Wirecard-Protokolle
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NEUE DOKUMENTE Frühe Zweifel an Wirecard: „EY glaubt nicht an die Unschuld des Managements“ René Bender • Bert Fröndhoff • Tristan Heming • Felix Holtermann • Sönke Iwersen • Lars-Marten Nagel • von: Michael Verfürden • Volker Votsmeier Datum: 11.02.2021 15:56 Uhr Interne Dokumente zeigen, dass EY schon im Frühjahr 2019 massiv an der Integrität von Wirecard-Managern zweifelte. Doch die Prüfer und der Aufsichtsrat scheuten offenbar Konsequenzen. Wirecard Das Handelsblatt hat seit Anfang Februar einen riesigen Datenberg ausgewertet, der den Skandal in einem neuen Licht zeigt. (Foto: dpa) Düsseldorf, Frankfurt, Berlin. Das Grauen bei Wirecard kam kurz vor dem Wochenende. Es war 18 Uhr, als sich Wulf Matthias und Anastassia Lauterbach am Freitag, dem 1. März 2019 in eine kurzfristig anberaumte Telefonkonferenz einwählten. Matthias war Aufsichtsratschef des Münchener Zahlungsdienstleisters, Lauterbach Vorsitzende des Risikoausschusses im Kontrollgremium. Was nun besprochen werden musste, war mehr als riskant. Lauterbach gab das Wort an Juristen, die ebenfalls in die Konferenz einbezogen wurden. Ein Paket war eingetroffen. Nicht beim Konzern, sondern bei den langjährigen Wirtschaftsprüfern von Wirecard, EY. Es ging um aktuelle Betrugsvorwürfe in Singapur, aber auch um alte Vorwürfe im Rahmen einer Übernahme in Indien. Die Forensiker hätten das Material des unbekannten Absenders bereits untersucht, berichtete eine Anwältin. Es enthalte offenbar Informationen, die EY eigentlich von Wirecard hätte bekommen müssen, aber wohl nicht erhielt. Es brauche weitere Untersuchungen. In den Sitzungen mit EY sei klargeworden, so notiert das Protokoll, dass EY „nicht an die Unschuld des Managements“ glaube. Diese Zitate, festgehalten in einem bisher unbekannten Aufsichtsratsprotokoll, geben der Wirecard- Affäre eine neue Dimension. Zwischen der Sitzung Anfang März 2019 und dem Insolvenzantrag von Wirecard Mitte Juni 2020 liegen mehr als 15 Monate. Bisher war die Öffentlichkeit davon ausgegangen, die Wirtschaftsprüfer von EY seien zu inkompetent oder gutgläubig gewesen, das Betrugssystem von Wirecard zu entschleiern. Die Wahrheit ist wohl anders. THEMEN DES ARTIKELS Wirecard Wirtschaftsprüfer und Unternehmensberater Markus Braun Jan Marsalek Corporate Governance Fintech Das Aufsichtsratsprotokoll ist Teil eines riesigen Datenbergs, den das Handelsblatt seit Anfang Februar auswertet. Die Zusammenfassung von Sitzungen innerhalb Wirecards, Hunderttausenden von E-Mails zwischen Vorständen und Geschäftspartnern sowie Chat-Protokolle zeichnen ein verstörendes Bild. Markus Braun (r.) und Alexander von Knoop Der CEO und CFO wussten von dem Misstrauen der eigenen Wirtschaftsprüfer. (Foto: Reuters) Schon im März 2019, nur sechs Monate nach der Aufnahme von Wirecard in den wichtigsten deutschen Aktienindex, den Dax, wussten die Aufsichtsräte von Wirecard, die Wirtschaftsprüfer und zahlreiche externe Anwälte von vielen Fragezeichen im Konzern. Alle ließen sich von denen abspeisen, die nun Beschuldigte in Deutschlands größtem Wirtschaftsstrafverfahren sind. Markus Braun und Jan Marsalek waren mit in der Leitung, als das Misstrauen der eigenen Wirtschaftsprüfer vorgetragen wurde. Ebenso die beiden übrigen Wirecard-Vorstände Alexander von Knoop und Susanne Steidl, Aufsichtsrätin Vuyiswa M’Cwabeni, Chefjuristin Andrea Görres sowie fünf Juristen der Kanzlei Latham & Watkins. 