SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

- eine musikalische Begegnung“ (1-5) III. Höfisches Zwischenspiel

Mit Antonie von Schönfeld

Sendung: 21. Juni 2017 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2017

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SWR2 Musikstunde mit Antonie von Schönfeld 19. Juni – 23. Juni 2017 „Georg Philipp Telemann - eine musikalische Begegnung“ (1-5) III. Höfisches Zwischenspiel

Mit AvS ...und Guten Morgen zur dritten Sendung in dieser Woche, die Georg Philipp Telemann gewidmet ist. Anlass ist das Jubiläum am kommenden Sonntag: Am 25. Juni jährt sich Telemanns Todestag zum 250. Mal - und ich finde, jeder Anlass ist willkommen, die Musik dieses brillanten Geistes und Musikers, der so lange unterschätzt worden ist, zu spielen und zu verbreiten!

Heute also Folge III. - „Höfisches Zwischenspiel“

Titelmusik

Die längste Zeit seines Lebens ist der umtriebige Musiker Telemann in Städtischen Diensten angestellt: noch als Student in übernimmt er in überraschend kurzer Zeit zentrale Ämter im Musikleben der Messe- und Universitätsstadt, später geht er für neun Jahre als Musikdirektor nach Frankfurt am Main und 1721 schließlich wird er seine Lebensstellung in Hamburg finden als Musikdirektor der fünf Hauptkirchen, - das war damals für einen Musiker im deutschsprachigen Raum die wohl bedeutendste Stelle dieser Art.

Im Anschluss an sein Studium hätte Telemann eigentlich gut in Leipzig bleiben können (- studiert hat er übrigens Jura): Telemann hat in Leipzig sein Auskommen, mit den verschiedenen Tätigkeiten als Leiter der Oper, Kantor an der Neukirche und mit der Leitung seines Orchesters, des „Collegium Musicum“, das jede Woche Konzerte gibt, verdient er mit Anfang zwanzig genug für seinen Lebensunterhalt. Schon jetzt arbeitet er in den unterschiedlichsten Sparten seines Berufs - als Musiker, Komponist, Musikunternehmer - offenbar ohne Limit. Das wird eine Art Markenzeichen werden, das Unermüdliche, Betriebsame, vielleicht sogar Rastlose, diese Art ‚Dauerbetrieb’ im Schöpferischen wie im Organisatorischen, Telemann bleibt überaus aktiv bis ins hohe Alter.

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Leipzig bietet ihm übrigens auch Zukunftsperspektiven, vom Rat der Stadt werden dem Musiker weitere Aufgaben in Aussicht gestellt - diese Stadt ist eigentlich ist eine sichere Bank für den jungen Musiker, doch Telemann will mehr - und jetzt will er vor allem etwas Anderes: Als ihm der Herzog von Promnitz eine Stelle als Hofkapellmeister in Sorau anbietet zögert er nicht: Das breite Aufgabenfeld eines Hofmusikers in leitender Funktion ist genau das, was Georg Philipp Telemann an Erfahrung zu seinen bisherigen Tätigkeiten noch fehlt!

______Musik 1 Georg Philipp Telemann 5´32 CD1<9> „Ouvertüre“ aus: Ouvertüre E-Dur TWV 55:E2 Bach Concentus Ltg. Ewald Demeyere ACC 24098, LC 6608 M0094112 009 ______

Die Ouvertüre aus der Orchester-Suite E-Dur von Georg Philipp Telemann, Ewald Demeyre hat das Ensemble „Bach Concentus“ geleitet.

Mit dem Wechsel nach Sorau an den Hof des Grafen von Promnitz taucht Telemann - was die Musik betrifft - stilistisch in die französische Welt ein: Promnitz gilt als Kenner und Liebhaber der französischen Musik - er schätzt beispielweise Jean- Baptiste Lully und ist erst kurz vor Telemanns Anstellung als Hofkapellmeister von seiner Kavalierstour, der obligatorischen Bildungsreise für junge Adlige, zurückgekommen. Telemann fühlt sich durch „das gläntzende Wesen“ des Fürstenhofs, so schreibt er in seiner Autobiographie von 1740, ermuntert zu „feurigen Unternehmungen“ und komponiert vor allem „Ouvertüren mit ihren Nebenstücken“, also Ouvertüren-Suiten, mal für kammermusikalische Besetzung, meist aber für die ganze Hofkapelle.

