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MUSIK IN ZEITEN DER PANDEMIE

Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg | Musik in Zeiten der Pandemie 2020 | Musik in Zeiten 13 | Dezember | Ausgabe der Hochschule für Kirchenmusik – Die Zeitschrift HfK aktuell

Ausgabe 13 Dezember 2020 EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,

hier ist sie nun – die neueste Ausgabe der HfK aktuell. Ich bin froh, dass unsere Schriftenreihe nach längerer Pause fortgeführt werden kann. Dieses Heft erscheint in der Adventszeit des Jahres 2020 – eines denk- würdigen Jahres also, in dem so vieles anders war als sonst: Die Pandemie hatte Auswirkungen auf unser Leben und hat sie noch immer. Auch unsere Hochschule blieb davon nicht verschont: Konzertveran- staltungen mussten entfallen, Unterricht konnte zeitweise nur einge- schränkt erteilt werden, Prüfungstermine galt es zu verschieben … Ins- gesamt waren und sind die Maßnahmen gegen die Infektion mit vielerlei Mühen verbunden. Was selbstverständlich schien, musste überdacht, ge- ändert, umformatiert und manchmal gleichsam ganz neu erfunden wer- den. Mich hat dabei die Kreativität beeindruckt, die sich dabei zeigte. So wurde vieles möglich – nur eben anders als gewohnt … Ich bin nicht MARTIN-CHRISTIAN MAUTNER wenig stolz auf das mit Phantasie, Mut und Entschlossenheit Erreichte. REKTOR Die HfK konnte so auch unter widrigen Umständen ihre Aufgabe er- füllen: unsere Studierenden bestmöglich mit dem auszustatten, was sie brauchen. Dafür bin ich allen dankbar, die sich hier engagiert haben.

Überhaupt: Was brauchen wir?

Vor wenigen Tagen führten wir, beschränkt auf die Hochschulöffentlich- keit und unter strikter Beachtung der Hygienevorschriften, einmal wie- der eine unserer Vespern mit Chormusik aus unterschiedlichen Epochen zum Thema „Trost“ durch. Und tatsächlich: Wie tröstlich war es für die Ausführenden und alle, die sich an dem Gebotenen erfreuen durften! Mich hat diese Abendmusik sehr berührt; mir wurde die Reichweite des durch die Umstände sonst auferlegten Verzichts schmerzlich bewusst. Für das Erleben danke ich allen, die es ermöglichten. Ein weiteres tröstliches Zeichen dafür, wie wir über die gegenwärtige Situation hinaus auf eine Zukunft mit Musik zu Gottes Ehre und zur Freude der Menschen blicken dürfen, sehe ich in dieser Ausgabe der HfK aktuell. Auch hierfür danke ich – dem studentischen Redaktionsteam ebenso wie den Damen der Verwaltung, die sich der Aufgabe annahmen.

Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende zu. Wir erwarten das Jahr 2021 – er- wartungsvoll oder auch mit bangem Fragen, was es wohl bringen mag … Etliches wird uns beschäftigen: » die Neubesetzung des Rektorats, das ich inzwischen mehr als zwei Jahre kommissarisch vertrete, » die Entwicklung der Finanzmittel, die für die Erfüllung unserer Auf- gaben zur Verfügung stehen werden, » die Planung und Durchführung größerer Veranstaltungen, die den Kontakt zur Öffentlichkeit wieder aufzunehmen vermögen, derzeit aber eben an den Unwägbarkeiten sich unablässig ändernder Vor- schriften scheitern, ▶

Editorial 1 » die noch nicht abschließend beantwortete Frage, ob und – wenn ja – wann bzw. wie die Hochschule einmal in ein neues Domizil um- ziehen wird.

Bei alledem sollten wir doch dankbar wahrnehmen, dass unsere HfK in diesem besonderen Jahr bislang bewahrt blieb. Das kann uns ermutigen, auch zuversichtlich in das neue Jahr einzutreten. Denn: Auch 2021 wird wieder ein Jahr unseres Herrn sein.

So wünsche ich Ihnen allen viel Freude bei der Lektüre dieser aktuellen Ausgabe unserer Zeitschrift, eine besinnliche Advents- und gesegnete Weihnachtszeit sowie ein gutes neues Jahr. Bleiben Sie behütet – und unserer Hochschule gewogen!

Es grüßt Sie herzlich

Ihr

INHALT

Willkommen und Abschied 4

Michiya Azumi | Matthias Berges und Manuel Knoll 4

Bernd Stegmann | Carmen Buchert, Lukas Ruckelshausen und Anna Vogt 10

Tine Wiechmann | Carsten Klomp 21

Master Pop-Kirchenmusik | Tine Wiechmann 24

Akademie für Kirchenmusik | Achim Plagge 25

Musik in Zeiten der Pandemie 27

Ein verlorenes Semester? | Katharina Linn, Yena Jeong, Manuel Knoll, Byungyong Yoo, Manuel Dahme 28

Und plötzlich war da Corona | Andrea Hadwiger 31

Kirchenmusik digital – Möglichkeiten, Chancen und Grenzen | Peter Gortner 32

Das Verbot von Gemeindegesang – eine liturgietheologische Unmöglichkeit? | Markus Uhl 39

Das kontrapunktische Spätwerk Johann Sebastian Bachs | Christoph Bornheimer 42

Musica sacra – weitergedacht | Kord Michaelis 50

2 Inhalt Spiritus Musicae – Heidelberger Summer Schools 53

7. Heidelberger Summer School „Was uns bewegt“ | Bernd Stegmann 54

Die biblische Matthäuspassion: bekannt und bewegend | Helmut Schwier 56

Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte von Bachs Matthäuspassion | Martin-Christian Mautner 61

Auslegung als Verknüpfung | Gerhard Luchterhandt 66

8. Heidelberger Summer School „Klangraum – Raumklang“ | Bernd Stegmann 75

Bachs h-Moll-Messe | Paul Tarling 77

Musik im Raum – Raum in der Musik | Joachim Steinheuer 81

Musikvermittlung 90

Ohren öffnen und Neues entdecken | Winfried Willems im Interview mit Christoph Bornheimer 90

Orgelbau und Orgelmusik als Immaterielles Kulturerbe der UNESCO | Michael Gerhard Kaufmann 94

Berichte 100

Chorreise nach Frankreich 2018 | Andrea Stegmann 100

HfK-Choristen singen in der Berliner Philharmonie | Matthias Berges 103

Romreise 2018 | Gerd-Peter Murawski 104

Orgelexkursion nach Norddeutschland | Christian David Karl 107

Kurs mit Prof. Zsolt Gárdonyi | Till Otto 111

Orgelexkursion nach Südbaden | Noah Roloff 113

Orchesterstudientage 2020 | Caroline Huppert 114

Heidelberger Karg-Elert-Tage 2020 | Matthias Berges 115

Umbaumaßnahmen an den Orgeln der Peterskirche | Carsten Klomp 116

Personen und Daten 120

Impressum 128

Inhalt 3 Das neue Gesicht der Heidelberger Chorleitung Michiya Azumi Seit dem Sommersemester 2020 ist Michiya Azumi Professor für Chorleitung an der HfK. Von Fukuoka, Japan, wo er zuletzt als Universitätsmusikdirektor wirkte, führte ihn sein Weg im vergangenen März nach Heidelberg. Unter Coronabedingungen konnten die Studierenden Azumi anfänglich nur online erleben. Die Freude war groß, als der Unterricht dann endlich vis-à-vis stattfinden konnte. Im Gespräch mit sei- nen Studenten Matthias Berges und Manuel Knoll stellt er sich vor und schildert seine Ideen von Musik.

Wie hat es bei Ihnen angefangen oder nicht. Damals war Musik nur ich eine Voraussetzung für die mit der Musik? mein Hobby und „Musik“ begann Tätigkeit als Lehrer fand, in Tokio. Ja … Ich habe mit neun Jahren an- für mich zeitlich erst nach Beetho- Dort hatte ich meine erste Berüh- gefangen, Klavier zu spielen. Das ven. Aber ich hatte Angst: Verdiene rung mit der Kirchenmusik, als war aber ein Zufall, denn eigent- ich mit Musik mein Geld, würde ich einen Chor hörte, in dem ich lich wollte meine kleine Schwester die Musik dann für mich sterben? dann auch zu singen begann. Die- unbedingt Klavier spielen. Zwei Ich habe mich dann zunächst da- ser Chor war ein Uni-Kirchenchor Jahre hat sie dafür gekämpft und gegen entschieden und den Plan und sang hauptsächlich Messen als unsere Eltern dann endlich ein gefasst, Lehrer zu werden. Ich be- und Oratorien mit Orchester. In Klavier gekauft hatten, hatte sie gann ein Psychologiestudium, das diesen vier Jahren habe ich sehr kein Interesse mehr und nur wenig gespielt. Das habe ich dann aber getan und es hat mir viel Freude gemacht. In der Grundschule habe ich dazu Trompete gespielt, später auch noch Querflöte, Schlagzeug und weiterhin Klavier. Erst in der High School – da war ich 15 – habe ich Chorsingen ken- nengelernt. Da haben wir haupt- sächlich japanische Werke gesun- gen. Dort lernte ich glücklicherweise ein weiteres Instrument kennen: es gab eine Orgel mit elektronischer Traktur. Das war meine erste Be- rührung mit der Orgel. Allerdings gab es keinen Lehrer dafür und ich musste mir selbst zusammenrei- men, dass das dritte System in den Noten wohl für die Füße sein müs- se. Ich spielte hier zwei Jahre, aber habe dabei nie richtig verstanden, was „8 Fuß“ und „4 Fuß“ eigentlich wirklich bedeuten. Nach dem Abitur steht in Japan eine schwierige Aufnahmeprüfung an der Universität an. Ich überleg- te, ob ich Musik studieren sollte

4 Michiya Azumi viel gesungen, aber die Tasten sehr Nun stand ich aber noch vor der ganz grundsätzlich gezeigt, was vernachlässigt. In der WG, in der Frage, was genau ich denn studie- „Stil“ ist, was es bedeutet, „stilge- ich wohnte, hatte ich leider kein ren wollte: Klavier? Orgel? Ge- treu“ zu spielen. Nicht: „Barockstil Klavier. sang? Chorleitung? ist das“, sondern „barock zu spielen Ich durfte manchmal vertretungs- Für Klavier war es meiner Auffas- bedeutet: …“ halber den Chor dirigieren und sung nach vielleicht schon etwas Als Chorleiter hatte ich in meiner habe das Dirigieren überwiegend zu spät. Orgel sollte gehen (lacht). Laufbahn drei Lehrer: zuerst in autodidaktisch gelernt. Einmal Ich war mutig und ich war jung… Stuttgart Dieter Kurz, der quasi habe ich einen Kurs besucht, bei Ich konnte mich aber für kein Ins- mein „Papa“ war. Bei ihm habe ich dem ich die Saito-Technik kennen lernte, die eigentlich für Orchester ausgelegt ist. Das wusste ich aber » Alle meine Lehrer und nicht und habe damit den Chor im wahrsten Sinne „geschlagen“. So hat es begonnen und ich bin Freunde waren dagegen. « nach und nach zur Kirchenmusik gekommen. trument entscheiden. Irgendwann Kirchenmusik B studiert. Er war Dann haben Sie sich für ein Stu- erfuhr ich, dass es genau so einen ein Probenmensch: Seine Probe dium in Deutschland entschieden. Studiengang in Deutschland gäbe: war herrlich, nie langweilig und Stuttgart, Freiburg: Wie sind Sie Kirchenmusik. Man kann, ja man das beste Ergebnis kam immer in darauf gekommen? darf alles studieren! Das war wie der Probe zustande. Im Konzert Da möchte ich einmal ausholen, für mich gemacht! ging es manchmal schief, aber das wie ich dann schlussendlich wie- Ich lernte dann am Goethe-Institut war mir damals völlig egal. Ich hat- der zur Musik zurückgekehrt bin: Deutsch und besuchte einen Vor- te immer Lust, in seine Proben zu Während meines ersten Studiums, bereitungskurs, vergleichbar mit gehen: So muss es sein! Auch bei das vier Jahre dauerte, gab es aus einem C-Kurs. Hier hatte ich mit Kirchenchören besteht die Arbeit mehreren Gründen einen Zeit- 21 Jahren das erste Mal richtige zu 99 Prozent aus der Probe, erst raum von eineinhalb Jahren, in de- Fachlehrer in Klavier, Orgel, Ge- das letzte eine Prozent ist die Auf- nen ich nie selbst singen und spie- hörbildung und Tonsatz. Ich habe führung. len konnte. Ich habe nur Bücher mich an einigen deutschen Hoch- Zum A-Studium wechselte ich gelesen und studiert. Am Ende schulen beworben und wegen des an die Hochschule in Freiburg, dieser Zeit merkte ich, dass ich wie sehr guten Eindrucks, den ich von in Chorleitung zu Hans-Michael ausgetrocknet war und den dring- Jon Laukvik hatte, habe ich mich Beuerle, der leider vor fünf Jahren lichen Wunsch verspürte, wieder damals für die Stuttgarter Musik- verstorben ist. Er war mein Ge- zu musizieren. Mir wurde bewusst, hochschule entschieden. Damals gensatz, er war total anders als ich. dass ich ohne Musik nicht leben war es normal, dass man die Hoch- Er hat alle meine – damals gut ge- konnte. schule nach dem Orgellehrer aus- meinten – Ansätze verworfen und Mir wurde bewusst: Beim Singen sucht. Nach dem Chorleiter wurde aus meiner damaligen Sicht falsche von Kirchenmusik, Gesang zum nie gefragt. Schade. Dinge unterrichtet. Ich dachte da- Loben und Danken, brennt mein Das leitet wunderbar zur nächs- mals, er hätte keinerlei Dirigier- Herz. Damit werde ich ein Leben ten Frage über: Wer sind Ihre prä- technik. lang leben können. Dieses Feuer genden musikalischen Vorbilder? Wenn ich heute an ihn denke, sehe würde nicht erlöschen. Man lebt Musik lernte ich vor allem bei Jon ich vor allem, dass er ein brillan- nur einmal und ich wollte zumin- Laukvik. Zu ihm kam ich musi- ter Denker war. Von seiner Philo- dest einmal in meinem Leben den kalisch gewissermaßen mit leeren sophie der Chormusik blieb bei Versuch wagen, ein Musikstudium Händen. Er hat in mir aber wohl mir sehr viel haften. Zum Beispiel: aufzunehmen. Wenn es dann nicht Potential gesehen und mir von A „Das Tempo macht der Klang.“, „Mi- geht, ist das in Ordnung, aber ich bis Z alles gezeigt. Er sagte nie chiya, gib bitte an so einer wichti- möchte es probiert haben. „mache dies, mache das!“, sondern gen Stelle keinen Einsatz.“ Alle meine Lehrer und Freunde zeigte Richtungen auf und ließ Heute kann ich viel besser ver- waren dagegen, weil man in Japan mich auch mal falsche Wege gehen stehen, was er wirklich meinte. normalerweise nach dem Studium und korrigierte sanft. Er hat mir Man hat die Dinge tief im Unter- direkt zu arbeiten beginnt. viele Freiheiten gelassen, aber auch bewusstsein und nach zehn Jahren

Michiya Azumi 5 Es war der tollste Moment in mei- nem Leben, der Klang war un- beschreiblich. Nach drei Tönen konnte ich kaum noch singen. Weil ich fast geweint habe. Die 40 Mi- nuten vergingen wie im Flug und alle waren in positiver Weise scho- ckiert. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt in Japan bereits eine kleine Stelle zugesagt, aber musste sie wieder absagen. Bei diesem Chorleiter musste ich studieren! Allen Freun- den und Verwandten teilte ich mit: es tut mir leid, ich will unbe- dingt noch zwei weitere Jahre in Deutschland studieren. Was Morten Schuldt-Jensen unter- richtet hat, war wieder völlig neu Bringt viel Erfahrung mit: Azumi dirigiert Bachs Matthäuspassion mit der von ihm für mich. Mit ihm habe ich haupt- gegründeten „Seinan Oratorio Academy“ sächlich über Interpretation ge- sprochen, weniger über dirigenti- versteht man plötzlich etwas. Das vertreter und es gab ein Verfahren sche Dinge. Es ging immer um ist fantastisch! Es ist so schade, zur Neubesetzung der Stelle von Praxis. dass er verstorben ist. Jetzt hätte Hans-Michael Beuerle, der in den Mit Ihrem KA-Studium war dann ich so viele Fragen an ihn … Er war Ruhestand ging. Es gab sehr viele klar, dass Chorleitung Ihr Schwer- wirklich ein tiefgründiger Pädago- Bewerber, ich musste drei Kisten punkt werden sollte? Sie haben ge. Bewerbungen durchlesen und wir bis dahin ja Kirchenmusik in der Noch ein Beispiel: Klavier durfte haben daraus 9 Kandidaten aus- Breite studiert. man bei ihm in der Chorprobe nie gewählt. Jeder Kandidat durfte 40 Das hatte sich bereits in meinem spielen (er selbst war Geiger und Minuten proben und wir haben Grundstudium in Stuttgart abge- spielte daher auch nie am Klavier). sehr, sehr viel gesungen. Am letz- zeichnet. Stuttgart ist ein „Orgel- Trotzdem habe ich in meiner Ab- ten Tag – als vierter Bewerber an reich“. Mit Orgel hatte ich über- schlussprüfungs-Chorprobe wirk- diesem Tag – war Morten Schuldt- haupt keine Chance, etwas zu lich viel Klavier eingesetzt. Unter Jensen an der Reihe. Die Stimm- erreichen. uns Studenten sagte man damals: bänder des Hochschulchors waren Chorleitung lag mir dagegen sehr „Ein Ton Klavier gibt einen Punkt überaus strapaziert und wir hatten gut. Ich habe mir sehr viel Mühe Abzug.“ [Anm. d. Red.: In Heidelberg überhaupt keinen Bock mehr. gegeben, viel geübt und nach dem war in Chorproben oft „plötzlich das Er kam in Jeans und T-Shirt und vierten Semester haben mich alle Klavier kaputt“.] fing an: „Ich bin Däne und kenne als „Chormensch“ anerkannt. Seit- Trotzdem erreichte ich mit dem keine Sie-Form, deshalb werde ich dem ist die Chorleitung mein ech- Chor ein gutes Ergebnis und be- jeden duzen. Hier steht, ich sol- ter Schwerpunkt. Natürlich habe kam die Höchstpunktzahl. Nach le „Einsingen“, aber ihr habt heute ich alle anderen Fächer auch ge- dem Studium waren wir dann schon genug gesungen, wir fangen macht und hatte dann auch Stellen beste Kollegen und Hans-Michael gleich mit dem Stück an“. Eine Un- als Kirchenmusiker, wo ich viel Beuerle gab mir tolle Tipps. verschämtheit! Orgel spielte. Gerade in Japan habe Und dann kam Morten Schuldt- Das Stück war das „Nachtlied“ von ich auch sehr viele Orgelkonzerte Jensen in Freiburg. Er war quasi Max Reger, das jeder kennt und gespielt. mein Hauptlehrer: ich studierte bei an diesem Tag stimmlich wirk- Man hat schon in Ihrer Bewer- ihm „KA Dirigieren mit Schwer- lich niemand mehr singen wollte. bung gemerkt, dass Sie einen be- punkt auf Chorleitung“. Er gab Töne vom Klavier an („Ein sonderen Umgang mit Menschen In meinem letzten Semester Kir- Punkt Abzug...“) und wir fingen an pflegen. Würden Sie sagen, dass chenmusik A war ich Studenten- zu singen. Sie aus den Erfahrungen des Psy-

6 Michiya Azumi chologiestudiums direkt etwas in wesentlicher Teil des Menschen. T rotzdem gehört aber als Gegen- die Tätigkeit als Lehrer und Chor- Wenn man etwas mit einem La- part zu Freude und Humor auch leiter einfließen lassen? chen mitteilt, bleibt es gleich im ein gewisses Maß Strenge und ein Vorweg: Ich bin kein Psychologe. Herzen. Mein Wunsch ist es, la- bisschen Disziplin dazu, oder? Ich bin kein Wissenschaftler und chend zu musizieren. Natürlich gehört das auch dazu. kein Arzt. Ich bin Musiker. Vielleicht ist das auch eine Fähig- Chordisziplin ist hier in Deutsch- Nach einem Praktikum als psycho- keit von mir: Ich kann den Chor, land ein großes Problem. In Ja- logischer Be- den ich diri- pan überhaupt nicht, dort würde rater an einer giere, immer ein Chorsänger in der Probe nie Schule habe ich » Wenn ich gleich lieben. schwätzen. gemerkt: wür- Egal, welcher Als ich einen großen oratorischen de ich als Psy- vorne stehe, Chor es ist. Chor in Freiburg geleitet habe, ha- chologe arbei- Wenn ich vor- ben die 80-100 Menschen immer ten, bräuchte ne stehe, kann geschwätzt. Lauter als die Musik. ich bald selbst kann ich ich alle lieben. Ich musste sehr lange daran arbei- einen Psycho- Nachher ist es ten, bis sich das ein klein wenig ge- logen … alle lieben. « vielleicht an- ändert hat. Aber bestimmte ders (lacht), aber Ohne dabei laut zu werden? Aspekte der Psyche und das Inter- in der Probe schon. Der Humor Ab und zu schon. Dafür brauche esse an Menschen sind schon mei- bringt mich zur Musik. Dieser ich aber Humor. Wenn meine ne Sache. Ich bin sehr sensibilisiert Weg ist für mich pädagogisch rich- Grundfarbe humorvoll ist, kann worden für Gruppendynamiken tig und menschlich angenehm. ich einmal etwas sehr bestimmt sa- und das findet in der Probensitu- In Japan gibt es einen ganz be- gen und es wirkt. Würde ich immer ation auch durchaus Anwendung. rühmten Dirigenten, ich nenne streng dastehen, wirkte es nicht. Es Besonders in Einzelgesprächen in nicht den Namen. Er ist außerhalb müssen immer wieder alle lachen meinem damaligen Kirchenchor der Probe sehr tolerant, humorvoll dürfen, aber es muss dann auch hat es mir sehr geholfen, auch Fä- und ein echter Gentleman. Wenn gleich wieder Disziplin da sein. higkeiten eines Psychologen zu er allerdings in die Probe kommt: Sind Sie selbst ein disziplinierter haben. Damit konnte ich auch mit „SOPRAN ZU TIEF! NOCHMAL!“ Mensch, bzw. waren Sie ein diszi- Menschen, die problembeladen Er brüllt die ganze Zeit. Und die plinierter Student? waren, gute Beziehungen schaffen Chorsänger wollen das so. Das Ich war in Studienzeiten sehr, und sie wieder in die Probe integ- kann ich nicht verstehen. Wer auf sehr diszipliniert. Vielleicht war rieren. diese Art lernen will, sollte nicht das meine Hauptbegabung, diszi- Aber wissenschaftliche Aspekte zu mir kommen. pliniert oder vielmehr fleißig zu der Psychologie direkt in die Pro- be einzuspeisen, das geht natürlich nicht so einfach. Seit der Bewerbung wissen wir es, aber besonders seit wir Sie hier erleben, fällt uns immer wieder auf, dass Sie ein sehr humorvoller Mensch sind und gerne erzählen und lachen. Steckt da manchmal auch pädagogisches Kalkül dahin- ter? Gehört es zum Lernen dazu, gute Atmosphäre zu schaffen? Jein. Warum macht man Musik? In ers- ter Linie doch, um Spaß zu haben. Weil Singen einfach richtig Spaß macht. Sich nur zu ärgern, ist doch bescheuert, oder? Lachen öffnet unser Herz und Humor ist ein

Michiya Azumi 7 sein. Ich war kein sonderlich mu- musik-Hochschule, gerne als Chormusik speziell auch das Ver- sikalisch oder sprachlich begabter Schwerpunkt. Ohne das geht Kir- ständnis des Textes. Hat man den Mensch, ich bin einfach dran ge- chenmusik nicht. Sinn des Textes verstanden? Hat blieben. Mit welcher Musik beschäftigen man auch Interesse an dem, was Möchten Sie das auch weiterge- Sie sich aktuell am liebsten? zwischen den Zeilen steht? ben und erwarten es von Ihren Seit langem habe ich besonderes Der Komponist hatte meistens Studierenden? Interesse an Oratorien. Da gibt es beim Komponieren nur den Text Mit Studierenden, die das von sich einige Stücke, die ich besonders vor sich. Kein musikalisches The- aus mitbringen, kann ich sicher liebe. Zum Beispiel aus der deut- ma, nur den Text. Ich fange beim gut umgehen. Wenn ein Student schen Romantik: Mendelssohns Lesen eines Stückes immer mit überhaupt keinen Fleiß und keine Elias, das Requiem von Brahms … dem Text an – Literatur dazu le- Disziplin haben sollte, dann muss Und natürlich darf man Bach nicht sen, die Bedeutung entziffern, die man damit anfangen, bevor man vergessen. Besonders Stücke, die Aussprache aneignen. Dann erst richtig Musik machen kann. Nach eine Geschichte erzählen, finde ich kommt die Musik. dem Studium bekommt man sonst sehr spannend. Die Sprache hat einen Kontext und die größten Probleme. Ohne Vor- Wie verhält es sich dann mit Ver- eine Grammatik. Die Musik einen bereitung in einer Probe zu er- tonungen von Messtexten? anderen Kontext und eine andere scheinen, ist meiner Meinung nach Hochinteressant. Hier sieht man Grammatik. Beide laufen parallel eine Respektlosigkeit gegenüber im Unterschied der Komponisten, ab: manchmal geht es in die glei- dem Chor. wie sie den Text verstanden haben. che Richtung, das ist dann ganz Würden Sie Musik als Handwerk Es geht um die jeweils zeitgenös- einfach. Zum Beispiel: Text und verstehen? sische Theologie, das interessiert Musik sagen „Ich lobe dich.“ Zum Musizieren brauchen wir un- mich unendlich. Wenn es sie gibt, Ab und zu ist es aber auch so: die bedingt Handwerk, das wir trai- lese ich theologische Quellen die- Musik sagt „Ich lobe dich nicht.“ nieren und abrufbar haben müssen. ser Zeit zum weiteren Verständ- Dann fängt das Suchen und Fragen Aber es ist nicht nur Handwerk. nis. Es ist immer faszinierend, wie an. Was ist hier los? Je besser das Handwerk ist, desto viele Meinungen und Interpreta- Um dahin zu kommen, muss man klarer und deutlicher zeigt sich der tionen es für denselben Satz unter sich in den Text hinein vertiefen Geist des Musikers in der Musik. den Komponisten gibt. Es wird nie und ihn verstehen wollen. Und Ein Beispiel: eine Kommilitonin in langweilig. natürlich muss man dann ebenso Stuttgart hatte eine hervorragende Kompositionen sind dann immer auch versuchen, die Musik zu ver- Technik. Sie hat alles gespielt, aber auch ein Kommentar? stehen. Dann vergleicht man und nichts dabei gedacht oder gefühlt. Komposition ist eine theologische so passiert etwas sehr Schönes. Nur Disziplin zum Üben. Sie spiel- Interpretation mit gesellschaftli- Und mit dem Chor erarbeitet man te einmal „O Mensch, bewein dein chem Einfluss. Es gibt einige Stü- dann ein gemeinsames Verständ- Sünde groß“ von Bach. Sie hat alles cke, die bloße Auftragskomposi- nis? richtig gespielt, trotzdem war es tionen sind. Das merkt man ihnen Genau, das bestimmt die Entwick- eine Katastrophe für mich. dann auch an und da vergeht mein lung des Klanges. Und genau dafür Es gibt dagegen auch den Genie- Interesse auch ziemlich schnell. brauche ich auch die Technik des Typ, der seine Begabung einsetzt, Wenn jemand aber aus eigenem Dirigierens – um das zu vermitteln, um Menschen vorzuführen oder Antrieb geschrieben hat, wie zum was ich verstanden habe. bloßzustellen. Solche Menschen Beispiel bei der Messe zu vier Stim- Sie sagen, viele Kirchenmusiker kenne ich. Aber das ist für mich men von William Byrd, dann tut täten sich schwer, ja haben sogar auch keine Musikerpersönlichkeit. sich mir da eine fantastische Welt Angst vor der Arbeit mit Orches- Ich möchte in der Studienzeit ein auf. Der Komponist als Mensch, tern. Warum ist das so und vor guter Begleiter sein. Sowohl tech- der gelitten hat, der sehr auf Gott allem: was haben Sie vor dagegen nisch als auch menschlich. In der gehofft hat. Das ist unglaublich. zu unternehmen? Chorleitung ist es in jedem Mo- Kurz und bündig: Was bedeutet Das hat mit Erfahrung und Ge- ment gefragt, „menschlich“ zu sein. „Dirigieren“ für Sie? wohnheit zu tun. Wenn man Kir- Das Musikstudium ist also auch Dirigieren ist Spielen. chenmusik studiert, muss man viel eine Art „Seelenbildung“? Was ist für Sie die wichtigste diri- Orgel üben und sich viel Zeit da- Unbedingt. Und das hätte ich, be- gentische Kompetenz? für nehmen. Wir haben aber selten sonders hier an einer Kirchen- Das Verständnis der Musik und bei Zeit, im Orchester zu sitzen und

8 Michiya Azumi dort ein Instrument zu spielen. Im verstehe ich meine Aufgabe, auch Chören arbeiten zu können. Mit Chor schon, daher habt ihr dort möglichst viele Gelegenheiten da- einem großem oratorischem Chor, auch weniger Angst. Da könnt ihr für anzubieten. In Stuttgart zum aber auch mit Kammerensembles. sagen, wie ihr euch fühlt, je nach Beispiel durfte ich in meiner Studi- Außerdem habe ich einen Traum: dem, was ein Chorleiter für Bewe- enzeit im 5. und 6. Semester jeden mit euch Studenten eine Japan- gungen macht, wie er probt. Das Freitag 20 Minuten vor einem Or- Tournee zu machen. Dort sind vie- sind ja ganz grundlegende Erfah- chester stehen, proben. Und dazu le Freunde von mir, die das kaum rungen. zwei Aufführungen leiten. Mein erwarten können. Orchestermusiker haben sehr viele sehr geschätzter Orchesterlehrer Die Corona-Situation deckelt lei- verschiedene Orchesterleiter er- hat technisch nur wenig unterrich- der zurzeit alle großen Ziele und lebt und daher einen Wissensvor- tet, sondern vor allem Organisa- Ansprüche: Mein erstes Ziel ist, sprung. Wir „Chorleiter“ wissen torisches behandelt. Musikalisch dieses Semester die Abschlussprü- aber nicht, ob unsere Intentionen hat er nur gesagt „Michiya: Eins. fungen in Chorleitung zu schaffen, und Bewegungen vom Orchester EINS! Die Eins fehlt!!“. Aber er hat (lacht) sie also überhaupt durchzu- verstanden werden. Nicht zu wis- so tolle Rahmenbedingungen für führen. [Anm. d. Red.: Dank großen sen, macht uns Angst. uns geschaffen, in die er all seine Engagements für sichere Rahmen- Außerdem kennen wir das Instru- Energie hinein gesteckt hat. Dafür bedingungen, konnten die Prüfungen ment Orgel gut, aber die einzelnen bin ich sehr dankbar. tatsächlich stattfinden.] Orchesterinstrumente natürlich Gibt es außerhalb der Musik Din- nicht so. Und dann hat das Orches- Noch zwei persönliche Fragen ge, die Sie gern machen oder die ter auch noch eine eigene, ganz an- zum Schluss: Haben Sie hohe An- Ihnen gut tun? dere Kultur als viele Chöre. Wenn sprüche an sich selbst und große Wandern! Ich bin Natur-Fan. Sonst man diese nicht kennt, kriegt man Ziele? interessiere ich mich für Anato- einfach Angst. Mein Anspruch für meine neue mie und Astronomie. Mir wird nie Also muss man so viel Erfahrung Aufgabe hier in Heidelberg ist es, langweilig. wie möglich sammeln. den Ruf zu erarbeiten: In Heidel- Und dann habe ich auch eine Fami- Ja! Einmal vor dem Orchester zu berg kann man richtig gut Chor- lie. Meine Tochter ist jetzt im Kin- stehen bringt mehr als drei Stun- leitung studieren. Wenn ich das dergarten. Es ist total interessant, den Einzelunterricht. Gute – und als Chorleitungsprofessor erreiche, wie dreijährige Mädchen zwei- auch schlechte! – Erfahrungen freue ich mich. sprachig aufwachsen. Inzwischen sind ein wichtiger Schatz. Daher Persönlich als Chorleiter wünsche spricht sie ziemlich gut japanisch, ich mir die Möglichkeit, hier nach aber jeden Tag bringt sie neugierig und nach auch mit verschiedenen viele deutsche Wörter mit.

Prof. Michiya Azumi stammt aus Japan. Er studierte Psychologie und Pädagogik an der Meijigakuin Universität in Tokyo. Nach diesem Studienabschluss studierte Azumi Kirchenmusik-B und Orgel ML an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart. Weiterhin studierte er Kirchenmusik-A und absolvierte anschließend die künstlerische Aus- bildung Dirigieren bei Morten Schuldt-Jensen an der Hochschule für Musik Freiburg. Während seines Studiums war Michiya Azumi Organist (Versöhnungs- kirche Degerloch), Kirchenmusiker (Liebfrauenkirche Günterstal) und Chorleiter des deutsch-französischen Chors Freiburg. 2004 gewann er den 1. Preis beim ersten Bayreuth- Regensburger Chorleitungswettbewerb. 2009 bis 2019 war Azumi als Musikdirektor an der Seinan-Gakuin Universität in Fukuoka (Japan) tätig. Neben dem Organistendienst etablierte er einen großen oratori- schen Chor und ein professionelles Kammerorchester, die unter seiner Leitung regelmäßig große Werke wie die „Matthäuspassion“, den „Elias“ und viele weitere aufführten. Außerdem leitete er organisatorisch und künstlerisch eine vielfältige Konzertreihe z. B. mit Mitgliedern des „Bach Collegium Japan“. Seit März 2020 ist Michiya Azumi Professor für Chorleitung an der Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg.

Michiya Azumi 9 Das Ende einer Ära Bernd Stegmann Von 1985 bis 2019 war Bernd Stegmann eine wichtige Figur an der HfK. Er wirkte jahrzehntelang als Pro- fessor für Chor- und Orchesterleitung und darüber hinaus prägte er als Rektor die Hochschule mit beson- derem Engagement und Weitblick. Im Interview mit seinen ehemaligen Studierenden Carmen Buchert, Lukas Ruckelshausen und Anna Vogt blickt er zurück.

