle. Wien, Köln, Graz: Hermann Böhlaus Naehf. 1986 ( = etwa von Karl Kraus heftig angegriffen wurde, eine „Schreibfa­ Monographien zur österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte, brik“, wie er sie selbst nannte. Er schreibt wahllos für Zeitungen hrsg. v. Peter Kampits, Bd. 1). 300 Seiten. und Zeitschriften, veröffentlicht bereits Gedrucktes mehrfach in nur leicht geänderter Form oft tauscht er nur die Namen der NORBERT L e s e r (Hrsg.): Theodor Herzlund das Wien des Fin Städte und der Protagonisten aus. Diese schreiberische Inflation de siècle. Wien, Köln, Graz: Böhlau Verlag 1987 ( = Schriftenreihe drückt das Niveau seiner Arbeiten, aber er will damit ja vor allem des Ludwig-Boltzmann-lnstituts für neuere österreichische Geistes- Geld verdienen und das gelingt ihm. Hackermüller läßt aber solche geschichtc, Bd. 5). 199 Seiten. Kritik nicht gelten: sie interpretiert diese immense Textproduktion, „Als kürzlich auf dem ,Herzl-Bcrg‘ bei Jerusalem mit einem ja -fabrikation, als Versuch, zu literarischer (!) Anerkennung zu Staatsakt des Todestages Theodor Herzls gedacht wurde, kamen kommen. nur wenige Neugierige.“ Mit diesem knappen Hinweis belegt Ein weiteres Beispiel für die unkritische Haltung der Autorin Ulrich W. Sahm in einem Artikel in der Presse über Alex Bein, den ist die Beschreibung und Bewertung seiner Tätigkeit als Kriegsbe­ Biographen Herzls, daß es um Herzl keinerlei Personenkult gäbe, richterstatter. Sie zitiert den Schriftsteller Karl Hans Strobl, der wie dies bei vergleichbaren Geschichtsfiguren der Fall sei. Dennoch sich anerkennend über die führende Rolle Rodas unter den ist der Vater des Staates Israel auf Münzen, Geldscheinen, in österreichischen Kriegsberichterstattern geäußert hatte. Die üble Museen und Straßennamen etc. allgegenwärtig. Vor allem aber ist Rolle Strobls in der literarischen Szene der 20er Jahre, seine er es in den Köpfen der Menschen, mit seiner Idee des Zionismus, vorangegangene Kriegsbegeisterung und seine Euphorie für den Medien & Zeit 4/87 Rezensionen 35

dem Entwurf des „Judenstaates“. In Wien war er lange Zeit unterschiedliche methodische und inhaltliche Zugangsweisen insge­ vergessen. Es tut gut, daß sich das „andere Wien“ jetzt wieder trotz samt durchaus. Es entsteht ein sicherlich bei Schorske oder oder wegen der antisemitischen Ausfälle der letzten Monate dieses Johnston, die ebenfalls zum Wien um die Jahrhundertwende großen k. u. k. Österreichers (geboren in Ungarn) erinnert. gearbeitet haben, Licet ten reicheres recht gutes Bild dieser Zeit, Die vorzustellenden drei Bücher bemühen sich auf unter­ der ideengeschichtlichen, gesellschaftlichen, politischen und sozia­ schiedliche Weise, Leben und Werk Theodor Herzls zu würdigen. len Bedingungen, das Voraussetzung für die Analyse der literari­ Sie bieten jedes auf seine Art auch Medien- und Kommunika­ schen, juristischen und staatsphilosophischen Leistungen Herzls tionshistorikern interessante Anregungen. Zugleich machen sic ist. Die Behandlung seiner Bedeutung als Journalist und Feuilleto­ deutlich, wie sehr eine entsprechende Arbeit über den Journalisten nist dagegen bleibt oberflächlich und indifferent. Da wird weiter Herzl, die Analyse seiner feuilletonistischen Tätigkeit zu den das Klischee vom lästigen Brotberuf Journalismus transportiert, beschämend weißen Flecken des Faches zählt. (In Wien ist zur Zeit das so pauschal vertreten falsch ist. Das Bild Herzls muß unvoll­ eine Diplomarbeit zu diesem Thema im Entstehen). ständig bleiben, wenn man sich mit dem lapidaren Hinweis begnügt Eine sehr spezifische Auswahl seiner Feuilletons versammelt und im weiteren seine Arbeiten für die Presse ausspart. der Band Theodor HerzI — Ein echter Wiener, — allesamt Der eingangs erwähnte erste Biograph Herzls, Alex Bein, melancholisch-hochsensitive Arbeiten zu ,stillen4 Themen mit star­ eröffnet den Band mit einem Beitrag zum historischen Verhältnis kem Wien-Bezug: lokale Ereignisse, flanierend