70 Minuten sprach die Runde in Vollbesetzung, 50 Minuten liefen ohne den Vorstand. Acht Wochen später testierte EY den Geschäftsbericht von Wirecard ohne Wenn und Aber. „Während der Prüfung üben wir pflichtgemäßes Ermessen aus und bewahren eine kritische Grundhaltung“, schrieben die Wirtschaftsprüfer am 24. April 2019. „In allen wesentlichen Belangen steht dieser Konzernlagebericht in Einklang mit dem Konzernabschluss und entspricht den deutschen gesetzlichen Vorschriften und stellt die Chancen und Risiken der zukünftigen Entwicklung zutreffend dar.“ Heute sind Mitarbeiter von EY selbst Beschuldigte im Fall Wirecard, weil sie einst ihre Arbeit womöglich nicht rechtmäßig erledigten. Wie konnte es dazu kommen? Das Handelsblatt hat nachgezeichnet, warum Wirecard nicht schon im Frühjahr 2019 fiel – und wer es verhinderte. 1. Das Warnzeichen Die Telefonkonferenz am 1. März 2019, in der laut Protokoll dem Vorstand und Aufsichtsrat berichtet wurde, dass die Wirtschaftsprüfer an der „Integrität des Managements“ zweifelten, hatte eine Vorgeschichte. Am 6. Februar erhielt das Münchener Büro von EY Unterlagen zu erstmals aufgekommenen Betrugsvorwürfen gegen Geschäftspartner in Singapur – aber auch zu einem alten Thema namens „Projekt Ring“. Hubert Barth, der Deutschlandchef von EY, telefonierte deshalb persönlich mit dem Wirecard- Aufsichtsratsvorsitzenden Wulf Matthias. Er berichtete einerseits von Unterlagen, die noch zu prüfen seien, andererseits von Dokumenten, bei denen sich seine Mitarbeiter fragten, warum sie diese nicht längst kannten. Das Thema sei doch schon vor drei Jahren hochgekommen. Projekt Ring – unter diesem Codenamen hatte ein Ermittlerteam von EY schon 2016 geprüft, ob Wirecard vor einer Übernahme in Indien womöglich Umsätze aufgebläht hatte. „Insbesondere ein Vertrag, der EY bisher nicht zur Verfügung gestellt wurde, war Teil dieses Pakets“, steht in dem Aufsichtsratsprotokoll von März 2019. Die Prüfer fürchteten demnach, dass man ihnen Dokumente bei der früheren Untersuchung womöglich bewusst vorenthalten hatte. Im Vorfeld der Telefonkonferenz mit Aufsichtsrat und Vorstand gab es stundenlange Gespräche zu allen erhobenen Vorwürfen zwischen EY und den Anwälten von Wirecard. Und begannen die Prüfer den Austausch als harte Hunde, so wurden sie im Verlauf eher zahm. Einzelheiten zeigt das Protokoll. Jan Marsalek Früher zuständig für das Asiengeschäft, jetzt auf der Fahndungsliste. (Foto: dpa) „Bestätigte Unregelmäßigkeiten“, so nannten die EY-Vertreter demnach das, was sie nach Untersuchung der anonym erhaltenen Unterlagen über die Vorgänge in Asien niederschreiben würden. Für die Wirecard-Juristen war das nicht akzeptabel. Das Testat für den Geschäftsbericht 2018 stand an, der Konzern brauchte einen Persilschein. Er bekam etwas Ähnliches. „Auf unsere Anfrage zurückgerudert“ seien die Prüfer, stand später im Wirecard-Protokoll. Aus den „bestätigten Unregelmäßigkeiten“ wurde ein „greifbarer Verdacht“, nach weiteren