Lieber Bernd, wie geht es Dir schwer, loszulassen, das, wofür Perspektiven zu öffnen. nach nun gut einem Jahr im Ru- ich mich über die Jahre und Jahr- Was vermisst Du am meisten? hestand? Ist nach der langen Zeit, zehnte eingesetzt hatte, als etwas Die Studierenden, die Lehrkräf- in der Du an vorderster Front der zu begreifen, auf das ich nun kei- te, die im Hause wirkenden Men- Hochschule gestanden hast, der nen Einfluss mehr nehmen kann. schen. Die Studierenden deshalb, Amputationsschmerz größer oder Die Verantwortung des Rektorats weil sie mich ständig herausfor- die Erleichterung, nicht mehr einer solchen Hochschule beglei- derten, neue Konzepte zu entwi- für alle Belange der HfK, von der tet einen rund um die Uhr, die ckeln, die sie weiterbrachten, die Glühbirne bis zu Existenzfragen gibt man nicht einfach abends ab Lehrkräfte, weil sie zum großen die Verantwortung tragen zu und nimmt sie am nächsten Mor- Teil meine Freunde wurden, die müssen? gen wieder auf. Insofern galt es für Menschen im Büro, weil wir ein- Anfangs fiel es mir in der Tat recht mich, wie man so schön sagt, neue fach ein gutes Team waren. Lass uns ein wenig zurückschau- en, oder besser gesagt: ganz an den Anfang gehen. Du hattest in Berlin eine große kirchenmusika- lische Stelle mit Kantorei, Kam- merchor, Orchester, viel Orgel- spiel und allem, was dazugehört. Warum hast Du Dich 1985 nach Heidelberg orientiert, was war Deine Motivation, nun zu unter- richten und die attraktive Stelle in Zehlendorf aufzugeben? Was hat Dich dazu bewegt? Zunächst vielleicht etwas sehr Ba- nales, nämlich der Leitsatz: Wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören. Ich war damals noch sehr jung – ich glaube so um die 33 Jahre – und daher habe ich alles Mögliche probiert, unter anderem hatte ich es in die engere Auswahl um die Nachfolge Karl Richters als Dirigent des Münchner Bach- Chors geschafft. Im Nachhinein kann ich es als eine glückliche Fü- gung betrachten, letztendlich doch nicht gewählt worden zu sein und damals gelesen zu haben, dass in

10 Bernd Stegmann Heidelberg zeitgleich die Chorlei- Stimmbildung nebst vielfältigen tungsdozentur am damaligen KI » Ich weiß praktischen Probeneinheiten und und die Leitung der Heidelberger Konzertauftritten zu wirklich re- Kantorei ausgeschrieben waren. flektierenden Dirigentenpersön- Die pädagogische Vermittlung nicht, ob es lichkeiten reifen. Dass dies im dessen, was ein Chorleiter selbst einen oder anderen Fall gelungen macht, sollte bei ernst zu nehmen- heute noch ist, lässt sich am Wirken zahlrei- den Exemplaren dieser Gattung cher Ehemaliger an prominenten selbstverständlich sein. Ich selbst ein so großes Stellen ablesen. hatte aber zusätzlich das Privileg, Gab es besondere Höhepunkte in durch mein Studium bei Martin Deiner Arbeit als Dirigierprofes- Behrmann exzellent auf päda- Vertrauen in sor an der HfK? Welche Ereignisse gogische Denkweisen eingestellt sind bei Dir bis heute hängen ge- worden zu sein, frei nach dem Ungewohn- blieben? Motto: Alles, was du machst, musst Das sind vor allem die großen du auch erklären können. Hinzu Konzerte. Die Konzerte der Stu- kommt: Mir macht das einfach tes gibt. « dierenden, die Vespern, waren im- Spaß, im spannenden Miteinander mer unbegreiflich gelungene Mo- von Lernen und Lehren Neues zu sikalischen Ensembles einen pro- mente, in denen auf eine oft nicht entwickeln. minenten Platz einnimmt. So hat planbare Weise vieles, manchmal Wie war damals - 1985 - die Situ- sich dann im Lauf der Jahre der auch alles gelang. Ich habe mir oft ation an der HfK, als du dorthin Ruf der Heidelberger Hochschule gedacht: Die Studierenden schei- kamst? Warst Du begeistert, ent- in diese Richtung entwickelt. Ich nen unter einem guten Stern zu täuscht oder vielleicht auch über- weiß nicht, ob es heute noch ein so stehen, dass alles, was sie machen, fordert? großes Vertrauen in Ungewohntes einfach gut wird, gelingt, ohne dass Nun, außer Enttäuschung war Vie- und nicht von außen Reguliertes sie Übermenschliches investieren les dabei. Die größte Herausforde- gibt, wie ich das damals erleben müssen, nur, weil sie darauf ver- rung war eventuell meine zarte Ju- durfte. trauen, dass es gut wird. Und dann gend – ich unterrichtete teilweise Das klingt alles nach sehr viel sind da natürlich noch meine eige- Studierende, die so alt waren wie Begeisterung und weniger nach nen Konzerte mit dem Badischen ich selbst. Das war – von Fall zu einem routiniert abgewickelten Kammerchor. Das Besondere an Fall – manchmal auch Überforde- Plan. Gab es so etwas bei Dir den- ihnen war: Hier haben wir, Stu- rung. Doch Jugend impliziert auch noch – langfristige Ziele, auf die dierende und Professor, in einem Elan. Und so habe ich das freie Du hingearbeitet hast? Boot gesessen, hier haben wir zu- Feld, das mir der damalige Rektor Ich wollte mit meiner Arbeit zei- sammen gute Musik gemacht, hier Dr. Herbst mit bewundernswerter gen, dass die Chor- und Orchester- waren wir ein Team, das sich bei- Konsequenz einräumte, weidlich leitung ein existenziell wichtiger spielsweise nach dem »magischen« genutzt. Angefangen von exzes- Lebensnerv der Kirchenmusik ist Konzert mit Poulencs Figure hu- siven, bis an den Rand der Ko- und darüber hinaus, dass dieses maine in Montpellier wortlos um- operationswilligkeit führenden Metier auf objektiv nachvollzieh- armte. Auch die Aufführungen der Chorproben über mehrmals täg- baren Prinzipien fußt und nicht Bachschen Johannes-Passion 1986 lich eingeplante Schlagtechnikein- ein Fischen im Trüben ist, bei dem in der Mannheimer Christuskir- heiten bis hin zu Konzertforen für es lediglich um die Vermittlung che, der h-Moll-Messe in Heidel- studentische Aufführungen und von ein paar zusammengewürfel- berg oder des Matthäusberichtes ausgedehnten Orchesterstudien- ten Tipps geht. Das klingt zwar von Ernst Pepping in Berlin waren tagen war alles dabei und alles war heute anmaßend und hergeholt, solch dichte Momente. Das alles neu. Natürlich rief das nach kurzer hatte aber damals durchaus sei- war extrem beglückend, davon Zeit die Orgeldozenten auf den ne Berechtigung. Außerdem war kann man eine Weile zehren. Eine Plan. Doch Wolfgang Herbst war mir wichtig, dass die Studieren- besondere Konstellation ergab sich mit mir glücklicherweise ganz den mithilfe eines mosaikartig auch durch die Zusammenarbeit einer Meinung, dass ein Kirchen- strukturierten Unterrichtsan- mit der Heidelberger Kantorei. musikstudium nur Zukunft hat, gebotes – Schlagtechnik, Dirigie- Das war eine Win-Win-Situation. wenn in ihm die Arbeit mit mu- ren, Probentechnik, Interpretation, Wir konnten auf diese Weise un-

Bernd Stegmann 11 » unbegreiflich gelungene Momente... «

gewöhnliche und anspruchsvolle Dir irgendwie signalisieren, dass Hat sich das Unterrichten im Lau- Projekte realisieren, wie z.B. die du dich neu erfinden solltest. Da fe der Zeit verändert? Gesamtaufführung des geistlichen kommen einem die Semesterferien Was mich selbst betrifft: mit Si- A-cappella-Werkes von Johannes ganz gelegen. Hier ist die Gelegen- cherheit, und das in Richtung Brahms oder der großen Reger- heit, mal einen Blick von außen auf Ökonomie. Auch in Bezug auf die Motetten. das zu werfen, was man tut und Studentenschaft hat eine Entwick- Gewiss hat sich in Deiner über was man ist. Ich habe hier neue lung stattgefunden. Ich möchte sie 30-jährigen Wirkungszeit an der Formate entwickelt wie z.B. die mit einem Paradoxon beschrei- HfK nicht Höhepunkt an Höhe- Proben mit Chören in der Region. ben: Früher gab es eine oft merk- punkt gereiht. Gab es so etwas Aber auch Grundsätzliches stand würdig automatisierte Opposition wie Berufsroutine oder Berufs- auf dem Prüfstand. So merkte ich bei gleichzeitiger menschlicher müdigkeit? Hast Du mal alles um- erst im Abstand zum Alltagsge- Nähe, heute eher eine kooperative gestellt? schäft, dass eine gute pädagogische Grundhaltung bei einer gewissen Ja, das sind die wirklich spannen- Arbeit nicht nur aus ständigem persönlichen Distanziertheit. Aber den Momente, wenn du nach Jah- Reinschaufeln von Informationen das liegt vielleicht auch daran, dass ren merkst, dass du nur noch dein besteht, sondern auch aus dem ich selbst älter geworden bin. sich selbst zitierender Sprachro- vertrauensvollen Kommen-lassen boter bist, oder die Studierenden der studentischen Initiative.

Kurioser Aushang im Studenten-Aufenthaltsraum: Boris Becker im Vergleich mit Bernd Stegmann, Ersteller unbekannt

12 Bernd Stegmann Themenwechsel: Seit 2006 warst ich dieses Amt in einer Zeit stän- und die Einrichtungen, in denen Du auch Rektor der HfK. Warum diger latenter oder offenkundiger sie praktiziert wird, unterliegen hattest Du dieses gewiss nicht Infragestellung der Einrichtung einem ständigen Rechtfertigungs- leichte Amt übernommen? Wenn übernahm. Aber – so befremdlich druck. Und: Wenn du es schaffst, man in erster Linie als Künstler das klingt: Gerade dies, diese stän- die Kunst wie ein Bollwerk in der oder Pädagoge unterwegs ist, dige Bedrohung, hat mich gereizt, alltäglichen Welt – und sei es die scheint das eher ungewöhnlich. hat vielleicht auch Kräfte in mir einer Kirchenleitung – zu veran- freigesetzt, die ich sonst kern, kannst du stolz sein. Das war so nicht gespürt hätte. meine, wenn man so will, sportli- » Diese ständige Spielst Du auf die legen- che Herausforderung, und ich hal- dären Aktionen in Auto- te mir zugute, dass die Hochschule Bedrohung hat bahnraststätten an? heute noch steht. Ja, auch. Das lag aber da- Was waren die großen Themen vor, in meiner Zeit als Deines Rektorates? mich gereizt « Prorektor. Nachdem die Neben dem gerade Erwähnten Hochschule – ich glaube, habe ich mich vorrangig um eine Das mag zwar sein, aber mich hat es war 2004 – vom Oberkirchen- gute Positionierung der Hochschu- im Lauf der Tätigkeit an der Hoch- rat zur Abwicklung freigegeben le im Konzert ähnlicher Einrich- schule der konzeptionelle Aspekt war, gelang es, Synodale in per- tungen bemüht. Mir war es wich- zunehmend interessiert. Außer- sönlichen Gesprächen von der tig, die Vorzüge der Heidelberger dem waren wir neben der Chor- Notwendigkeit der Existenz HfK bundesweit publik zu machen leitung in Orgel mit Martin San- einer Hochschule für Kirchenmu- und dadurch zu einem über die ba- der, in Musiktheorie mit Gerhard sik in Baden zu überzeugen – und dischen Landeskirchengrenzen hi- Luchterhandt und im Klavier mit das an durchaus ungewöhnlichen naus attraktiven Studienort zu ma- Eugen Polus sowie einem höchst Treffpunkten, wie eben einer Au- chen, in dem der oft beschworene kompetenten Gesangsdozenten- tobahnraststätte. »lebendige Geist« Heidelbergs zu- team extrem gut besetzt. Dabei Ja, es sind diese beiden Erfah- hause ist. Eine aufwendig produ- war mir durchaus bewusst, dass rungen, die ich mitnehme: Musik zierte Info-DVD, die überregional

Das „magische“ Konzert: Stegmann dirigiert Poulencs Figure Humaine in Montpellier. Foto: Dominic Cerrito

Bernd Stegmann 13 beachtete Heidelberger Summer Noch mal ein Perspektivwechsel: aussprechliche« zu erhalten als School, ein Liederwettbewerb, Nach Deiner langjährigen Erfah- eine Stimme, die das tägliche Erle- eine Challenge für den organisti- rung in Sachen Kirchenmusik – ben zu transzendieren imstande ist, schen Nachwuchs, die Zeitschrift Was sind Deiner Meinung nach die dann hat sie ihr ureigenstes Thema HfK aktuell und vieles andere mehr großen Themen für die Kirchen- wiedergefunden. ist in diesem Sinn entstanden. In musik der Zukunft? Geht es auch ein wenig konkre- meine Zeit als Rektor fiel auch Das sind wahrscheinlich gar keine ter? die Unterbringung des Hauses der neuen Themen. Die gegenwärtige Du meinst sicher: Mehr Pop oder Kirchenmusik in unsere Gebäude. Corona-Krise wird unweigerlich mehr Klassik, oder: Mehr Orgel Hier waren zahlreiche logistische eine Krise der Kirche nach sich oder mehr Chor und Ähnliches? Anpassungen erforderlich. ziehen, allen Bemühungen um ori- Zum Beispiel... Ein anderes großes Thema war ginelle Formate zum Trotz. Und Ich glaube, dass es in Zukunft die Vernetzung der Hochschu- das kann schlimmstenfalls auch wichtig sein wird, sich nicht durch le. Es entstand neben der schon einen Niedergang der Kirchenmu- die Bedienung zu vieler Spielarten existierenden Kooperation mit der sik bedeuten, muss es aber nicht. der Kirchenmusik zu überfordern. Mannheimer Musikhochschule in Wenn es gelingt, die spirituelle Qualität sollte die oberste Priori- Bezug auf einen Kombinations- Note der Kirchenmusik, das »Un- tät behalten. Im ländlichen Raum studiengang Schulmusik/Kirchen- musik eine solche mit der Heidel- berger Universität in Form der Summer School. Besonders froh bin ich darüber, den Master-Stu- diengang Popularkirchenmusik in Kooperation mit der Pop Akade- mie Mannheim sozusagen als letz- tes Dienstgeschäft noch auf den Weg gebracht zu haben. Ganz direkte Frage: Hattest Du in Deiner Zeit als Rektor auch mal das Gefühl: Jetzt reichts? Nein, eigentlich nie. Das liegt viel- leicht an meiner Kämpfernatur. Hinzu kommt, dass die Rahmen- bedingungen für die Hochschul- leitung früher unproblematischer waren als das heute manchmal der Fall ist. Die sie betreffenden Ange- legenheiten wurden im Vertrauen auf die Sachkompetenz des Per- sonals weitgehend vor Ort gere- gelt. Heute droht vieles an runden Tischen mit unzähligen Akteuren zu versanden. Als Beispiel mag die unendliche Geschichte der Ge- bäudefrage dienen. Die Aufsto- ckung des jetzigen Hauses wurde innerhalb von fünf Jahren umge- setzt, die Fragen der nun anstehen- den Sanierung bzw. Umsiedlung der Hochschule werden seit mitt- lerweile ca. zehn Jahren ventiliert, Nicht nur Fassade: Bernd Stegmann konnte nicht oft genug betonen, wie wichtig und es wird wohl auch noch eine Sport gerade auch für Musiker ist – und ging mit gutem Beispiel voran. Weile so weitergehen. Foto: Matthias Roth/RNZ

14 Bernd Stegmann wird eine Spezialisierung auf be- will, und ganz schnell kommt man lich unter Corona-Vorbehalt ste- stimmte Segmente nach wie vor dann in den Zustand, in dem man hen. Und eines tue ich in meiner nicht sinnvoll sein, im großstäd- sich nur noch über seine Gebre- neu gewonnenen Freizeit auch: Ich tischen hingegen schon. Immer chen definiert. Soweit bin ich zum wünsche der Hochschule und mei- wichtiger wird es aber werden, auf Glück noch nicht. Ich hoffe viel- nen Nachfolgern Michiya Azumi Menschen zuzugehen, fantasie- mehr, dass im kommenden Jahr und Martin Mautner das Beste. voll neue Formate zu kreieren und wieder Triathlon-Wettkämpfe Lieber Bernd, auch Dir wünschen nicht einfach zu warten, ob sich möglich sein werden und ich nach wir alles Gute und danken Dir für jemand für die althergebrachten meinem dritten Platz bei der EM das Gespräch. Konzepte interessiert. in Kazan 2019 noch mal eine gute Ein nochmaliger und letzter internationale Platzierung schaf- Schwenk zum Anfang: Du bist fe. Gegenwärtig schwimme, radle nun eine Zeit lang im Ruhestand. und laufe ich ganz für mich – und Wofür hast du jetzt mehr Zeit - genieße dabei, wie ich es bisher in persönlich und künstlerisch? dieser Intensität nicht kannte, die Das ist eine ganz heikle Frage. Natur. Ansonsten bearbeite ich ▶ Ein neues Lied – eigens komponiert Nachdem nun die Zeit vorbei ist, nach wie vor das von mir betreute für die HfK aktuell ist im Folgenden in der immerzu irgendjemand Handbuch Chormusik, das hoffent- abgedruckt. Ein Pfingstlied, das sich in irgendetwas von einem wollte, lich im März 2021 bei Bärenreiter die Tradition des universitären Lebens stellt man sich die Aufgaben selbst, erscheinen wird. Auch schreibe ich Heidelbergs stellt. Der Leitspruch „Dem horcht wohl auch in sich hinein, hin und wieder ein kleines Gedicht lebendigen Geist“ ziert das neue Uni- versitätsgebäude in der Heidelberger ob der Körper etwas von einem oder Lied. Mit der Heidelberger Altstadt. Kantorei habe ich viele tolle Pro- gramme vor, die allerdings sämt-

KMD Prof. Bernd Stegmann studierte in Detmold und Berlin. Zu seinen Lehrern zählten Martin Behr- mann, Helmut Barbe, Heinz Werner Zimmermann und Ernst Pepping. 1975 legte er das A-Examen an der Berliner Kirchenmusikschule ab. Wei- terführende Studien der Orchesterleitung in Wien und bei Sergiu Celibida- che. Von 1977 bis 1985 war Stegmann Organist und Kantor an der Pau- luskirche Berlin-Zehlendorf und künstlerischer Leiter der Berliner . Im Jahr 1985 wurde er Professor für Chor- und Orchesterlei- tung an der Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg. Von 2006 bis 2018 war er auch deren Rektor und somit der bisher am längsten ohne Unterbrechung an der Hochschule hauptamtlich tätige Dozent. Er leitet das Berliner Vokalensemble, die Heidelberger Kantorei und arbeitet mit namhaften Orchestern und Instrumentalensembles wie „Concerto armonico“ (Budapest), „Deutsche Kammerphilharmonie“, „Concerto Palatino“ (Bologna), „L’arpa festante“ und „Musica fiata“ (Köln) zusammen. Mehrere zeitgenössische Werke, von denen einige ihm oder seinen Chören gewidmet sind, wurden von ihm uraufgeführt. CDs, so das Mörike-Chorliederbuch op. 19, die Geistliche Chormusik op. 12 von Hugo Distler, die Geistliche Chormusik op. 90 von Arnold Mendelssohn, Deutsche Volkslieder und „Gedanken über die Zeit“ von Helmut Barbe sowie von Ernst Pepping die Missa „Dona nobis pacem“ und weitere Motetten konnten große Beachtung finden. In letzter Zeit ist Bernd Stegmann zudem als Komponist und Arrangeur bekannt geworden. Seine „Lieder mit Worten“ nach Felix Mendelssohn Bartholdy (Carus) sowie die „Geistlichen Lieder“ nach Klavier- werken von Robert Schumann (Strube) werden mittlerweile von zahlreichen Chören aufgeführt und geschätzt. Außerdem erschienen seine beiden Sammlungen mit eigenen Liedern und Chorstücken „Mit Gott reden“ und „Diesseits leben“ im Strube-Verlag. Im März 2021 wird das von ihm herausgegebene „Handbuch der Chormusik“ bei Bärenreiter erscheinen.

Bernd Stegmann 15 Pfingstlied Lebendiger Geist

Bernd Stegmann, 2020 = 88 S Æ Â Â Â A 2 I JK ÂS ‰      „ Le - ben - diÍ - gerÍ Geist, komm zu uns,‰ lauf durchs gan - ze Haus. A 2 Ê Ê A 2 I JK      „ Le - ben - di - ger Geist,‰ komm zu uns,‰ lauf durchs gan - ze Haus.

2   ÂS  „ A 22I JK ‰   „    „ Kl Â Í Í ‰ ‰ ‰   ‰ ‰ „ ÂS       „    E22 „ „

S Ê ÂQ ‰Q ÂQ  K ÂQ „Q ÂR    „ A Le-ÂQ bens- hauch, ma - che unsÂQ frei, dasÂQ Den-ÂQ ken neu und uns-re Au - gen klar, Í ‰Q Í Í A Ê A Ê K ÂQ  ÂQ „Q ‰ ‰ „S Le-ÂQ bens- hauch,‰ maÂQ - che unsÂQ frei,‰ das Den-ken neu, Au - gen klar,

ÂQ „ A ÂQ ‰‰Q ÂQ  ÂQ K ÂQ ÂÂQ „Q „ ‰R    ‰  „S „ Kl ‰Q ÂQ   ÂQ ÂQ  ÂQ  ÂQ  ÂQ ÂQ        E ÂQ „ ÂQ „ ÂQ ÂQ „ ÂQ ÂQ „ ÂR „ „

S Ê Ê „ ‰ Â Â Ê A      „ ‰     R‰ ÂQ   ÂS  „ all uns-Í re Wor - te wahr, Geist der Wahr - haf - tigÂS - keit, zie - he uns an dein Kleid.„ A Ê Ê A‰ ‰ ‰  Wor - te wahr,„S Geist der WahrÂR - hafÂS - tig - keit,‰ zieÂR - he uns an dein Kleid.„S

‰ „ ‰Q    AA‰Â   ‰  „S „ ‰‰Q   ÂS   ‰ ‰ÂQ   ‰S „ Kl ‰ ‰Q ‰‰ „S „ ÂQ  „       ÂQ   ‰  E „ ÂQ ‰ ‰ ‰ ‰  L  ÂS  ‰ Â

16 Bernd Stegmann S       ‰ A I I I I brüll uns an wie ein Or - kan A I I   „ „ A o-der fra- gend wie ein Kind,‰ komm, komm, T       ‰    ‰ „ „ A Komm zur Nacht als lei - ser Wind o-der fra- gend wieÂS ein Kind, komm, komm, ˛ B „ ÂQ  ‰ ‰ ‰ ‰Q ‰ E ‰„     ÂQ   ‰ Komm, ‰ ‰Q komm, ‰ o-der fra-gend wie ein Kind, komm, komm,

      ‰ A ‰      Kl       ‰ ‰Q ‰ ‰ ‰S ‰ ‰ ‰ ‰     Â. Â Â Â   E       ÂQ . ÂQ ‰ ‰ ÂÂ.  Â.  ÂQ ‰ ‰   ÂQ Â Í Í Í Í Â‰ ‰ ÂQ ‰ ‰

S   ‰‰Q   ‰ A I I komm nur schnell, komm nur bald, I I A A      brich dir wü - tend dei - ne Bahn,‰ komm,„ ‰komm, ‰Q uns - reÂQ Welt ist alt und kalt.‰ T    ÂS  ‰ ‰R    ‰ A brich dir wü - tend dei - ne Bahn, komm, ‰Q ‰Q komm, ‰ uns - re Welt ist altÂR und kalt. ˛ B  E ÂÂQ    ÂQ   ‰ ÂÂQ  ÂQ     ‰ brich dir wü - tend dei - ne Bahn,‰ I I uns - re Welt ist altÂQ und kalt.‰

‰Q ‰ A      ‰   ‰   Kl ‰  ‰  ‰ ÂQ   ‰Q ‰ ‰‰S ‰ ‰Q ‰ ‰ R ‰ ‰     ‰ ÂQ ÂQ ‰  ÂQ  E   ÂQ ÂQ ‰ ‰  ÂQ ‰   ÂQ  ÂQ  ‰ ÂQ ‰ ‰ ‰ ÂQ ‰ ÂQ ‰ ‰

S ‰ ‰ I 3 JJ. K 2 I I A Komm nur bald,‰ komm nur schnell‰ 2 2 A   3 2 A Komm, komm, ‰Q und mach uns-re 2 Sin- ne hell. K 2 I I „ ‰   ‰. T      I I ÂQ 3 .‰ 2   ÂS  A und mach uns-re 2 Sin-ne hell. LeÂR -2 ben-di-Í ges Licht,‰ fin - de mich‰ ˛ Í B ÂQ   ÂR  ‰.  E‰ ‰Q ‰Q ÂQ  3   ÂR 2   ‰   ‰ Komm, komm, ‰ und mach mei-ne 2 Sin-ne hell. Le -2 ben-di-Í gesÍ Licht, fin - de mich

‰ ‰   3 2   ÂS A   ‰   ‰   ‰ 2 ‰  2 ‰   Kl ‰ R ‰ ‰.  ‰ ÂQ   ÂQ   ÂQ    „K  ÂS  K   EÂE‰ ÂQ ‰ ÂQ ‰ ‰  J33  Â.‰  ÂS 2 „  ÂQ ‰ ÂQ  2 ‰ K 2 Bernd Stegmann 17 T Ê Â Â „ ÂQ ‰Q ÂQ  K ÂQ „Q A und mein dunk-les Haus. Komm herÂQ -ein, la - che michÂQ an,‰Q löÂQ - seÂQ den Bann. ˛ Í B E   „ ÂQ  ‰ ÂQ  ÂQ „Q und mein dunk-les Haus. Komm her -ein, laÂQ - che an,‰ K lö - se den Bann.

 „ ÂQ „Q A    „ ÂQ ‰‰Q ÂQ  ÂQ K ÂQ ÂÂQ „Q Kl „ ‰Q ÂQ   K    K    „Q K ÂQ ÂQ  K ÂQ  K ÂQ ÂQ  K ÂQ ÂQ  E „ „ „Q ÂQ „Q „Q

T Ê ‰      „    „    ‰ A Mach, dass ein neu - es Lied in mei-nem Her- zen blüht.„ Geist‰ der Wahr - haf - tigÂS  - keit,‰ ˛ Í Í Í B E „R „S „R „S ‰  ÂR ÂS ‰ Neu - es Lied, . Geist der Wahr - haf - tig - keit,

„ „ ‰Q ‰   A ‰R    ‰  „S „ ‰Â   ‰  „ ‰‰Q     ‰ Kl „S ÂS  ‰ K  „R    K    K    K    K ÂQ K  K  K  E „ „ „ ‰Q ‰ ‰ ‰

S Â Â Â Â Â Â ‰ A I I Komm am Mor-gen, zar - tes Licht, I I

A I I „ „   A Komm, komm, das die schwar- ze Nacht zer- bricht.‰ T Ê Ê ÂQ  ‰ ‰ ‰Q    ÂS  ‰ A zieÂR - he mir anÂÂS dein Kleid.„ Komm, komm, ‰ das die schwar- ze Nacht zer-bricht. ˛ B ÂQ  E ÂR     „ I I     ÂQ   ‰ zie - heÍ mirÍ an dein Kleid.„ das die schwar-ze Nacht zer-bricht.       ‰ A ÂQ ‰   ‰ÂS  „      Kl ‰Q ‰ „S ‰Q ‰ ‰ ‰S ‰     ‰ ÂS Â. Â  Â   E   Â. ÂQ ‰ ‰   ‰  ‰ L Í Í Â Â ÂQ   ‰ ‰ ÂQ ‰ ‰

18 Bernd Stegmann S       ‰ A I I ‰ Wär-me mich mit dei - ner Glut Komm nur schnell,‰‰Q komm nur bald,‰ A „ „    A Komm, komm, reiß mich mit wie ei - ne Flut.‰ Komm,„ ‰komm, ‰Q T ‰ ‰    ÂS  ‰ ‰ A Komm, komm,‰Q ‰ reiß mich mit wie ei - ne Flut. Komm, ‰Q , komm,‰Q ‰ ˛ B ÂQ  E     ÂQ   ‰ I I reiß mich mit wie ei - ne Flut.‰ I I

      ‰   ‰‰Q   ‰ A ‰Â  ‰    ‰ Kl ‰Q ‰ ‰‰S ‰         Â. Â Â Â   ‰ ÂQ  ÂQ  . ÂQ ‰ ‰   ÂQ ‰ ÂQ ‰ ‰ E Í Í Â Â ÂQ  ‰ ‰ ÂQ ‰ ‰

S I I I I I 3 JJK A 2 Le - A 3 A  ‰ ‰ I 2 JJK mei - neÂQ Welt ist alt und kalt.‰ Komm nur bald,‰ komm nur schnell‰ Le - T „ „      ‰   3 A mei - ne Welt ist alt und kalt. Komm, komm, und mach mei - ne 2 Sin - ne hell. Le - ˛ ‰. B ÂQ    ‰ ÂQ E ÂQ  ÂQ   ‰ ‰ ‰Q ‰Q ‰    3   .‰  mei - ne Welt ist alt und kalt. Komm, komm, undÂQ mach meiÂQ - ne 2 Sin - ne hell. Le -

3 AÂA  ‰ ‰   2   Kl ‰ ÂQ ‰   ‰   ‰   ‰   ‰ ‰ . ‰Q ‰ ‰ ‰ ‰ ‰     ÂQ  Â E  ‰ ÂQ  ÂQ   J33   ÂS ÂQ ÂQ  ÂQ ‰ ÂQ ‰ ‰ ÂQ ‰ ÂQ 2  Â.‰ ‰ ÂQ ‰ ÂQ ‰ ‰  ‰ K

Ê Ê S 2    „ ÂQ A 2   ÂS  ‰       „ ÂQ ÂQ ‰‰Q ben - diÍ - gerÍ Geist,‰ komm zu uns,‰ lauf durchs gan - ze Haus, Le - bens-ÂQ hauch, Ê Ê Â Â Â Â Â Â Â ‰Q B    ‰‰S   „ ÂQ  ‰ E2   ‰     „ 2 ben - diÍ - gerÍ Geist, komm zu uns, lauf durchs gan - ze Haus. Le - bens-hauch,

 2 J  ÂS    J J    J J ÂQ ÂQ ÂQ Kl A 2       ÂQ f   E2  ÂS      ÂQ ÂQ 2  J J    J J  ÂQ ‰ÂQ J ‰ ‰  Bernd Stegmann 19 S Ê ÂQ  K ÂQ „Q     „ A ma - che unsÂQ frei, dasÂQ DenÂQ - ken neu und uns-re Au - gen klar, Í ‰Q Í Í A Ê Ê Ama ÂQ - che uns frei, K das Den - kenÂQ neu,„Q Au‰R - gen‰ klar,„S ÂQ ‰Q ÂQ  ‰R T ÂQ  ÂQ K ÂQ  „Q ‰ „ A ma - cheÍ uns frei,‰Q dasÂQ Den - ken neu ‰ klar, ˛ Í B E ÂQ  ‰ „Q ‰R ‰ „ ma - che frei, Kdas ÂQ Den - ken neu, Au - gen klar,

ÂQ ÂS ÂQ ÂQ J J ÂQ ÂQ ÂQ J J      J Kl A ÂQ ÂQ ÂQ ÂQ ÂQ  ÂS ÂQ ÂQ  E ÂQ ÂQ ÂQ ÂQ ÂQ    ÂS J ÂQ ÂQ ÂQ J J ÂQ ÂR ‰ÂR J J  ÂQ ‰ ÂQ

S Ê ‰ Â Ê A      „ ‰     R‰ ÂQ   ÂS  „ all unsÍ - re Wor - te wahr, Geist der Wahr - haf - tig - keit, zie - heÍ uns an dein Kleid. A Ê Ê ‰Q   AWor ‰R - te‰ wahr,„S Geist der Wahr - haf - tig - keit,‰ zie - he uns an dein Kleid.„ T   ÂS  ‰ ÂR   ‰ ‰ „ ‰Q   „S A wahr. Geist der Wahr - haf - tig - keit, zie - heÍ unsÍ an dein Kleid. ˛ B „ E ‰R ‰ „ ‰Q     ‰ ÂR     Wor - te wahr, Geist der Wahr - haf - tig - keit, zie - heÍ unsÍ an dein Kleid. Ê Ê Â ÂS  ‰Q ‰    A J    ÂS J ‰Q   ÂS  ÂS  ‰ ‰ÂQ   ÂS  „ Kl   ‰ ‰Q ‰‰ „S „  E    ÂS    ÂS    ‰  J J  ÂQ ÂQ     ÂQ   ‰ ‰ ÂQ ‰ ‰ ‰ ‰ ‰ Â

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20 Bernd Stegmann Neue Horizonte Tine Wiechmann Schon seit vielen Jahren ist die Popularmusik Teil des Curriculums für Studierende der HfK. Seit 2019 gibt es einen eigenständigen Masterstudiengang Popularkirchenmusik, der nun seit diesem Jahr unter hauptamtlicher Leitung mit Leben gefüllt wird. Tine Wiechmann, die in Heidelberg keine Unbekannte ist, stellt sich im Interview mit ihrem Kollegen Carsten Klomp vor.

Liebe Tine, eine Pop-Professur ist nen Stils, das individuelle Band- betreue ich, indem ich grundle- für unser Haus Neuland. Was wer- projekt und so auch um die aktive gende Veranstaltungen im Bereich den Deine Aufgaben an der HfK Entwicklung der Popmusik in der Popmusik für alle Studieren- sein? der Kirche. Aber die Popmusik im den anbiete. Dabei geht es um Wir haben gerade – zusammen kirchlichen Raum geht natürlich Fähigkeiten und Kenntnisse z. B. mit der Pop-Akademie Mannheim alle Kirchenmusiker*innen etwas verschiedener Genre und Musi- – den neuen Masterstudiengang an. ker*innen, das Bandinstrumenta- Pop-Kirchenmusik entwickelt. Sie ist bereits jetzt ein Element rium und dessen Verstärkung, Un- Diesen Studiengang mit Leben der gesamten Ausbildung. Diese terschiede im Gesang und spezielle und Begeisterung zu füllen ist speziellen musikalischen Akzente Methoden der Vermittlung von meine Aufgabe. Die Studierenden erwerben hier vielfältige Kompe- tenzen, um souverän und anspre- » Studiengang mit Leben chend Popmusik in den Gemein- den zu vermitteln, außerdem geht es um die Entwicklung eines eige- und Begeisterung füllen «

Popmusik. Das alles soll immer an gemeinsames Hören und vor allem natürlich Musizieren angebunden sein. Neben der 50-prozentigen Profes- sur wirst Du mit weiteren 50 % an der Akademie für Kirchenmusik tätig sein. Was ist diese Akade- mie und was sind Deine Aufgaben dort? Die Akademie ist die Nachfolgerin des Hauses der Kirchenmusik und übernimmt dessen Aufgaben in der nebenberuflichen Kirchenmu- siker-Ausbildung. Der zweite Auf- gabenbereich der Akademie ist die Pflege des Kontaktes der Hoch- schule in die Stadt, indem sie z. B. Seminar- und Kursangebote für interessierte Bürger*innen an- bietet; und dies zu organisieren bzw. anzubieten ist meine Aufgabe. Gasthörerschaften in Hochschul- veranstaltungen und Kooperatio-

Tine Wiechmann 21 nen mit verschiedenen Institutio- fessor für Popmusik Bernd Ruf, der Ich halte eine große Vielfalt an nen spielen hierbei eine Rolle, aber mich immer wieder gefördert und musikalischen Stilen in der Kirche auch eigenständige Angebote, wie gefordert hat. In dieser Zeit habe für wünschenswert, das vermehrt der Stimmbildungs-Kurs, der seit ich auch erste Chöre übernommen unseren kulturellen Reichtum Ende September online stattfindet. und Erfahrungen im Unterrichten und spricht mehr und verschie- Weitere Projekte, z. B. ein weiteres von Popgesang unter anderem am dene Menschen an. Damit eine Onlineprojekt zum Thema Song- Theater gesammelt. fundierte musikalische Gemeinde- writing und eines zu Lieblings- Nach meinem ersten Staatsexa- arbeit stilistisch angemessen und Weihnachtsliedern, stehen schon men bin ich nach Mannheim ge- anspruchsvoll angeboten werden in den Startlöchern. Für eine Zeit, zogen, um an der Popakademie kann, bedarf es eines ausgiebigen, die nicht mehr so stark von der einen Master mit dem Hauptfach offenen und möglichst wertfrei- Coronapandemie beeinflusst wird, Popgesang zu studieren. Zu dieser en Blick über den eigenen Tel- plane ich wieder mehr praktisch- Zeit führte mich mein musikali- lerrand. Hier scheint mir eine An- musikalische Angebote, wie ein scher Weg immer mehr in die Kir- näherung der Stilrichtungen und Gospelchorprojekt, eine Band und che: Meine Band Enaim entstand, Protagonisten wünschenswert und ein Projekt, das EG-Lieder Men- schen nahebringt, die die deutsche Sprache erst lernen. » Annäherung der Stil- Wir beide kennen uns schon eine ganze Weile, weil Du im Haus der Kirchenmusik (ich hoffe der richtungen und Protago- Datenschutz gestattet die Er- wähnung dieser Tatsache) eine nisten wünschenswert « Pop-C-Prüfung abgelegt hast. Das war aber nur ein sehr kleiner Teil ich übernahm eine nebenberufli- bereichernd. Deines Weges zur Professur. Was che Tätigkeit in meiner Gemeinde, Was den individuellen künstle- hast Du sonst noch vor der HfK wurde Dozentin an der HfK, sang rischen Schwerpunkt angeht, so gemacht? auf christlichen Festivals wie dem denke ich und habe ich die Er- Die Kinderkirche in meinem Hei- ProChrist und machte eben auch fahrung gemacht, muss man sich matdorf war mein erster Kontakt meine C-Ausbildung. irgendwann etwas beschränken. mit Musik in der Kirche, dort Von 2016 bis 2017 habe ich mein Auch wenn man sich hier begeis- durfte ich schon früh mal das ein Referendariat an der Elisabeth- tert fokussiert, z. B. auf Alte Musik oder andere Solo singen. Auch von-Thadden-Schule gemacht und oder Jazz, gibt es immer noch so während meiner eigenen Schulzeit hier habe ich auch noch einige Zeit viel zu lernen und kennenzulernen habe ich viel Musik gemacht, vor als Musik- und Deutschlehrerin und so wenig Zeit zum Hören und allem in und mit verschiedenen gearbeitet. Üben. Bands. Ich denke mit viel Rührung Pop- und klassische Kirchenmu- Dein erstes Semester bei uns war und Dankbarkeit an diese Zeit zu- sik wachsen langsam zusammen natürlich stark von Corona ge- rück, in der ich viele Stunden mit und der Weg dorthin war nicht prägt und daher alles andere als guten Freunden in Proberäumen immer ganz gerade. Welche Ideen normal. Worauf freust Du Dich be- verbracht habe. hast Du, um die beiden Stilrich- sonders, wenn wir im Haus wie- Nach meinem Abitur habe ich tungen und deren Protagonisten der normal arbeiten können, was dann Musik und Deutsch für weiter anzunähern? hast Du in Corona-Tagen beson- gymnasiales Lehramt studiert Eine sehr spannende Frage. Ich ders vermisst und hast Du eventu- und zwar an der Musikhochschu- glaube, es spielt hierbei eine wich- ell auch angenehme Aspekte des le Lübeck und der Uni Hamburg. tige Rolle, ob wir über den indivi- Arbeiten unter Coronabedingun- Auch neben dem Studium konnte duellen künstlerischen Schwer- gen wahrgenommen? ich viele musikalische Erfahrun- punkt der Kantorinnen und Am meisten freue ich mich auf das gen sammeln, das war dann schon Kantoren oder über deren Arbeit gemeinsame Singen; in Proben, in deutlich professioneller. Ich sang mit der Gemeinde z. B. in Chören Gottesdiensten und in Konzerten. unter anderem mit Roger Cicero, sprechen, auch wenn sich beides In diesem Zusammenhang freue Bobby Kimball und Fish. Eine natürlich nicht gänzlich voneinan- ich mich auch sehr darauf, Situa- wichtige Rolle spielte hier der Pro- der trennen lässt. tionen nicht immer hinterfragen

22 Tine Wiechmann zu müssen: Stehen wir weit ge- Ich bin insgesamt mit dem Ho- ist nun möglich und nötig? Bei- nug voneinander entfernt, müssen meoffice recht gut zurechtgekom- spielsweise im Gesangsunterricht wir jetzt lüften, wie viele Perso- men. Während der Zeit des Lock- per Zoom: welche Inhalte sind auf nen dürfen gleichzeitig in diesem downs habe ich diszipliniert und diesem Wege vermittelbar und wie Raum singen? Wenn wir hier eine regelmäßig geübt, das hat mir gut kann man das machen? Natürlich Unbeschwertheit und Planungssi- getan und Halt gegeben; ich ver- liegen hier viele Herausforderun- cherheit für anstehende Veranstal- suche das fortzuführen. Außerdem gen, aber auch Möglichkeiten z. B. tungen zurückbekommen, werde empfand ich es bis zu einem gewis- des Kontaktes auch über weitere ich sie jedenfalls mehr zu schätzen sen Grade interessant, diese unge- Distanzen oder der nüchternen wissen als vor der Pandemie. wohnte Perspektive einzunehmen: Analyse; ich hoffe, wir nutzen die- So wie bisher geht es nicht, was se Möglichkeiten konstruktiv.