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Diese Werkform gilt in Deutschland als Inbegriff des französischen Stils, doch das verwirrt: eigentlich werden hier zwei Dinge miteinander verknüpft: Am Beginn einer solchen Suite steht die sogenannte französische Ouvertüre, wie sie Jean-Baptiste Lully 1660 zum ersten Mal in Paris vorgestellt hat, ursprünglich war das der Eingangssatz zu einer Oper oder einem Ballett. Eine solche Ouvertüre besteht aus drei Teilen: einer majestätischen Einleitung, meist in gravitätisch punktiertem Rhythmus mit ausdrucksvoller Harmonik, dann einem schnelleren Fugensatz und schließlich einem Epilog, der Stil und Habitus der Einleitung aufgreift.

An diese als Typus festgelegte Ouvertüre reihen sich dann weitere kleinere Sätze, zunächst meist kürzere Airs oder Tänze, die kontrastreich angeordnet sind. Später werden auch Charakterstücke in eine solche Suite eingebaut, eben die „Nebenstücke“, wie Telemann sie nennt. Beides - die französische Ouvertüre zu Beginn und die folgenden kürzeren Sätze - fügen sich dann zusammen zur Ouvertüren-Suite, für größere Besetzungen auch ‚Orchester-Suite’ genannt. - Und von diesem Suiten-Typ, den es so in Frankreich gar nicht gab, dachte man hierzulande, er sei typisch französisch! Im ausgehenden 17. Jahrhundert schrieben beispielsweise Philipp Heinrich Erlebach und Georg Muffat solche Suiten, Muffat hatte sogar selbst bei Lully studiert.

Auf Telemann geht wohl die Entwicklung der programmatischen Orchestersuiten zurück, überhaupt finden sich in seiner Musik immer wieder ausgesprochen komische Stücke, musikalische Charakterisierungen, instrumentale Dialoge. In der Orchester-Suite E-Dur folgt auf die gerade gehörte Ouvertüre u.a. die folgende Air, in der Telemann immer wieder mit Tonart-fremden Harmonien spielt und neben eine „Dur“-Sequenz auch durchaus abrupt eine in „moll“ stellt:

______Musik 2 Georg Philipp Telemann 2´12 CD1<12> 4.Satz : „Air“ aus: Ouvertüre E-Dur TWV 55:E2 Bach Concentus Ltg. Ewald Demeyere ACC 24098, LC 6608 M0094112 009 ______

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Eine „Air“ mit überraschenden Wendungen - das war noch ein Satz aus der Orchester-Suite E-Dur von Georg Philipp Telemann, gespielt vom Ensemble „Bach Concentus“.

Graf Erdmann II. von Promnitz zu Pleß ist selbst erst Anfang zwanzig, als er den zwei Jahre älteren Telemann in seine Dienste nimmt. Der Graf war Kabinettminister und Geheimer Rat am Hof Augusts des Starken in und damit - in puncto Musik - an einem der ersten Höfe Europas. Auch Telemann reist mehrfach nach Dresden und hört dort die berühmte Kapelle und die neuesten Opern, auch von Sorau aus. Von hier verwaltet sein Dienstherr jetzt die ausgedehnten Ländereien und Güter seiner Familie, allein in der Niederlausitz gehören derer von Promnitz mehrere Schlösser. Seit dem Zweiten Weltkrieg übrigens gehört Sorau, inzwischen eine mittlere Kleinstadt, zum polnischen Teil der Lausitz, zur Woiwodschaft „Lebus“ und heißt „Zary“. - Hier steht auch heute noch ein prächtiges Barockschloss oder zumindest die Ruine davon - immerhin das Dach ist vor wenigen Jahren neu gedeckt worden und der völlige Verfall der Gebäude damit zunächst einmal gestoppt. Gleich daneben aber steht das noch ältere Schloss, in dem wohl Telemann ein- und ausgegangen ist. Als der Graf das neue Prachtschloss nach Entwürfen des Schweizer Baumeisters Giovanni Simonetti, da ist sein Telemann schon weitergezogen an den Hof von . Fertig wird das Barockschloss erst 18 Jahre später...