Erlebtes, Gesehe­ zwischen Herzl und Israel. Darin offenbart Bein auch vieles über nes, Gefühltes im Prater an einem Juli-Sonntag, im Frühling in sein persönliches Verhältnis zu 1 Ierzl, die Umstände, unter denen er Schönbrunn, im Schwarzenbergpark. Den Feuilletons ist eine kurze Einführung André Hellers vorangestellt, der Buchtitel, der die sich dem Werk und der Person näherte. Diese persönlich gehaltenen Ausführungen erweitert Harry Zohn mit einer Rezeptionsgeschich­ Kommentierung der Arbeit verspricht, übertreibt da. Dennoch: Heller gelingt es hervorragend, die Stimmung der nachfolgenden te der Ideen Herzls in der jüdischen Welt. Johannes Wachten Texte zu finden und ebenso gut, die Zerrissenheit Herzls zu widmet sich dem Literaten Herzl, Nike Wagner beschreibt seine formulieren, „der mit guten Argumenten Palästina predigte und Beziehungen zu Karl Kraus. Julius H. Schoeps untersucht die mit ebensolchen Wien trank. Ein Wien, worin die Juden 34 Jahre Anfänge der jüdischen Studentenverbindung „Kadimah“, von der nach Herzls Tod vertrieben, gepeinigt und ermordet wurden. Ein Herzl vielfältige Unterstützung für seine Arbeit erhielt, der Judaist Wien, worin man heute noch Wahlkämpfe leichter für sich Jacob Allerhand geht „messianischcn Elementen im Denken und entscheiden kann, wenn man antisemistische Emotion anspricht.“ Wirken“ Herzl nach. Das Buch zeigt eher, wovon Herzl lebte, als wofür (Heller). Hier Der Bandherausgeber Norbert Leser steuert einen Beitrag Der klingt die, von Herzl in seinem Tagebuch immer wieder betonte zeit gesell ich liehe Hintergund des Wien und Österreich im Fin de siècle Haßliebe zum Journalismus an. bei. Wer sich hier wie der Titel suggeriert eine kontextuclle Erarbeitung bestimmter Rahmenbedingungen für Leben und Wofür Herzl lebte, aufzuzeigen bleibt den beiden anderen Werk, der Ideen und Wirkung auf die Zeitgenossen erwartet, wird vorliegenden Bänden Vorbehalten. Der Philosoph und Judaist freilich enttäuscht. Leser leistet das in den einleitenden Absätzen Klaus Dethloff beschreibt und analysiert in einem langen Einlei­ seines Aufsatzes, um sich dann aber einem Thema zu widmen, das tungsessay die Stationen seines Lebens und untersucht Arbeiten, wahrlich „nicht rein historischen und akademischen Charakter hat, die von zentraler Bedeutung für die Einordnung und Einschätzung sondern eine heikle Frage mit Gegenwartsbezug berührt: die Frage Herzls sind. Zur Auswahl der Herzl-Arbeitcn: „Alle Schriften sind nach dem Antisemitismus Dr. Karl Luegers nämlich.“ (S. 37). um den ,Judenstaat4 zentriert, dokumentieren Herzls Entwicklung Diese Frage dränge sich nicht nur wegen der Zeitgenossenschaft zum Zionisten und enthalten wichtige juristische Elemente Luegers mit Herzl auf, sondern auch deshalb, „weil es in letzter Zeit gerade hier gibt cs noch eine Menge zu entdecken.“ (S. 63). Der immer mehr üblich geworden ist und bei vielen jungen und jüngeren Band enthält u. a. das Lustspiel Die Glosse, das Schauspiel Das neue Historiker, die sich auf ältere Vorbilder stützen und berufen, zum Ghetto, das in der Neuen Freien Presse erschienene und als Allegorie guten Ton gehört, den Luegerschen und den Schönererschcn, den auf den Judenstaat verstandene Feuilleton Das lenkbare Luftschiff religiös-sozialen und den rassistischen Antisemitismus in einen sowie vier Aufsätze zum Antisemitismus in Österreich und Frank­ Topf zu werfen und beide in fließendem Übergang zueinander reich bzw. zur Konkretisierung der Idee des Judenstaates. Für die dazustellen.