Prof. Tine Wiechmann (* 1986 bei Hamburg) studierte Schulmusik an der Musikhochschule Lübeck und Germanis- tik an der Uni Hamburg. Nach dem Abschluss ihres Staatsexamens studierte sie an der Popakademie Baden-Württemberg Popgesang und machte eine Ausbildung als Kirchenmusikerin. Sie arbeitete als Lehrerin am Elisabeth-von-Thadden-Gymnasium Heidelberg und als Kantorin in der Kapellengemeinde Heidelberg. Sie singt unter ande- rem seit Jahren regelmäßig auf den Händel-Festspielen und stand bereit mit internationalen Größen wie Bobby Kimball (Toto), Roger Cicero und Steve Hackett (Genesis) auf der Bühne. Nach mehrjähriger Dozententätigkeit an der Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg wurde sie im März 2020 zur Professorin für populäre Kirchenmusik und Dozentin an der Akademie für Kirchenmusik in Heidelberg berufen.

Die Bewährungsprobe: Arbeit mit der HfK-Band als Aufgabe für die Professur-Bewerber*innen. Foto: Angelo Cetta

Tine Wiechmann 23 Studiengang nimmt Fahrt auf

Zum Wintersemester 2020 startet der neue Masterstudiengang Pop-Kirchenmusik in der Rhein-Neckar- Metropolregion, eine Kooperation zwischen der Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg und der Pop- akademie Baden-Württemberg.

von Tine Wiechmann

Ungefähr eine Viertelstunde rischen und dem wirtschaftlichen die Anforderungen der zweigeteil- braucht die S-Bahn von Heidel- Fachbereich – etwa 400 Studieren- ten Aufnahmeprüfung sind hoch, berg nach Mannheim und verbin- de aus. Der künstlerische Schwer- die Studienplätze rar. Am Ende det zwei Städte miteinander, die punkt während des Studiums wird winkt jedoch ein attraktives Ar- kaum verschiedener sein könnten: stark von den individuellen Band- beitsfeld: Der Abschluss berechtigt Im idyllischen Heidelberg mit sei- projekten geprägt und greift so in zur Bewerbung auf hauptamtliche ner malerischen Altstadt und der besonderem Maße Stärken und Kirchenmusiker*innen-Stellen in Schlossruine leben ca. 160.000 Interessen der Studierenden auf. allen Landeskirchen, der Bedarf Menschen. Mannheim ist fast dop- Beide Institutionen sind in ihren nach gut ausgebildeten Kräften mit pelt so groß; die Stadt verändert jeweiligen Bereichen etabliert; dem Schwerpunkt Pop ist hoch. sich schnell, die Kulturszene ist neben ausgezeichneten Dozieren- Die Arbeit in diesem Bereich kann jung und divers, der Charme rau. den und Infrastrukturen z. B. was und soll die traditionelle Kirchen- Die Institutionen, die gemeinsam die Ausstattung der Instrumente musik nicht ersetzen, sondern sie den neuen Master ermöglichen, angeht, wird die Qualität der Ein- ergänzen, den kulturellen Reich- präsentieren sich ähnlich unter- richtungen besonders mit Blick tum erweitern sowie mehr und schiedlich. In Heidelberg die Hoch- auf die talentierten Studierenden andere Personen ansprechen und schule in der langen Tradition der deutlich. einladen. sich immer wieder verändernden Der neue Studiengang Pop-Kir- Ein Studienbeginn ist jeweils zum Kirchenmusik, in Mannheim die chenmusik ermöglicht die Aus- Wintersemester mit den Hauptfä- dynamische Akademie mit Fokus bildung an diesen beiden Institu- chern Klavier, Gesang oder Gitar- auf die Pop-Szene. Eine Koopera- tionen: Während die künstlerische re möglich, weitere Informationen tion zwischen den beiden Häusern Ausbildung, unter anderem mit können unter popinstitut-kir- stellt eine entsprechend große Hauptfach-Unterricht und Band- chenmusik.de oder per Mail an Herausforderung dar, denn die projekt, vorwiegend an der Pop- [email protected] einge- traditionelle Kirchenmusiker*in- akademie verortet ist, liegt der holt werden. nen-Ausbildung ist anders als die Schwerpunkt an der HfK auf der im Bereich der Popmusik; genau- Gemeindepraxis, z. B. in den Be- so sind es die Fähigkeiten, die man reichen Chorleitung, Bandcoa- braucht, um in dem einen oder an- ching und Gemeindebegleitung. deren Feld erfolgreich arbeiten zu Die Zielgruppe unseres gemein- können. Doch gerade hierin liegt samen Ausbildungsangebotes der große Vorteil der Kooperation: sind talentierte Musiker*innen, An der Hochschule für Kirchen- die die gewachsene Tradition der musik studieren gegenwärtig ca. Kirchenmusik aufnehmen und 50 junge Menschen. Der Schwer- einen noch vergleichsweise jun- punkt des Studiums verknüpft die gen Teilbereich aktiv mitgestalten künstlerische Ausbildung mit der möchten. Die Freude an fundier- Gemeindearbeit. Die Studieren- ter pädagogischer Arbeit in einer den sind breit aufgestellt, da sie heterogenen Gesellschaft spielt sich neben den Hauptfächern Or- hierbei eine ebenso große Rol- gel und Chorleitung auch intensiv le wie das eigene professionelle, mit der Vermittlung vielfältiger kreative Musizieren und Kompo- Kirchenmusik auseinandersetzen. nieren. Dafür bedarf es neben dem Die Popakademie bildet zur Zeit in Wunsch nach einem individuellen zwei Abteilungen – dem künstle- Ausdruck einigem an Erfahrung;

24 Pop-Kirchenmusik neu in Heidelberg Die Akademie für Kirchenmusik

Ein idealer Ort für die gemeinsame Zukunft der Kirchenmusik: für die musikalische Ausbildung der Evan- gelischen Landeskirche in Baden wurden neue Strukturen geschaffen. Die neu gegründete Akademie für Kirchenmusik, die ihren Sitz in direkter Nachbarschaft zur HfK in der Heidelberger Weststadt hat, hat den Auftrag, kirchenmusikalische Kompetenzen und Inhalte an ein breites Publikum zu vermitteln. Die Aus- bildung nebenamtlicher Kirchenmusiker ist ihr Kernbereich. An dieser Stelle sollen die Strukturen und die Köpfe hinter diesen vorgestellt werden. von Achim Plagge

Kurzer Rückblick: Etwa 10 Jahre Amtes) war der klug agierende geworden, da die HfK selbst keine lang konnte für die nebenamt- Verantwortliche in einer anfangs Übernachtungsmöglichkeit bieten lichen Kirchenmusiker*innen in bewegten Zeit der Neustrukturie- kann. Schloss Beuggen am badisch rung der nebenamtlichen Ausbil- Zum Jahresbeginn 2020 übernahm südlichsten Punkt in Deutschland dung. Aufgrund von Sparzwängen ich die Leitung der Aus- und Fort- eine nachhaltige Aus- und Fort- entschloss sich die Landeskirche, bildung des kirchenmusikalischen bildungsarbeit geleistet werden. Beuggen zum Jahr 2016 zu verkau- Nachwuchses im Nebenamt und Ideale Bedingungen - außer der fen. Und so wurde Heidelberg mit seit März ist Tine Wiechmann als gut dreistündigen Fahrzeit von seiner Hochschule für Kirchenmu- zweite Kraft mit an Bord der Aka- Nordbaden aus - waren durch Un- sik als idealer Ort für die gemein- demie für Kirchenmusik. Wiech- terkunft und Unterricht an einem same Zukunft der Kirchenmusik- mann ist für Veranstaltungen ver- idyllischen Ort gegeben. Carsten ausbildung ausgewählt. Seit 2017 antwortlich, die die Hochschule Klomp, bis Ende 2019 Beauftrag- finden hier nun die Ausbildungs- und die Heidelberger Bürgerschaft ter für die kirchenmusikalische kurse für die D- und C- Prüfungen stärker miteinander in Kontakt Aus-, Fort- und Weiterbildung statt. Die Unterbringung ist dabei bringen, ebenso ist die Öffentlich- (so die offizielle Bezeichnung des organisatorisch anspruchsvoller keitsarbeit ihr Bereich.

Im Garten hinter Akademie und Hochschule für Kirchenmusik: Tine Wiechmann, Achim Plagge und Verwaltungsmitarbeiterin Barbara Peeck

Akademie für Kirchenmusik 25 Verortet ist die Akademie mit Bü- zukünftige Gestaltung der Ausbil- roräumlichkeiten direkt neben der dung der nebenamtlichen kirchen- Hochschule im weißen Gebäude musikalischen Kolleg*innen. in der Hildastraße (das ehemalige Ab 2021 wird es ein Fortbildungs- Hausmeisterhaus). und Veranstaltungsangebot geben, Zur Seite steht der Akademie ein das über die Homepage www.aka- Akademierat, der sich im Sep- demie-kirchenmusik.de, landes- tember erstmals getroffen hat, kirchliche Printprodukte sowie um Impulse zu geben und Ideen über die sozialen Medien bewor- mitzutragen. Hier wirken neben ben werden wird. Ausbildungskurse finden in der Pe- kirchenmusikalischen Vertre- Die Verbindung zwischen der terskirche statt, wo die Hochschu- ter*innen auch die Leitung des Heidelberger Hochschule für Kir- le über die Professur für Orgel für Kulturamtes der Stadt Heidelberg chenmusik und der Akademie für den Organistendienst verantwort- mit. Kirchenmusik ist nicht nur in der lich ist. Kleinere Renovierungs- Derzeit beschäftigen wir uns ne- gemeinsamen Nutzung der Räum- arbeiten an den Orgeln der Peters- ben den coronabedingten Anpas- lichkeiten der Hochschule sichtbar, kirche wurden im Sommer bereits sungen der Ausbildungskursan- sondern auch in der Verbindung gemeinsam durchgeführt. Weitere gebote mit der Entwicklung einer der Personalstellen: So ist Tine Kooperationen werden in Zukunft eigenen Corporate Identity, die Wiechmann gleichzeitig im Be- wachsen, auch im Hinblick auf die die Zugehörigkeit zur Landeskir- reich Pop-Kirchenmusik als Pro- räumliche Zukunft beider Institu- che ebenso zeigt, wie die musika- fessorin an der HfK tätig und eine tionen. lisch stilistische Vielfalt und die neu zu besetzende Sekretariats- Wir freuen uns auf eine gute Zu- Begegnung der unterschiedlichen stelle beinhaltet Arbeitsaufträge sammenarbeit mit den Verant- Menschen, die die Angebote der für die Akademie und die Hoch- wortlichen der HfK und unserer Akademie wahrnehmen. schule für Kirchenmusik. Darüber Landeskirche und glauben an Got- Das erste gemeinsame Projekt, ein hinaus bin ich als ständiger Gast tes Führung und seinen reichen Online-Stimmbildungsseminar im bei den Senatssitzungen anwesend. Segen auch in einer weniger plan- September/Oktober für Teilneh- Die Gottesdienste am Ende der baren Zeit. mer*innen der Ausbildungskurse sowie für Sänger*innen und Sän- ger der Heidelberger Chöre bringt die unterschiedlichen Arbeitsbe- reiche der Akademie gut zusam- men. Ein Ausbildungsgipfel mit den hauptamtlichen Kantor*innen im Juli gab wichtige Impulse für die

Abrocken in der Kurswoche. Foto: Achim Plagge

KMD Achim Plagge studierte Kirchenmusik in Heidelberg und Freiburg u.a. bei Gerhard Wagner, Zsigmond Szathmáry, Hans Michael Beuerle und Martin Gotthard Schneider. Zahlreiche CD-Aufnahmen mit dem Ensemble Officium und dem Du- fay-Ensemble. 1999-2020 Bezirkskantor für den Kirchenbezirk Neckar- gemünd-Eberbach. 2014 Verleihung des Titels „Kirchenmusikdirek- tor“. Seit 2020 Leitung der Akademie für Kirchenmusik, Beauftragter für die Aus- und Fortbildung der nebenamtlichen KirchenmusikerIn- nen sowie Landessingwart für die Ev. Landeskirche in Baden.

26 Akademie für Kirchenmusik MUSIK IN ZEITEN DER PANDEMIE Ein verlorenes Semester? Wie habt ihr den Beginn und die Entwicklung des Sommersemesters in Corona-Zeiten für euch persön- lich erlebt? Was war besonders schlimm und konntet ihr der Zeit auch etwas Positives abgewinnen?

gesammelt von Matthias Berges und Manuel Knoll

KATHARINA LINN, 1999 geboren, stu- diert in Mannheim und Heidelberg parallel Schul- und Kirchenmusik.

» In der Zeit des Lockdowns konnte ich für mich ganz persönlich erst mal einen Moment zum tief durchatmen finden. Es hat mir sehr gut getan, mich einmal ganz auf mein Inneres zu konzentrieren. Relativ schnell bemerkte ich dann aber auch, was mir fehlte, wie sehr ich den Kontakt zu an- deren Menschen brauchte. Das gemeinsame Musi- zieren stellte für mich hiermit die größte Lü- cke dar. Gemeinsam im Chor zu singen hilft mir, innerlich zur Ruhe zu kommen und ein Gefühl von außergewöhnlicher Ge- meinschaft und Verbunden- heit zu erleben. Aber vielleicht ist dies gerade in der Corona-Zeit das Positive? Festzustellen, wonach man sich wirklich sehnt, um diese Dinge in der Zukunft noch viel be- wusster, dankbarer und intensiver zu erleben. « Tonfeldanalyse online: Master-Tonsatzseminar bei Prof. Michael Polth

YENA JEONG aus Südkorea studiert im 4. Semester Kirchenmusik an der HfK.

» Als die Anzahl der Infizierten ihren Höhepunkt erreichte, bin ich in Deutschland geblieben. Ich habe überlegt, mich das Sommersemester beurlauben zu lassen, um in meine Heimat Südkorea zu fliegen. Mit der Einreise hätte ich dort allerdings zwei Wochen isoliert leben müssen und das Zurückkommen nach Deutschland wäre unmöglich gewesen. Darum habe ich während dieser schwierigen Situation in Ruhe meine Hobbys genossen: Mundmasken selber nähen, mit meiner Familie telefonieren, Online-Workouts machen, E-Piano spielen. Ich vermied, aus dem Haus zu gehen, da mehrere Artikels verlauteten, dass sich rassistische Kriminalität erhöht habe. In meiner Wohnung habe ich viele Konzerte von Nachbarn gehört, die ihren Übraum in der Musikschule nicht benutzen konnten. Manchmal hat jemand dafür an dem Fenster applaudiert. Der Onlineunterricht im Studium hat einigermaßen gut funktioniert, allerdings war meine Konzentrationsfähigkeit am Laptop gering. Ich fühle mich, wegen dieser Pandemie das Jahr 2020 verloren zu haben. Gottesdienste sind ausgefallen, ich habe kein Einkommen. Was sollte ich tun, falls meine Familie krank würde? Im Notfall könnte ich nicht rechtzeitig da sein, zum Glück bis jetzt alle völlig gesund. ▶

28 Spotlight Studis MANUEL KNOLL, aufgewachsen in Herrenberg, wechselte vom Theologie- ins Kirchenmusikstudium und studiert jetzt im Master.

» Schwierig war für mich, dass alle Konzerte abgesagt wurden, einer- seits wegen des Geldes, andererseits, weil mit einem mal so viel Energie und Motivation einfach weg war. Auch das Ausbleiben von gemeinsam erlebtem musikalischem Flow schlug mir aufs Gemüt.

Aber ich habe dann immer versucht, der Situation auch Positives abzugewinnen, beispielsweise war ich er- staunt, wie sich meine Stimme entwickelte, als ich eine Weile nicht regelmäßig in Chören „liefern“ musste, sondern ich mich ganz nach den eigenen Bedürfnissen und Tages- formen ausrichten konnte. Als ich bedauerlicherweise eine Zeit lang kein Übinstrument zur Verfügung hatte, habe ich dafür mehr analysiert und mental geübt. Auch das Arbeiten mit eigenen Aufnahmen, die man für On- lineunterrichtszwecke angefertigt hat, hat mir einen neuen Blick auf mich selbst und mein Üb- und Musi- zierverhalten beschert. «

BYUNGYONG YOO, studierte Gesang, jetzt Bachelor Kirchenmusik und ist Tonfeldanalyse online: Master-Tonsatzseminar bei Prof. Michael Polth derzeit als Studierendenvertreter im Senat der HfK.

» Im März standen alle Konzer- te der - und Osterzeit Das Positive dieser Zeit ist, noch bevor. Und leider wurden dass viele Menschen bemerkt alle meine geplanten Konzerte haben, dass die Mundmas- abgesagt. Ich hatte es nicht erwar- ken vor einer Verbreitung tet, bis April nur zu Hause zu sein. des Virus’ schützen können. Aber ein wenig länger Pause machen In meiner Heimat ist es nor- zu können war dann auch nicht schlimm. mal, Masken zu tragen. Ab- In dieser Pause haben Samuel Cho, Kantor der stand zu halten ist für mich evangelischen Kirche in Hockenheim, und ich eine auch gut, da ich nicht gerne Aufnahme für seine Gemeinde und meine Chormit- an überfüllte Orte gehe. Die glieder angefertigt. Das hat Spaß gemacht und meine unbelebten Straßen sehen Seele sehr erfrischt. ▶ angenehm aus. «

Spotlight Studis 29 Je mehr die Zeit verging, desto schwieriger wurde aber auch die finanzielle Situation, da es noch immer keine Auftrittsmöglichkeiten gab. In dieser Situation habe ich aber eine tolle Überraschung von meinem Chor erlebt. Die Chormitglieder haben sich sehr nett um mich gekümmert. Und ich habe Briefe von Kommilitonen bekom- men, in denen sie nachgefragt haben, wie es mir geht. Das hat mich sehr begeistert und meiner Seele gut getan, denn in so einer Situation im Ausland und weit weg von der Familie zu sein, ist nicht so einfach. Wir sind noch immer in der Corona-Krise und wissen nicht, wie lange noch. Aber sie wird irgendwann über- wunden sein und wir können das zusammen überstehen! Besonders wir Kirchenmusiker haben doch die Mög- lichkeit, miteinander etwas Gutes zu tun. Alles Gute! Bleiben Sie gesund! «

MANUEL DAHME, lebt in Stuttgart, ist studierter Cembalist und studiert Kirchenmusik.

» Das Sommersemester 2020 zwang Dozierende und Studierende ohne Vorwarnung zu radikaler Kreativität. Nun sollte man meinen, ein künstlerisches Studienfach müsse doch gut damit umgehen können, doch betraf die Kreativität kaum die musikalische Arbeit, als vielmehr die Art der Durchführung sämtlichen Unterrichts an der Hochschule. Nach dem verschobenen Semesterstart begannen erste digitale Unterrichte über verschiedene Plattformen. Natürlich mussten hier gewisse Abstriche gemacht werden. Wenn man sich aber einmal darauf einließ, konnte man dem Gesangsunterricht in eigenen Wohnzimmer durchaus etwas abgewinnen. Nicht nur das, der Onlineunterricht brachte durchaus gewisse Vorteile mit sich mit: Gerade mir als Pendler aus Stuttgart brachten all die abgesagten Konzer- te und Gottesdienste, die geschlossene Musikschule (an der ich unterrichte), und die gesparte Zugfahrzeit so viel Zeit wie noch nie in meine Studium. Endlich konnte ich mal ohne Zeitdruck ausführlich üben; das hat meinem Orgelspiel technisch wie auch musikalisch wirklich gut getan. Da technisch kein Stream aus der Kirche möglich war, nahm ich zunächst Durchläufe ausgearbeiteter Stücke auf und schickte sie meinem Lehrer, der diese dann ausgiebig kommentierte. Im weiteren Verlauf des Semesters war vereinzelt Unterricht wieder möglich, zum Ende hin regelmäßiger. Das große Manko dieses Semesters war die Chorarbeit. Zwar konnte man theore- tisch viel an Schlagtechnik und Repertoirekenntnis arbeiten (zunächst online, dann auch bei gutem Wetter im Garten der HfK), aber Chorgesang, der sonst ein wesentlicher Bestandteil der Studi-

ums ist, sowie der Probenchor fehlten doch sehr. Ganz be- sonders auch deswegen, da ich Prof. Azumi in seiner Arbeit als Chorleitungsprofessor noch gar nicht kennenlernen konnte. Es bleibt zu hoffen, dass die Chorarbeit schnell wieder den Rahmen einnehmen kann, den sie verdient und das nächste Semester nicht in tempore pes- tilentiae, sondern zunehmend in gewohnten Rahmen stattfin- den kann. «

Manuel Dahme im Open-Air-Dirigierunterricht bei Andrea Stegmann

30 Spotlight Studis Und plötzlich war da Corona... von Andrea Hadwiger

Der Semesterstart stand unmittel- dort einige wichtige Punkte zu be- konnte, freute man sich und setzte bar bevor. Die Pläne und Gruppen- sprechen und zu beschließen. Na- diesen sofort praktisch um. einteilungen waren bereits fertig- türlich musste auch diese in Form Nach und nach füllten sich zum gestellt, als wir im März 2020 von eines „Hybrid-Meetings“ organi- Sommer hin die Räume der Hoch- der Corona-Pandemie getroffen siert werden, da nur maximal acht schule wieder mit Leben. wurden. Personen eine Zusammenkunft Als ab Ende Juni selbst Chorpro- Da der Beginn des Semesters von haben durften. Hierbei wurde ein- ben wieder stattfinden durften, der Landesregierung bis zum 19. stimmig beschlossen, dass man un- wurden von unserem Chorlei- April ausgesetzt wurde, standen ter allen Umständen ein verlorenes tungsprofessor, Michiya Azumi, wir in Wartehaltung, in der Hoff- Semester für die Studierenden ver- durchsichtige Trennschutzwände nung zu diesem Zeitpunkt „nor- meiden wollte. zwischen den Singenden geplant mal“ starten zu können. Als Ende April klar wurde, dass und von unserem Hausmeister, Inzwischen machte sich die Hoch- Präsenzveranstaltungen vorerst Angelo Cetta, praktisch realisiert. schulleitung gemeinsam mit dem nicht stattfinden konnten, hat- So können wir letztendlich doch Sekretariat (welches glücklicher- ten sich die Dozierenden bereits auf ein recht erfolgreiches Som- weise im Präsenzbetrieb weiter- kreative Ideen für Online-Unter- mersemester 2020 zurückblicken, arbeiten konnte) Gedanken, wie richt erdacht. Dieser wurde in viel bei welchem viele der Studienleis- ein Unterricht unter diesen Um- Eigeninitiative der Lehrkräfte ent- tungen erlangen werden konnten, ständen realisierbar wäre: wickelt, welchen an dieser Stelle wenn auch neue Wege gegangen Desinfektionsmittel mussten be- nochmals herzlich gedankt sei. werden mussten. sorgt, ein Hygienekonzept und Und vieles funktionierte – teil- Was bleibt, ist das Empfinden, dass Anwesenheitslisten erstellt werden, weise sogar besser als ursprünglich die Hochschulgemeinschaft unse- um den entsprechenden Vorga- angenommen. rer überschaubaren Institution, in ben gerecht zu werden. Weiterhin Mit Spannung wurden von der dieser schwierigen Zeit noch enger stellte sich die Frage, wie man die Hochschulleitung die regelmäßig zusammengerückt ist und der Ein- Tastaturen der wertvollen Instru- eintreffenden gesetzlichen Vorga- zelne mehr wahrgenommen wird. mente desinfizieren sollte? ben des Ministeriums in Stuttgart Nicht zuletzt halten wir an der Da kam eine bereits im Vorfeld erwartet und studiert. Über jeg- Hoffnung fest, in absehbarer Zeit anberaumte Sitzung des Hoch- liche Art von Unterricht, welcher wieder Chor- und Orchesterkon- schulsenates gerade richtig, um in Präsenz freigegeben werden zerte durchführen zu können.

Chorpanorama: Die geöffneten Orgelsäle bieten zusammen Platz genug, um mit Trennwänden eine Chorarbeit zu ermögli- chen. Lea Krüger bereitet sich am Klavier auf ihre Probe vor. Foto: Andrea Hadwiger

Sekretariatsbericht 31 Kirchenmusik digital – Moglichkeiten, Chancen und Grenzen Zahllose Veranstaltungen wurden abgesagt und es werden weitere folgen. Covid-19 schränkt unser kulturelles Leben derzeit weltweit ein. Dennoch gibt es viele neue Möglichkeiten und Chancen für die kirchenmusikalische Arbeit gerade im Bereich der neuen Medien. Diese sollen in folgendem Artikel aus der Sicht des Kirchenmusikers beschreiben und gleichzeitig deren Grenzen aufgezeigt werden.

von Peter Gortner

ätte mir Anfang des Jah- einfachen, aber sehr effektiven ßung auf „stumm“ geschaltet wer- res jemand erzählt, dass Registerproben-Konzept. Wie bei den (sonst käme es zu verzöger- H wir Kantoren in der Pas- allen Plattformen derzeit ist ein tem Singen), aber folgende Punkte sionszeit 2020 keine einzige Bach- „echtes“ gemeinsames Singen auf- kann man aus meiner Erfahrung Passion aufführen würden und es grund der Latenzzeit leider (noch) durchaus für die Probenarbeit ein Osterfest ohne Gottesdienst nicht möglich. Es sei an dieser Stel- sinnvoll nutzen: gäbe, hätte ich ihm wohl kaum le auf die aktuellen Forschungsar- geglaubt. Die „7 Wochen ohne“ beiten des Projektes digital-stage. » Call-and-response eignet sich haben in diesem Jahr eine völlig org hingewiesen. Dieses einmalige besonders gut: Ich singe einen kur- neue Dimension erreicht. Inmitten Projekt verspricht „Echtzeit-Mu- zen Abschnitt (2 bis 4 Takte vor) der Passionszeit erreichte uns die sizieren“ und steckt momentan und unterstütze harmonisch durch Landesverordnung, in der Testphase die Klavierbegleitung. Die Sänger welche mit sofortiger mit dem Programm wiederholen dann den gleichen Wirkung alle Gottes- soundjack. Sollte Abschnitt und ich spiele für sie dienste untersagte. » Sieben das Projekt erfolg- hörbar die Klavierbegleitung kräf- Bei sieben Wochen reich sein, wäre das tig dazu. Hierdurch können selbst sollte es nicht bleiben. Wochen ein großer Schritt für die schwierigsten Passagen schnell Im Folgenden wird digitale Chorproben und gründlich geprobt werden. der besseren Lesbar- ohne « mit gemeinsamem Nachteil: Ich höre das „Ergebnis“ keit auf die weibliche Gesang und auch bei- nicht. Form von Sängerin- spielsweise Unter- nen verzichtet, Sänger bezieht sich richt an Musikhochschulen. » Rhythmus-Übungen können jeweils auf alle Anwesenden. Jede Stimmgruppe (Sopran, Alt, ebenfalls mit call-and-response Tenor, Bass) probte einzeln wö- gut realisiert werden. CHORPROBEN ONLINE – KANN chentlich jeweils 30 Minuten mit DAS FUNKTIONIEREN? mir am Klavier sitzend das aktu- » Je nach Leistungsstand der elle Programm. Zuvor gab es ein Chorgruppe lasse ich auch einzel- Alle Chöre an der Christuskirche Einsingprogramm via YouTube, ne Sänger vorsingen, indem ich probten von Ende März bis Mitte was alle Sänger eigenverantwort- einen Sänger aufrufe und ihn bitte, Juni online über die Konferenz- lich nach ihren Bedürfnissen aus- bei gedrückter Leertaste (somit ist Plattform „Zoom“. Bei unserem führen konnten. Man kann in einer er kurzzeitig für alle Teilnehmer ersten Technik-Test haben wir solchen Registerprobe zwar nicht hörbar) den gerade geprobten Ab- relativ schnell die Grenzen der permanent kontrollieren, ob die schnitt alleine vorzusingen. Hier- derzeitigen Technik erkannt und Sänger ihre Töne beherrschen, da bei ist Fingerspitzengefühl und folgen in unseren Proben einem alle Teilnehmer nach der Begrü- Einfühlungsvermögen gefragt, da

32 Kirchenmusik digital Mitglieder des Oratorienchores und des Kammerchores der Christuskirche Karlsruhe beim ersten Technik-Test. Manch ambi- tionierter Sänger sogar mit Notenständer. es natürlich nicht zu einem Bloß- Zu Beginn der Corona-Krise habe PC mit Mikrofon und Kamera stellen kommen darf. Gerade bei ich statt der online-Probe noch Kindern und Jugendlichen sind die mit etwas einfacheren Mitteln ver- » Stabile Internetverbindung Erfahrungen hiermit sehr gut. sucht, die Chorarbeit am Leben zu halten (Sounddateien verschickt, » Unbedingt die Funktion „Ori- » Die Solofunktion kann natür- kleine Videobotschaften bei You- ginalton einschalten“ bei Zoom lich auch für Rückfragen oder Tube veröffentlicht, Übungen mit verwenden (sonst wird das Klavier Wünsche genutzt werden. Aufnahmen für das Heimstudium als Hintergrundgeräusch heraus- versendet). Mittlerweile bin ich gefiltert) » Während des Solo-Singens aber überzeugt, dass die wöchent- einzelner Teilnehmer ist es auf- liche Beschäftigung zur gewohn- » E-Piano oder Klavier, das über grund des Oneway-Prinzips nicht ten Zeit an „einem Ort“ einen sehr Mikrofon gut zu hören ist möglich, zeitgleich zu der gespiel- hohen Mehrwert für die Chorge- ten Begleitung zu singen. Hierfür meinschaft hat. Gerade der soziale Optionale Module zur Verbesse- kann der Chorleiter aber im Vor- Aspekt des „Wiedersehens“ wurde rung des Klanges: feld Playback-Dateien zugänglich in den Rückmeldungen der Sänger machen, die der Sänger dann (am betont. Durch das social distancing » Externes Audiointerface (gutes besten auf einem zweiten Medi- im gesellschaftlichen Leben müs- Preis-Leistungs-Verhältnis, bei- um) während des Solo-Singens auf sen unsere Chöre nun dringend spielsweise Focusrite Scarlett 2i2, dem Computer abspielt. Denkbar wieder zusammenfinden – mitt- Preis ca. 160 €) ist auch eine Datei mit allen Chor- lerweile ist dies glücklicherweise stimmen außer einer aufzunehmen, auch in kleineren Chorgruppen » Kondensator Mikrofon zum sodass der Chorsänger tatsächlich „analog“ möglich. Anstecken (beispielsweise Røde das Erlebnis einer vierstimmigen Kleine Mitmach-Aktionen im Stile Lavalier GO, oder SmartLav+ für Probe hat. von Eric Whitacres Virtual Choir ca. 60 €) (den es übrigens bereits seit 2009 » Die Proben können als Video- regelmäßig gibt) können zudem » Hochwertiger Studio-Kopfhö- oder Audiodatei mitgeschnitten ein „Gemeinschaftserlebnis Chor“ rer (um Rückkopplung zu vermei- werden und im Anschluss an die generieren. Hierzu finden sich den) Probe all denjenigen Sängern zu- mittlerweile zahllose Beispiele bei gänglich gemacht werden, die ver- YouTube. Nach meiner Erfahrung lohnt sich hindert waren. Eine gute Möglich- die Investition für das Audiointer- keit auch anspruchsvolle Stellen Technische Grundausstattung für face und das kleine Mikrofon sehr, nochmals individuell „nachzuhö- digitale Chorproben: da wir noch einige Proben online ren“. gestalten müssen in diesem Jahr » Leistungsfähiger Laptop oder und sich das klangliche Ergebnis

Kirchenmusik digital 33 Klangqualität bei Zoom-Chorproben verbessern mit Ansteck-Mikrofon und Interface.

deutlich bemerkbar macht. Die staunt, wie viele Menschen unsere Spätestens durch das Abendmahls- Vorteile sind besonders in der Gute Botschaft erreicht – und die Verbot - beim Tippen dieses Wor- Tonqualität des Klavieres hörbar, Frage ist berechtigt: Sollte es so ein tes staune ich über die Tatsache, da das Signal über das Audiointer- Format vielleicht nicht häufiger dass es so weit jemals kommen face nun direkt über den USB-An- geben? Wird der Video-Gruß aus konnte - in den Christlichen Kir- schluss an die Sänger weitergege- der Christuskirche vielleicht sogar chen entsteht ein Gemeinschafts- ben wird und nicht erst über einen Corona überdauern? gefühl der besonderen Art. Wer Umweg vom integrierten Mikro Ich wundere mich sehr über den hätte gedacht, dass es je einen des Laptops aufgefangen werden technischen Fortschritt, den die Ökumenischen Gottesdienst zum muss. Zudem kann ich über das Kirche in diesen Tagen macht. Seit Karfreitag geben wird? Inmitten Interface direkt die Balance von meinem Amtsantritt klage ich bei- der Pandemie lassen wir Berüh- Klavier und Gesang abmischen. spielsweise über nicht existieren- rungsängste und unterschiedliche des WLAN in der Kirche – doch Traditionen außen vor – im Zen- VIDEO-ANDACHTEN UND jetzt, als wir eine stabile Übertra- trum steht auf einmal der Mensch. FERNSEHGOTTESDIENSTE gungsrate für den Livestream des Ist das nicht ein kleines Corona- Fernsehgottesdienstes zum Kar- Wunder? Für den Sonntag Lätare (oder nach freitag benötigen, wird auf einmal Nach einigen Wochen der Gottes- der neuen liturgischen Zeitrech- alles möglich. Die Christuskirche dienst-Abstinenz stellt sich bei mir nung: 1. Sonntag nach Corona) erhält nun einen eigenen LAN-An- ein tiefes Bedürfnis nach „norma- wurde mit professioneller Hilfe schluss. Corona: Segen und Fluch len“ Gottesdiensten mit Gemein- eine erste musikalische Video-An- zugleich? degesang ein. dacht für unsere „Gemeinde an den Bildschirmen“ hier in der Chris- tuskirche aufgenommen. Eine be- sondere Herausforderung: Nicht zu lange soll die Andacht sein, er- bauliche Kirchenmusik soll darin vorkommen, ein geistlicher Impuls und beste Ton- und Bildqualität ist gewünscht. Selbstverständlich soll die Andacht spätestens sonn- tags um 10.00 Uhr in unserem YouTube-Kanal erscheinen. Dank der sozialen Netzwerke verbrei- tet sich unser erstes Video inner- halb kürzester Zeit und hat heute Mini-Kantaten-Besetzung für BWV 150 „Nach dir Herr, verlanget mich“ am Sonntag bereits 1000 Klicks. Wir sind er- Judika.