Begegnet sind sich Graf und Musiker vermutlich in Weißenfels in Sachsen: Neben seinen vielen Leipziger Tätigkeiten schreibt Telemann Opern auch für die Residenz in Weißenfels und hier wird im Frühjahr 1705 die Hochzeit des Grafen zu Promnitz mit der Tochter des Herzogs von Weißenfels gefeiert, mit großem Aufwand und viel Musik: ______Musik 3 Georg Philipp Telemann 3´48 <7> Arie der Hildegard: „Steckt Mars den Degen ein“ aus: „Emma und Eginhard“ (1728) Nuria Rial, Sopran - Kammerorchester Basel Sony/dhm 88697922562, LC 0761 M0295208 007 ______

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„Steckt Mars den Degen ein“ - Nuria Rial, begleitet vom Kammerorchester Basel, mit einer Arie aus Telemanns Oper „Emma und Eginhard“. Diese Oper stammt allerdings von 1728, da war Telemann bereits Musikdirektor in Hamburg.

In Sorau komponiert er, wie von Graf Promnitz gewünscht, vor allem Ouvertüren- Suiten im französischen Stil. Der Graf besitzt Partituren von Lully und André Campra, Telemann wird sie studiert haben. Auch Campra, zwanzig Jahre früher geboren als Telemann, schreibt Ouvertüren-Suiten und schon er nimmt italienische Elemente mit in diese Musik auf wie das Konzertieren, also das wechselnde Spiel von Solo und Tutti, wie wir es auch von den späteren Orchestersuiten von kennen.

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden die Unterschiede zwischen den verschiedenen europäischen Nationalstilen in der Musikwelt intensiv diskutiert und als Könner gilt, wer möglichst in allen Stilen schreiben kann. Telemann zählt in jedem Fall dazu, wie auch André Campra. Der war übrigens zu seiner Zeit vor allem als Opernkomponist bekannt, hier ein Ausschnitt aus „L’Europe galante“ - „Das galante Europa“:

______Musik 4 André Campra ca. 2´20 <18> Rez.: „Que voi-je, quel spectacle!“ Chor: Aimez, belle Bergère“ aus: „L’Europe galante“, 2. Entrée, Szene 3 Daniela Skorka, Sopran, Emilie Renard, Mezzo-Sopran Zachary Wilder, Tenor, Victor Sicard, Bariton Cyril Costanzo, Bass Les Arts Florissants, Ltg. William Christie AF Edition 314902805284 LC ? Achtung Ausschnitt: A-2´21 ______

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André Campra, ein Ausschnitt aus „L’Europe galante“ - „Das galante Europa“ mit einem Solistenchor und Les Arts Florissants, die Leitung hatte William Christie.

In seiner Autobiographie von 1740 berichtet Georg Philipp Telemann, dass er am Hof zu Sorau binnen zweier Jahre an die 200 Ouvertüren im französischen Geschmack geschrieben habe. Das ist eine enorme Zahl, doch angesichts von Telemanns unglaublicher Produktivität durchaus vorstellbar - immerhin wissen wir von über dreieinhalb Tausend Kompositionen von ihm. Zu den Sorauer Suiten, von denen nur wenige erhalten sind, kommen rund 130 überlieferte spätere Orchestersuiten, er selbst nennt sogar die Zahl „600“. - Übrigens sind der Hof und die Hofkapelle von Promnitz noch nicht erforscht, wer weiß, vielleicht lässt sich hier noch Verschiedenes finden und zuordnen.

Telemann nutzt diese Gattung als eine Art Spielweise: Er kombiniert, wie gewünscht, verschiedene Nationalstile und lässt auf die formal festgelegte ‚Französische Ouvertüre’ kürzere Sätze in anderer Manier folgen, er spielt genauso mit stilistischen Elementen wie mit den unterschiedlichen Klangfarben verschiedener Instrumente. In einer späteren Suite in g-moll lässt Telemann auf die Ouvertüre sechs kürzere Sätze folgen, in dreien davon stellt er verschiedene Charaktere vor, so plastisch und lebendig, dass man sich im Musiktheater wähnt:

Da sind „Les Irresoluts (à discrétion)“ - „Die Unentschlossenen“ - hier zögert die Musik, die harmonische Entwicklung des Stücks wird immer wieder angehalten und jeder Schwung wieder herausgenommen, da scheinen verschiedene Gruppen beieinander zu stehen, machen drei Schritte vor und zwei zurück, immer mit der Frage: „Sollen wir wirklich?“ Dann folgt „Les Capricieux“ und in diesen nicht einmal anderthalb Minuten treten zunächst Figuren energisch im forte auf, launisch, kapriziös, die Rhythmen verschieben sich und dann klappern die Streicher - deutlich abgesetzt im Piano - wie ein Echo immer wieder nach und wiederholen die letzte Phrase, es klingt wie - hinter vorgehaltener Hand: „...hab’ ich doch gesagt, hab’ ich doch gesagt!“. Dann folgt eine getragene „Loure“ und schließlich die „Gasconnade“: Wichtigtuerisch klopfen sich hier Angeber und Aufschneider auf die eigene Schulter!