Verhandlungen lautete die Formulierung, es gebe „noch keine aktuell gefestigten Erkenntnisse“. Damit konnte Wirecard leben. Das Misstrauen und die Integritätszweifel von EY richteten sich vor allem gegen das Management in Fernost, aber nicht nur: Zuständig für das Asiengeschäft war Jan Marsalek. Es sei notwendig, Zugang zum Mail-Account von Jan Marsalek zu bekommen, „um die Sache aufzuklären“, rieten die Prüfer dem Aufsichtsrat. Insiderkreisen zufolge wurde dieser Zugang später gewährt. Der Argwohn der eigenen Wirtschaftsprüfer schien aber an jenem Freitagabend im März 2019 im Aufsichtsrat erst mal zu verwehen. „Der Vorstandschef machte mehrere Bemerkungen dazu, vor allem betonte er die Stärke des Unternehmens, des Geschäfts und der Organisation“, steht im Protokoll. Markus Braun habe wiederholt, dass die Attacke wohl Teil einer weiteren Attacke von Investoren sei, die auf das Fallen der Wirecard-Aktie spekulierten. „Die volle Kooperation mit EY sei deshalb angebracht und werde sichergestellt.“ 2. Projekt Ring In der Chronologie der gescheiterten Versuche, den Betrug bei Wirecard zu stoppen, spielt das Projekt Ring eine wichtige Rolle. Im Mai 2016 erhielt EY ein Schreiben eines Whistleblowers. Es enthielt Vorwürfe über angebliche kriminelle Machenschaften von Wirecard in Asien, teils mit Beteiligung des Senior Managements in Deutschland. Betroffen war auch die bis dahin größte Akquisition der Wirecard-Geschichte: der Kauf einer indischen Unternehmensgruppe für 326 Millionen Euro. Völlig überteuert sei dies gewesen, so die Botschaft in dem anonymen Schreiben. Wirecard-Manager könnten vom Kauf profitiert haben, weil sie an dem Fonds auf Mauritius beteiligt gewesen sein könnten, über den der Kauf lief. Außerdem seien Umsätze in Asien aufgebläht worden. EY begann eine Untersuchung, kam aber nicht recht voran. Im Frühjahr 2017 beschwerten sich die Wirtschaftsprüfer in einem Brief an den Aufsichtsratsvorsitzenden Matthias über die mangelhafte Zusammenarbeit. Es sei durchaus möglich, dass Wirecard für 2016 nur ein eingeschränktes Testat von EY erhalte. Es kam anders. „Unsere Prüfung hat zu keinen Einwendungen geführt“, schrieben die Prüfer von EY am 5. April 2017 unter den Geschäftsbericht 2016. Das Projekt Ring freilich stockte noch immer, und im Herbst versuchte Wirecard, die Untersuchung zu beenden. Seine Vorstellungen, mit welchen Worten das geschehen sollte, gab Finanzvorstand Burkhard Ley per Mail an EY durch. Der Bericht solle herausstellen, dass es überhaupt keine Beweise für die Vorwürfe in Asien gibt, schlug Ley in einer Mail vom 28. September 2017 vor. Von Formulierungen wie „possible further steps“ – also möglichen weiteren Ermittlungen – sollte EY absehen. Teile des Berichts sollten vom Aufbau her „hinsichtlich der Aufsichtsratstauglichkeit“ überdacht werden. EY wollte dem zumindest teilweise nicht folgen. Im März 2018 fassten die Forensiker die zu dem Zeitpunkt bekannten Erkenntnisse in einem „Status Memorandum“ zusammen. Wirecard-Vorstand Jan Marsalek bedankte sich am 3. April per Mail für die „hochprofessionelle Analyse“ und zog seine eigenen Schlüsse. „Wir nehmen zur Kenntnis, dass im Rahmen Ihrer Prüfung und Analyse der Anschuldigungen aus dem Whistleblower-Letter