34 Kirchenmusik digital Spätestens seit der Verkündung der CHORPROBEN IN MINIATUR- nate zeigen, dass das Singen auf ersten Lockerungsmaßnahmen ist FORMAT UND KONZERTE IM Abstand ein sehr hohes Maß an in- der Kantate-Sonntag ein erstes LIVESTREAM dividuellem Engagement der ein- Fernziel geworden. Durch die ho- zelnen Sänger fordert und einzelne hen Auflagen und Sicherheitsab- Seit einigen Monaten hat sich an Sänger leider auch zum Pausieren stände (6 m zwischen den Sängern den Vorschriften (zumindest in veranlasst. Glücklicherweise kön- und 3 m zwischen den Instrumen- Baden) nichts mehr geändert und nen wir im Kirchenraum ca. 45 talisten) wird allerdings selbst eine zum derzeitigen Stand (1. Okto- singende Personen verteilen und doppelchörige Schütz-Motette zu ber 2020) werden uns diese Maß- tatsächlich eine sinnvolle Proben- einer echten Herausforderung, die nahmen noch längere Zeit beglei- arbeit ermöglichen. Aufgrund der die Grenzen der „Corona-Spielre- ten. Für uns Kirchenmusiker also großen Distanz zwischen Chorlei- geln“ deutlich macht. höchste Zeit sich damit irgendwie ter und Sänger lohnt es sich zudem Das gelockerte Kirchenmusik- zu „arrangieren“. Fakt ist, wir be- auch kleiner besetze Stimmproben Schutzkonzept der Badischen Lan- nötigen sehr große, gut belüftete anzubieten, um stimmbildnerisch deskirche sieht nun seit Pfingsten Räume um die nötigen Abstands- arbeiten zu können und detailliert „nur“ noch 2 m Abstand zwischen regeln einzuhalten. Töne proben zu können. Sängern und Instrumentalisten Die Chöre an der Christuskirche Das erste Chorkonzert unter Co- vor. Diese Lockerungsmaßnah- und alle Kinder- und Jugendchöre rona-Bedingungen brachte ein men machen zumindest kleinere des Cantus Juvenum haben nach völliges Umdenken im Hinblick Aufführungen in Gottesdiensten den Pfingstferien mit eigenem auf die „klassische“ Choraufstel- und Chorproben in Kleingruppen Schutzkonzept wieder begonnen lung mit sich. Um das Publikum wieder möglich. „real“ zu proben und in kleineren möglichst weit vom Aerosolaus- Formaten auch bereits erste Chor- stoß des Chores zu platzieren, habe konzerte wieder durchgeführt. Die ich mich entschlossen den Chor in Erfahrung der vergangenen Mo- den Kirchenbänken des Kirchen-

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Kirchenmusik digital 35 raumes zu platzieren und das Pu- dem Motto „Zauberei oder Hand- verwendet werden. Erst kürzlich blikum auf den Emporen ringsum. werk“ mit wöchentlichen Videos schrieb ein netter Kollege aus Bay- Da der Chor nun nach vorne Rich- die heranwachsenden Dirigen- ern, dass man dort dem Beispiel tung Altar gesungen hat, ergab sich ten beim Üben unterstützen. Die nun auch folgen möchte. auf den Emporen ein sehr gut ge- ersten Ergebnisse wurden in den mischter homogener Chorklang, Osterferien in Form von Video- INVENTARISIERUNG DER NOTENBIBLIOTHEK

Vor über einem Jahr begann ein Projekt hier im Kantorat der Chris- tuskirche Karlsruhe, dessen zeitli- che Dauer niemand abzuschätzen wagte. Der gesamte Chornoten- bestand von etwa 50.000 Einzel- exemplaren sollte inventarisiert und in einer digitalen Sammlung zugänglich gemacht werden. Ohne Corona wäre dieses Vorhaben nie- mals zu schaffen gewesen. Doch da keine Chorproben mehr möglich waren, wurde der Chorsaal zur In- Ausschnitt aus dem Online-Dirigierkurs zum Thema „Schlagfiguren“ ventarisierung der Bibliothek um- funktioniert und mit drei räumlich den wir bei normaler Aufstellung Zusendungen an mich zurück- getrennten Arbeitsplätzen und auf dem Chorpodest in dieser Art geschickt. Das Ergebnis spricht entsprechenden Schutzmaßnah- und Weise noch nie gehört haben. für sich: Fast alle Teilnehmer des men ausgestattet. Corona macht die verrücktesten Kurses haben ein eigenes Video Im März 2019 wurde bereits über Experimente nötig und möglich gedreht und ihren Fortschritt so mehrere Wochen hinweg diverse – Auch hier liegt eine Chance für dokumentiert. Alle machen Fort- Bibliothekssoftware getestet. Aus klangliche Experimente. schritte und erhalten ein individu- den etwa zehn in Frage kommen- Auch die ersten Gehversuche mit elles Feedback mit Anregungen zur den Programmen (teilweise kos- einen Live-Stream-Konzert waren Verbesserung. tenfrei) haben wir uns für das in nach leichten Startschwierigkeiten Der Vorteil dieses Unterrichts- Karlsruhe programmierte, cloud- erfolgreich und haben viele Men- konzeptes wird mir schnell klar. basierte und professionelle Biblio- schen erreicht, die aus gesundheit- Nachdem wir in den ersten 3 Vi- theksprogramm libreja entschie- lichen Gründen nicht am Konzert deos Taktfiguren, Auftakte, Impuls den. (Eine hilfreiche Aufstellung teilnehmen konnten. Hier liegt und Abschläge gelernt haben und der Produkte gibt es unter: www. gerade im Hinblick auf die zweite uns zudem die verschiedenen Ar- softguide.de/software/biblio- Jahreshälfte und Weihachten eine ten der Fermate angeeignet haben, thekensoftware). große Chance um Menschen in schrieb mir eine Schülerin, dass sie Jedes Notenexemplar erhielt eine Nah und Fern von der frohen Bot- es äußerst positiv empfindet, die Titelsignatur, die aus den Initialen schaft zu erzählen. Übungen mehrmals hintereinan- des Komponisten und einer Num- der anschauen zu können. Sie be- mer besteht und zusätzlich einen REGIONALER DIRIGIERKURS – tonte zudem, dass sie sich meistens Barcode, durch den das Exemplar ZAUBEREI ODER HANDWERK? die Schlagtechnik-Übungen gar dann später auf einen personali- nicht alle merken könne bis sie da- sierten Account ausgeliehen wer- Nach nur zwei Monaten muss- heim ist. den kann. te der wöchentlich stattfindende Auch in dieser Corona-Notlösung Beim Eingeben neuer Medien in Chorleitungsunterricht eingestellt liegen große Chancen für eine das Programm wurden die üb- werden. Da die C- und D-Schü- Wiederverwertung. Die Videos lichen Informationen wie Titel, ler aber gerade in den Grundlagen befinden sich alle in unserem You- Werkverzeichnis, Verlag, Auflage, nicht alleine gelassen werden soll- Tube-Kanal und können für künf- Reihe, Autor, Erscheinungsjahr, ten, soll ein Online-Tutorial unter tige Kurse oder Seminare wieder- Listenpreis und ein Coverfoto

36 Kirchenmusik digital des Werkes eingegeben. Zusätz- lich wurde vermerkt, in welchem Schrank es steht und in welche Ka- tegorie es gehört, sodass man spä- ter zielgerichtet nach einem Werk für beispielsweise Frauenchor mit Klavierbegleitung oder gemischten Chor mit Orchester suchen kann. Die über 250 Sängerinnen und Sänger aus Oratorienchor, Kam- merchor und die Jugendlichen der Singschule Cantus Juvenum Karlsruhe e.V. erhielten im nächs- ten Schritt einen Benutzeraccount und einen Bibliotheksausweis, um die benötigten Noten ausleihen zu können.

Die Bibliothekssoftware Libreja bietet zahlreiche lohnenswerte Benutzerkonto in libreja Funktionen. Einige seien hier stell- vertretend genannt: » Die Software ist cloudbasiert, versendet, sobald die Leihdauer d.h. es gibt keine lokale Datei auf von 4 Wochen überschritten ist. » Sofern Noten über einen Bar- einem Computer, sondern man Mithilfe dieser Funktion gehört code verfügen, können sämtliche kann von jedem internetfähigen das lästige „Hinterhertelefonieren“ Mediendaten und das dazugehöri- PC weltweit recherchieren, ob das von Noten der Vergangenheit an. ge Cover aus dem Internet geladen gerade gesuchte Chorwerk in der werden. Dies erspart sehr viel Zeit Bibliothek vorhanden ist und kann » Bei der Notenausgabe ist ledig- beim Anlegen der Datensätze. somit beispielsweise auch eine lich der Barcode auf dem Notenex- Fernleihe einrichten, um Noten zu emplar und der Ausweis des Sän- leihen anstatt sie in Chorstärke an- gers zu scannen. Hierdurch erspart zuschaffen. man sich das Führen von Listen. Dies übernimmt fortan das System. » Aufgrund von Sachgruppen, die der Nutzer selbst definieren kann, » Das Suchen eines Choralsatzes, kann eine auf die Bedürfnisse des beispielsweise aus einem Sammel- jeweiligen Benutzers zugeschnit- band, ist so einfach wie nie zuvor: tene Suchfunktion erstellt werden. Durch das Hineinkopieren des In- haltsverzeichnisses (findet sich fast » Jedes Benutzerkonto kann mit immer bei Google) kann durch ei- unterschiedlichen Rechten aus- nen Klick der entsprechende Satz gestattet werden. So kann bei- gefunden werden. spielsweis das Notenwart-Team die Ausleihe und Rückgabe ver- » In den einzelnen Datensätzen antworten und Barcodes drucken, kann zudem ein Link eingefügt Chorsänger hingegen können nur werden zu einer Webseite oder ei- ausleihen. Der Administrator ver- nem digitalen Speicherort in einer waltet die Berechtigungen der Be- Cloud o.ä. Dort wurden Scans von nutzer. sämtlichen gemeinfrei zugängli- chen Noten hinterlegt; somit kann Fertiges Endprodukt: Signatur und Bar- » Im Benutzeraccount wird mit einem Klick auch auf das in- code wurden auf die Noten aufgeklebt. durch die hinterlegte E-Mailadres- ventarisierte Notenmaterial zuge- se eine Erinnerung an die Nutzer griffen werden.

Kirchenmusik digital 37 Blick in die Notenbibliothek: Neben dem Cover wird der verfügbare Bestand angezeigt. Auf der linken Seite kann der Suchbe- griff „Bach“ zudem weiter in Sachgruppen verfeinert werden.

Fazit Die Suchfunktionen und Kate- tisch wäre es also, wenn sich sämt- gorien erlauben zudem einen liche Kantorate einer Stadt oder Bereits nach einem Jahr ist ab- virtuellen Rundgang durch den gar eines Bezirkes zusammentun zusehen, dass sich die nicht un- Notenschrank und helfen bei der würden? Der zugegebenermaßen erheblichen monatlichen Kosten Konzertplanung. Ein zusätzlicher nicht geringe Arbeitsaufwand der Software auszahlen. Zum Gang zum Notenschrank bleibt er- würde sich in jedem Falle finan- einen habe ich als Kantor nun je- spart. ziell auszahlen, wenn viele Kir- derzeit einen genauen Überblick Der monatliche Mietpreis für die chenmusiker untereinander auf über die vorhandene Chorlitera- Software bewegt sich in etwa im die verschiedenen Notenbestände tur und die Anzahl und Ausgabe Rahmen der Jahreslizenz eines zugreifen könnten. der vorhandenen Exemplare und Office-Paketes und muss daher gut Die digitale Notenbibliothek der zum anderen hat sich der übliche überlegt sein. Wie bereits erwähnt, Christuskirche Karlsruhe ist seit „Notenschwund“ auf ein absolutes werden außer Zeitaufwand auch wenigen Tagen auch über die Minimum reduziert, da sämtliche mancherlei Kosten eingespart, da Homepage http://www.christus- Ausleihvorgänge exakt zurückver- im Grunde keinerlei Fehlexempla- kirche-karlsruhe.de/notenbib- folgt werden können. re zu beklagen sind. liothek abrufbar. Hier kann nun Als empfehlenswert könnte sich wie in einer Online-Suchmaschine zudem die Funktion erweisen, der komplette Notenbestand ein- mehrere Bibliotheken zusammen- gesehen werden und nach Chor- zuschließen. Libreja ist technisch noten recherchiert werden. Über dazu in der Lage, in Datenbanken das Kontaktformular können dann von mehreren Libreja-Konten die Noten in Chorstärke kosten- gleichzeitig zu suchen. Wie prak- günstig ausgeliehen werden.

Peter Gortner studierte Kirchenmusik in Heidelberg und Chorleitung in Birmingham (UK) bei Prof. Simon Halsey und ist seit 2018 Kantor an der Christus- kirche Karlsruhe und Künstlerischer Leiter der Singschule Cantus Juvenum Karlsruhe e. V. Er ist zudem als Dozent für Chorleitung an der Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg tätig.

38 Kirchenmusik digital Das Verbot von Gemeindegesang in Zeiten der Corona-Krise – eine liturgietheologische Unmöglichkeit? von Markus Uhl

(dieser Artikel erschien zuerst in Musica Sacra 4/2020)

rstaunlich widerstandslos cessarius« bedeutet dabei nicht nur betraf auch die Sonntage der Os- konnten einige deutsche notwendig sondern auch erforder- terzeit und die Hochfeste Christi E Bistümer im Zuge der Wie- lich, unumgänglich, unentbehr- Himmelfahrt, Pfingsten, Dreifal- deraufnahme der Feier öffentli- lich, unvermeidlich, unausweich- tigkeit, Fronleichnam und Herz cher Gottesdienste im Mai den lich, dringend oder zwingend. Das Jesu. Wer könnte ernsthaft daran Gemeindegesang als Ganzes ver- »integralis« wird in der offiziellen zweifeln, dass diese Hochfeste, die bieten. Die Verunsicherung über deutschen Übersetzung leider nur den zweit- und dritthöchsten Fest- die Bedeutung der Aerosole beim mit dem Fremdwort integral wie- rang in der liturgischen Ordnung Singen war groß und noch größer dergegeben. Aber auch dieses Wort überhaupt einnehmen, anders als die Angst, dass sich das Corona- hat es in sich. Der Duden erklärt feierlich – sollenme – begangen Virus im Rahmen von öffentlich dazu: »zu einem Ganzen dazu- werden können? gefeierten Gottesdiensten verbrei- gehörend und es erst zu dem ma- Natürlich wurden Musik und ten könnte – mit all den daraus chend, was es Gesang nicht befürchteten negativen medialen ist.« Musik ist komplett ver- Folgen. Dennoch: kann ein Bischof also nicht nur » Ist es boten. Ein Kan- die Feier der Gottesdienste zulas- »notwendiger tor oder eine sen und gleichzeitig den Gemein- und integra- möglich, den Kantorin sowie degesang verbieten oder ist der ler Bestandteil eine Gruppe mit Gemeindegesang für die Feier der der feierlichen wenigen Einzel- Liturgie nicht genau so notwendig Liturgie«, eine Gemeinde- stimmen war wie die Hostie für die Messe? Formulierung, zugelassen und Ist es möglich, den Gemeindege- die jeder Theo- gesang als sollte vertre- sang als Ganzes zu verbieten? loge und jeder tungsweise den Musiker kennt. Ganzes zu Gemeindege- Ausgangspunkt für die Erörterung Nein, sie ist sang überneh- dieser Frage ist die Magna Char- absolut unent- men. Aber ist ta der Kirchenmusik, Artikel 112 behrlich, ja sie verbieten? « der Gemeinde- der Liturgiekonstitution »Sacro- macht die Litur- gesang wirklich sanctum Concilium« von 1963 gie überhaupt erst zur feierlichen als Ganzes delegierbar? und dessen Kernsatz, dass »[...] der Liturgie. Der Gesang ist liturgietheologisch mit dem Wort verbundene got- Nun galt das Verbot des Gemein- gesehen keine Spezialistenfähig- tesdienstliche Gesang einen not- degesangs in Corona-Zeiten nicht keit. Alle zur Liturgie versammel- wendigen und integrierenden Be- nur für den Donnerstag der 9. Wo- ten Personen sind dazu berufen, standteil der feierlichen Liturgie che im Jahreskreis, an dem man Li- sich singend zu beteiligen. Artikel ausmacht.« turgie nicht zwingend feierlich be- 113 der Liturgiekonstitution führt Im lateinischen Originaltext ste- gehen musste und tatsächlich mehr dazu aus: »Ihre vornehmste Form hen die zentralen Begriffe »neces- oder weniger ohne Gesang hätte nimmt die liturgische Handlung sariam« und »integralem«. »Ne- auskommen können. Das Verbot an, wenn der Gottesdienst feier-

Das Verbot von Gemeindegesang 39 lich mit Gesang gehalten wird [...] Jahrhunderts oder der Liturgiere- zelstimmen gesungen, existiert die und das Volk tätig teilnimmt.« In form des II. Vatikanischen Konzils, anwesende Gemeinde nur als zu- Artikel 118 wird die eifrige Pflege sondern Wesenselement der Litur- schauende, ausgeschlossene, nicht des Volksgesangs angemahnt, da- gie der Kirche von Anfang an. Li- beteiligte Masse und die actuosa mit »die Stimmen der Gläubigen turgie ist in ihrem innersten Kern participatio wird ad absurdum [...] bei den liturgischen Handlun- partizipierend und dialogisch an- geführt. Wird das Amen pragma- gen selbst gemäß den Richtlinien gelegt: »Wo zwei oder drei in mei- tischerweise nur gesprochen, han- und Vorschriften der Rubriken er- nem Namen versammelt sind, da delt es sich um eine nicht-feier- klingen können.« bin ich mitten unter Ihnen« (Mt liche Liturgie, die einem Hochfest Der Fokus bei der Frage nach dem 18,20). Eine gottesdienstliche Feier wie z.B. Pfingsten unangemessen Gemeindegesang liegt also in der mit nur einer Person ist streng ge- ist. actuosa participatio. In der Litur- nommen gar keine Liturgie, son- Vom Amen aus lassen sich nun giekonstitution erklärt Artikel 28 dern privates Gebet. In dieser dia- weitere Akklamationen, Rufe und das Grundprinzip der tätigen Teil- logischen Grundstruktur, in der Antiphonen ableiten, die ebenfalls nahme: »Bei den liturgischen Fei- mindestens zwei Personen not- nicht komplett delegierbar sind. ern soll jeder [...] in der Ausübung wendig sind, um Liturgie zu feiern, Es ist also offensichtlich, dass ein seiner Aufgabe nur das und all das bildet die zweite Person die Kern- grundsätzliches Verbot des Ge- tun, was ihm aus der Natur der Sa- zelle der Gemeinde, zu der dann meindegesangs auch in Corona- che und gemäß den liturgischen weitere Personen hinzutreten. Zeiten liturgietheologisch wider- Regeln zukommt.« Es gibt also Diese zweite Person aber ist essen- sinnig ist. Aufgaben, die nicht delegiert wer- ziell notwendig, denn nur sie kann den können, sondern von den ent- z.B. das Amen sprechen, das eine NOTWENDIGE EINSCHRÄN- sprechenden Rollenträgern, wie liturgische Handlung vervollstän- KUNGEN IN ZEITEN DER z.B. der Gemeinde, übernommen digt und abschließt. Dieses Amen CORONA-KRISE werden müssen. Die Liturgiekons- ist nun beispielhaft die Keimzel- titution betont die Verbindung le des Gemeindegesangs, denn in Um nicht missverstanden zu wer- von Gemeindegesang und tätiger der feierlichen Liturgie wird das den: selbstverständlich musste der Teilnahme in Artikel 30 explizit: Amen selbstverständlich nicht ge- Gemeindegesang eingeschränkt »Um die tätige Teilnahme zu för- sprochen, sondern gesungen. Im werden. Die wissenschaftliche dern, soll man den Akklamationen gesungenen Amen der Gemeinde Faktenlage im Blick auf das Singen des Volkes, den Antworten, [...] den konzentriert sich das Wesen des war und ist zu dünn, um beden- Antiphonen, den Liedern [...] Sorge Gemeindegesangs, der nicht de- kenlos das Singen einer größeren zuwenden.« legierbar ist. Wird dieses Amen Gruppe im gewohnten Umfang Die aktive Teilnahme der Gläu- nur von einem Kantor oder einer zuzulassen. Einige Diözesen haben bigen ist keine Erfindung des 20. Gesangsgruppe mit wenigen Ein- hierfür auch ganz sinnvolle Regeln

40 Das Verbot von Gemeindegesang gefunden, den Gemeindegesang Der Blick in die Realität zeigt lei- AUSWIRKUNGEN AUF DIE nicht als Ganzes zu verbieten und der, dass diese kirchenmusikali- MUSIKALISCHE dennoch deutlich einzuschränken. sche Herausforderung oft nicht GRUNDARCHITEKTUR DES Aber es gab keinerlei wissenschaft- im Ansatz angenommen wird. GOTTESDIENSTES liche Grundlage dafür, dass das Besonders deutlich wird das an zeitlich begrenzte Singen bei Ein- der in den letzten Wochen üblich Nimmt man die Einschränkungen haltung des Sicherheitsabstands gewordenen Praxis, bekannte Ge- ernst und verzichtet auf gewohnte in einem großen Kirchenraum meindelieder vom Kantor oder Gestaltungselemente wie z.B. die gesundheitlich problematisch sein einer Gesangsgruppe aus wenigen Liedformen, entsteht eine neue könnte. Beim Sprechen und Atmen Einzelstimmen singen zu lassen. musikalische Grundarchitektur werden ja ebenfalls Aerosole frei- Das ist sicher die unangemessenste des Gottesdienstes. Proportionen gesetzt, wenn auch nicht in dem- Form, mit dem Problem des ein- verschieben sich, dramaturgische selben Maß wie beim Singen. geschränkten Gemeindegesangs Höhepunkte müssen neu gesetzt umzugehen. Es muss unbedingt werden, an manchen Stellen wird Wie aber könnte nun so ein co- auf diejenigen Lieder verzichtet es heilsame Beschleunigungen ronakonformer, eingeschränkter werden, welche die Gemeinde aus- geben, an anderen Stellen lassen Gemeindegesang aussehen? Für wendig kennt und bei denen es sich neue musikalische Freiräume die Liturgie unverzichtbar sind, besonders reizvoll wäre mit ein- entdecken. Die Vielfalt der musi- wie oben gezeigt wurde, diejeni- zustimmen. Man stelle sich nur ein kalischen Formen rückt nahezu gen Gesänge der Gemeinde, die „Großer Gott wir loben dich” oder zwangsläufig in den Fokus und eine dialogische Grundstruktur auch nur ein gewöhnliches Sanc- sicher auch die eine oder ande- haben, also Akklamationen, Rufe, tus vor, das mit einem ausladenden re musikalische Perle, die bisher Antiphonen etc. Damit aber im Forte-Vorspiel des Organisten in- nicht im Blick war. Im besten Fall Verbund von reduziertem Ge- toniert und dann von ein paar we- haben diese Entdeckungen auch meindegesang, Kantoren- und nigen Stimmen – hauchzart vom noch positive Auswirkungen auf Ensemblegesang sowie Orgel- und Gedackt 8’ begleitet – gesungen die Zeit nach Corona. Ohne Auf- Instrumentalmusik ein stimmiger wird, um sich die Absurdität die- wand ist das alles allerdings nicht und ausgewogener Spannungs- ser Verfahrensweise vor Augen zu zu haben. Die Entwicklung solcher bogen entsteht und keine er- führen. musikalischen Programme und müdende Monokultur oder eine Auch der Kantor ist als Stellver- deren dramaturgische Antizipa- musikalische One-Man-Show, ist treter des gesamten Gemeindege- tion in der Vorbereitung braucht eine enorme kirchenmusikalische sangs gänzlich ungeeignet, denn deutlich mehr Zeit und Kreativität, Kreativität gefragt. vom Wesen seiner liturgischen als das bequeme Fortschreiben jah- Aufgabe her ist er auf ein Gegen- relanger Gewohnheiten. Aber die- über angewiesen. Wer soll ihm se Bemühungen lohnen sich und beim Antwortpsalm, beim Hal- können den diözesan Verantwort- leluja oder beim Kyrie antwor- lichen aufzeigen, dass es corona- ten, wenn nicht die Gemeinde? Er konforme musikalische Lösungen selbst? – leider ist bis in die hohen für die aktuelle Situation gibt, die Domkirchen hinein diese musika- liturgietheologische Grundlagen lisch und liturgisch widersinnige im Blick auf den Gemeindegesang Praxis weit verbreitet. nicht mit Füßen treten.

KMD Dr. Markus Uhl, geb. 1978, studierte Kirchenmusik und Konzertfach Orgel/Orgel- improvisation. Im Fach Musikwissenschaft wurde er zum Dr. phil. promoviert. Seit 2007 ist er Bezirkskantor der Erzdiözese Freiburg an der Jesui- tenkirche Heidelberg und unterrichtet an Hochschulen in Stuttgart, Heidelberg und Weimar u. a. Orgelimprovisation und Gregorianik. 2019 wurde er zum Kirchenmusikdirektor (KMD) ernannt.

Das Verbot von Gemeindegesang 41 Das kontrapunktische Spätwerk Johann Sebastian Bachs

Als im März 2020 pandemiebedingt der Durchführungsmodus des Sommersemesters an der Hochschule für Kirchenmusik noch unklar war, entschied Orgeldozent Christoph Bornheimer, zum ursprünglichen Semesterstart – zunächst bis auf weiteres – ein wöchentliches Online-Seminar über das Spätwerk Johann Sebastian Bachs für interessierte Studierende anzubieten. Am Vormittag des 30. März fand über die Plattform Zoom die erste Sitzung statt – und war damit der Startschuss und Beispiel für viele digitale Gruppen und Veranstaltungen, die an der ganzen Hochschule folgen sollten.

von Christoph Bornheimer

us unserem anfänglichen Spätwerk, die in dieser konzent- CORRESPONDIERENDE Versuch, über das da- rierten Form vermutlich außer- SOCIETÄT DER MUSICALISCHEN A mals für uns noch neue halb der Corona-Zeit schwer zu WISSENSCHAFTEN Medium eine Beschäftigung mit erreichen gewesen wäre. Musik und den Kontakt unter- Inhaltlich beschäftigten wir uns Die Correspondierende Societät der einander aufrecht zu erhalten, mit Analyse und Tonsatz, aber musicalischen Wissenschaften wur- wurde mit der Zeit ein das ganze auch mit weiteren Aspekten wie de 1738 durch den Philosophen, Semester andauerndes Unterfan- der Quellenlage und der Systema- Universalgelehrten und Bach- gen mit passenderweise insgesamt tik verschiedener kontrapunkti- Schüler Lorenz Christoph Mizler 14 Terminen. Es ermöglichte allen scher Formen. In diesem Bericht (1711-1778) gegründet und stellte Beteiligten – darunter nicht nur möchte ich einerseits das Themen- gewissermaßen die erste musik- aktuelle, sondern auch ehemalige feld skizzieren und seine Relevanz wissenschaftliche Gesellschaft Studierende – weitreichende neue verdeutlichen, andererseits aber Deutschlands dar. Erklärtes Ziel Erkenntnisse und auch eine Art auch anhand zweier Beispiele ver- vor dem Hintergrund der aufklä- der Auseinandersetzung mit Bachs tiefen. rerischen Philosophie Christian Wolffs war die Synthese philoso- phischer, theologischer und musi- kalischer Gedanken (musico theolo- gia). Der Societät gehörten unter ande- rem Carl Heinrich Graun, Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann und Gottfried Heinrich Stölzel an, ab 1747 auch . Die Canonischen Veränderungen über ein Weihnachts- lied BWV 769 verfasste er zu sei- nem Eintritt in die Societät. Auch das berühmte Bach-Portrait Elias Gottlob Haußmanns (Abb. 1) ent- Im Zoom-Meeting: durch das Online-Format konnten auch ehemalige Studierende stand anlässlich seines Eintritts teilnehmen, die inzwischen in aller Welt wohnen. – es zeigt eine Variante des Rätsel-

42 Kontrapunktisches Spätwerk Bachs meaus entstand, die mit dem Pos- sie scheinen sich zu fliehen - und tulat eines Fundamentalbasses auf haben sich, eh’ man es denkt, ge- eine neue Weise die Qualität von funden“, verhalten sich nicht nur Akkordverbindungen in den Mit- Natur und Kunst zueinander nur telpunkt rückte und damit sowohl scheinbar widersprüchlich, son- Ausdruck eines neuen Tonalitäts- dern auch Begrenzung und Frei- verständnisses war, als auch den heit. Dass sich der Meister erst Anspruch hatte, dieses auf eine in der Beschränkung zeigt, lässt rationale Grundlage zu stellen, sich dabei durchaus auf zweier- gingen die Bestrebungen Johann lei Weise verstehen: Zum einen ist Sebastian Bachs und der Societäts- nur ein Meister in der Lage, aus mitglieder unter anderem durch der Beschränkung ein Kunstwerk die intensive Beschäftigung mit zu erschaffen, und zum anderen dem Kontrapunkt in eine ganz an- kennzeichnet eben genau die selbst dere Richtung, die aber ebenso den gewählte Beschränkung einen Geist der Aufklärung verkörperte. Meister. Dabei handelte es sich nur vor- Freiheiten, die durch Beschrän- dergründig um eine „antike“ The- kung entstehen und nur durch sol- matik oder gar ein restauratives che überhaupt entstehen können, Anliegen, wenngleich es zunächst zeigen sich im komplexen Kontra- auch darum ging, die großen Er- punkt des Spätwerks Bachs ganz rungenschaften des Kontrapunkts augenscheinlich: Es bilden sich nicht dem Verfall preiszugeben. eigenwillige wie prägnante mu- So nahm unter anderem Lorenz sikalische Gestalten und Tonfälle Christoph Mizler 1742 die erste heraus, die unmittelbar aus den ▶ Abb. 1 Das bekannte Portrait Bachs deutsche Übersetzung des Kon- Sachzwängen der verwendeten von E. G. Haußmann: Kaum einer weiß, trapunktlehrwerkes Gradus ad kontrapunktischen Modelle her- was die Vergrößerung der Notenseite parnassum von Johann Joseph Fux vorgehen. offenbart. vor, das in Dialogform und in latei- nischer Sprache den Kontrapunkt kanons Canons triplex a 6 Voci BWV im alten Stil erörterte und das Ge- 1076. nerationen von Komponisten bis In Bezug auf das Musikalische Op- weit in die Romantik hinein präg- fer BWV 1079 (1747) und die Kunst te.1 Doch über den Beweggrund der Fuge BWV 1080 (komponiert der Bewahrung dieser Kunstform ca. 1740-1749) sind nach jetzigem hinaus existieren noch weitere Forschungsstand noch keine ex- Aspekte, die das ausgeprägte Inter- pliziten Verbindungen zur Societät esse der Societätsmitglieder an ihr nachgewiesen, inhaltlich und zeit- bestimmen. lich sind sie jedoch unmittelbar de- ren Umfeld zuzuordnen. Typisch In der Beschränkung zeigt sich erst für diese Werke sind – wie allge- der Meister – und das Gesetz nur mein bekannt – sehr anspruchs- kann uns Freiheit geben. volle kontrapunktische Vorhaben, bei deren keineswegs konstruiert Dieses Zitat, mit dem ein Sonett klingender Lösung sich Bachs gro- ohne Titel (1800) Johann Wolf- ße kompositorische Meisterschaft gang von Goethes endet, artiku- zeigt. liert einen für das künstlerische Während in Frankreich zur Zeit Schaffen wesentlichen Gedanken. ▶ Abb. 2 Die Titelseite der deutschen Erstausgabe von „Gradus ad Parnas- der Aufklärung etwa die Harmo- Wie Goethe zu Beginn seines So- sum“ (J. J. Fux) nielehre (1722) Jean-Philippe Ra- netts schreibt „Natur und Kunst,

1 Es ist beispielsweise überliefert, dass der von Johannes Brahms sehr geschätzte Kontrapunktlehrer Gustav Nottebohm nach Fux unterrichtete.

Kontrapunktisches Spätwerk Bachs 43 An der Auseinandersetzung mit zweier Varianten des Satzprinzips Mit Hilfe von Imitationsinter- diesen Werken sind gleich mehre- „Cantus firmus plus Kanon“ zei- vall (hier: Unterquart, d.h. -4) und re Aspekte interessant: gen. Bei dem gezeigten Material c.f.-Schritt (hier: -2) lässt sich vo- handelt es sich um Auszüge aus raussagen, wie sich ein Original- 1. Die Werke selbst in ihrer aus- der 2., 3. und 11. Sitzung unseres intervall a zwischen c.f. und erster komponierten Form. Seminars. Stimme (hier: Oktave) in ein Ab- bildungsintervall b zwischen c.f. 2. Der Versuch der (Re-)Kons- und zweiter Stimme (hier: Sexte) truktion von Kompositions- CANONISCHE verändern wird. Solche Umwand- prozessen, da dieser VERÄNDERUNGEN: CANTUS FIRMUS + KANON lungen lassen sich in Bezug auf ein a. Aufschluss gibt über kont- bestimmtes Imitationsintervall ta- rapunktische Arbeitswei- Das Satzprinzip, einen gegebenen bellarisch zusammenfassen2 (rech- sen und Problemlösungen Cantus firmus mit einem Kanon te Seite, Abb. 4). überhaupt. zu begleiten, kommt im Spätwerk b. kontrapunktische Sach- Bachs mehrfach zur Anwendung: In den Spalten dieser Tabelle wird zwänge offenbart, die jeweils eine c.f.-Fortschreitung vermuten lassen, welche be- » mit einfachem Kanon in den dargestellt. So existiert für die ab- wussten ästhetischen Ent- Variationen 1-3 der Canonischen steigende Sekunde nicht nur die scheidungen Bach vor dem Veränderungen und in den Kanons bereits beschriebene Intervall- Hintergrund des Möglichen Nr. 2, 5 und 7 des Musikalischen transformation 86 (Oktave-Sex- getroffen haben könnte. Opfers, dabei c.f. als Ober-, Mittel- te) – den im Notenbeispiel darge- Aufgrund der vorliegenden oder Unterstimme stellten Einzelfall habe ich in der Sachzwänge ist dabei der Tabelle rot umrandet –, sondern Rekonstruktionsversuch eines » mit Umkehrungskanon in Ka- darüber hinaus wären beispiels- Kompositionsprozesses in non Nr. 3 des Musikalischen Opfers weise auch 53 (Quinte-Terz) oder Bezug auf solche ästhetischen 38 (Terz-Oktave) möglich. Entscheidungen deutlich auf- » mit Augmentationskanon in Die farbigen Umrandungen zeigen schlussreicher als bei freieren Variation 4 der Canonischen Verän- ebenso auch die Qualität der Inter- Formen. derungen valltransformationen. Wechsel von vollkommenen und unvollkom- c. die oft postulierte Geniali- » mit Augmentationskanon in menen Konsonanzen sind grün tät des Spätwerks nachvoll- Umkehrung in Kanon Nr. 4 des umrandet, da diese satztechnisch ziehbarer macht und mit Musikalischen Opfers besonders vorteilhaft sind. Von stichhaltigen Argumenten Nachteil sind hingegen Quarten, untermauert. Dabei ist das Grundprinzip eines da diese als Dissonanzen behandelt einfachen Kanons recht schnell er- werden müssen. Während unserer Sitzungen hat klärt. Wie die Tabelle zeigt, existiert je- gerade der zweite Aspekt, die (Re-) weils für jede c.f.-Fortschreitung Konstruktion von Kompositions- mindestens eine brauchbare Lö- prozessen, immer mehr an Bedeu- sung – das gilt so auch für alle Imi- tung gewonnen. Dazu ist natürlich tationsintervalle. Problematisch gleich vorweg anzumerken, dass kann es jedoch dann werden, wenn Rekonstruktionen niemals den eine ungünstige Folge von c.f.- Anspruch haben können, einen tat- Schritten vorliegt, insbesondere, sächlichen Kompositionsprozess wenn mehrfach ein c.f.-Schritt mit abzubilden, dass sich aus ihnen wenigen/sich schlecht ergänzen- im Sinne einer „möglichen Reali- den Lösungsmöglichkeiten hinter- tät“ jedoch ein großer Erkenntnis- ▶ Abb. 3 Intervallbeziehungen im einander wiederholt wird. gewinn eröffnet. Dies möchte ich Modell „Cantus firmus + Kanon“ Der Cantus firmus „Vom Himmel im Folgenden beispielhaft anhand hoch“ enthält wie viele Choral-

2 Die beiden in diesen Beitrag eingebundenen Tabellen wurden durch ein von mir verfasstes Script erzeugt, das einen unkomplizier- ten Vergleich verschiedener Imitationsintervalle im Modell „Cantus firmus plus Kanon“ erlaubt.