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Doch den Beginn machen jetzt die zögernden „Les Irresoluts“ - „Die Unentschlossenen“:

______Musik 5 Georg Philipp Telemann ca. 7´35 CD1<3-6> 3.Satz: Les Irresoluts (à discrétion) (1´44) 4.Satz: Les Capricieux (1´20) 5.Satz: Loure (2´43) 6.Satz: Gasconnade (1´48) aus: Ouvertüre g-moll TVWV 55:g4 Concentus Musicus Wien Ltg. Nikolaus Harnoncourt TEL 4509-93772-2, LC 6019 1904209 ______

- dass da mal nicht eine Epaulette oder ein Orden - von stolz geschwellter Brust oder Schulter - auf den Boden fällt! Georg Philipp Telemann skizziert hier musikalisch die Spezies der Wichtigtuer. Das waren vier Sätze - zuletzt eben „Gasconnade“ - aus der Ouvertüren-Suite g-moll, gespielt vom „Concentus Musicus Wien“ unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt. - Harnoncourt setzt Telemanns Charaktere hier mit einer gewissen augenzwinkernden Grobheit in Szene. Die Aufnahme - über dreißig Jahre alt - ist für mich die aussagekräftigste Einspielung dieser Suite, es gibt elegantere und im Tempo schnellere, doch an Telemanns Intention führen die vielleicht vorbei.

Zu Telemanns Kollegen in Sorau gehört der Musikhistoriker Wolfgang Caspar Printz, Telemann berichtet von anregenden Streitgesprächen: Printz ist ein Verfechter des überkommenen Kontrapunkts, Telemann dagegen tritt für die - salopp gesagt - moderne Melodiemusik ein, und es ist gut vorstellbar, dass sich an dem kleinen Hof auch der musikalische Graf bei Wein und Tabakspfeife an mancher Diskussion beteiligt.

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Und noch eine wichtige Figur lernt der Hofkapellmeister hier in Sorau kennen, und zwar den Theologen Erdmann Neumeister: Der ist von Weißenfels als Oberhofprediger ein Jahr nach ihm nach Sorau gekommen. Zwischen Musiker und Theologe entwickelt sich ein freundschaftliches Verhältnis und beide werden sich in Hamburg wiederbegegnen: Hier wird Neumeister 1715 Hauptpastor an der Jacobikirche und er spielt auch eine entscheidende Rolle 1721 bei der Berufung Telemanns als Musikdirektor nach Hamburg.

Doch so weit sind wir noch nicht und hier, im Umfeld des kleinen Sorau, kommt es für Telemann zu einer weiteren Begegnung, die - musikalisch - von ‚elementarer Gewalt’ ist, wie ein Biograph schreibt: Auslöser ist indirekt der Nordische Krieg, dessen Auswirkungen im Jahr nach Telemanns Anstellung bis nach Sorau dringt. Aus diesem Grund flieht der ganze Hof nach Pleß in Oberschlesien auf ein anderes Promnitzsches Gut und hier hört Telemann zum ersten Mal polnische Musik. Vom ersten Moment an ist er fasziniert von diesem „stile barbaro“ und nimmt die kraftvollen, folkloristischen Elemente mit hinein in die barocke Musiksprache seiner Zeit:

______Musik 6 Georg Philipp Telemann 2´04 <6> 3.Satz: „Presto“ aus: Concerto a-moll (Ouvertüre zu “Emma und Eginhard“ 1728) Julia Schröder, Violine Kammerorchester Basel Sony/dhm 88697922562, LC 0761 M0295208 006 ______

Das sind keine fein ziselierten Geigen-Soli, das ist Musik mit kraftvoll-folkloristischem Einschlag: Julia Schröder und das Kammerorchester Basel mit dem 3. Satz „Presto“ aus dem Violinkonzert a-moll von Georg Philipp Telemann, ursprünglich komponiert als Ouvertüre zu seiner Oper „Emma und Eginhard“.