“ (S. 137). Leser schreibt letztlich damit die Lueger- historische Kommunikationsforschung von besonderem Interesse Legende fort, wonach dieser augenzwinkernd ein ,bißchen4 ist der Aufsatz Die Schule des Journalisten, entstanden als Ab­ antisemitisch gewesen sei, sich bestimmte Vorurteilsströme dema­ schiedsartikel vom Palais Bourbon, mit dem Herzl die Zeit als gogisch zunutze gemacht habe. Diese üble Tradition hat Seipel Paris-Korrespondent der NFP beendet hatte. Er bereitet darin fortgesetzt auch wenn Leser anhand eines (!) Zitates diesen intellektuell den Übergang vom Journalisten zum politischen Vorwurf relativieren will. Aber diese Schuld kann nicht wegdisku­ Philosophen und Staatendenker vor. Der Abschied vom Journalis­ tiert und verniedlicht werden, daß nämlich der ,augenzwinkernde4, mus war jedoch kein endgültiger. Er hat weiterhin Feuilletons demagogisch-strategische Antisemitismus den Boden für den späte­ produziert, die z. T. im eingangs besprochenen Band enthalten sind. ren geplanten, industrialisierten Massenmord an Juden mitbereitet Dcthloffs kompetenter Einleitungsessay wie auch seine Textaus­ hat. Nützlich muß in der historischen Wertung wie dies Leser tut wahl zeigen dazu komplementär den anderen Herzl. In diesem Buch zwischen dem Luegerschen und dem Hitlerschen Antisemitismus erfahren wir, wofür Herzl gelebt hat, seine Ideen und Visionen. differenziert werden, aber es darf zugleich nicht verdrängt und Eine ausführliche Zeittafel sowie das Werkverzeichnis Herzls und vergessen werden, daß der eine den anderen eben mitbedingt hat. eine Auswahl spezifischer Sekundärliteratur ermöglichen auch dem Herzl-Anhänger, rasche und sichere Orientierung zu finden. Der Band mag an einigen und durchaus grundsätzlichen Stellen zum Widerspruch herausfordern, er spart wichtige Aspekte Die jüngst, von Norbert Leser herausgegebene Veröffentli­ der Vita Herzls aus, einige Wiederholungen in den Beiträgen hätten chung zu Theodor Herzl und seiner Zeit enthält die Referate eines von einer rigoroseren Redaktion gestrichen werden können: Insge­ 1985 in Wien durchgeführten Symposiums. Leser schreibt zur samt aber liefert das Buch wichtiges Erklärungsmaterial, mögliche Intention dieser Veranstaltung: „Theodor Herzl sollte in die Zeit Zugänge zum Visionär wie zum Realisten, zur politischen Figur wie und den Raum, in denen er wirkte, eingebettet und durch die zum Menschen zu Theodor Herzl. Erstellung umfassender Bezüge verlebendigt werden.44 Dies gelingt Hannes Haas in den neun Beiträgen auf interdisziplinärer Weise und durch 36 Rezensionen Medien & Zeit 4/87

HEINZ KÜHN: Die Kunst der politischen Rede. 1. Auflage. Der zweite Teil beinhaltet „Ratschläge von einem, der sich ein Düsseldorf, Wien: Econ Verlag 1985. 278 Seiten. halbes Jahrhundert im politischen Reden, Schreiben und Handeln versucht hat“. Auf diese unauflösliche Einheit hinzuweisen, ist Kühn im Lichte seiner Lebenspraxis als langjähriger SPD-Politiker, Publizist, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Regie­ Als die konservative Lady Astor im Unterhaus Winston rungsbeauftragter wie vermutlich nicht allzu viele Autoren berech­ Churchill einmal zurief, sic würde ihm Zyankali in den Kaffee tun, tigt und berufen. Daß sein Buch mit den allenthalben grassierenden wenn sie mit ihm verheiratet wäre, antwortete dieser: „Wenn ich mit Sachbüchern zu allen Themen nichts gemein hat, findet speziell in Ihnen verheiratet wäre, dann würde ich ihn trinken. “ „Würzige“ seinem Schlußsatz mit Manifestcharakter beredten Ausdruck: Bonmots wie dieses reiht Kühn wie Perle auf Perle. Doch wer von „Wenn Aristoteles recht hatte, daß die Rede die Kunst sei, Glauben seiner Exkursion durch die Weltgeschichte der politischen Rhetorik zu erwecken, dann müssen die Reden derjenigen, die für unser Volk nichts anderes erwartet als einen kulturhistorischen, kulinarischen und zu unserem Volk sprechen, mehr Glaubwürdigkeit ausstrahlen.“ Streifzug von einer Bonmot-Station zur nächsten oder vielleicht nur (S. 267). Darin verbirgt sich kein „dramaturgischer“ Kunstgriff. einen Zitatenschatz mit Zwischentexten, wird schnell enttäuscht. Ein treffenderer Ausklang läßt sich nicht denken. So wenig Kühn Amüsant geschrieben, ja, reich an Zitaten, ebenfalls ja. In seinem im zweiten Teil plumpe Gebrauchsanweisungen à la „Wie rede ich tiefen Aussagegehalt präsentiert sich mit diesem Buch letztlich eine wovon, wofür und wann mit großer Wirkung?