44 Kontrapunktisches Spätwerk Bachs melodien etwa mehrere längere Folgen ab- und aufsteigender Se- kunden hintereinander, was bei- spielsweise im nur scheinbar ein- fachen Unteroktavkanon der 1. Variation der Canonischen Verän- derungen durchaus problematisch ist (Abb. 5).

Während beim ersten absteigen- den Sekundschritt (siehe Spalte „-2“) noch die Intervalltransforma- tion 56 angewendet werden kann, wird es danach schwierig: Zur der über dem zweiten Ton dann ste- henden Sexte ergänzt sich die Terz ▶ Abb. 4 Intervalltransformationen im Modell „Cantus firmus + Kanon“ mit Unter- von 34 noch gut, wird aber über quartimitation und Cantus firmus als Unterstimme dem dritten Ton anschließend zur dissonanten Quarte. In Noten dar- gestellt sieht das so aus:

▶ Abb. 6

Aufsteigende Sekundschritte, die ebenfalls im gewählten c.f. als ▶ Abb. 5 Intervalltransformationen im Modell „Cantus firmus + Kanon“ mit Unter- Folge vorkommen, sind fast noch oktavimitation und Cantus firmus als Unterstimme problematischer (siehe Spalte „+2“, dort existiert als gute Lösung le- diglich die Intervalltransformation 65).

Was im 1:1-Satz nicht funktionie- Für die eigene Ausarbeitung einer hier gezeigten zu beginnen. Kom- ren würde, löst Bach jedoch im solchen Form können aus den hier positorische Einfälle, die dort aus diminuierten Satz wunderbar mit geschilderten Betrachtungen zwei Sachzwängen entstehen, können Hilfe von Vorhaltsbildungen (a), Rückschlüsse gezogen werden: in den darauffolgenden Komposi- Pausen/Auftakten (b) sowie rhyth- Zum einen lohnt es sich, im ersten tionsschritten im Sinne motivisch- mischer Anpassung des Cantus fir- Kompositionsschritt („Dispositio“), thematischer Einheit auch andern- mus (c) auf (nächste Seite, Abb. 7). den Cantus firmus genau zu unter- orts verwendet werden. Sowohl diese Art der Problem- suchen und zu ermitteln, welches Dennoch sind die hier anzutref- lösung, als auch der abstrakte Ge- Kanonmodell gut geeignet ist – fenden Schwierigkeiten im Ver- rüstsatz des Kanons erfordern eine und zum anderen ist es sinnvoll, in gleich zu der Komplexität eines sehr reichhaltige Diminution des- der kontrapunktischen Ausarbei- Umkehrungs- oder Augmentati- selben, um zu einer musikalisch tung („Elaboratio“) zunächst mit onskanons verhältnismäßig gering. gehaltvollen Gestalt zu gelangen. problematischen Stellen wie den

Kontrapunktisches Spätwerk Bachs 45 ▶ Abb. 7 „Canonische Veränderungen“, T. 2-8; T. 8; T. 14-16

MUSIKALISCHES OPFER: THEMA REGIUM + UMKEHRUNGSKANON

Im Umkehrungskanon werden In- Möglichkeiten eingeschränkt, je- ton die möglichen Gerüsttöne der tervalle um eine festgelegte Achse doch wesentlich gravierender als ersten Kanonstimme, direkt dane- (die entweder auf einem Ton oder bei einem einfachen Kanon, da ben unter dem nächsten Themen- zwischen zwei Tönen liegt) gespie- hier nicht die relativen Intervall- ton dann deren Umkehrungen, die gelt. Bei dem Umkehrungskanon beziehungen entscheidend sind, das potenzielle Gerüst der zweiten von Kanon Nr. 3 des Musikalischen sondern konkrete Töne. Kanonstimme bilden. Grundsätz- Opfers liegt die Achse genau auf es‘: Das folgende Notenbeispiel stellt lich ergeben sich die möglichen einen hypothetischen ersten Kom- Gerüsttöne aus der Schnittmenge positionsschritt des Modells „Can- der umkehrbaren Konsonanzen tus firmus plus Umkehrungska- um zwei benachbarte (d.h. auf non“ dar. Da der Einsatzabstand übernächster Viertelposition ste- der beiden Stimmen eine halbe hender) Thementöne (rechte Seite, ▶ Abb. 8 Achse von Kanon Nr. 3 Note beträgt, befindet sich die Ab- Abb. 9). bildung der ersten Stimme jeweils Wenn in der ersten Stimme z.B. der auf der übernächsten Viertelposi- Der nächste Schritt bestünde Ton c‘ erscheint, so wird dieser in tion – daher habe ich das Thema nun darin, aus diesen möglichen der zweiten Stimme als g‘ abgebil- regium (schwarze Noten) in zwei Gerüsttönen eine musikalisch det, und so weiter. Auch hier sind Ebenen (obere/untere Notenzeile) sinnvolle Auswahl zu treffen. durch den Cantus firmus, bzw. in unterteilt. Bei diesen stehen je- Kriterien dafür sind das Zustande- diesem Fall das Thema regium, die weils rechts neben einem Themen- kommen von Dreiklängen (dafür

46 Kontrapunktisches Spätwerk Bachs ▶ Abb. 9 Kanon Nr. 3: Mögliche Gerüsttöne müssen konkret jeweils die unter Johann Sebastian Bach hat sich für Dieses auf den ersten Blick sper- bzw. rechts neben einem Themen- die nachfolgend notierten Gerüst- rige Gerüst lässt sich ebenfalls mit ton stehenden Gerüsttöne mitein- töne entschieden (zunächst in Aus- umfangreicher Diminution in mu- ander abgeglichen werden) sowie arbeitungs-, dann in Partiturnota- sikalisch ausdrucksstarke Gestal- dem übergeordnet ein harmonisch tion; Abb. 10). ten überführen (Abb. 11). sinnvoller Verlauf.

▶ Abb. 10 Kanon Nr. 3: Ausarbeitungs- und Partiturnotation

▶ Abb. 11 Kanon Nr. 3: Originalnotation

Kontrapunktisches Spätwerk Bachs 47 Das Prinzip dieses Kanons haben wir im Rahmen des Seminars auch versucht, auf das Grundthema der Kunst der Fuge zu übertragen. Beispielhaft sei hier eine Ausarbeitung von Christian D. Karl angeführt:

▶ Abb. 12 Ausarbeitung von Christian David Karl

48 Kontrapunktisches Spätwerk Bachs AUSBLICK

Bereits an diesen beiden Beispie- In Bezug auf ein weiteres Beispiel, allerdings noch aus und ich hoffe, len zeigt sich, dass die Einzelsätze den mehrfachen Kontrapunkt dass dieser Beitrag zeigt, dass noch in Johann Sebastian Bachs Spät- der Contrapuncti VIII und XI der Neuland zu erschließen ist und werk sehr unterschiedliche syste- Kunst der Fuge, habe ich das am 3. dazu anregt! matische Voraussetzungen haben Oktober 2020 in meinem Vortrag Mein großer Dank gilt den am Se- – vordergründig ähnlich aussehen- auf dem Jahreskongress der Gesell- minar beteiligten Studierenden für de Formen wie in unserem Fall die schaft für Musiktheorie (GMTH) ihr anhaltendes Interesse und ihre Modelle einfacher Kanon/Um- gezeigt (eine Videoaufzeichnung ausdauernde Mitarbeit, wodurch kehrungskanon zu einem gegebe- davon ist über meine Website auch mein Verständnis der bespro- nen Cantus firmus erfordern sehr www.christoph-bornheimer.de chenen Werke sehr stark profitiert unterschiedliche kompositorische abrufbar). In vielen weiteren Fäl- hat. Herangehensweisen. len stehen solche Untersuchungen

Christoph Bornheimer, geboren 1988 in Darmstadt, studierte Kirchenmusik, Musiktheorie und Orgel in Heidelberg, Hannover und Detmold. Das Konzertexa- men Orgel schloss er 2015 mit Auszeichnung ab. Aktuell ist er Dozent für Orgel/Orgelimprovisation und Musiktheo- rie/Gehörbildung an der Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg, der Hochschule für Musik Würzburg und der Universität der Künste Berlin. Darüber hinaus ist er als Kirchenmusiker und Organist an den historischen Orgeln der Christuskirche Heidelberg tätig.

Freundeskreis der Hochschule Werden Sie Mitglied des Freundeskreises für Kirchenmusik Heidelberg und stärken Sie die Arbeit der Institution und da- mit den Standort Heidelberg als bedeutendes kir- Die Hochschule für Kirchenmusik bringt künst- chenmusikalisches Ausbildungszentrum. lerische Exzellenz und gemeindepraktische Kompetenz zusammen. Angehende Kirchen- musiker*innen erleben hier kleine Gruppen, Ihre Mitgliedschaft individuelle Förderung und die Möglichkeit, ihren Von uns erhalten Sie regelmäßig Informationen über das Hochschulleben und freien Eintritt zu Das familiäre Umfeld bietet darüber hinaus die unseren Konzerten, außerdem vergünstigte Teil- Sicherheit, sich im geschützten Raum auszupro- nahmegebühren für Bildungsangebote der Hoch- schule und der Akademie für Kirchenmusik. Für - Ihre Spende bekommen Sie selbstverständlich deutung der Musik für die Kirche wollen wir dieses stets eine Zuwendungsbescheinigung und ein Ausbildungsangebot vertiefen und erweitern. herzliches Dankeschön sowieso!

Wir laden Sie herzlich ein, dem Freundeskreis Ihre der Hochschule beizutreten und damit unsere Ausbildungsarbeit zu unterstützen. Mit Ihrer Hilfe können wir Studierenden über das Curriculum hinaus beispielsweise Stipendien gewähren und Prof. Tine Wiechmann Vorsitzende des Freundeskreises der HfK Notenanschaffungen erleichtern. Auch die Teil- nahme an Klassenfahrten sowie auswärtigen Kursen und Seminaren werd en so gefördert.

Kontrapunktisches Spätwerk Bachs 49 Musica sacra – weitergedacht

von Kord Michaelis

Als im März Corona über uns nicht. Dass alles, was mit Kunst ohne jede Rücksprache mit ihren hereinbrach, haben wir alle kein zusammenhängt, dazu in unserem kirchenmusikalischen Fachleuten rechtes Gefühl dafür gehabt, was Land eher nicht gehört, ist unüber- gegenüber der Politik ein gene- es bedeuten würde, wenn ein Land sehbar und macht mir Sorge. relles Singverbot in der Evangeli- seinen Betrieb einstellt. Ziemlich Neben dieser eher materiellen schen Kirche aushandeln würden. schnell wurde klar, dass dies im- Wahrheit ist aber leider auch eine Ich habe es in dieser Form nicht mense wirtschaftliche Folgen hat Wahrheit in den Köpfen unüber- geahnt, dass Journalisten landauf, und auch, dass es Freiberufler här- sehbar geworden: Kunst und Mu- landab immer dann, wenn unter ter treffen würde, als Menschen in sik sind nicht nur tendenziell pre- anderem gemeinsames Singen ur- gesicherten Anstellungsverhältnis- kär bezahlt, sondern beides wird in sächlich für Infektionsereignis- sen. Inzwischen, nach einigen Mo- Gesellschaft und Politik, wenn es se sein konnte, genau dies in die naten der Beobachtung, habe ich eng wird, auch schlichtweg über- Schlagzeile heben würden. Und ich aber den Eindruck, dass Corona sehen. Die Politik hat eine Weile habe nicht gedacht, dass es bis heu- eine große Menge von „Wahrhei- gebraucht, bis sie verstanden hat, te Kirchen und Bundesländer gibt, ten“ ans Licht gebracht hat – und dass ihre anfängliche Corona-So- in denen schlichtweg Singverbote für uns, also für diejenigen, die forthilfe an Freiberuflern, die als ausgesprochen werden, obgleich sich den Themen Kirche und Kir- 1-Mann-Betrieb oder 1-Frau-Be- man in anderen Zusammenhängen chenmusik verschrieben haben trieb arbeiten, konzeptionell gänz- durchaus bereit ist, wohlabgewo- und überhaupt dem Künstleri- lich vorbeigegangen wäre. Schul- gene Risiken einzugehen. Unsere schen, sind es eher unangenehme chöre, Orchester, Big Bands und Bundeskanzlerin kam sogar sym- Wahrheiten. sogar der Musikunterricht selbst pathisch rüber, als sie Anfang Juni Das beginnt damit, dass in Krisen- sind mit einem überraschenden bei „Was nun Frau Merkel?“ im zeiten deutlich wird, dass schein- Federstrich einer Kultusministerin, ZDF sinngemäß sagte: „Sehen Sie, bar kleine formale Unterschiede, die als Spitzenkandidatin der lang- im März hat sich niemand vor- die von den Verantwortlichen in jährigsten Regierungspartei unse- stellen können, aufs Singen zu ver- Politik und auch in der Kirche res Bundeslandes in den Landtags- zichten; aber wir haben es dennoch gerne „weggelächelt“ werden, sehr wahlkampf zieht, quasi aus dem gemacht – und jetzt wissen wir alle, wohl eine Rolle spielen. Sozialver- Schulleben des nächsten Schul- es war richtig…“. Stimmt. Nur: Ihr sichert oder nicht, fest angestellt jahrs gestrichen worden – und sie politischer Instinkt hätte nie zu- oder nicht, befristet beschäftigt fürchtet offenbar nicht einmal um gelassen, dasselbe übers Fliegen oder unbefristet, als Angestellte ihre Wahlchancen, weil die Eltern- zu sagen, denn sie hätte gewusst, oder im Beamtenverhältnis, im klientel, die daran Interesse hat, statt beifällig nickender Fernseh- Stellenplan fest verankert oder nur offenbar als wenig relevant einge- zuschauer am nächsten Tag unan- aus Sondertöpfen finanziert: All schätzt wird. genehmen Besuch von der Lobby das ist weniger wichtig in „fetten Die gefährlichste Corona-Wahr- der Luftverkehrsgesellschaften zu Jahren“, aber es ist relevant, wenn heit war für mich aber zu erleben, bekommen … Systeme in die Krise kommen. Und wie zum Thema „Singen“ gedacht, Wenn ich diese Corona-Wahrhei- zu den Corona-Wahrheiten gehört geschrieben und gehandelt wurde. ten versuche zu deuten, fällt mir zu sehen, welche Berufsstände und Ich habe es in dieser Schärfe nicht ein Abschnitt der antiken Musik- Personen sich als systemrelevant kommen sehen, dass plötzlich lei- geschichte ein, der mir bisher nicht etablieren konnten und welche tende Theolog*innen der EKD viel gesagt hatte: Nämlich die

50 Musica sacra weitergedacht Unterscheidung zwischen „Apolli- kaum messbare Luftbewegungen es goldrichtig war, in unserer badi- nischem Kult“ und „Dionysischem außerhalb des Instruments auslö- schen Landeskirche für eine feste Kult“. Während das Lyraspiel dem sen. Aber während ich diese Zeilen Verankerung aller Kantoratsstel- Apollokult zugeordnet war, waren schreibe, müssen die Kirchenmu- len im landeskirchlichen Stellen- es Bläser beim Dionysus-Kult, der sikkollegen in der katholischen Di- plan zu sorgen. Darüber, dass wir mit rauschhaften Elementen spiel- özese Rottenburg-Stuttgart kraft uns in den kommenden Jahren, in te. Blasen und eben auch Singen – bischöflicher Anordnung immer denen die Kirche sich verkleinern das sind ganz offenkundig „Selbst- noch damit leben, dass Messfeiern und konzentrieren wird, nicht auf entäußerungen“ des Menschen, die neben der Orgel allenfalls von vier „Mogelpackungen“ einlassen dür- rauschhafte Züge haben können Bläser*innen (Sänger*innen sind fen, die es allen recht zu machen und auch auslösen können. Und es verboten) begleitet werden dür- versuchen. Sondern dass wir klar ist doch interessant zu sehen, dass fen, die 10 Meter Abstand von den und selbstbewusst vertreten müs- selbst in Bereichen, wo wir dies Gläubigen in Blasrichtung halten sen, dass mehr als die Hälfte aller Element des Rausches nun wirk- müssen – als wären Trompeten Besuche von Menschen in Evan- lich unter Kontrolle haben, näm- Aerosolweitwurfkatapulte! gelischen Gemeindehäusern auf lich in der Kirche, diese „Selbstent- Nun gilt aber für all diese Beobach- kirchenmusikalische Angebote zu- äußerung“ mit „Gefahr“ konnotiert tungen: Sie haben auch ihr Gutes. rückgehen – ausweislich der EKD- ist und assoziiert wurde: Jeder, der In meinem Kopf jedenfalls ist eini- Statistik und in ganz Deutschland! es wissen will, weiß inzwischen, ge Klarheit entstanden, nicht nur Es gibt keinen Grund zu denken, dass in Blechblasinstrumenten Ste- über künftige Wahlentscheidun- dass dies nur schöner Luxus und hende Wellen angeregt werden, die gen. Sondern auch darüber, dass notfalls verzichtbarer Zierrat zur

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Musica sacra weitergedacht 51 Leider nicht so harmlos: Gesang in Zeiten von Corona. Bildrechte: Bayrischer Rundfunk

Arbeit der Kirche ist – nein, in den Landesbehörden gute und keine „verlorene Generation“ von Deutschland IST das die Arbeit vernünftige Bedingungen fürs gut ausgebildeten Kirchenmusi- der Kirche, jedenfalls ein so großer Musizieren in der Kirche zu ver- ker*innen gibt, für die wir keine Teil davon, dass es absolut system- einbaren. Es geht uns, trotz aller Stellen hätten. Denn die Anzahl relevant ist! anstrengenden Einschränkungen, der Ruhestände, die in den nächs- Ich bin sehr froh, dass wir im Süd- im Südwesten recht gut! Und wir ten Jahren anstehen, ist so groß, westen es geschafft haben, sowohl wollen versuchen, die Sparmaß- dass wir auch als kleiner werden- innerkirchlich als auch gegenüber nahmen, die unsere Kirche nun vor de Kirche alle Begabungen junger sich hat, so zu gestalten, dass es Menschen brauchen werden!

LKMD Kord Michaelis war zunächst als Nachfolger von Rolf Schweizer Landeskantor in Pforzheim und in dieser Funktion auch Kantor und Organist an der dortigen Stadtkirche. Seit 2013 ist Kord Michaelis Landeskirchenmusikdirektor der Evange- lischen Landeskirche in Baden. Außerdem hat er das Amt des Präsi- denten der Direktorenkonferenz Kirchenmusik inne und ist einer der beiden Vizepräsidenten des Landesmusikrates Baden-Württemberg.

52 Musica sacra weitergedacht SPIRITUS MUSICAE SPIRITUS MUSICAE 2018 – 7. Heidelberger Summer School Was uns bewegt Zwei große Werke J. S. Bachs standen im Zentrum – die Matthäuspas- sion und die H-Moll-Messe. In den Jahren 2018 und 2019 fanden zum letztmalig unter Federführung von Prof. Bernd Stegmann die Heidel- berger Summerschools zu Musik und Religion statt. Damit wurde nun bereits acht Mal der Anspruch eingelöst, Musik und Religion auf vielfäl- tige Weise zu bedenken, verschiedene Perspektiven zusammenzubrin- gen und zu diskutieren. Im Folgenden sind Berichte und Vorträge abge- druckt, die einen Ausschnitt aus diesem Diskurs wiedergeben sollen.

von Bernd Stegmann

School 2018 unter das Motto »Was uns bewegt« zu stellen. Bewegung – das ist das Lebenselexier sowohl der Musik wie auch des Körpers und der Gedanken. Ohne Bewe- gung ist das menschliche Dasein insgesamt nicht vorstellbar – kör- perlich, geistig und emotional. Tanzen, Gedanken wälzen, zu Trä- nen gerührt sein sind einige dieser ie Konzeption der alljähr- Bewegungen. lich von der Hochschule Nun hat eine Einrichtung wie die D in Kooperation mit der Heidelberger Hochschule für Kir- Heidelberger Universität durch- chenmusik nur sehr begrenzte geführten Summer School war »Bordmittel«, um eine vielfälti- immer davon geleitet, an wech- ge Performance auf die Beine zu selnden Themen ausgerichtet zu stellen. Also war es immer auch sein, die eine interdisziplinäre eine Herausforderung, zusätzliche Plattform für Musik, Theologie Akteure zu akquirieren. Im Fall und Musikwissenschaft ermög- der 7. Summer School gelang so lichten. Im Laufe der Zeit kamen etwas durch die tolle Zusammen- weitere Aspekte hinzu wie fall- arbeit mit Wiebke Hoffmann und weise Kosmologie oder Literatur- ihrer Ballettwerkstatt in ungeahn- wissenschaft. Im Zentrum stan- ter Weise, wie die Veranstaltung den dabei stets die Konzerte. Dass »Orgel und Tanz« unter Beweis es immer wieder eine besondere stellte, in der von Gerhard Luch- Herausforderung war, ein Motto terhandt gespielte Werke von Bach zu kreieren, das in griffiger Form und Messiaen tänzerisch von einer den unterschiedlichen Anforde- viele Tänzerinnen umfassenden rungen gerecht wird, liegt auf der Kompanie dargestellt wurden. Die Hand. Umso glücklicher waren wir, Peterskirche verwandelte sich da- Silke Leopold, Helmut Schwier, bei in einen einzigen großen, von Martin Mautner und ich über die Licht und Bewegung durchfluteten Idee, die 7. Heidelberger Summer Raum. Daneben gab es Konzer-

54 Summer Schools te, welche die hauseigenen Kräfte Max-Planck-Instituts für Empiri- in ungewohnter Aktion zeigten. sche Ästhetik referierte über die Claudio Monteverdis »Il Combat- Studien seines Hauses und die timento di Tancredi e Clorinda« verblüffenden Ergebnisse. Er ana- wurde in höchst eindrucksvoller lysierte zunächst das Gefühl des Weise durch Wiebke Hoffmann Bewegtseins als solches und prä- und Paolo Amerio tänzerisch dar- sentierte dann empirische Unter- gestellt und von einem Ensemble suchungen dazu, was bewegende hochschuleigener Kräfte (Carmen Gedichte oder Filme bei ihren Buchert, Byungyong Yoo und Prof. Rezipienten bewirken. War dies Sebastian Hübner) halbszenisch eine Entzauberung von Kunst oder in der Peterskirche auf die »Büh- eher ein »Aha-Moment« für wis- ne« gebracht. Der Beifall für diese senschaftlich interessierte Künst- intensive und äußerst gelungene ler? Das Publikum hatte nach dem Darstellung war (wie schon für das Referat reichlichen Gesprächsstoff. Orgel-Tanz-Projekt) entsprechend Ein weiterer sehr ungewöhnlicher frenetisch. Vortrag handelte von der »Macht Auch das von Studierenden unse- der Musik« im Genre Film. Prof rer Hochschule geleitete A-cap- Silke Leopold stellte diverse Film- pella-Programm »With song and sequenzen vor, in denen die Musik dance« hatte es in sich und löste die Handlung in prägender Weise ungeteilte Begeisterung beim Pub- färbt und mit der Psyche des Be- likum aus. Einige Stücke wie Jake trachters spielt wie z.B. in »Shi- Runestads »Nyon Nyon« oder ning«, oder solche, die die Musik sein »Alleluja« wurden wegen der selbst zum Thema haben wie z.B. eingebauten Choreographie des »Farinelli«. Auch die berühmte Badischen Kammerchors auswen- Szene aus »Fitzcarraldo« mit dem dig gesungen. Ein wirklich »bewe- legendären Klaus Kinski und sei- gendes« Konzert war das, in dem nem Boot fahrenden Grammo- das Element der Bewegung – für phon durfte natürlich nicht fehlen. Chöre normalerweise eher un- Höhe- und Schlusspunkt der Kon- typisch – ganz wörtlich genom- zerte war dann die Aufführung men wurde. Im ersten Konzert der der Matthäuspassion von Johann Summer School nahm uns Matthi- Sebastian Bach. Wie kaum ein an- as Horn in einer tief berührenden deres Werk steht sie für das, was Interpretation mit auf Schuberts Musik bewegen kann. Sie rührt an »Winterreise«, eine Wanderung die tiefsten Schichten der Gefühle. durch eine winterliche Landschaft, Und da ist es egal, ob man sie Kar- eine Wanderung aber auch ins In- freitag hört oder – wie im Rahmen nere der Gefühle. Einen zu weite- der Summer School – im Som- rem Nachdenken animierenden mer. Vielleicht war es auch gerade Aspekt bekam der Liederabend gut, das große Passionsmonument durch die im Raum ausgestellten losgelöst von seinem gewohnten Portraitbilder von Obdachlosen Kontext zu erleben. Das gesamte und deren Originalzitate zu ihrem ausführende Ensemble aus Badi- »Unterwegssein«. schem Kammerchor, Heidelber- Aus dem reichhaltigen Tableau der ger Kantorei und L`Arpa Festante Vorträge seien zwei besonders her- zeigte sich jedenfalls in Höchst- vorgehoben: »Zu Tränen gerührt form und markierte den eindrück- / bewegt sein – Anatomie eines lichen Schlusspunkt dieses kleinen, Gefühls« Prof. Winfried Menning- aber dann doch auch großen Fes- haus, Direktor des Frankfurter tivals.

Summer Schools 55 Die biblische Matthäuspassion: bekannt und bewegend von Helmut Schwier

eine Aufgabe ist es, eine als schriftliche Vorlage benutzt wird dort in den Kapiteln 26 und kurze Einführung und und verändert. Mit großer Wahr- 27 erzählt; in Kap. 28 folgen die M einen Überblick über scheinlichkeit schrieb er Anfang Ostergeschichten. die Passionsgeschichte im Matthä- der 80er Jahre. Gut möglich ist, Wir sehen also: eine durchaus lange usevangelium zu geben. Dann wer- aber aus methodischen Gründen und komplexe Geschichte, litera- de ich in exemplarischer Auswahl nicht beweisbar, dass Grundzüge risch mitunter kunstvoll verzahnt zeigen, wo und wie Bewegendes der Passionsgeschichte schon dem und dramatisch auf die Kreuzigung und Emotionales im Bibeltext zur Markusevangelium schriftlich vor- zielend. Schon von Anfang an ist Sprache kommt. lagen, also frühestens in den 40er, allerdings auch deutlich: Matthä- wahrscheinlich später entstanden us erzählt die Passionsgeschichte DIE PASSIONSGESCHICHTE sind. Dafür spricht, dass alle vier gleichzeitig als eine Geschichte, NACH MATTHÄUS Evangelisten hier zumindest in die Gottes Heilsplan und seinem Grundzügen übereinstimmen. Willen entspricht, ohne dass da- Die älteste Darstellung des Wir- Die Abfolge der einzelnen Szenen durch die Protagonisten bzw. die kens Jesu samt der Passions- und ist bis auf wenige Detailunter- Antagonisten in ihrem Handeln Ostergeschichte hat der Evange- schiede gleich; große Unterschiede entlastet oder entschuldigt wären. list Markus verfasst. Mit großer gibt es erst in den Ostergeschich- Schauen wir uns nun Bewegendes Wahrscheinlichkeit stammt sie aus ten.1 an – und das heißt immer: Uns als dem Jahr 70 n. Chr., also rund 40 Verschaffen wir uns zunächst ei- Lesende und Hörende soll dies be- Jahre nach Jesu Tod. Matthäus hat nen Überblick über die Abfolge wegen. Das gelingt gut anhand der das Markusevangelium gekannt im Matthäusevangelium (s. Tafel verschiedenen Figuren bzw. Perso- und für seine eigene Darstellung rechts)! Die Passionsgeschichte nen der Geschichte.

1 Zur bibelkundlichen Gliederung und zu den exegetischen Details vgl. Matthias Konradt: Das Evangelium nach Matthäus, Göttin- gen 2015, bes. S.396-451. Diesem Kommentar verdanke ich wichtige Einsichten.

Bewegung konkret: Der Hochschulchor unter Leitung von Studentin Carla Braun begeistert mit ausgefeilter Choreographie zum Chorstück „Nyon Nyon“ des amerikanischen Komponisten Jake Runestad. Foto: Andrea Hadwiger

56 Summer Schools 26, 1-16: Einleitung: 1-5: Jesu Ankündigung seines Todes und Todesbeschluss der Gegner 6-13: Salbung in Bethanien 14-16: Verrat des Judas

26, 17-29: Jesu letztes Passahmahl

26, 30-25: Ankündigung der Zerstreuung der Jünger und der Verleugnung des Petrus

26, 36-56: Jesus in Gethsemane 36-46: Jesu Beten 47-56: Gefangennahme Jesu

26, 57-27, 2: Prozess vor dem Hohen Rat, Verleugnung des Petrus 57-58: Überleitung (Jesus und Petrus) 59-68: vor dem Hohen Rat und Verspottung 69-74: Verleugnung 27, 1-2: Todesbeschluss, Auslieferung an Pilatus

27, 3-10: Tod des Judas / Blutacker

27, 11-31: Prozess vor Pilatus und Verspottung 11-26: Prozess 27-31: Verspottung durch Soldaten

27, 32-56: Der gekreuzigte Gottessohn 32-34: Simon v. Kyrene, Golgatha 35-38: Kreuzigung, Kleider, zwei weitere Gekreuzigte (Räuber) 39-44: Verspottung durch Vorübergehende und die beiden Räuber 45-50: Finsternis, „mein Gott, warum hast du mich verlassen“, Essig- schwamm, Elia, Tod 51-53: Zeichen: Tempelvorhang, Erdbeben, Totenauferweckung 54: Bekenntnis des Hauptmanns: Gottes Sohn 55-56: Die Frauen schauen von ferne zu

27, 57-61: Grablegung

27, 62-66: Bewachung des Grabes

BEWEGENDE FIGUREN dass er gekreuzigt werde“ (Mt aber gerade nicht seine Mensch- 26,1f). Der große Lehrer Jesus, der lichkeit zum Ausdruck gebracht, Jesus, der souveräne Herr in den fünf langen Reden des Mat- sondern seine Hoheit. Der Men- thäusevangeliums (Mt 5-7; 10; 13; schensohn ist der von Gott beauf- Die Passionsgeschichte beginnt 18; 23-25) seine Lehre weitergibt, tragte Richter im Endgericht, aber erzählerisch lapidar: „Und es be- beendet dieses Lehren („alle diese – so erkennt die frühchristliche gab sich, als Jesus alle diese Reden Reden“) und sagt nun knapp und Theologie – er ist dies als Leiden- vollendet hatte, sprach er zu seinen schnörkellos die Auslieferung und der und Gekreuzigter. Bevor die Jüngern: Ihr wisst, dass in zwei Ta- Kreuzigung als unmittelbar bevor- Gegner beschließen, ihn zu töten gen Passa ist; und der Menschen- stehend voraus. Jesus ist der „Men- (Mt 26,3f), hat er es bereits ange- sohn wird überantwortet werden, schensohn“. Mit diesem Titel wird kündigt.