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Telemann ist wie vom Donner gerührt, als er in Pleß und während eines Besuchs in Krakau zum ersten Mal polnische Musik hört. In seiner Autobiographie von 1740 berichtet er ausführlich darüber:

„Als sich der Hof ein halbes Jahr nach Pleß (...) begab, lernete ich (...) die polnische und hanakische Musik in ihrer wahren barbarischen Schönheit kennen. Sie bestund, in gemeinen Wirthshäusern, aus einer um den Leib geschnalleten Geige, die eine Terzie höher gestimmet war, als sonst gewöhnlich, und also ein halbes dutzend andre überschreien konnte; aus einem polnischen Bocke (einer Sackpfeife); aus einer Quintposaune, und aus einem Regal (...).“ Und Telemann führt noch weitere Besetzungen auf.

„Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben, wenn sie, so offt die Tantzenden ruhen, fantaisiren. Ein Aufmerckender könnte von ihnen, in 8. Tagen, Gedancken für ein ganzes Leben erschnappen.“

Und genau das tut Telemann: Er greift die fremden Rhythmen, Harmonien und Klangfarben auf und fügt das Volkstümlich-Polnische seinem eigenen kompositorischen Vokabular hinzu:

„Ich habe, nach der Zeit, verschiedene grosse Concerti und Trii (Triosonaten) in dieser Art geschrieben, die ich in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet.“

Der Kontrast zwischen derben, volkstümlichen Klängen und der höfischen Musik übt einen Reiz auf Telemann aus, der ihn zeitlebens nicht mehr loslassen wird, ja, er sucht ihn geradezu. Frech lässt er die Normen der zeitgenössischen Kunstmusik - bezogen auf die Regeln der Harmonie- und Satzlehre - außer Acht.

In seinem Concerto e-moll besetzt Telemann die Solostimmen mit zwei Flöten, allerdings - und schon das ist ungewöhnlich - stellt er neben eine Alt-Blockflöte eine Flauto traverso. Die letzten beiden Sätze des Concertos stehen in besonderem Kontrast zueinander: Auf ein ausgesprochen lyrisches „Largo“ lässt Telemann ein

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geradezu robustes „Presto“ im polnischen Stil folgen. Die Kontrastwirkung ist umso größer, als Telemann im „Largo“ die beiden Flöten von den Streichern im Pizzicato, also gezupft, begleiten lässt. Der Flötensatz beginnt - und klingt aus - geradezu rezitativisch mit einer Sologeige zum Basso continuo, - das steigert die Wirkung. ______Musik 7 Georg Philipp Telemann ca. 5´50 <13-14> „Largo“ (3´12) „Presto“ (2´38) aus: Concerto e-moll f. Blockflöte, Traversflöte, Str u Bc TWV 52:e1 Ensemble Amarillis EVCD032, LC ? ______

Da klingt der Bordun, die Unter-Quinte des Dudelsacks, deutlich und fast ein bisschen aufdringlich heraus: Das Ensemble „Amarillis“ spielte „Largo“ und als Kehraus „Presto“ aus dem Concerto e-moll für Altblockflöte, Traversflöte, Streicher und Basso continuo von Georg Philipp Telemann, Musik mit deutlich folkloristischem Einschlag.

Telemann reizen Besonderheiten und andere Klänge, es reizt ihn, Farben aus anderen Musikbereichen oder -stilen in seine Werke mit aufzunehmen: Sein Oevre bietet ein ungeheuer vielfältiges Kaleidoskop an Genres und Gattungen, an Kombinationen von verschiedenen Instrumenten, von Stilen und Besetzungsfarben. Neuen musikalischen Strömungen gegenüber zeigt er sich als Komponist aufgeschlossen - und das mit Können, Witz und Humor. - Mir ist es bei der Vorbereitung zu dieser SWR2-Musikstundenwoche immer wieder so gegangen, dass ich beim Hören - von Stücken, die ich bis dahin nicht gekannt habe, gerade in der Instrumentalmusik - laut gelacht habe bei einer überraschenden Wendung, und überraschen kann Telemann! Gleichzeitig hat er zu fast jeder Gattung wichtige und häufig innovative Werke beigetragen. Dazu gehören die Triosonate und auch die Kantate, - darauf werden wir morgen zu sprechen kommen, wenn er als Kirchenmusiker nach Frankfurt wechselt.