“ vermittelt engagierte Streitschrift für die Demokratie, die nie ohne freie und („Hand“-Büchcr gesellschaftlicher Rhetorik erschienen seit Ende verantwortungsvolle Nutznießung des gesamten Kommunika­ des 19. Jahrhunderts sonder Zahl), so sehr bestimmt er Substanz tionspotentials lebendig sein kann. Insoferne verkommt die Zitat- und Aufgabe politischer Rede konkordant zu ihrem erzieherischen envielfalt auch nie zur reinen Garnierung. Wert für die Demokratie und ihrem parallel dazu verlaufenden Schon im Einleitungskapitel „Der Leidensweg der deutschen Potential, Konfiiktfiihigkeit zu fördern. Rhetorik“ weist Kühn mit einem Ausspruch des Ministers an vielen IWolfgang Duchk o witsch sächsischen Höfen, Veit Ludwig von Seckendorff aus dem Jahre 1686 auf das Dilemma des deutschen Obrigkeitsdenkens und -wollcns mitsamt damit verbundener Vcr- und Mißachtung der „untertänigen“ Meinung hin: „Es hat nicht viel Worte mehr bedurft, als ein Hauptmann, wann er seine Compagnie exerciret oder commandiret.“ Daß sich dessen Sohn als Resident am kaiserlichen Hof in Wien informeller Kommunikationskanäle bediente, nämlich handschriftlich verfaßter Zeitungen, um vor Ort entstandene, oftmals der behördlichen Sicht widerrufende Stim­ mungsbilder zu beliefern, sei an dieser Stelle ergänzt. Denn diese Handlungsweise läßt die Dissonanz obrigkeitlichen Waltens im Umgang mit Kommunikation nur allzu deutlich zu Tage treten. Angesichts der bündigen Formel des Ministers von Seckendorff stiehlt sich die Erinnerung an die „Gadaffi-Machination“ der USA vor zwei Jahren ein — einerseits Kommunikationsusurpation, Österreichisches andererseits Flottenmanöver/-aufmarsch. Vermag da jemand noch LITERATURFORUM zu meinen, daß die Instrumentierung der Presse für Zwecke der Herausgeber: europäischen Kabinettspolitik des 17. und 18. Jahrhunderts, also LUTTERA - Verein zur Förderung der Literatur des Absolutismus, absolut keine Kontinuität in Demokratien Dr. Michal Lion Dr. Johannes D letharl westlicher Prägung aufzuweisen hat ? A -1050 Wien A-1130 Wien Johannigasse 28/3 Ölweingasse 1/10 In den folgenden Kapiteln des ersten Teils „Geschichte und TeL 0222-33 54 002 Tel.0222-8568934 Geschichten über die HM acht und Ohnmacht des politischen Wor­ Aus dem Inhalt der Nr. 1/1987 tes“ führt Kühn den Leser von der antiken Republik bis zum Wolfgang Becvar: Die Unbestechlichen: Schaustück für Souffleur und Beleuchter Tilly Boesche-Zacharow: Israels deutschsprachige Schriftsteller deutschen Bundestag, einer „Stätte neuer politischer Beredsam­ Milo Dor: Kowalek war klein, dünn und blaß und schrecklich jung keit?“ Was der Autor unter verantwortlicher Beredsamkeit ver­ Alois Hotschnig: Die Verhinderung Ivan Ivanji: Ein ungarischer Herbst . , , _ . . steht, bleibt wohltuend dem Abschnitt „Hitler und Goebbels: die Gabriele Kaiblinger: Das Wagnis auf unfruchtbarem Land oder Die Gründung einer itcrnturzeitschrift Perfektion der demagogischen Rhetorik“ Vorbehalten: „Wenn man jhard W. Knoll: Nur net objektiv! unter Beredsamkeit den überzeugenden Umgang mit dem Wort als iegfried Ludwig: Schauplatz und Werkstatt: Literatur und Literaturförderung In Nieder- Träger einer Idee oder Erkenntnis versteht, die zur Wahrheit Inrôn/A Wallas: Das Zerbrechen der engen Mauern: Zur Modernität Otto Stoessls lans Weicel: Verlegene Verleger! hinführt und so den Menschen zum eigenen Urteil befähigt und nicht unter Beredsamkeit die virtuose Beherrschung des Wortes als Im Österreichischen Litcraturforum kommen "etablierte" und "junge" Autoren aus Instrument der Vernebelung des Bewußtseins der Menschen im allen Bereichen der deutschsprachigen Literatur zu Wort. Reichen Sie uns Ihre Manuskripte Dienste verführerischer Ideologien versteht, dann kommt man dem und Rezensionsexemplare ein! Wesen verantwortlicher Beredsamkeit auf den Grund.“ (S. 103). Und für jene Mitmenschen, die immer noch Schwierigkeiten haben, XXXXJ<1

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