Summer Schools 57 Seine Hoheit und Souveräni- tät zeigt auch die nächste Szene. Gegenüber den rechthaberischen Jüngern verteidigt er die Salbung durch eine anonym bleibende Frau als ehrendes, tröstendes und vor- weggenommenes Zeichen seines Todes und seiner Bestattung (Mt 26,10-13). Ebenso ist er souve- rän in der Ankündigung der Zer- streuung der Jünger und der Ver- leugnung des Petrus (Mt 26,31f) wie in Voraussage des Verrats und Identifizierung des Verräters (Mt 26,21-25). Bis zur Gethsemane- Szene ist und bleibt Jesus der sou- veräne Herr. Er ist kein Opfer. Er gibt souverän und freiwillig – na- türlich durch innere Kämpfe hin- durch – sein Leben hin. Er ist und Bewegende Figuren: Paolo Amerio und Wiebke Hoffmann tanzen zu Monteverdis »Il bleibt stets der gehorsame Sohn Combattimento di Tancredi e Clorinda« in der Peterskirche. Foto: Danilo Floreani des Vaters. Dies findet einen deutlichen Kul- den. Dass die Vergebung eine zen- Gottverlassenheit aus Ps 22: „Mein minationspunkt in der Einsetzung trale Botschaft des Matthäus und Gott, mein Gott, warum hast du des Abendmahls (Mt 26,26-29). seiner Gottesdienstgemeinde ist, mich verlassen“ (Ps 22,2; Mk 15,34; Mt kennt auch die Abendmahls- sieht man auch am Vaterunser und Mt 27,46). Ähnlich wie das johan- tradition seiner Gemeinde und dessen Kontext in der Berg-pre- neische ecce homo lässt sich dies formuliert hier durchaus mit li- digt. Die Vergebungsbitte ist die deuten als Paradigma menschli- turgisch geläufiger Sprache und einzige Bitte im Gebet Jesu, in der chen Leidens bis in die letzte Tiefe, mit einer Fülle von Anspielungen wir reziprok zu Gott zum Handeln den letzten Abgrund. Wenn sogar auf alttestamentliche Motive. Als aufgefordert werden (Mt 6,11); Gott den Sterbenden verlassen hat, einziger der Evangelisten hebt er und die das Vaterunser abschlie- besteht überhaupt keine Hoffnung hervor, dass das Mahl, besonders ßenden Verse heben als einzigen mehr. Das ist nur noch nichts, nihil, der Kelch, den gewaltsamen Tod Inhalt nochmals die Vergebung absolute Sinnlosigkeit und Leere, Jesu zum Ausdruck bringt und da- und die menschliche Vergebungs- Nihilismus. bei als Ziel die Vergebung der Sün- bereitschaft bzw. Vergebungsnot- Jedoch gibt es bei Matthäus deut- den hat. Diese soteriologische, also wendigkeit hervor (Mt 6,14f): Wer lich andere Signale. Bei Markus eine auf Heil und Rettung zielende, als Christ nicht vergibt, dem wird lesen wir nach Jesu Tod nur noch Deutung markiert gleichzeitig die auch von Gott nicht vergeben. vom Zerreißen des Tempelvor- Bundeserneuerung und blickt auf Die Applikation der Vergebungs- hangs (Mk 15,38) und vom sog. das eschatologische Festmahl vor- botschaft geschieht bei Matthäus Bekenntnis des Hauptmanns, der aus. Jesu Tod für die Menschen ist durch Vaterunser und Mahlfeier nach dem Tod erklärt, dass Jesus nicht sein Ende, denn Gottes Herr- der Christen. Hierdurch bekennen Gottes Sohn war (Mk 15,39) – ein schaft setzt sich durch. sie den Lehrer und souveränen christliches oder sonst angemesse- In der Praxis der Kirche wird Herrn. Hier werden sie bewegt nes Bekenntnis ist dies aufgrund diese Zeichenhandlung als sakra- und sind in ihrer nicht nur litur- der Vergangenheitsform gerade mentales Gedächtnis bewahrt und gischen Praxis mitten drin in der nicht. Bei Matthäus werden die wöchentlich neu gefeiert. Der sou- Passionsgeschichte. Zeichen und Wunder nach dem veräne Herr ist der Geber und Stif- Die Hoheit Jesu bzw. seine hervor- Tod Jesu gesteigert: Ein Erdbeben ter dieses Mahles, und die Kirche gehobene Bedeutung zeigt sich geschieht (Mt 27,52), die Öffnung zwischen Gründonnerstag und auch am Ende der Passion. Wie von Gräbern und die Vorwegnah- der Vollendung der Zeit lebt und im Markusevangelium stirbt Jesus me von Auferweckung der Toten verkündet die Vergebung der Sün- bei Matthäus mit dem Schrei der wird berichtet (Mt 27,52f). Am

58 Summer Schools Ende steht nicht der einsame Tod Ob er beim Abendmahl, dem Ver- der erste der Jünger an seinen An- Jesu, von fast allen verlassen, ver- gebungsmahl, noch dabei ist? Mat- sprüchen. Schon früher als Verkör- spottet und verhöhnt bis zum thäus lässt es offen (Mt 26,26-29). perung des Kleinglaubens angese- Schluss. Nein, denn durch diesen In Gethsemane verrät Judas Jesus hen (Mt 14,28-31), scheitert hier Tod wird der Kosmos erschüttert durch einen Kuss (Mt 26,48f). Wird der Glaube völlig. Keine Hoffnung, und der göttliche Sieg über den der Verräter verflucht? Bereut er? keine Liebe, kein Vertrauen mehr! Tod schon im Vorausblick geahnt. Er gibt das Geld immerhin zurück, Aber immerhin Tränen! Kein Held, Der Tod ist real und brutal, aber er will alles rückgängig machen, was aber vielleicht gerade darin eine hat nicht das letzte und entschei- sich jedoch als unmöglich erweist Identifikationsfigur für Scheitern- dende Wort. So wie Gott die Ge- (Mt 27,3-5). Matthäus schreibt von de – im Kontext des Matthäus- rechten und Propheten auferweckt, der Reue des Judas und seiner Ein- evangeliums: für angefeindete und so weckt er auch Jesus auf und be- sicht in die Ausweglosigkeit. Am verfolgte Christen, die Mut zum siegt den Tod. Ende tötet der sich selbst. Der in Bekenntnis finden, dann aber auch den Tempel geworfene Judaslohn für zahlreiche andere Situationen Judas, ein geldgieriger Ver- wird als Blutgeld bezeichnet. Im des Scheiterns, der Ausweglosig- räter und mehr? Gegenüber und Gegensatz zum keit, der Angst. bereuenden Schurken sind und Jede gute Geschichte braucht Ge- bleiben die Hohepriester die un- Der wütende Mob – von Gott genspieler. Neben dem Hohen Rat barmherzigen, unbußfertigen bestraft? und Pilatus und der Volksmenge Gegner, eiskalt, ohne Emotion. ist es Judas. Er wird zum Verrä- Die Volksmenge vor Pilatus for- ter aus eigener Initiative und sein Petrus, der zur Buße bereite dert die Kreuzigung Jesu. Durch wichtigstes Motiv ist in der Dar- Verleugner Überredung durch die Hohepries- stellung des Matthäus die Geldgier ter schreien sie nach Barabbas, der (Mt 26,14-16); denn Judas fragt Auch Petrus, der Jünger, der Treue bei Matthäus übrigens mit Vorna- sofort nach dem Lohn des Ver- bis zum Tod versprach (Mt 26,33- men auch Jesus heißt (Mt 27,16), rats. Die 30 Silberlinge, die ihm 35), versagt jämmerlich. Im Innen- und brüllen immer neu im Blick die Hohenpriester anbieten, er- hof des Palastes hat er mehrere auf Jesus von Nazareth: „Lass ihn füllen einerseits die Schrift, sind Möglichkeiten, sich zu Jesus zu be- kreuzigen!“ (Mt 27,22). Der schwa- aber andererseits Ausdruck der kennen. Er leugnet, verleugnet sei- che Pilatus gibt nach. Als Macht- Geringschätzung seitens der Geg- nen Herrn. Als der Hahn kräht, er- politiker und historisch belegter ner. Denn nach Ex 21,32 ist diese kennt er sein Versagen und weint Feind der Juden wird es ihm auf Summe festgesetzt als Schadens- bitterlich (Mt 26,69-75): Tränen eine Kreuzigung mehr oder weni- ersatz für einen durch ein Rind der Reue, der Buße, aber auch der ger – selbst wenn es ein Unschul- versehentlich getöteten Sklaven. Verzweiflung. diger wäre – nicht ankommen. Der Besitzer des Rindes muss Matthäus weiß natürlich um die In diesem Kontext lesen wir einen dann dem Besitzer des Sklaven große Bedeutung des Petrus für Vers, der nur bei Matthäus steht 30 Silberschekel bezahlen. Diese das frühe Christentum. Im Mar- und der eine dramatische Wir- Geringschätzung Jesu als Sklave kusevangelium wurde er in der kungsgeschichte aufweist: „Sein steht bei Matthäus im Kontrast zur Ostergeschichte noch eigens be- Blut komme über uns und unsere Hochschätzung durch die Salbung nannt (Mk 16,7), Lukas berichtet Kinder“ (Mt 27,25). Die dramati- in Bethanien (Mt 26,6-13). wie Paulus von der Tatsache der sche Wirkungsgeschichte besteht Zurück zu Judas. Matthäus be- Ostererscheinung vor Petrus (Lk in der hierdurch immer neu be- schreibt ihn zunächst als Schur- 24,34; 1 Kor 15,5), Johannes lässt gründeten Judenfeindschaft der ken. Sein Verrat wird angekün- ihn am Ende fast psychologisch Kirche. Nicht die historische Je- digt. Während alle Jünger entsetzt seine dreifache Verleugnung durch rusalemer Volksmenge samt ihrer fragen, ob etwa sie es sind, spielt drei Liebesbekenntnisse durch- Führung, sondern ganz Israel und Judas den Unschuldigen und fragt arbeiten (Joh 21,15-17). Im Mat- alle Jüdinnen und Juden aller Zei- doch noch zuletzt nach. Die Jünger thäusevangelium lesen wir von al- ten und Räume sind schuld am sprechen dabei Jesus als den Herrn ledem nichts. Der verzweifelte und Tod Jesu, sind Gottesmörder oder an („kyrie“), während Judas ihn weinende Petrus ist das letzte Bild, deren Nachkommen. Die Entrech- nur „Rabbi“ nennt (Mt 26,20-25). das wir hier von ihm sehen. tung, Verfolgung und Ermordung Auch dadurch ist er Außenseiter. Zutiefst bewegend scheitert hier der Juden wurde hierdurch ideolo-

Summer Schools 59 gisch vorbereitet und immer wie- der Tempelzerstörung liegen 40 als wilder, Gewalt und Blut sehen der straffrei möglich. Jahre, etwas mehr als eine Genera- wollender, tobender Mob darge- Steht das schon bei Matthäus? Ist es tion. Oder anders gesagt: ziemlich stellt werden oder – wie jüngst bei Bestandteil der Matthäuspassion? genau die Lebenszeit von „uns und Simon Rattle – als überraschend Zunächst gilt es diesen Vers mög- unseren Kindern“. Matthäus deu- verhaltenes und zurückgenomme- lichst genau zu verstehen. „Sein tet hier also implizit, aber für jeden nes Chorstück. Die Interpretation Blut komme über uns“ ist eine Aus- damaligen Leser klar erkennbar, hat eben nicht nur die Noten in sage der Selbsthaftung: Wir haften, an: Die Niederlage im Krieg gegen Musik zu bringen, sondern auch rufen die Jerusalemer, mit unse- Rom, die Zerstörung von Haupt- den Kontext zu berücksichtigen. rem Leben für die Rechtmäßigkeit stadt und Tempel ist Bestrafung Das gilt mutatis mutandis auch für dieses Urteils, und zwar nicht nur für das Todesurteil Jesu. Hier liegt unsere Rezeption als Hörende. wir, sondern wir und unsere Kin- zwar keine Schuldtheorie gegen- Schon die biblische Matthäus- der. Das heißt: nur alle Jerusalemer, über Israel zugrunde, aber eben passion ist voller Bewegung und die dabei waren und auch deren doch die Vorstellung der gerechten Emotion, voller menschlicher Ab- Kinder. Das heißt auch: nicht de- Strafe und des Gerichts über Jesu gründe, aber gleichzeitig mit Gott ren Kindeskinder! Die Haftung gilt Gegner. Dies Gericht ist und bleibt verbunden. Er führt seinen Sohn nur zeitlich und räumlich begrenzt. begrenzt, aber gleichzeitig ist und – und auch uns – nicht am Leiden Also kann man sich doch nicht für bleibt es gewaltsam. Und nach mo- und Sterben vorbei. Er bekräftigt Judenfeindschaft auf Matthäus be- dernen Kategorien ist es ungerecht. seine Botschaft der Vergebung und rufen? Leider ist die Sache noch Dieses moderne Empfinden, vor fordert uns energisch auf, stets zur etwas komplizierter. allem aber die Einsicht in den zwischenmenschlichen Vergebung Matthäus schreibt sein Evange- kirchlichen Antijudaismus und bereit zu sein. Er zeigt Wege für lium etwa im Jahr 80 n. Chr. Er kirchlich sanktionierten Antise- Verzweifelte und Scheiternde, die blickt zurück auf den jüdisch-rö- mitismus erschweren auch heutige Petrus geht, Judas aber nicht. Und mischen Krieg (66-74) und die Rezeptionen. Ohne im Blick auf er lässt – zumindest im Modus der Katastrophe des damaligen Juden- die musikalische Interpretation Hoffnung – den endgültigen Sieg tums: die Zerstörung des Jerusale- übergriffig zu werden, ist doch über den Tod sehen. mer Tempels durch Titus im Jahr daran zu erinnern, dass dies re- 702. Zwischen dem Tod Jesu und flektiert zu musizieren ist. Er kann

2 Vgl. hierzu Helmut Schwier: Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66-74 n. Chr.), Freiburg/Göttingen 1989.

Prof. Dr. theol. Helmut Schwier, 1959 in Minden geboren, studierte Theologie in Bethel und Heidel- berg. Nach der Promotion (1988) Vikar und Gemeindepastor in Her- ford, dabei auch Lehrbeauftragter für Liturgik an der dortigen Hoch- schule für Kirchenmusik, anschließend wissenschaftlicher Assistent an der Kirchlichen Hochschule Bethel, 2000 Habilitation. 1999-2001 Kirchenrat in Berlin im Stab der Leuenberger Kirchengemeinschaft, seit WS 2001/02 Professor für Neutestamentliche und Praktische Theologie an der Universität Heidelberg, seit 2003 Universitätspredi- ger an der Peterskirche.

60 Summer Schools Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte von J. S. Bachs Matthäuspassion von Martin-Christian Mautner

IGNORIERT VON DEN ZEITGENOSSEN

ein Beitrag zur heuti- num seines Komponisten gilt und Zu Bachs Lebzeiten und unter sei- gen Vortragstrias zu dessen Partiturreinschrift heute ner Leitung wurde nach heutigem M J. S. Bachs Matthäus- zum Weltkulturerbe der UNESCO Kenntnisstand die Matthäuspas- passion soll ein Blick in die Rezep- zählt, keineswegs unmittelbar und sion erstmals am 11. 4. 1727 (Kar- tionsgeschichte des Werkes sein. ohne Umwege Eingang in den Ka- freitag) aufgeführt. Dabei wird sich zeigen, dass das non der bedeutendsten Musikstü- Erstaunlicherweise musste dieses Werk, das vielen als Opus Mag- cke aller Zeiten gefunden hat. Datum aus dem Quellenmaterial erschlossen werden. Über irgend- eine Reaktion der Gemeinde der Leipziger Hauptkirchen ist nichts bekannt. Ebenso wenig sind Äu- ßerungen von Kennern und Lieb- habern der Musik erhalten – was sehr verwundert, weil das Werk al- lein schon durch die äußeren Auf- führungsumstände sehr von der Norm des Gewohnten abwich. Es gibt auch keinerlei Reaktionen seitens der Ausführenden – also weder von den Sängern des Cho- res (auch nicht aus späterer Zeit) noch von den Instrumentalisten, von denen – gerade aus studenti- schen Kreisen – sonst durchaus Anmerkungen erhalten sind. Und die Medien? Aus den tendenziell eher geschwät- zigen Leipziger Zeitungen, deren Nummern aus der fraglichen Zeit erhalten sind, erfahren wir wohl, mit wie viel Hausrat die Familie Bach in der Pleißestadt ankam, wie hoch der Subskriptionspreis für die gedruckten Ausgaben der Clavierübung war … Aber keine Silbe zur Matthäuspassion! Kei- ne Ankündigung, keine Kritik – nichts! Sogar die akribisch geführ- te Stadtchronik erwähnt das Werk ▶ Abb. 1 Erste Seite des Autographs der Matthäuspassion mit keinem Wort.

Summer Schools 61 Ein einziges Zeugnis, mitgeteilt in hierzu gibt es keine Äußerungen und 1787 im Hamburger Michel der „Geschichte der Kirchen-Ce- irgendwelcher Personen. aufgeführt. Speziell interessierten remonien in Sachsen“ von Chris- Am 17. März 1739 erließ der Stadt- Kreisen waren außerdem Choräle tian Gerber aus dem Jahr 1732, ist rat ein Verbot einer Passionsauf- der Passion aus einer Sammlung vielleicht eine Reminiszenz des führung für den anstehenden Kar- bekannt, die Carl Philipp Emanuel Unverständnisses, mit dem die freitag. Ob Bach, der in den 1740er Bach 1765 herausgab – wenn auch Leipziger dem Werk begegneten: Jahren ohnehin dazu überging, nur ohne weitere Angaben zur Her- noch Dienst nach Vorschrift zu kunft derselben und teilweise mit „Als in einer vornehmen Stadt diese tun und ansonsten lieber seinen anderen Texten unterlegt. Paßions-Music mit 12 Violinen, vie- musikalischen Hobbys nachging Aus Leipzig berichtet Christian len Hautbois, Fagots und anderem (h-moll-Messe, Wohltemperiertes Gottlob Neefe im März 1776 von Instrumenten mehr, zum erstanmal Klavier II, Kunst der Fuge, Mu- der Aufführung einer Bachschen gemacht ward, erstaunten viele Leu- sikalisches Opfer …), überhaupt Passion in der „Hauptkirche“ te darüber und wußten nicht, was sie noch einmal eine Passionsmusik (Thomaskirche? Oder doch eher daraus machen sollten. aufgeführt hat, wissen wir nicht Nikolaikirche?). Ob es sich dabei sicher zu sagen. um die Matthäuspassion handel- Auf einer adelichen Kirch-Stube te, ist völlig ungewiss, ja durchaus waren viele Hohe Ministri und Ade- VERGESSEN VON DEN zweifelhaft. liche Damen beysammen, die das NACHFOLGERN erste Passions-Lied mit großer De- ENTDECKT VON DER votion sungen: NACHWELT

Als nun diese theatralische Music Vom geistlichen Werk Bachs kann- angieng, so geriethen alle diese Per- te man um 1800 einige Choräle sonen in die größte Verwunderung, und auch seine Motetten. Dass sahen einander an und sagten: „Was Mozart auf der Durchreise in soll daraus werden?“ Leipzig „Singet dem Herrn ein neues Lied“ vorgelegt wurde, ist Eine adeliche Wittwe sagte: „Gott überliefert. Die Komposition soll behüte, ihr Kinder! Ist es doch, als ob ihn sehr beeindruckt haben – ver- man in einer Opera-Comödie wäre.“ mutlich wie ein Zeugnis aus einer anderen Welt. Dass Klavier- und Wenn wir heute die Bachsche Kammermusikstücke in Wien (so Matthäuspassion als Paradebei- etwa bei den Hauskonzerten des spiel für „Bewegende Musik“ in ▶ Abb. 2 Barons Gottfried van Swieten), in unserer Summer School aufführen Nach Bachs Tod kam das Auffüh- Frankfurt, Breslau und Berlin er- und besprechen, so war also die rungsmaterial in den Besitz seines klangen, wissen wir. Auch dass Hörerschaft der Uraufführung – Zweitältesten: Carl Philipp Ema- etwa Ludwig van Beethoven den wenn überhaupt – dann nur von nuel Bach (Abb. 2). Das ist in dop- ersten Teil des Wohltemperier- zweierlei bewegt: zum einen von pelter Hinsicht ein Glücksfall. ten Klaviers auswendig konnte völligem Unverständnis, resultie- Zum einen ist es dem haushälteri- und besonders schätzte … Von der rend vermutlich aus völliger Über- schen Sinn des Berliner und später Existenz eines zweiten Teils wuss- forderung angesichts des Werkes, Hamburger Bachs zu danken, dass te er vermutlich nichts. zum andern womöglich von Ärger, sich das Material erhalten hat – Für die Rezeptionsgeschichte der weil der Kantor Bach wieder ein- und nicht in alle Winde verstreut Matthäuspassion, die uns interes- mal seinem Anstellungsvertrag wurde, wie es mit vielem geschah, siert, wurde Berlin zum entschei- zuwiderhandelte, wo ihm doch das Wilhelm Friedemann erbte. denden Ort. auferlegt war, dass seine Musik Zum andern kamen so wenigstens Die dortige königliche Singaka- keinesfalls opernhaft herauskom- Teile der Passion an die Öffent- demie (Abb. 6) war nach dem men durfte. lichkeit. Etliche Choräle und die Tode Carl Philipp Emanuel Bachs Weitere Aufführungen des Werkes Pilatus-Szene wurden – mit eige- (1788) in den Besitz seines wohl- nimmt man für 1729 und in über- nen Stücken ergänzt – als „Pas- geordneten Nachlasses gekommen. arbeiteter Form für 1736 an. Auch sions-Pasticcio“ zwischen 1769 Carl Friedrich Zelter, der Leiter

62 Summer Schools Das Interesse war geweckt, die Er- wartungen hoch. Und alle kamen: König Friedrich Wilhelm III. mit Gefolge, Droysen, Hegel, Heine, Schleiermacher und Rahel Varn- hagen … Tout Berlin war anwesend – und das, obwohl es am selben Abend ein Konzert des Sensationsgeigers Niccolò Paganini in Konkurrenz in der Stadt gab. Das Werk wurde mit Rücksicht auf die Hörerschaft gekürzt – Pilati ▶ Abb. 3 Berliner Singakademie Weib fiel dem ebenso zum Opfer wie die Stellen, wo der Evangelist der Singakademie, hatte sich in- Die jugendlichen Freunde Eduard Matthäus Belegzitate aus dem Al- tensiv mit dem Bachschen Œuv­ ­re Devrient und Felix Mendelssoh- ten Testament bringt. 16 von 23 beschäftigt und erkannte in der Bartholdy (Abb. 4) waren nicht Soloeinschüben wurden eliminiert, „Großen Passion“ eines der „vor- so vorsichtig und vor allem nicht ebenso 6 von 15 Chorälen. Bei den züglichsten Stücke“ aller Zeiten. durch Fehlschläge bei öffentlichen Arien erwies sich – wie stets im 19. Durch intensive jahrelange Pro- Aufführungen beeindruckt wie ihr Jahrhundert – die barocke Sprache benarbeit auch mit Stücken Bachs Lehrer Zelter. als Hindernis; dennoch ist es Men- war der Chor der Singakademie Sie wagten die Aufführung für den delssohn hoch anzurechnen, dass mit der Diktion dieser Musik ei- 11. März 1829 als Konzert – also er hier entgegen dem Drängen nigermaßen vertraut. Dennoch unabhängig von dem eigentlich Zelters nichts änderte. wagte der vorsichtige Zelter kei- für das Werk vorgesehenen liturgi- Der gemischte Chor trat mit den ne öffentliche Aufführung solcher schen Rahmen – anzusetzen. damals üblichen 150 Sänge- Werke. Nun muss man wissen, dass Dev- rinnen und Sängern an, es gab Dass es nun 1829 zur legendären rient und Mendelssohn aus den 7 Solostimmen. Die Evangelisten- Wiederaufführung der Matthäus- ersten Familien Berlins stammten partie wurde teilweise tiefergelegt. passion kommen konnte, die den und somit über glänzende Kontak- Die natürlich nicht vorhandenen entscheidenden Wendepunkt der te verfügten, um das Ereignis pub- Oboen d’amore wurden durch A- Rezeptionsgeschichte darstellt, ist lik zu machen. So schrieb Adolph Klarinetten ersetzt, die Oboen da einer günstigen Personenkonstel- Bernhard Marx einige Wochen caccia durch Bratschen. Den Ge- lation zu danken. zuvor enthusiastisch in der Ber- neralbasspart spielte Mendelssohn liner Allgemeinen Musikalischen selbst auf einem Hammerflügel. Zeitung: Die Erdbebenszene war eigens durch Orchesterinstrumentierung „Ein wichtiges und glückliches Er- zu einem Tongemälde im Stile des eignis steht der musikalischen Welt, späteren „Elias“ oder „Paulus“ ver- zunächst aber Berlin nahe bevor. wandelt worden. In den ersten Tagen des März wird Der Erlös des Konzerts – man er- unter Direktion des Herrn Felix innere sich an die Uraufführung Mendelssohn-Bartholdy „Die Pas- von Händels „Messias“ – war für sionsmusik nach dem Evangelisten einen „Verein zur Erziehung ver- Matthäus“ von Johann Sebastian wahrloster Kinder“ bestimmt. Der Bach aufgeführt werden. Das größte Erfolg war fulminant. und heiligste Werk des größten Ton- Zwei weitere Aufführungen muss- dichters tritt nach einer fast hun- ten angesetzt werden – nicht unter dertjährigen Verborgenheit in das Mendelssohns Leitung, der zu Leben, eine Hochfeier der Religion einer Konzertreise nach England ▶ Abb. 4 und der Kunst.“ aufgebrochen war. Zelter über- nahm.

Summer Schools 63

▶ Abb. 4 Dann ging es Schlag auf Schlag: Erst 1841 erfolgte ein Versuch – fassung des „Erdbebens“ … Ge- Der Verlag Schlesinger gab die Par- unter Leitung Mendelssohns. Cla- legentlich wurde auch die Gene- titur heraus. Schon im Mai folgte ra Schumann-Wieck, die diesem ralbassbegleitung der Rezitative die Erstaufführung in Frankfurt Konzert beiwohnte, war aber ent- durch mit Streichern und Bläsern am Main, 1830 in Breslau (Johann täuscht, weil ihrer Meinung nach instrumentierten Versionen er- Theodor Mosewius), 1831 in Stet- die Akustik der Thomaskirche da- setzt. Robert Franz hatte 1867 eine tin (Carl Loewe), 1832 in Königs- für völlig ungeeignet sei. Sie ging entsprechende Gebrauchsfassung berg (Karl Heinrich Sämann) und nach dem ersten Teil. erstellt. Auch die Tradition des in Kassel (Louis Spohr), 1833 in Am Ende des 19. Jahrhunderts Knabenchors im Eingangschor ist (Francesco Morlacchi). galt die Matthäuspassion als eta- zeittypisch – Bach hat gewiss an bliert – sie war fester Bestandteil einen Solosopran zum Chor ge- ADAPTIERT AN DAS BÜRGER- städtischer Abonnementkonzerte. dacht, der für ihn ja ohnehin ein LICHE KONZERTWESEN Bis weit ins 20. Jahrhundert rich- Knabenchor war. tete man sich nach der Berliner Von Werktreue sprach im 19. Jahr- Letztere Aufführung setzte Maß- Pionieraufführung Mendelssohns: hundert niemand. Erst 1912 mach- stäbe für die dann üblichen Mo- Kürzung der Aufführungsdauer te sich Siegfried Ochs erstmals zu numentalkonzerte mit 10 Solo- unter Beibehaltung der unver- diesem Punkt Gedanken. sänger*innen, 220 Choristen und zichtbaren „Favoritstücke“, Vokal- Eine besondere Rezeption der einem Orchester von 112 Inst- besetzung mit gemischten Stim- Bachschen Matthäuspassion ha- rumentalisten, inkl. doppelt be- men statt des Knabenchors, starke ben wir in Richard Wagners Büh- setzten Bläsern und insgesamt 86 Chorbesetzung und entsprechen- nenweihfestspiel „Parsifal“: bis Streichern. der Orchesterapparat, häufig in Text- und Musikdetails hinein Interessanter- oder bezeichnen- A-cappella-Vortrag des Chorals ließe sich das zeigen. Aus Zeit- derweise fehlt in der Liste der „Wenn ich einmal soll scheiden“ gründen müssen wir dieses große großen Aufführungsorte Leipzig. und symphonische Instrumental- Fass, das ich mit dieser Randbe- merkung zart lüfte, sogleich wie- ▶ Abb. 5 Oratorienaufführung im 19. Jahrhundert der schließen. Gleichwohl lohnte es sich, hier bis auf den Grund zu sehen. Vielleicht kann das anders- wann geschehen?

UND HEUTE?

Weitere Themen einer rezeptions- geschichtlichen Betrachtung wä- ren: » Aufführungstechnische Fragen zwischen „so original wie möglich“ und „möglichst nahe an den im 19. Jahrhundert sich bildenden Hö- rererwartungen“, » die Matthäuspassion als Ins- pirationsquelle für Grenzüber- schreitungen: Musik und Tanz, Musik und Bildende Kunst, Musik und Theater oder Musik und Film, » schließlich die Antijudais- mus-Debatte bzgl. Text und Mu- sik der Passion. Hierzu sei ange- merkt, dass der erhobene Vorwurf vermutlich die Johannes-Passion schon aufgrund ihres biblischen Textgehalts weit eher trifft. Dass

64 Summer Schools in den Elendsvierteln Roms (Abb. 6), der seinen Lebensunterhalt nicht anders als durch Zuhälterei zu sichern weiß. Zugleich erkennt er aber das Unmögliche seiner Le- bensführung und scheitert daran, von Hunger, Existenzangst und Furcht vor dem unausweichlichen Gericht über sein Leben geplagt. Wahrlich eine Passion, die Pasoli- ni mit Chören aus der Matthäus- passion unterlegt. Einige Master- studierende habe ich neulich mit diesem Film behelligt …

▶ Abb. 6 Verfilmte Passionsgeschichte: „Accatone“ SUMMA

Bach sich in seiner Matthäuspas- das in sogenannten Passionsdich- Im Verlauf ihrer nun fast 300-jäh- sion gerade nicht auf den Pfad der tungen der frühen Aufklärungszeit rigen Geschichte hat die Matthä- Schuldzuweisung gegenüber den aus. Ein Beleg für diese bedenkli- uspassion die unterschiedlichsten Juden begibt, zeigt sich etwa dar- che Tendenz ist etwa die 1753 ur- Wandlungen ihrer klanglichen an, dass er bei den Änderungen zur aufgeführte Passionskantate „Der Erscheinungsform erfahren. Sämt- 1736er Aufführung den an sich Tod Jesu“ von Carl Heinrich Graun. liche Änderungen hatten stets das schon unverfänglichen Choraltext Zwischen deren Libretto und dem Ziel, ihre Eingliederung in einen am Ende des Ersten Teils durch der Matthäuspassion liegen nur kulturellen Rahmen anzustreben, den noch viel unverfänglicheren wenige Jahrzehnte – und zugleich für den sie ursprünglich nicht be- Chor „O Mensch, bewein dein Welten. stimmt war. Sünde groß“ ersetzt. Für Bach ist Als ein für mich persönlich beson- Dennoch gelingt es dem Werk in bei der Passion Jesu stets der Blick deres Beispiel für die Rezeption jeder noch so verfremdeten Form auf den Menschen an sich wich- der Bachschen Matthäuspassion immer wieder, eine ergreifende, tig – strikt inklusiv ganz im Ein- möchte ich einen Film von Pier „bewegende“ Wirkung auszuüben. klang mit der Auslegung der luthe- Paolo Pasolini 1961 nennen – ent- Die Passion zählt zur ältesten risch-orthodoxen Dogmatik seiner standen in Italien, also einem Land, Schicht Musik, die in unser heuti- Zeit. In ihr war er bestens bewan- in dem damals die Beschäftigung ges Konzertleben ohne Vorbehalt dert, wie die theologische Literatur mit Bach keineswegs nahelag. integriert ist. in seiner nachgelassenen Biblio- „Accatone“ – also etwa: Bettler – thek bezeugt. Ganz anders sieht handelt von einem jungen Mann

Prof. Dr. Martin-Christian Mautner studierte Theologie in Heidelberg und Bern. Seit 1990 ist er für die Evangelische Landeskirche in Baden tätig – als Gemeindepfarrer, in der Ausbildung haupt- und nebenamtlicher KirchenmusikerInnen und als Dozent für Liturgik am Predigerseminar. Von Jugend auf kirchenmusikalisch interessiert (Unterricht bei Hermann Schäffer), promovierte er 1995 mit einer Dissertation aus einem Bereich der Theologischen Bach-Forschung. An der HfK unterrichtet er seit 2001 in den theologischen Fächern. Seit 2018 leitet er das Rektorat der Hochschule und wurde zum Professor ernannt. Er ist derzeit auch Vorsitzender der Liturgischen Kommission der Landeskirche.

Summer Schools 65 Auslegung als Verknüpfung

Einführende Gedanken zur musikalischen Struktur der Matthäuspassion

von Gerhard Luchterhandt

ie Musik der Matthäus- hatte zur Bach-Zeit bereits eine 3. In dialogischen Sätzen über- passion bewegt uns. Wie lange Tradition – man denke an nimmt der zweite Chor oft die D aber setzt Bach die Musik Gabrieli, Praetorius oder Scheidt. Funktion des Fragenden. In ei- selbst in Bewegung? Wie sorgt er Bach geht jedoch weit darüber hi- nem Fall geschieht das als Cho- für Entwicklung, für Zusammen- naus, indem er den beiden Appara- ral (Nr. 19 „Was ist die Ursach halt? Wie trägt die Musik zur Text- ten unterschiedliche Funktionen solcher Plagen?“), in anderen interpretation bei? Ich versuche, zuweist. Fällen wie etwa im Eingangs- einige kompositorische Entschei- chor durch kurze Frageworte dungen Bachs zu erläutern. 1. Die Handlung wird vom Evan- („Wen?“, „Wie?“), die als gesti- gelisten und von der Conti- sche Zielpunkte der Musik fun- 1. ZUR ARCHITEKTONISCHEN nuogruppe des ersten Chores/ gieren. GRUNDSTRUKTUR Orchesters erzählt; die Chris- tusworte sind dabei durch die 4. In diesem hochdifferenzierten Das Passionsgeschehen wird vom Streicher hervorgehoben. Umfeld ist die bündelnde Wir- Evangelisten rezitativisch erzählt; kung der gemeinsam gesunge- Soliloquenten und Turbachöre 2. Turbaszenen werden meist von nen und colla parte begleiteten tragen zur szenischen Gestaltung beiden Chören übernommen. Choralstrophen natürlich groß. bei. Arien und Choralstrophen Durch „Hin- und Herwerfen“ unterbrechen den Handlungsver- des Textes werden Turba-Ef- 5. Die extremste Form, einen Rie- lauf. Die Arien und Ariosi kom- fekte gewaltig verstärkt, schön senapparat zusammenzufassen, mentieren aus der privaten Sicht zu sehen und zu hören an der ist das Unisono. Bach macht das der christlichen Seele. In den Cho- Stelle im folgenden Notenbei- genau einmal: ...er hat gesagt: ralstrophen bündelt sich das zuvor spiel (NB 1). Die beiden Halb- „Ich bin Gottes Sohn“ (s. NB Entfaltete gleichsam als Bekennt- chöre singen einander zu, fallen 19/20). Mit ungeheurer Wir- nis oder Gebet der Gemeinde. Für sich dabei imitatorisch regel- kung! den Hörer bilden die Choräle zu- recht ins Wort: Das steigert die gleich bekannte Wegmarken - an- chorische Energie und versieht gesichts der komplizierten Musik sie zudem mit einer räumlichen eine wichtige Funktion. Komponente! Diese zyklische Grundstruktur ist nicht neu, sondern prägt bereits die Johannespassion und viele Kantaten. Es ist Bachs Art der ora- torischen Komposition, bei der Choräle den Abschluss oder sogar das Zentrum von Gedankengän- gen bilden.

Doppelchörigkeit

Neu ist hingegen die Dimension. Alles ist doppelt: Zwei vierstim- mige Chöre, zwei Orchester mit vollem Holzbläserapparat – das ist eine Riesenbesetzung, die Bach un- glaublich differenziert zu nutzen versteht. Auch die Mehrchörigkeit ▶ NB 1 Chor Nr. 36d „Weissage uns, Christe, wer ists, der dich schlug?“

66 Summer Schools Nach diesen Grundinformationen folgen nun ein paar Einblicke in Bachs Werkstatt. Drei Grundfra- gen bin ich dabei nachgegangen:

1. Was erzeugt diesen Sog, z.B. im Eingangschor, dem wir uns nicht entziehen können. 2. Wodurch entsteht musikalischer Zusammenhalt? 3. Was hat möglicherweise die Fan- tasie des Komponisten bewegt? ▶ NB 2 Anfang des Rezitativs Nr. 19 „O Schmerz“ Fangen wir beim allgemeinsten an: die Hand“ (Nr. 60) und „Mache Ausgehend von diesen beiden Kei- 2. SATZSTRUKTUREN / SATZ- Dich, mein Herze rein“ (Nr. 65), len über dem Tonika-Orgelpunkt TYPEN / MOTIVISCHE VERBIN- außerdem der Schlusschor „Wir baut Bach auf der I. und auf der V. DUNGEN setzen uns mit Tränen nieder“ auf Stufe baut Bach über dem Orgel- solchen Orgelpunkteffekten, um punkt eine große Spannung auf, Der harmonischen und melodi- nur wenige Beispiele zu nennen. die sich schließlich in einer riesen- schen Sogwirkung des Eingangs- Zurück zum Eingangschor. So haften Tonleiter entlädt. Ein mas- chores kann sich kaum jemand ent- ein Orgelpunkt verbindet kraft- siver Beginn mit gigantischer Sog- ziehen. Eine ähnliche – vielleicht volle Ruhe mit dem Aufbau von wirkung! noch dramatischere – Sogwirkung Spannung. Die Romantiker hat das Beim ersten Choreinsatz (NB 4) geht von Nr. 19 „O Schmerz!“ aus fasziniert: Fast jede Bruckner-Sin- sind die Stimmen vertauscht – (NB 2). fonie fängt so an. Wie jedoch baut drücken einander also nicht weg Beide Stücke entfalten sich anfäng- sich diese Spannung über dem Or- sondern laufen umgekehrt aufein- lich über Orgelpunkten. Orgel- gelpunkt auf? ander zu. punktharmonik gehört fest zum Im Eingangschor hat das mit einer Die Keilwirkung chromatisch Bachstil und kommt gerade in der besonderen kontrapunktischen gegenläufiger Stimmen setzt Bach Matthäuspassion gehäuft vor. So Konstruktion zu tun, die man nicht selten ein. Bekannt sind die gründen die Anfänge des Schluss- als Keil bezeichnen könnte: Zum „kontrahierende“ Invention E-Dur Chorals vom 1. Teil „O Mensch, Grundton tritt die obere Sekunde; (BWV 777) und die „expandieren- bewein dein Sünde groß“ (Nr. 29) die untere Stimme wird gleichsam de“ Orgelfuge e-Moll BWV 548/2. sowie der Arien „Ach, nun ist mein weggedrückt; beide streben keil- In der Matthäuspassion wird die- Jesus hin“ (Nr. 30, s. NB 6), „Aus förmig auseinander. Das geschieht ses Prinzip allerdings nur zweimal Liebe will mein Heiland sterben “ hier direkt hintereinander auf der angewandt. (Nr. 49, s. NB 17), „Sehet, Jesus hat I. und auf der V. Stufe (NB 3).

▶ NB 3 Anfang des Eingangschores (Hauptstimmen) mit seiner kontrapunktischen „Keil“-Konstruktion

Summer Schools 67 ▶ NB 4 Eingangschor: Choreinsatz (nur Außenstimmen)

Satztypen chores, der sich in der Arie „Mache Man darf annehmen, dass Men- dich, mein Herze, rein“ (Nr. 65) delssohn hiervon höchst inspiriert Solche Satzstrukturen verbinden wiederholt. war, als er den 2. Teil seines „Elias“ sich nun mit einer Vielzahl unter- Vorbild für manche Sätze ist die mit einer Arie im gleichen Rhyth- schiedlicher Satztypen. Es ist be- Sarabande, ein Suitensatztyp, des- mus, in der gleichen Tonart und wundernswert, welche instrumen- sen langsamer Dreier-Takt mit sogar mit dem gleichen Melodie- tatorische und klangliche Fantasie schwerer „2“ sich gut mit einem ton beginnen ließ! (NB 7). Bach hier beweist. Ungeachtet des- Passionstonfall verbinden lässt sen greift er auch auf damals gän- (NB 5). Eine der markantesten Sa- gige Tanztypen zurück – etwa der rabanden leitet den 2. Teil des Wer- Siziliano-Rhythmus des Eingangs- kes ein (NB 6).