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Doch vorher geht Telemann noch für wenige Jahre nach Thüringen an die Eisenacher Residenz und zeigt sich aufgeschlossen auch in der Verwendung von neu erfundenen Instrumenten, - und was die Entwicklung von Instrumenten betrifft gehört das 18. Jahrhundert zu den wichtigsten Epochen überhaupt: Entwickelt werden beispielsweise das Hammerklavier und die Klarinette und die hat noch eine Verwandte, das Chalumeau, das Telemann auch selbst spielen kann:

______Musik 8 Georg Philipp Telemann 1´02 <20> „Carillon” à 2 Chalumeaux TWV 40:109 aus: „Der getreue Music-Meister“ Salzburger Hofmusik cpo555 031-2, LC 8492 ______

„Carillon” à 2 Chalumeaux - Christian Leitherer und Ernst Schlader von der „Salzburger Hofmusik“ mit einem kleinen Stück von Georg Philipp Telemann, explizit für Chalumeaux geschrieben.

Über den Beginn seiner Zeit in Eisenach berichtet Telemann später: „Bisher war mirs ergangen wie den Köchen, die eine Reihe Töpffe am Feuer stehen haben, aus deren etlichen sie nur etwas zu kosten geben. Nunmehr aber sollte ich völlig anrichten, das ist, mit allen meinen Instrumenten, mit Singen und mit der Feder zeigen, was ich gelernet hatte.“ (Soweit Telemann)

Am Eisenacher Hof findet Telemann eine ‚fürstliche Cammer-Music’ vor, die der Kollege Pantaleon Hebenstreit leitet, ein hervorragender Geiger. Telemann zeigt einmal mehr sein großes Geschick beim Aufbau oder besser Ausbau der Hofmusik: sein organisatorisches Talent, der Blick für das Machbare, für tragfähige Strukturen und vor allem Geschick im Umgang mit Kollegen. Immer wieder gelingt es diesem Musiker während seiner Laufbahn musikalische Konkurrenz, Kollegen, die er vielleicht an einer neuen Stelle vorfindet, für sich und seine Ideen zu gewinnen.

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Diese Fähigkeit zeigt schon der Student in Leipzig, der junge Kapellmeister in Sorau und jetzt in Eisenach und so wird es auch in Frankfurt und in Hamburg sein.

Die Eisenacher Kapelle scheint mit ihren 11 - 12 Mitgliedern klein, aber ambitioniert gewesen zu sein. Wenn größeren Besetzungen gefordert sind, dann verstärken Pagen und andere Hofbedienstete das Orchester, sie übernehmen häufig die Partien der Bratschen und tieferen Streichinstrumente - so ist es an vielen Höfen üblich.

Die Jahre in Eisenach werden nicht nur musikalisch, sondern auch persönlich wichtige Jahre: Von dieser Zeit datiert die Freundschaft mit Johann Sebastian Bach, der im selben Jahr als Organist nach Weimar geht, Bach macht Telemann später zum Paten seines Sohns Carl Philipp Emanuel. - Und er begegnet seiner ersten Frau, Amalie Louise Juliana Eberlin, sie ist die Tochter eines Kollegen und hervorragenden Geigers und vielleicht die große Liebe in Telemanns Leben. Doch anderthalb Jahre nach der Eheschließung, kurz nach der Geburt des ersten Kindes, stirbt Amalie Louise - Telemann trauert und sein Gedicht auf ihren Tod rührt noch heute an, darin heißt es: „So sah ich dich mein Schatz, auf einer Todtenbaare! Ists möglich, dass ich noch für Jammer athmen kan!“ Es endet mit den Worten: „Mein Engel, gute Nacht!“

Die Arbeit wird ihm geholfen haben, den Schmerz zu verarbeiten - und es gibt viel Arbeit: Neben den Proben, Besetzungsfragen, dem Organisieren von Noten und Kopieren von Hand - Note für Note - komponiert Telemann wieder einmal eine Fülle von Werken in erstaunlich kurzer Zeit: Darunter viele Concerti auch für zwei Geigen - und Telemann gibt zu, dass er - neben einem Geiger wie Pantaleon Hebenstreit - sich auch die Zeit zum Üben genommen hat... ______Musik 9 Georg Philipp Telemann 2´50 <18> 4. Satz: „Vivace“ aus: Concerto G-Dur f. 2 Vl, Str u Bc TWV 52:G1 Elizabeth Wallfisch, Susan Carpenter-Jacobs, Vl The Wallfisch Band cpo 777 473-2, LC 8492 ______

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Mit dem 4. Satz „Vivace“ aus dem Concerto für zwei Geigen, Streicher und Basso continuo geht die dritte Musikstunde und Musikalische Begegnung mit Georg Philipp Telemann in dieser Woche zu Ende. Gespielt haben Elizabeth Wallfisch, Susan Carpenter-Jacobs und The Wallfisch Band.

Und damit wünscht Ihnen einen musikalischen Tag - AvS

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