▶ NB 5 Anfang der Arie Nr. 52 „Können Tränen meiner Wangen“ (Sarabande)

▶ NB 6 Anfang der Arie Nr. 30 „Ach, nun ist mein Jesus hin“ (Sarabande)

▶ NB 7 Felix Mendelssohn Bartholdy, „Höre Israel“ (Elias)

68 Summer Schools Versteckte Verbindungen barme dich“ (Nr. 39, s. NB 12/13) Bei aufeinander folgenden Sätzen und nur kurze Zeit später das feu- finden sich im ersten oft subti- Ungeachtet solcher Verfahren sind rige „Gebt mir meinen Jesum wie- le Hinweise auf das Folgende. So die einzelnen Sätze der Matthä- der“ (Nr. 42) – die beide aus unter- wird etwa die Arie „Ich will dir uspassion Individuen, die z.T. als schiedlichen Orchestern erklingen. mein Herze schenken“ (Nr. 13) markante „Ohrwürmer“ im Ge- Interessant ist, welche „geheimen“ durch ein vermeintlich unauffälli- dächtnis hängen bleiben. Man den- Verknüpfungen Bach zwischen ges Bass-Motiv in der vorangegan- ke hier nur an die beiden so sehr seinen prägnanten Sätzen herstellt genen Abendmahlsszene „vorange- unterschiedlichen Geigenarien und damit auch immer theologi- kündigt“ (NB 8): – das überirdisch schwebende „Er- sche Verbindungen schafft.

▶ NB 8 Ausschnitt aus Rezitativ Nr. 11 und Anfang der Arie Nr. 13 „Ich will dir mein Herze schenken“

Manche Selbstzitate wirken eher über größere Entfernungen: Im Eingangschor heißt es an einer Stelle „Seht die Geduld“. Das dazu- gehörige Septimen-Motiv und sei- ne Fortführung verarbeitet Bach später als „Erbarm es Gott“ zu einem vehementen Arioso (NB 9): ▶ NB 9 Ausschnitt aus dem Eingangschor (Sopran 1) und Anfang des Alt-Rezitativs Nr. 51 (Darstellung ohne Streicher)

Summer Schools 69 3. CHORALMELODIEN

16 Choralstrophen gibt es in der Zum andern bezieht Bach die ver- sammenhänge lassen sich nur Matthäuspassion. 14 werden von wendeten Choralmelodien – zum vermuten. So könnte der Choral allen gemeinsam gesungen (davon Teil ganz offensichtlich, zum Teil „Herzliebster Jesu“ den Melodie- 13 als Choralsatz). Die 14 als Signa- eher versteckt – in seine The- verlauf der Arie „Buß und Reu“ in- tur Bachs ist bekannt. Zahlensym- menbildungen ein. Manche Zu- spiriert haben (NB 11): bolik ist ein ganz eigener Bereich, den ich hier nicht streifen will, denn man kann sie nicht hören... Acht verschiedene Melodien ver- wendet Bach. Auch sie tragen im- mens zur Verknüpfung der Form- teile bei. Zum einen geschieht dies über ganz direkte inhaltliche und dramaturgische Verbindungen, wie unten (NB 10; s. auch NB 1). ▶ NB 11 Anfänge des Chorals „Herzliebster Jesu“ (Nr. 3) und der Arie „Buß und Reu“ (Nr. 6)

▶ NB 10 Schluss des Turba-Chores Nr. 36d „Weissage uns, Christe, wer ists, der dich schlug?“ und Choral Nr. 37

▶ NB 12 Anfänge der Arie „Erbarme dich“ (Nr. 39) und des Chorals „Befiehl du deine Wege“ (Nr. 44)

70 Summer Schools Das Beispiel links unten (NB 12) trast. Als Choralstrophe kommt er Spielt man sich dieses Motiv ein- ist deutlicher: Die Bassstimme der später nicht mehr vor – dafür, wie mal in Zeitlupe vor, offenbart „Erbarme-Arie“ zitiert den Anfang es scheint, umso mehr in Zitaten. sich eine sehr überraschende von „O Haupt voll Blut und Wun- Das markanteste Beispiel ist der Verwandtschaft, die Bachs theo- den“, der Melodie, die sich in der Turba-Chor „Andern hat er gehol- logische Aussage noch verstärkt Matthäuspassion noch mit vier fen“ (Nr. 58d). Bach bezieht dort (NB 17). weiteren Texten verbindet, dar- bei der Stelle „Ist er der König Is- unter „Befiel du deine Wege“ (Nr. rael, so steige er herab vom Kreuz“ Das Schlüsselwort „Blut“, das Bach 44), das Bach in der gleichen Ton- durch seine Motivik klar Stellung: hier mit einer Umkreisungsfi- art harmonisiert. gur (= umspielte „Mediatio“ des V. Die Antwortzeile „und was dein Psalmtons) verbindet, stellt einen Herze kränkt“ scheint sich im Rückbezug zur Arie „Blute nur“ Schlussmotiv der Arie zu verste- her. Dort verziert Bach Ziel- und cken: Quellpunkt des Quintstiegs:

▶ NB 15 „O Lamm Gottes“ | „Ist er der König Israel“ (aus Nr. 58d) ▶ NB 18 Kopfmotiv der Arie Nr. 8 „Blu- Der Quintstieg mit der Erweite- te nur, du liebes Herz“ rung in die Sexte, der sich im Cho- ral mit der Anrufung „O Lamm Durch solche Querbezüge ent- ▶ NB 13 „und was dein Herze kränkt“ | Gottes, unschuldig“ verbindet, steht ein großräumiges Bezie- Schlussmotiv der Erbarme-Arie scheint Bach auffällig häufig als hungsgeflecht, mit dessen Hilfe Inspirationsquelle gedient zu ha- Bach die Passionsgeschichte, die Der in der Matthäuspassion wohl ben. Ein ganz markantes Beispiel kommentierenden Arien und motivisch „einflussreichste“ Cho- ist die Selbstverfluchung des Volks Chöre sowie die Choralstrophen ral ist „O Lamm Gottes, unschuldig („Sein Blut komme über uns und zu einem musikalisch ungeheuer am Kreuz geschlachtet“: unsere Kinder“), aus unserer heu- anspruchsvollen und theologisch tigen Sicht einer der problema- tiefsinnigen geistlichen Organis- tischsten Aussagen der Passions- mus verschmilzt. Lauter versteck- geschichte. Bach bezieht hier eine te „Nervenbahnen“ durchdringen ganz eindeutige Stellung, indem dieses Gebäude und lassen vieles er das dazugehörige Motiv ganz mit vielem korrespondieren. offensichtlich aus „O Lamm Got- ▶ NB 14 Anfang von „O Lamm Gottes, tes unschuldig“ ableitet und so den unschuldig am Kreuz geschlachtet“ Blick auf den Gekreuzigten richtet. (Version aus dem Eingangschor) Das geschieht zunächst ganz subtil, denn das markante Motiv liegt zu- Betrachten wir die Choralmelodie nächst im Bass versteckt – offenbar genauer: Mit ihrer steigende Quin- dachte Bach patriarchalisch („Uns te und dem Reperkussionston mit und unsere Kindern“) (NB 16): „Mediatio“ ist sie ein Abbild des V. Psalmtons und damit ein „ur- christliches“ Melodiemodell schlechthin. In der Antwortzeile wird der Quintstieg zum Quintfall ▶ NB 16 „Sein Blut komme über uns“ (aus Nr. 50d) umgedreht. Im doppelchörigen Eingangschor bildet dieser Choral die dritte Di- mension und sorgt außerdem – als G-Dur-Choral, der in ein e-Moll- Umfeld „eingebettet“ ist – für ▶ NB 17 Anfangsmotiv der Arie Nr. 49 „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ einen interessanten Tonartenkon-

Summer Schools 71 nächst spreizt er das Ausgangsmo- tiv: Bei „Der erlöse uns vom Kreuz“ wird der Quint-Sext-Rahmen von „O Lamm Gottes“ bis zur Septime erweitert. Damit stellt sich ein wei- terer Rückbezug zum Eingangs- chor („Seht die Geduld“, NB 9) her. Hier klingt erstmals auch die Um- kehrung der „O Lamm Gottes unschuldig“ - Figur: Aus der An- rufungsgeste wird der Fall. Mit einem Quintfall – zugleich Krebs des „Sein Blut“ bzw. “Aus Liebe“- Motivs! – endet der Satz unisono: ▶ NB 19 Entwicklung der Motivik aus Nr. 58d „Ich bin Gottes Sohn“ – Der Fall des Menschensohnes als musikalische Auch innerhalb von Sätzen lassen Aufschlussreich ist die weitere Spiegelung des Gotteslamms. sich solche Beziehungsgeflechte Motivik dieses Turba-Chores, des- Mit dieser singulären Stelle ver- finden. Kommen wir noch einmal sen eigentlich ironischer Text von bindet sich ein weiterer „Sturz“. zurück zu „Ist er der König Israel“ Bach mit beziehungsreicher moti- Dazu müssen wir die Harmonik (NB 19): vischer Arbeit „geheiligt“ wird. Zu- des Werkes betrachten.

▶ NB 20 Übergang zwischen der Turba-Szene Nr. 58 und dem Rezitativ Nr. 59 „Ach Golgatha“

72 Summer Schools 4. TONARTENGEFÄLLE

In musikalischen Formentwick- (Nr. 17) sind identisch harmoni- nische Eintrübungen. Das düstere lungen wirken meist zwei Prinzi- siert, die erste erklingt in E-Dur, Rezitativ „Ach Golgatha“ wartet pien gleichzeitig: Victor Zucker- die zweite jedoch in Es-Dur. Da- mit einer weiteren Steigerung auf. kandl hat sie mit „Bogen und Pfeil“ zwischen moduliert ein Rezitativ Der Quintfall ist hier zum Sextfall bezeichnet. Der Bogen entspricht – keinesfalls „unauffällig“, sondern erweitert. Die fallende große Sexte unserem Wunsch nach Rückkehr mit einer deutlichen tonalen Ein- – das Rahmenintervall von „Ich bin – unser Zeitempfinden ist bekannt- trübung in der Mitte. Bach illus- Gottes Sohn“ war noch eine kleine lich durch und durch zyklisch ge- triert damit Jesu Prophezeiung, – zielt auf die labile Akkordseptime, prägt. Tage, Monate, Jahre: Die dass Petrus ihn dreimal verleug- so dass der Hörer weiteres Auflö- Dinge kehren stets wieder. Auch nen werde. Dieser protestiert, aber sungsbedürfnis abwärts verspürt. unser musikalisches Formbedürf- die Tonarten sprechen eine andere Die Art, wie Bach hier den tonalen nis wünscht sich Wiederkehrendes. Sprache. Es gibt viele solcher Ein- Generalplan des Werkes innerhalb Die Grundstruktur der Matthä- trübungen. Die extremste führt wenigen Takten als für den Hörer uspassion als zyklische Folge aus uns zurück zum markanten Uni- harmonisch spürbaren Sturz („per Evangelientext, Arien und Choral- sono „Ich bin Gottes Sohn“. Wohl astra ad aspera“) inszeniert, ge- strophen trägt dem Rechnung. nicht zufällig erinnert das fallende hört neben der Doppelchörigkeit Auf der anderen Seite wirkt der Motiv an die zweite Zeile des Cho- zu den genialen dramaturgischen Pfeil: „Niemand steigt zweimal in rals „O Lamm Gottes unschuldig“ Einfällen, welche die Matthäuspas- den gleichen Fluss“. Die Passions- – „Am Stamme des Kreuzes ge- sion in gewisser Hinsicht als Wei- geschichte Jesu ist einmalig; und schlachtet“. Hier schließt sich der terentwicklung der Johannespassi- sie verläuft gleichsam unerbittlich markanteste Tonartenfall des gan- on erscheinen lassen. (Auch in der in eine Richtung. Kein Gedanke an zen Werkes an (NB 20). Johannespassion gibt zwischen Nr. eine Reprise. Das setzt Bach in der Die Tonalität sackt hier von e-Moll 33 und Nr. 35 einen tonalen „Fall“, Matthäuspassion um – markanter nach Des-Dur in Gestalt eines der von h-Moll („Es ist vollbracht“) als in der Johannespassion –, und As-Dur-Septakkords, also in we- nach f-Moll („Zerfließe, mein Her- zwar durch den Tonartenverlauf: nigen Takten einmal halb durch ze“) führt. Wegen der Länge des Das Werk bewegt sich von e-Moll den Quintenzirkel. Weiter geht vermittelnden Rezitativs (Nr. 34) nach c-Moll bzw. allgemeiner: Es es nicht! Als Beteiligter – Spieler ist er jedoch kaum als „Sturz“ er- „fällt“ von den Kreuztonarten in die oder Sänger – nimmt man diesen lebbar.) b-Tonarten. Das passiert in mehre- Tonartenfall geradezu körperlich Von nun an bleibt die Tonalität ren Anläufen. wahr, nicht zuletzt, weil er sich mit weitgehend im B-Tonartenbe- Ein sehr markanter „Tonartenfall“ einem markanten Aufschrei des reich – wir sind bereits nahe dem begegnet uns schon im ersten Teil. Evangelisten verbindet, zu dem Schlusschor, den Bach als c-Moll- Die beiden Choralstrophen „Er- ein „neapolitanischer Sextakkord“ Sarabande mit lauter fallenden Fi- kenne mich, mein Hüter“ (Nr. 15) erklingt – seinerzeit eine musika- guren illustriert (NB 21): und „Ich will hier bei dir stehen“ lische „Allzweckwaffe“ für harmo-

▶ NB 21 Schlusschor „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ (Choreinsatz)

Summer Schools 73 An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Blick zurück auf den Ein- gangschor. Der Unterschied könn- te nicht größer sein. Drei Stunden Passionsgeschehen liegen hinter dem Hörer und münden hier in einen Klagegesang, in dem alles – Tonart, Takt, Charakter, Textur – anders scheint als zu Beginn. Und doch sind beide Chöre einan- der näher, als es auf den ersten Blick scheint, denn bei näherem Hinse- hen scheinen sie aus dem gleichen „Ursatz“ abgeleitet. Reduziert man den Tonsatz bis auf das nackte har- monische und kontrapunktische Gerüst, erweist sich nämlich auch das Ritornell des Schlusschores als keilförmiger Satz über einem Or- ▶ NB 22 Die „keilförmige“ kontrapunktische Struktur von Nr. 1 und Nr. 68 gelpunkt (NB. 22).

Man könnte die Keile als Symbole dachte, wissen wir nicht. Dass er Die Matthäuspassion wird dem- für „Öffnen“ und „Schließen“, aber seinen symbolträchtigen „Ursatz“ nach von zwei „exklusiv seelen- auch für „Trennung“ und „Vereini- aber nur zweimal – eben am An- verwandten Portalen“ eingerahmt: gung“ auffassen. Wie prinzipiell fang und am Schluss des Werkes – Es gibt also doch einen Hauch von – oder pragmatisch – Bach hier einsetzte, spricht für sich. Reprise in diesem unerbittlich fal- lenden Geschehen!

Prof. Dr. Gerhard Luchterhandt studierte Mathematik, Geschichte und Musik in Marburg und Han- nover. Er beendete seine Ausbildung mit dem Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien, dem Kirchemusik-A-Examen, dem Diplom in Musiktheorie/Tonsatz sowie dem Konzertexamen im Fach Orgel. Nach einer Lehrtätigkeit für Orgel und Harmonielehre an der Hoch- schule für Musik und Theater Hannover von 1990 bis 1997 wurde er 1999 an die Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg berufen, wo er seit 2000 als Professor für Tonsatz, Musiktheorie und Orgelimpro- visation lehrt. 2001 gründete er das hochschuleiegene Jazz-Vokal- ensemble. Zudem wirkt er als Kirchenmusiker an der Heidelberger Christuskirche, wo er die historische Walcker-Orgel von 1903 betreut. Seit 2016 ist Gerhard Luchterhandt außerdem Professor an der Basler Musikhochschule.

74 Summer Schools SPIRITUS MUSICAE 2019 – 8. Heidelberger Summer School Klangraum – Raumklang von Bernd Stegmann

erminliche Engpässe lie- Henry Purcell aufbaut, war hier die chim Steinheuer und Paul Tarling ßen uns bei der Planung Programmidee. Das Credo erklang referierten über das interessante T der 8. Heidelberger Sum- dann als Eingangsportal der Kon- Spannungsverhältnis von Mu- mer School aus der Not eine Tu- zertnacht, Sanctus, Benedictus und sik und Architektur, geografische gend machen. Sie fand erstmalig Agnus Dei bildeten im Rahmen des Klangräume in der Geschichte und in einem sehr komprimierten For- sonntäglichen Universitätsgottes- Raumkonzepte innerhalb der mu- mat statt – an einem einzigen Wo- dienstes den Abschluss. Der Frei- sikalischen Werke. chenende, wobei das Kernstück in tag war der Tag der Vorträge. Silke Die Konzertnacht selbst bestand einem Non-stop Programm einer Leopold, Michael Kaufmann, Joa- dann aus einer sehr abwechslungs- Konzertnacht platziert war. Die Konzeption knüpfte damit an die überaus eindrucksvolle Konzert- HOCHSCHULE nacht zum 75-jährigen Jubiläum FÜR der Hochschule 2006 an. Zugleich KIRCHENMUSIK HEIDELBERG rahmten sozusagen beide Projekte meine eigene Zeit als Rektor der HfK. Ausgangspunkt für die Über- legungen, welche zur Gestalt die- ser Summer School führten, war, einerseits der spannenden Wech- selwirkung von Raum und Musik, andererseits dem Raumphänomen in der musikalischen Form selbst nachzuspüren. Dabei sollte schon die spezielle Programmabfolge so etwas wie einen großen klingen- den Raum abbilden. Virtuell über- wölbt wurde das Wochenende vom großen Klangraum der Bachschen h-Moll-Messe, deren einzelne SPIRITUS MUSICAE Sätze an jeweils einem der Veran- 8. HEIDELBERGER staltungstage erklangen. Ein Auf- taktkonzert am Donnerstagabend SUMMER SCHOOL ZU eröffnete das kompakt gefüllte Wo- MUSIK UND RELIGION chenende. Bachs Kyrie und Gloria in ein spannendes Gegenüber zu »KLANGRAUM – RAUMKLANG« Sven-David Sandströms »Hear my Prayer« zu setzen, dessen extre- 27. bis 30. Juni 2019 mer Ruf nach Erhörung wiederum auf dem gleichnamigen Stück von www.hfk-heidelberg.de · www.uni-heidelberg.de/termine/spiritus_musicae_2019.html / Monstar_Studio · Druck: Baier Digitaldruck GmbH © Corporate Design: Universität Heidelberg, Kommunikation und Marketing · Fotos: AdobeStock / Warpedgalerie

Summer Schools 75 reichen Folge von Konzerten. Einer grammpunkt »Raummusik a denkwürdige Abend mit einer der Höhepunkte war gewiss die cappella« auf. Drei Chöre – Der ungewöhnlichen Meditation Aufführung der »Quattro stagio- Badische Kammerchor der Hoch- aus. Eugen Polus spielte Chopins ni« von Vivaldi mit dem berühm- schule, die Heidelberger Kantorei »Nocturnes« im Wechsel mit Gre- ten Barockgeiger Gottfried von und der Anglistenchor Heidelberg gorianischen Gesängen, die unter der Goltz. Er hatte in einer äußerst zelebrierten unter der Leitung von der Leitung von Markus Uhl von konzentrierten und inspirierenden Andrea Stegmann und Jan Wil- der Schola Cantorum Stuttgart in- Probenphase einen wunderbaren ke vielstimmige Chormusik vom toniert wurden. In lockerer Runde Gleichklang mit dem Barockor- Feinsten. Die in der Mitte der Kir- lauschte man, in Begleitung der chester L`Arpa Festante erzielt. che sitzenden und teilweise liegen- letzten Reste des Pausenweins, den Virtuos, extrem lebendig und tech- den (!) Zuhörerinnen und Zuhörer melancholischen, hoch sensibel nisch perfekt gelang dann auch die wurden förmlich umspült von der aneinandergesponnenen Klavier- Darbietung. Sie war aber nur ein 40-stimmigen Partitur des »Spem klängen und dem durchs weite Teil eines größeren Ganzen. Inter- in alium« von Thomas Tallis und Kirchenrund wehenden Liturgie- poliert wurden die Concerti durch den changierenden Klängen von gesang – beides verschmolz zu eigens hierfür von Helmut Barbe Knut Nystedts »Immortal Bach«, einer zauberhaften Melange. komponierten Sätzen für Chor, das die im gesamten Raum verteil- Der sonntägliche Universitätsgot- Akkordeon, Harfe und Schlagwerk, ten Chöre anstimmten. Nur eine tesdienst gab mir selbst dann Ge- den »Canti di Ungaretti«. Sie aufwendige zunächst in Klein- legenheit, mich mit den Schluss- stellen sozusagen die jahreszeit- gruppen vorbereitete Einstudie- teilen der h-Moll-Messe von liche Abfolge der Vivaldi-Konzer- rung der komplexen Werke konnte der Hochschule als Rektor und te in den größeren Rahmen eines eine derart ausgewogene Klang- Chorleitungsprofessor zu verab- ganzen Lebens und wirken dabei balance bei gleichzeitig perfektem schieden – und natürlich auch als in ihrer subtil zurückgenomme- Timing der weit auseinander ste- »Motor« des kleinen Festivals, das nen Klanglichkeit und knappen henden Sängerinnen und Sänger immer wieder unter Beweis stellen Textgestalt wie meditative Inseln bewerkstelligen. Die Wirkung auf konnte, welch großes Potenzial in in der temperamentvollen Barock- das Publikum war im wahrsten unserer Hochschule steckt. Möge musik. Dieses an sich schon un- Sinn des Wortes überwältigend. es weiter stattfinden und »Uner- gewöhnliche Setting wurde dann Gegen Mitternacht klang der hörtes« zum Klingen bringen. noch zusätzlich geweitet von einer hochprofessionellen Tanzper- formance der Vivaldi-Teile durch die Ballettwerkstatt Wiebke Hoff- mann. Die drei Komponenten des Ganzen waren zusätzlich an verschiedenen Stellen der Peters- kirche positioniert. Dass die gute Leitung des anspruchsvollen Bar- be-Teils in studentischer Hand lag (Felicity Hotasina, Gigi Yau), sollte dabei nicht unerwähnt bleiben. Das Phänomen Raummusik kam aufs Schönste zur Geltung durch das Konzert »Zwei Orgeln im Dialog«, das Stefan Göttelmann und Carsten Klomp bestritten. In den kurzweiligen Barockwerken von Pedro José Blanco, Giovanni Bernardo Lucchinetti und anderen warfen sie sich die Motive auf spie- lerische Weise zu. Mit einem Klangbad der beson- Sleepover-Flair bei der Konzertnacht: Rund um die Zuhörer singen die Chöre die deren Art wartete dann der Pro- Chormeditation „Immortal Bach“ von Knut Nytedt. Foto: Andrea Hadwiger

76 Summer Schools Bachs h-Moll-Messe Beim Anschauen des Programms der diesjährigen Summer School zur Musik und Religion (2019) fallen dem Leser einige etwas überraschende Programmpunkte sofort ins Auge. Was hat etwa Chopin mit Gre- gorianik zu tun? Wie werden Orchester und Chor um das Element des Tanzes erweitert? Und wieso wird Bachs h-Moll-Messe nicht am Stück aufgeführt, sondern auf mehrere Abende aufgeteilt? Es handelt sich ja um ein zusammenhängendes, in sich geschlossenes Werk … oder? von Paul Tarling

emand, der seinen Gefallen kannte, nie von Bach als ein ein- Ich gehe in meiner Darstellung da- an einer solch gestückelten heitliches Werk konzipiert wurde, von aus, daß die Folge von Sätzen, J Aufführung gefunden hätte, legte er eine kleine Bombe unter die mit dem >Kyrie eleison< in h- war Friedrich Smend, der Bachs die romantische Vorstellung des, moll beginnt und mit dem >Dona Messe 1954 im Rahmen der Neuen um Hans Georg Nägelis Formulie- nobis pacem< in D-Dur schließt, Bach Ausgabe edierte. Denn Smend rung von 1818 zu zitieren, „größ- und die seit etwa anderthalb Jahr- vertrat die Ansicht, dass es die ten musikalischen Kunstwerks hunderten mit dem Namen >Messe h-Moll-Messe gar nicht gab. In- aller Zeiten und Völker“.1 Dazu in h-moll< oder auch >Die Hohe dem er behauptete, dass das, was schrieb Smend2: Messe in h-moll< bezeichnet wird, man früher als die h-Moll-Messe kein einheitliches Gebilde ist, daß Bach selber sie nicht als ein zu- sammenhängendes Werk betrach- tet hat. Was man bisher mit diesen Titeln belegt hat, ist der Inhalt eines Sammelbands, der vier selbststän- dige Kompositionen enthält: Eine >Missa<, d.h. eine nur aus >Kyrie< und >Gloria< bestehende lutherische >Missa<, ein >Symbolum Nicenum<, d.h. eine Vertonung des Glaubens- bekenntnisses von Nicea, ein >Sanc- tus< und eine Komposition der Texte vom >Osanna in excelsis< bis zum >Dona nobis pacem<. Jedes dieser vier Werke ist unabhängig von den anderen entstanden und hat sich als selbständige Komposition erhalten, z.T. sogar weiterentwickelt, nach- dem Bach sie alle in einem Hand- schriftenbande vereinigt hatte.

▶ Abb. 1 Titelblatt des Autographs

1 Nägelis „Ankündigung des größten musikalischen Kunstwerks aller Zeiten und Völker“ von 1818, mit der er, nun im Besitz der autographen Partitur aus dem Nachlass CPE Bachs, um Subskribenten für eine erste Edition wirbt. 2 Friedrich Smend (hrsg.), „Kritischer Bericht“, in Missa; Symbolum nicenum; Sanctus; Osanna, Benedictus, Agnus dei et Dona nobis pacem (später genannt „Messe in h-moll“), Kassel, 1956, S. 11.

Summer Schools 77 Und tatsächlich scheint ein Blick Wie Maul urteilt, „dürfte [es] Durchlauchtigster ChurFürst, Gnä- in das Autograph, das heute in der schwerfallen, ein Parallelbeispiel digster Herr, Staatsbibliothek zu Berlin aufbe- in der abendländischen Kulturge- wahrt wird (Bach P-180), Smends schichte zu finden, wo derart unter Ew. Königlichen Hoheit überreiche These zu unterstützen. Denn jeder Zeitdruck und über einen so lan- in tieffster Devotion gegenwärtige der vier von Smend genannten Ab- gen Zeitraum ein Werkkomplex geringe Arbeit von Wißenschafft, schnitte ist mit einem eigenen au- von vergleichbarer Kunsthaftigkeit welche ich in der Musique erlan- tographen Titelblatt versehen (vgl. entstand“.5 Dem anfänglichen Ar- get, mit ganz unterthänigster Bit- Abb. 1) Auch der Entstehungskon- beitseifer folgte jedoch der Unmut. te, Sie wollen dieselbe nicht nach text des Werkes könnte Smends Gegen Ende der 1720er Jahre gab der schlechten Composition, sonder These stärken. Denn die vier von sich Bach zunehmend nicht zu- nach Dero Welt berühmten Cle- Smend identifizierten Teile der frieden mit seiner Situation, nicht menz mit gnädigsten Augen an- Messe sind zu verschiedenen Zeit- zuletzt aufgrund von Spannungen zusehen und mich darbey in Dero punkten und zu unterschiedlichen mit den Schulbehörden wegen mächtigste Protection zu nehmen Anlässen entstanden. Christoph einer Aufnahmepraxis, die mu- geruhen. Ich habe einige Jahre und Wolff schreibt von zwei „deutlich sikalisch unbrauchbaren, einhei- bis daher bey denen beyden Haupt- auseinander liegenden Phasen, mischen Knaben den Vorzug gab. Kirchen in Leipzig das Directorium 1733 und 1748-1749“, in denen Schließlich brachte Bach seine Un- in der Music gehabt, darbey aber das Werk entstanden und nieder- zufriedenheit 1730 in dem bekann- ein und andere Bekränckung un- geschrieben wurde.3 Um zu ver- ten „Kurtzer, iedoch höchstnötiger verschuldeter weise auch iezuweilen stehen, wie es zu der Entstehung Entwurff einer wohlbestallten eine Verminderung derer mit dieser dieses Werkes kam, muss man et- Kirchen Music“ zum Ausdruck. Funktion verknüpfften Accidentien was ausholen. Am Sonntag nach Neben der Aufnahmepraxis im empfinden müßen, welches aber Trinitatis 1723 trat Bach das Amt Alumnat beschwerte sich Bach da- gänzlich nachbleiben möchte, da- des Leipziger Thomaskantors an, rüber, dass bisher ausgezahlte Ho- ferne Ew. Königliche Hoheit mir die eine Stelle, die zu den prominen- norare für musikalische Aushilfen Gnade erweisen und ein Praedicat testen im lutherischen Deutsch- abgeschafft wurden; somit fiel es von Dero Hoff-Capelle conferiren, land gehörte. Und Bach, der die ihm zunehmend – und erst recht und deswegen zu Ertheilung eines Jahre zuvor am Hof des Fürsten bei Aufführungen figuraler Musik Decrets, gehörigen Orths hohen Leopold von Anhalt-Köthen tätig an Festtagen – schwer, sowohl die Befehl ergehen laßen würden; Sol- war, stürzte sich sofort in seine Vokal- als auch die Instrumental- che gnädigste Gewehrung meines Arbeit. So sind in den Jahren ab stimmen adäquat zu besetzen. Es demüthigsten Bittens wird mich zu 1723 mehrere Kantenjahrgänge, ist wohl im Zusammenhang mit unendlicher Verehrung verbinden das Magnificat, sowie die Johan- seiner Unzufriedenheit in Leipzig und ich offerire mich in schuldigsten nes- (1724) und die Matthäus-Pas- zu erklären, dass Bach sich 1733 an Gehorsam, iedesmal auf Ew. König- sion (1727) entstanden; der Leip- den neuen Sächsischen Kürfürsten lichen Hoheit gnädigstes Verlangen, ziger Bachforscher Michael Maul Friedrich August II wandte, wohl in Componirung der Kirchen Musi- schreibt hier von „Meisterwerke[n] in der Hoffnung, ein kurfürst- que sowohl als zum Orchestre mei- im Wochentakt, allesamt kompo- liches Prädikat möge seine Stel- nen unermüdeten Fleiß zu erweisen, niert auf einem unfaßbar hohen lung in Leipzig stärken. Folgendes und meine ganzen Kräffte zu Dero Niveau und mit einem technischen Widmungsschreiben legte er dem Dienste zu widmen, in auffhörlicher Anspruch, der keinen Raum für Stimmensatz – den sogenannten Treue verharrend Kompromisse ließ“.4 „Dresdner Stimmen“6 – bei: Ew. Königlichen Hoheit unterthä- nigst-gehorsamster Knecht

Johann Sebastian Bach.

3 , Johann Sebastian Bach: Messe in h-Moll, Kassel, 2009, S. 12. 4 Michael Maul, „Dero berühmbter Chor“: die Leipziger Thomasschule und ihre Kantoren (1212 - 1804), Leipzig, 2012, S. 209. 5 Ebd., S. 209-10. 6 Heute in der Sächsischen Landesbibliothek aufbewahrt (D-Dl: Mus.2405-D-21).

78 Summer Schools Bei der „gegenwärtigen geringen fehlenden Sätze zu einer vollstän- tigkeit und absolute Beherrschung Arbeit“, die Bach dem Kurfürs- digen Vertonung des (katholischen) der musikalischen Wissenschaft ten schenkte, handelte es sich um Messordinariums. Selbst das unge- für die Ewigkeit unter Beweis zu eine lutherische Missa, bestehend übte Auge sieht den Unterschied stellen. Somit könnte man mit aus Vertonungen der Ordina- zwischen Bachs Handschrift von dem Bachforscher John Butt sagen, riums-Sätze Kyrie und Gloria. Als 1733 im ersten Teil des Autographs dass Bach allein einem Zweck folg- es darum ging, den neuen Kur- und seiner Handschrift in den wei- te: „der Zusammenfassung und der fürsten mit seiner musikalischen teren Teilen, die zwischen August Vervollkommnung seines ganzen „Wißenschafft“ zu beeindrucken, 1748 und Oktober 1749 kopiert Lebenswerks“.7 war Bachs Entscheidung für eine wurden. Dabei war es keineswegs Tatsächlich wirkt Bachs Messe lutherische Missa besonders ge- so, dass es sich ausschließlich um wie ein Kompendium sämtlicher schickt. Denn, obwohl Sachsen zu neue Kompositionen handelte. zu seiner Zeit geläufigen Musik- den Kernländern der Reformation Obwohl das Sanctus im Autograph techniken und Stile. Auch liegt in Deutschland gehörte, waren die neu aufgezeichnet wurde, handelt der Gedanke nahe, dass Bach ver- Kurfürsten seit dem Glaubens- es sich um eine Komposition, die schiedene zeitliche Etappen der wechsel Augusts den Starken im zu Weihnachten 1724 als Einzel- Christenheit darstellen wollte. So Jahre 1697 katholisch. Anders als werk entstanden ist. Aber auch reicht der zeitliche Bogen von der etwa im Falle einer seiner Leipzi- in den weiteren Teilen griff Bach Verwendung einstimmiger liturgi- ger Kantaten, deren Verwendung immer wieder auf frühere Kom- scher Melodien aus dem christli- der Volkssprache und die teils po- positionen zurück. Ob die daraus chen Mittelalter (etwa im „Kyrie I“ etischen, madrigalischen Texte in entstandene missa tota zu Bachs oder im „Confiteor“) über das Stile der evangelischen Tradition ver- Lebzeiten je als ein Ganzes aufge- antico des sechzehnten Jahrhun- ankert waren, hatten die lateini- führt wurde, ist unklar. Wozu Bach derts bis hin zu der galanten Raf- schen Texte des Messordinariums gegen Ende seines Lebens diesen finesse seiner eigenen Zeit. Aber eine überkonfessionelle Gültigkeit. Sammelband erstellte, lässt sich weder 1733 noch bei der späteren Seine Mühe hat sich ausgezahlt, ebenfalls nur schwer sagen. In den Vervollständigung der Messe war denn 1736 erhielt Bach den Titel letzten Jahren seines Lebens schuf die Musik ganz neu. Denn Bach eines „Hofcompositeurs“. Ob es Bach mehrere Werke – die Kunst wendete sowohl in der früher ent- damals zu einer Aufführung der der Fuge, das musikalische Op- standenen Missa als auch in den Missa kam, sei es in Dresden oder fer, die kanonischen Variationen später zusammengestellten Teilen in Leipzig, bleibt jedoch unklar. über „Vom Himmel hoch“ – die das bereits erwähnte Parodie-Ver- Erst gegen Ende seines Lebens er- den Gedanken nahelegen, dass es fahren an, also die Wiederverwen- gänzte Bach seine Missa um die ihm darum ging, seine Kunstfer- dung, oft mit einer einhergehen- den Umtextierung, einer bereits bestehenden Komposition, um neue Nutzungsperspektiven zu eröffnen. Für einige Sätze kennen wir noch die Parodie-Vorlage. So lässt sich nachweisen, dass es sich beim „Gratias agimus tibi“ um eine Bearbeitung des Satzes „Wir dan- ken dir, Gott, wir danken dir“ aus der gleichnamigen Kantate han- delt, die am 27. August 1731 ur- aufgeführt wurde; auch das „Qui tollis“ hat seinen Ursprung im ers- ten Satz der Kantate „Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei“, die Bach 1723 in seinem ers- DIcht gedrängt füllen Chor und Orchester die Empore bei der Aufführung der ten Leipziger Kantatenjahrgang Abendmahlsteile im Universitätsgottesdienst der Summer School. Foto: Jisun Youn aufführte. Im Credo geht der Satz „Crucifixus“ auf den Eröffnungs- 7 John Butt, Bach: , Cambridge, 1991, S. 24.

Summer Schools 79 satz der Kantate „Weinen klagen, nung des Messordinariums ergibt. Vorwort zu dieser Edition zusam- sorgen zagen“ zurück, die mehr als Bereits 1958 erhob Georg von menfasst10: drei Jahrzehnte früher in Weimar Dadelsen, dessen Forschungen entstanden ist. Inzwischen ist sich zur Chronologie der Bachschen Das Autograph enthält dabei keines- die Wissenschaft weitestgehend Vokalwerke das herkömmliche wegs unabhängige Kompositionen, einig, dass deutlich mehr Sätze auf Bach-Bild mehr oder weniger über die zu unterschiedlichen Zeiten ein- frühere, inzwischen verschollene Bord warfen, Einwände.9 Um dem getragen wurden und nur zufällig Vorlagen zurückgehen.8 aktuellen Forschungsstand gerecht zusammen den Text der Missa tota Ganz überzeugt war die Wissen- zu werden, erschien 2010 eine re- abdecken, wie Smend noch annahm. schaft nie von Smends These eines vidierte Edition, die Smends Aus- Bach erweiterte vielmehr gezielt be- Sammelbandes, dessen Inhalt eher gabe innerhalb der Neuen Bach reits bestehende Teile zu einer voll- zufällig eine vollständige Verto- Ausgabe ablöste. Wie im ständigen Messe.

8 Zusammengefasst in Alfred Dürr, „Parodiefrage in Bachs h-moll-Messe. Eine Be- standsaufnahme“, in Die Musikforschung 45 (1992), S. 117-138. 9 Georg von Dadelsen, Beiträge zur Chronologie der Werke Johann Sebastian Bachs, Trossingen, 1958, v.a. „Exkurs über die h-Moll-Messe“, S. 143-156. 10 Uwe Wolf (hrsg.), Messe in h-Moll (= Neue Ausgabe sämtlicher Werke revidierte Edition), Kassel, 2010, S. IX.

Dr. Paul Tarling ist seit 2018 akademischer Mitarbeiter am Musikwissenschaftlichen Seminar in Heidelberg. Er studierte Musikwissenschaft, Musik und Philosophie in Auckland und Heidelberg sowie von 2015-2017 Kir- chenmusik an der HfK Heidelberg.

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80 Summer Schools Musik im Raum – Raum in der Musik Eine historische Annäherung von Joachim Steinheuer

eit die Möglichkeit besteht, z.B. in Epidauros oder Delphi oder konnten. Eine hervorragende Rol- Musik technisch aufzuzeich- später dann auch bei römischen le kam dabei vor allem Blech- und S nen und zu reproduzieren, Theatern wurden unter freiem Holzblasinstrumenten zu, deren zu verstärken und zu übertragen, Himmel Räume so gestaltet, dass Klang naturgemäß eine deutlich hat sich das Verhältnis von Musik besondere akustische Verhältnisse größere Reichweite besitzt als der und Raum grundlegend gewandelt erzielt werden konnten. Das Thea- von Streich- oder Zupfinstrumen- und ist erstaunlich vielfältig und ter in Epidauros soll bis zu 12.000 ten. flexibel geworden. Musik, die an Zuschauern Platz geboten haben Im Auftrag der Bruderschaft der einem bestimmten Ort erklingt, und bis heute lassen sich auf allen Scuola Grande di San Giovanni kann fast zeitgleich auch an weit Rängen selbst leiser gesprochene Evangelista schuf Gentile Bellini entfernten Orten gehört werden, oder gesungene Passagen deutlich 1496 ein großformatiges Gemäl- große öffentliche Arenen wie auch hören. Auch im geistlichen Bereich de, das die feierliche Prozession weite Plätze oder freie Flächen gibt es vereinzelt außen an Kirchen am Festtag des Heiligen Kreuzes können ebenso beschallt werden architektonische Vorkehrungen, am 25. April 1444 auf der Piazza wie ganze Flughafenareale, Bahn- die gezielt den Vortrag von Wort San Marco in Venedig zeigt.1 Die hofshallen und großdimensionier- oder Musik unterstützen sollten, bei diesem Anlass von Mitglie- te Einkaufszentren, doch ermög- so etwa bei der von Donatello und dern der Bruderschaft getragene lichen umgekehrt etwa Autoradios Michelozzo da Bartolomeo gestal- kostbare Kreuzreliquie ist im Vor- oder Kopfhörer auch die Schaffung teten Außenkanzel am Dom von dergrund in der Bildmitte zu se- von klar abgegrenzten, kleinen und Prato, die ähnlich wie auch man- hen und soll bei der dargestellten gleichsam privaten Hörräumen che Kanzeln im Kircheninnern Gelegenheit ein Wunder bewirkt nur für eine einzelne Person oder gezielt mit einem über der Kanzel haben, als ein Kaufmann aus Bre- wenige Hörer auf engstem Raum. angebrachten Schalldeckel ver- scia vor ihr niederkniete (zu sehen sehen wurde, der Wort oder Mu- ein wenig rechts neben dem Reli- I. MUSIK IM ÖFFENTLICHEN sik reflektiert und damit verstärkt. quienschrein) und um Rettung für RAUM Im Unterschied zu solchen eher seinen sterbenden Sohn betete, der vereinzelten Beispielen wurden daraufhin sofort geheilt war. Am In früheren Jahrhunderten wie jedoch die meisten öffentlichen vorderen linken Bildrand sind in- auch bei heutigen Aufführun- Räume, wo Musik erklang, nicht nerhalb der Prozession Instrumen- gen ohne technische Hilfsmittel gezielt dafür gebaut oder herge- talisten sowie Sänger mit Blättern musste und muss dagegen Musik richtet. Religiöse Prozessionen in der Hand zu sehen, die als Chor vielfach ganz direkt auf konkrete oder Trauerzüge wie auch weltli- der Scuola di San Marco gedeutet räumliche Gegebenheiten reagie- che Festumzüge oder militärische worden sind, während weiter hin- ren, die Aufführungsbedingungen Siegesfeiern nutzten vorhandene ten in der Prozession am rechten meist durch Wahl und Größe der städtische Räume wie Plätze oder Bildrand kurz vor dem Dogen mit Besetzung oder auch die Art der Straßenzüge. Da Musik bei solchen seiner charakteristischen offiziel- Musik den jeweiligen akustischen Anlässen häufig in Bewegung aus- len Kopfbedeckung sowie seinem Verhältnissen anpassen. Nur selten, geführt wurde, kamen dabei insbe- Hermelinumhang eine Gruppe von wie etwa bei den halbkreisförmi- sondere Instrumente zum Einsatz, Bläsern zu erkennen ist, die sich gen antiken griechischen Theatern die auch im Gehen gespielt werden wohl aus den piffari del Doge sowie

1 Da Bild wird in den Gallerie dell’Accademia in Venedig gezeigt.

Summer Schools 81 große Zahl weiterer Prozessionen – konnten also durchaus mehre- re Vokal- und Instrumentalgrup- pen mit verschiedenartiger Musik nacheinander oder auch gleichzei- tig zum Einsatz kommen. Seit etwa 1500 wurden bei Pro- zessionen oder Umzügen zusätz- lich häufig auf langen Stangen ge- tragene lebende Bilder oder auch Triumphwagen mit lebenden Fi- guren mitgeführt, auf denen nicht selten weitere Musiker mit ihren Instrumenten platziert waren. So zeigt eine Zeichnung von Alb- recht Dürer, die während seines zweiten Italienaufenthalts 1506 im Zusammenhang mit der Fron- leichnamsprozession in Venedig entstand, eine von insgesamt 15 Männern getragene mobile Büh- ne, auf der unter einem Baldachin Christus als Schmerzensmann am Grab mit Johannes und Maria zu sehen ist, während an den Ecken jeweils Knaben auf Delfinen sitzen und eine Laute spielen.3 Für den Triumphzug Kaiser Maximilians I. schuf nur wenige Jahre später Hans Burgkmair der Ältere um 1517 die bekannte Darstellung eines Festwagens mit acht Musi- ▶ Abb. 1 Giacomo Franco: Darstellung einer Prozession kern darauf, die ein gemischtes Ensemble aus verschiedenen Inst- den trombe d’argento zusammen- Länge und ihres Gewichts am rumentengattungen bilden. Neben setzt, den berühmten sechs Silber- unteren Ende zusätzlich von Kna- einem Einhandflötenspieler mit trompeten der Republik Venedig.2 ben gestützt werden, kurz dahinter Trommel sowie einer Harfe finden Bei Bellini scheinen diese beiden bilden die sechs Piffari eine eigene sich zwei Streichinstrumente, zwei Ensembles noch eine Gruppe zu zweite Musikergruppe, wie durch Lauten und zwei Pommern mit je- bilden, auf jüngeren Darstellungen die Beschriftung des Prozessions- weils unterschiedlicher Größe und von venezianischen Prozessionen zuges im Bild selbst markiert wird. anderem Ambitus. In derartigen sind sie meist durch einige ande- Bei größeren Prozessionen – im Fällen bewegten sich die Musi- re Personen voneinander getrennt, Laufe eines Jahres gab es in Vene- ker anders als bei Prozessionen wie etwa auf einer Darstellung von dig allein mehr als ein Dutzend nicht selbst fort, sondern wurden Giacomo Franco Forma aus dem festliche sogenannte andate in tri- auf Wagen gezogen oder eben auf Jahre 1610, wo die Silbertrompe- onfo mit Beteiligung des Dogen auf großen Gestängen mit quasithea- ten vorangehen und wegen ihrer der Piazza San Marco sowie eine tralischen Szenerien getragen. Im

2 Jeffrey Kurtzman und Linda Maria Koldau, Trombe, Trombe d‘argento, Trombe squarciate, Tromboni, and Pifferi in Venetian Processions and Ceremonies of the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Journal of 17th Century Music, Bd. 8 Nr 1, 2002. Online-Publikation: http://www.sscm-jscm.org/v8/no1/kurtzman.html 3 Andrea Löther, Rituale im Bild. Prozessionsdarstellungen bei Albrecht Dürer, Gentile Bellini und in der Konzilschronik Ulrich Richentals, in: Mundus in imagine. Bildersprache und Lebenswelten im Mittelalter, Festgabe für Klaus Schreiner, hrsg. von Andrea Löther, Ulrich Meier, Norbert Schnitzler Gerd Schwerhoff und Gabriela Signori, München: Fink, 1996. S. 99-123.

82 Summer Schools Falle der Lautenisten auf Dürers der Bühnen hier dargestellt sind, Tag von Gauklern auf der Piaz- Zeichnung konnte wohl jeweils waren fraglos nur von den Zu- za San Marco dem Volk aus allen nur eine relativ kleine Gruppe von schauern direkt vor der jeweiligen Nationen vorgeführt wird, das ge- Zuschauern die auf der Bühne ge- Bühne zu hören. Doch da wegen wöhnlich vormittags und abends spielte, eher leise Musik für kurze der Größe des Platzes genügend dort zusammenkommt.“4 So sind Zeit hören, solange die Musiker räumlicher Abstand möglich war, denn in der vordersten Bildreihe in ihrer Nähe waren, doch durch störten die verschiedenen simulta- einige in Rücken- oder Seitenan- das Weiterziehen des Zuges hat- nen Darbietungen sich gegenseitig sicht dargestellte Zuschauer ge- ten letztendlich viele Schaulustige vermutlich nicht allzu sehr. In der zielt als Grieche, Franzose, Spanier, entlang des Weges Gelegenheit, die Bildunterschrift erfährt man, dies Türke und Engländer ausgewiesen. einzelnen Musikergruppen aus der sei eine „Unterhaltung, die jeden Nähe zu vernehmen. Andere zeitgenössische Abbildun- gen der Piazza San Marco machen deutlich, dass größere öffentliche Plätze darüber hinaus auch simul- tan für mehrere parallele Ereignis- se mit Musik genutzt werden konn- ten. Giacomo Franco Forma hat in einem weiteren Stich aus dem gleichen Druck von 1610 unter- schiedliche Darbietungen festge- halten, die offenbar gleichzeitig auf dem Markusplatz stattfanden. Auf einer Bühne im Vordergrund sind Masken der Commedia dell’arte zu erkennen, insbesondere Pantalo- ne, der einer vornehm gekleideten, Laute spielenden Dame seine Auf- wartung macht, was von vier ande- ren Figuren auf der Bühne, unter ihnen rechts eine Dienerfigur mit Maske, aufmerksam verfolgt wird. Auf einer zweiten Bühne im mitt- leren Bildbereich auf der rechten Seite wird offenbar ebenfalls eine Komödie mit Masken aufgeführt, allerdings in der dargestellten Sze- ne ohne Musik. Im hinteren linken Bereich findet auf einer dritten Bühne parallel dazu offenbar eine Art Konzert mit einer Harfenistin, einem weiteren Instrumentalisten und zwei Sängern statt, während in der Bildmitte eine dicht gedrängte Zuschauermenge als eine vierte Gruppe im Kreis um einen Mann steht, der wohl mit einem Affen Kunststücke vorführt. Instrumente ▶ Abb. 2 Ciacomo Franco: Ciarlatani in Piazza di San Marco wie Laute und Harfe, die auf zwei 4 „Intrat(t)enimento che dan(n)o ogni giorno li ciarlatani in Piazza di San Marco al popolo d’ogni natione che mattina e sera or- dinariamente vi concor(r)e”, in Giacomo Franco, Habiti d‘huomeni et donne venetiane: con la processione della Ser.ma Signoria et altri particolari cioè. Trionfi feste et cerimonie publiche della nobilissima città di Venetia, Venedig: Giacomo Franco 1610. [Abbildung 23].

Summer Schools 83 II. MUSIK IM KIRCHENRAUM: RÄUMLICHE ABGRENZUNG DER CHORHERREN, MÖNCHE UND SÄNGER

Bei geschlossenen Räumen, in de- nen nicht nur vereinzelt, sondern regelmäßig Musik erklang – vor allem in Kirchenräume –, kam es schon früh zur Herausbildung von bestimmten oft auch architekto- nisch hervorgehobenen Bereichen für die Musiker. Das Wort Chor bezeichnet nicht zufällig in euro- päischen vielen Sprachen gleicher- maßen einen bestimmten Teil des Kirchenraums selbst wie auch die ▶ Abb. 3 Coro und Trascoro in der Kathedrale von Toledo ursprünglich nur aus Klerikern be- stehende Sängergruppe, die dort schen Kirchen, in denen eine ver- architektonisch abgehoben, in die während der Liturgie von Mes- gleichbare architektonisch abge- romanischen Kirchen vielfach in se und Stundengebeten vorgesehe- setzte Schola Cantorum noch zu Verbindung mit einer darunter lie- nen Gesänge aufführt. Die archi- sehen ist, gehören Santa Maria in genden Krypta durch Erhöhung tektonischen Lösungen hierfür Cosmedin und Santa Sabina. des Bodenniveaus, so dass er vom waren in Laufe der Jahrhunderte Mit dem Aufkommen anderer For- Langhaus aus nur über einzelne durchaus unterschiedlich. In meh- men von Kirchenbauten, insbeson- Stufen oder auch größere Treppen reren frühchristlichen Basiliken in dere solchen in Kreuzform, verla- zu erreichen war, wie etwa in der Rom hat sich ein als Schola canto- gerte sich der Ort für den Gesang ehemaligen Stiftskirche St. Georg rum bezeichneter Typus erhalten, der Kleriker meist in jenen Bereich in Oberzell auf der Insel Reichen- ein mit halbhohen Marmorschran- zwischen der Vierung und dem au und in weit größerem Maßstab ken abgegrenzter rechteckiger Be- Hauptaltar, der auch als Chorraum im Speyerer Dom. Die Gesänge reich im Mittelschiff, der zwar ei- oder auch einfach Chor bezeichnet erklangen damit von einer an- nen eigenen Raum für die Kleriker wird.5 Oft handelte es sich dabei deren, gleichsam höheren Ebene. bzw. Sänger definierte, diesen aber in romanischen Kirchen zunächst In gotischen Kathedralen ist der nicht für den Blick der Laien ver- um ein sogenanntes Chorquad- Chorraum mit dem Chorgestühl sperrte. Während der Messen und rat, das nur aus einem Joch be- oft von einem Chorumgang und Stundengebete standen, saßen und stand, woran sich ein Chorschluss gelegentlich auch einem zusätzli- knieten die Kleriker an den beiden in Form einer geraden Wand bzw. chen Kapellenkranz umgeben. Da Längsseiten in zwei Gruppen ei- einer halbkreisförmigen oder auch der Chorumgang auch den Nicht- nander zugewandt, was vor allem polygonalen Apsis anschließen klerikern zugänglich war, wurde er Wechselgesänge zwischen zwei konnte. Doch wurde der Chor- oft ganz gezielt visuell vom eigent- Chorgruppen oder auch zwischen raum besonders in gotischen Ka- lichen Chor getrennt, wie etwa Vorsänger und Chor begünstig- thedralen oft auf zwei oder mehr in Nôtre Dame in Paris, wo die te, wie dies etwa bei Psalmen und Joche erweitert und bot damit Außenseiten des nicht einsehbaren Responsorien gängige Praxis war. einer weit größeren Zahl von Kle- Chorraums schon im 13. Jahrhun- Die erhaltene Schola Cantorum rikern Platz. Das manchmal reich dert mit kunstvollen Reliefs ver- von San Clemente in Rom weist verzierte Chorgestühl wurde auch sehen wurden. sogar noch die beiden erhöhten hier in zwei einander zugewand- Eine fast vollständige Abtrennung marmornen Pulte auf, den Ambo ten, manchmal mehrreihigen An- des Bereichs der Kleriker und da- und die Kanzel, die über einige ordnungen an den Längsseiten des mit des liturgischen Gesangs findet Treppenstufen erreicht werden Chores aufgestellt. sich auch in vielen spanischen Ka- konnten. Zu den anderen römi- Vielfach wurde der Chor nun thedralen, etwa in Sevilla, Toledo

5 Gelegentlich wurde auch der Chorraum in das Langhaus eingebaut wie etwa im Kloster Maulbronn.

84 Summer Schools und Salamanca. Allerdings ist hier in Sachsen ist anstelle eines ent- len einbezogen und konnten in der Coro als zentraler Binnenchor sprechenden Altars eine Triumph- jüngerer Zeit dann etwa auch für in das Mittelschiff eingebaut, so kreuzgruppe oben auf dem Lettner besondere Raumwirkung bei der dass die Raumwirkung insgesamt angebracht, während im Münster Aufführung mehrstimmiger Musik keine klare Ausrichtung aufweist von Bad Doberan der monumen- verwendet werden. wie in den meisten nicht-spani- tale doppelseitige Kreuzaltar selbst Seit dem 16. Jahrhundert, als die schen Kirchen, die beim Eintritt zugleich die Funktion eines Lett- Aufführung mehrstimmiger geist- durch die Hauptfassade einen ners übernimmt und den Chor- licher Musik immer mehr in den weiten Blick durch das ganze Kir- raum der Mönche abtrennt. Meist Vordergrund rückte und die Chö- chenschiff in Richtung Hauptaltar waren Lettner durch Treppen von re nicht mehr ausschließlich aus freigeben. Motiviert war dies in der Chorseite her begehbar und Klerikern, sondern häufig aus manchen Fällen dadurch, dass die wurden für Lesungen liturgischer professionellen Musikern bestan- Räume ursprünglich als Moscheen Texte und insbesondere auch Pre- den, verlor der alte, den Mönchen gedient hatten und erst später in Kirchen umgewandelt wurden, so dass ganz andere architektonische Lösungen erforderlich waren. Au- ßen sind die spanischen Binnen- chöre oft reich gegliedert und mit Figurenschmuck versehen, beson- ders die Rückseite des Coro, der sogenannte Trascoro. Eine Beson- derheit ist zudem, dass häufig auf den beiden Längsseiten des Coro zwei große Orgeln platziert sind, deren Prospekte nach außen zum Hauptraum hin ausgerichtet sind und damit einen integralen Be- standteil der Ausschmückung des Binnenchores bilden. Im Unter- schied dazu sind andernorts übli- ▶ Abb. 4 Lettner mit Orgel in St. Pierre-le-Jeune, Straßburg che kleinere Chororgeln, wie die in Nôtre Dame in Paris, in das Innere digten genutzt. In den Lettner der oder Chorherren vorbehaltene des Chorraumes ausgerichtet. Kathedrale von Modena mit Mar- Chorraum vor dem Hauptaltar Vielfach wurde der Chorraum morreliefs zum Passionsgeschehen ein Stück weit seine privilegierte zudem durch einen oft reich ver- von Anselmo da Campione wurde Rolle als wichtigster Ort der Mu- zierten hölzernen oder steinernen sogar gezielt eine Kanzel integriert. sikausübung in den Kirchen. Viel- Lettner vom Langhaus abgetrennt, Nicht selten wurden die Lettner fach wurden nun am westlichen so dass der Bereich der Kleriker auch für Musikausübung verwen- Ende des Langhauses Emporen für die Laien auch vom Langhaus det, so ist in einer Reihe von Kir- eingebaut, auf denen nicht nur aus nicht oder nur teilweise ein- chen eine Orgel auf dem Lettner Raum auch für weit größer di- sehbar war. Sehr gut erhaltene platziert, etwa in St. Pantaleon mensionierte Orgeln war, sondern Beispiele sind etwa die Lettner in in Köln, in den Kathedralen von darüber hinaus auch Sänger und der Marienkirche in Gelnhausen Gloucester und Norwich wie auch zunehmend auch weitere Instru- und im Magdeburger Dom. In in St. Pierre-le-Jeune in Straßburg, mentalisten Platz finden konnten. Magdeburg ist der oft an der Vor- wo auf dem gotischen Lettner, Einige der ältesten Orgeln waren derseite des Lettners vorgesehene der 1681 bis 1893 den katholi- zuvor eher an einer der Seiten- Kreuzaltar von vornherein archi- schen Chor vom protestantischen wände im Mittelschiff in der Nähe tektonisch in den Lettner integ- Mittelschiff trennte, eine Silber- des Chores gebaut worden. Mi- riert, an anderen Orten wie etwa mann-Orgel steht (Abb. 4). Lettner chael Praetorius verglich die „al- im Halberstädter Dom oder in der wurden auch in die Aufführung lerersten Orgelwercken“ mit den Klosterkirche von Wechselburg von Mysterien- und Passionsspie- Nestern von Schwalben, da sie „in

Summer Schools 85 die höhe bey die Chor als Schwal- ausgeschmückter Form ersetzten rischer Gestaltung. Insbesondere bennester gesetzt“ seien.6 Die auf und wohl nur von geschulten Sän- am Markusdom in Venedig ent- dieser Beobachtung fußende Be- gern ausgeführt werden konnten, stand eine Art von Mehrchörig- zeichnung Schwalbennestorgel hat während die Schola weiterhin die keit, die über ein im traditionellen sich bis heute durchgesetzt. Histo- chorischen Abschnitte einstimmig Sinne vers- oder abschnittsweises rische Schwalbennestorgeln haben vortrug. Seit dem 15. Jahrhundert Alternieren hinaus nun die gesam- sich an mehreren Orten erhalten, entwickelte sich eine Vielfalt an te Struktur einer Komposition diejenige in der Basilique de Va- Lösungen, die insgesamt als alter- prägte, auch innerhalb einzelner lère in Sion in der Schweiz kann natim-Praxis bezeichnet werden: Verse oder Binnenabschnitte. Die um das Jahr 1435 datiert werden Neben komponierten polyphonen Architektur des Markusdoms mit und ist damit eine der ältesten Abschnitten konnten auch im- zahlreichen hoch gelegenen Em- noch spielbaren Orgeln weltweit, provisierend mehrstimmig aus- poren – die wichtigsten befinden die Schwalbennestorgel im Straß- geführte Passagen in fauxbourdon sich an den vier Ecken der Vierung burger Münster geht auf das Jahr bzw. falsobordone wie auch nicht und weisen jeweils große Öffnun- 1491 zurück, die Ebert-Orgel in selten ebenfalls improvisiertes gen zum Langhaus bzw. Chor und der Hofkirche in Innsbruck und Spiel auf der Orgel alternierend zum Querhaus auf, so dass alleine die Orgel in St. Marien in Lemgo mit einstimmigen Abschnitten li- hier vier oder mehr Gruppen auf- stammen aus dem 16. Jahrhundert. turgischer Gesänge vorgetragen gestellt werden konnten, bei Be- Gemeinsam ist den Schwalben- werden. Diese Art der Ausführung darf konnten auch die schmalen nestorgeln, den Orgeln auf West- wurde zunehmend auch auf Gat- Wartungsgänge beiderseits des emporen wie auch den Lettneror- tungen der Musik in der Liturgie Langhauses genutzt und zusätzlich geln und den spanischen Orgeln angewandt, die ursprünglich nicht Emporen im Kirchenraum auf- auf beiden Längsseiten des Coro für alternierenden Vortrag vor- gestellt werden – begünstigte das die im Raum gegenüber den Gläu- gesehen waren, etwa Sequenzen, Aufkommen eines Musizierens mit bigen im Kirchenschiff eine deut- Hymnen und nicht zuletzt Teile cori spezzati, d. h. geteilten Chö- lich erhöhte Position, was nicht von Ordinarium und Proprium der ren. Waren anfangs doppelchörige selten der von der Orgel her er- Messe. So entstand etwa der Typus Kompositionen etwa bei Willaert klingenden Musik eine gleichsam der sogenannten Orgelmesse, bei und seinen Zeitgenossen meist für entrückte Wirkung verleiht. dem insgesamt 19 Textabschnitte zwei gleich besetzte Ensembles ge- des Messordinariums durch eigens schrieben, so experimentierten im III. MUSIZIEREN MIT komponierte oder auch improvi- späteren 16. Jahrhundert Andrea RÄUMLICHEN WIRKUNGEN sierte Orgelversetten ersetzt wur- Gabrieli und vor allem sein Neffe den, dabei entfielen etwa im Kyrie Giovanni Gabrieli in ihren mehr- Der Wechsel beim Vortrag be- fünf der neun und im Agnus Dei chörigen Kompositionen mit einer stimmter liturgischer Gesänge zwei der drei Anrufungen des Tex- Vielzahl von Besetzungen in den wie insbesondere Psalmen und tes auf die Orgelspiel, die jeweils verschiedenen als cori bezeichne- Responsorien zwischen Solisten den ersten und auch letzten Ab- ten Gruppen, darunter solistische (cantores) und Chor (schola) oder schnitt ausführte. Heinrich Isaac und in jeder Stimme mehrfach be- auch zwei Chorgruppen gehört komponierte zudem eine größere setzte reine Vokalgruppen, diver- seit karolingischer Zeit zur übli- Zahl von alternatim-Messen, wobei se vokal-instrumental gemischte chen Aufführungspraxis einstim- offenbar die mehrstimmigen voka- Gruppen, rein instrumentale Chö- miger Gesänge. Die Einbeziehung len Abschnitte in der Hofkapelle re, durch die Lage als Hoch- bzw. von mehrstimmiger Musik er- Kaiser Maximilians auch häufig Tiefchor unterschiedene Grup- öffnete dann ganz neue Möglich- mit Orgelspiel anstelle der ein- pen, etc. Eine Komposition wie keiten, so übernahm etwa in den stimmigen Melodien alternierten. Giovanni Gabrielis In ecclesiis aus zwei- bis vierstimmigen Organa Durch den Wechsel der unter- den Symphoniae sacrae von 1615 der Nôtre Dame-Epoche eine So- schiedlichen Gruppen entstanden verdeutlicht, in welcher Weise listengruppe die anspruchsvollen zwar durchaus räumliche Wirkun- Gabrieli die Optionen für eine dif- mehrstimmigen Passagen, welche gen, doch rückten diese selbst dann ferenzierte klangliche Gestaltung die zuvor einstimmig vom Cantor im Laufe des 16. Jahrhunderts zu- ausnutzt. Die Anlage ist dreichö- gesungenen Abschnitte in stark nehmend ins Zentrum komposito- rig für insgesamt 14 Stimmen mit

6 Michael Praetorius, Syntagma musicum, 1619, Bd. 2, S. 94.

86 Summer Schools mit strukturbildenden Refrains sowie einer sehr abwechslungs- reichen musikalischen Faktur in den geringstimmigeren Solo- und Instrumentalabschnitten. Bei einer Aufführung mit räumlich getrenn- ter Aufstellung auf mehreren Em- poren wird für den Zuhörer in der Kirche die räumliche Komponente unmittelbar erfahrbar. Die venezianische Mehrchörigkeit der beiden Gabrielis und anderer Komponisten wurde schon bald an vielen anderen Orten in Europa nachgeahmt, auch Heinrich Schütz rekurriert in mehreren seiner Sammlungen auf jene veneziani- schen Erfahrungen, die er während seines Studiums bei Gabrieli vor Ort machen konnte. Insbesondere kennzeichnet dies die drei Bände ▶ Abb. 5 Historische Innenansicht der Schlosskapelle im Residenzschloss Dresden seiner schon im Titel an Gabrieli nach Osten mit Heinrich Schütz und der Kantorei. Kupferstich von David Conrad. anknüpfenden Symphoniae sacrae Frontispiz aus Christoph Bernhard: Geistreiches Gesang-Buch. Dresden 1676 mit ihren ausgesprochen vielfälti- gen, oft mehrchörigen Besetzun- Orgelcontinuo, der erste Chor be- fonia an. Der ganze Instrumental- gen wie etwa in dem 16-stimmigen steht aus vier Vokalsolisten Sopran, chor begleitet im Folgenden auch Saul, Saul, was verfolgst Du mich aus Alt, Tenor und Bass, der zweite ein ausgedehntes Duett der beiden dem dritten Teil von 1650. Eine Chor ist ein ebenfalls vierstimmi- bislang noch nicht zum Zuge ge- Abbildung der Dresdener Hof- ger gemischter Capellchor und der kommenen Solostimmen Alt und kantorei in der Schlosskapelle von dritte ist rein instrumental mit Tenor, in dessen Verlauf die beiden David Conrad aus dem Jahre 16767 drei Cornetti, Violine und zwei ersten Cornetti mit den Vokalso- zeigt eine Gruppe von Sängern Posaunen besetzt. Gabrieli sieht listen in einen zunehmend inten- unter der Leitung von Schütz um die drei Chöre nicht nur als voll- siver werdenden Dialog eintreten. ein Doppelnotenpult geschart im ständige Blöcke vor, die einzeln, in Der anschließende dritte Alleluja- Kirchenschiff, auf den Emporen wechselnden Kombinationen und Refrain sieht dann erstmals fast links und rechts sind zwei Grup- auch zusammen agieren, sondern das ganze Tutti vor, es fehlen nur pen von Bläsern platziert, auf den arbeitet auch mit kleineren Grup- Sopran- und Baritonsolo, denen beiden Emporen im Mittelschiff pierungen und Kombinationen. dafür der nächste Binnenabschnitt unterhalb der großen Orgel zwei Das Stück wird eröffnet von einem vorbehalten bleibt mit erneutem, weitere Gruppen mit Sängern und nur durch die Orgel begleiteten jedoch wieder verkleinertem Ref- Instrumenten. (Abb. 5) Sopransolo, das abgeschlossen rain am Ende. Erst der letzte Ab- Auch an zahlreichen anderen Or- wird durch einen dialogischen Al- schnitt mit dem Schlussrefrain ten in Europa wurde mehrchö- leluja-Refrain mit dem hinzutre- sieht dann ein Tutti aller drei riges Musizieren im liturgischen tenden Capellchor, welcher in ver- Chöre vor. Das Werk ist gekenn- Rahmen praktiziert. Für den Dom gleichbarer Weise auch nach dem zeichnet durch eine ausgeklügelte in Salzburg entstanden zahlreiche, anschließenden Baritonsolo noch steigernde Gesamtdisposition von z. T. ungewöhnlich großbesetz- einmal wiederholt wird. Als dritter der Einstimmigkeit über vielfältige te Kompositionen, darunter die Binnenabschnitt schließt sich eine Besetzungs- und Klangfarbenkon- sechs-chörige Missa Salisburgensis sechsstimmige instrumentale Sin- traste bis hin zur Vollstimmigkeit zu 53 Stimmen mit zwei vokalen

7 Historische Innenansicht der Schlosskapelle im Residenzschloss Dresden nach Osten mit Heinrich Schütz und der Kantorei. Kup- ferstich von David Conrad. Frontispiz aus Christoph Bernhard: Geistreiches Gesang-Buch. Dresden 1676.

Summer Schools 87 » amore (Liebe) » more (stirbt) » ore (Stunden) » re (König)8

Gelegentlich sollten durch ge- zielte Aufstellung von Musikern im Raum dezidiert räumliche In- szenierungen geschaffen werden. In Alessandro Grandis Verkündi- gungsdialog Missus est Gabriel von 1610 sind neben dem Basso als Er- zähler die Passagen in wörtlicher Rede einer Tenorstimme für den Erzengel Gabriel und einer Alt- stimme für Maria anvertraut. Hin- zu treten zwei Sopranstimmen, die lontano, & ascoso (entfernt und ver- steckt) aufgestellt werden sollen ▶ Abb. 6 Melchior Küsel: Festaufführung im Salzburger Dom, 1682 und aus dem off immer wieder den musikalisch nur leicht variierten und vier instrumentalen Chören, wendeten Echoeffekte in mehreren Refrain „Tota pulchra es, Maria, et die früher dem römischen Kom- ihrer Werke, so Giovanni Gabrieli macula non est in te“ (Ganz schön ponisten Orazio Benevoli, heute in seiner zehnstimmigen Canzon bist Du, Maria, und es ist kein Ma- aber Heinrich Ignaz Franz Biber in echo duodecimi toni (Charteris Nr. kel an Dir) vortragen, der als eine zugeschrieben wird. Sie wurde 181), in dem die beiden höchsten Art Kommentar zur eigentlichen vermutlich 1682 anlässlich der Cornetto-Stimmen beider Chöre Szene aus einer anderen Sphäre 1100-Jahrfeier des Bistums Salz- in kurzen Phrasen miteinander im fungiert.Schütz hatte vermutlich burg aufgeführt. Aus dem glei- ständigen Wechsel spielen. dieses Vorbild im Sinn, als er im chen Jahr stammt auch ein Stich In zahlreichen Vokalwerken, da- Canticum B. Simeonis, dem dritten von Melchior Küsel, der die mit runter in Emilio de‘ Cavalieris Teil seiner Musikalische(n) Exequien, Sängern und Instrumentalisten Rappresentazione di anima e di corpo, dem ersten fünfstimmigen Chor besetzten vier Emporen an den im Audi caelum von Claudio Mon- einen zweiten Chor entgegensetz- Ecken der Vierung des Salzburger teverdis Vespro della Beata Vergine te, der sich aus den Stimmen von Doms bei einer festlichen Liturgie- wie auch zu Beginn des fünften zwei Seraphimen und der zum feier darstellt. Die gut sichtbaren Aktes von L‘Orfeo finden sich ei- Himmel aufgestiegenen Beata ani- zusätzlichen, noch etwas höher nige der bekanntesten Beispiele ma des Verstorbenen zusammen- gelegenen Tribünen im Chor wie dafür, wie das Echo als unsicht- setzt und idealerweise von einer auch im Querhaus wurden bei barer Dialogpartner fungiert, das hoch gelegenen Empore herab dem dargestellten Anlass nicht für Fragen zumeist durch Verkürzung singt, damit die irdische Sphäre weitere Musikergruppen benutzt der abschließenden Wörter jeder des ersten und die jenseitige Sphä- (Abb. 6). Phrase auf treffende und nicht re des zweiten Chores auch eine Besondere Beliebtheit erlangten selten scharfsinnige Weise beant- unmittelbar räumliche Dimension schon in der Zeit um 1600 Echo- wortet. Athanasius Kircher hat in entfalten. In späterer Zeit finden kompositionen, bei denen das seiner Neue(n) Hall- und Thonkunst sich vergleichbare Beispiele einer Echo entweder einfach durch dy- das Prinzip deutlich gemacht, hier im Grunde symbolhaften Verwen- namische Zurücknahme erzeugt wird sogar ein einziges Wort in dung eines Raumes, wenn etwa wurde oder auch gezielt durch für vier Schritten durch das Echo ver- in der Grande Messe des Morts von die Zuhörer unsichtbar aufgestell- kürzt: Berlioz vier Bläserchöre in den te Musiker gleichsam aus dem off vier Himmelsrichtungen platziert erklang. Bereits die Gabrielis ver- » clamore (Geschrei) werden sollen.

8 Athanasius Kircher, Neue Hall- und Thonkunst, dt. Version, Nördlingen 1684.

88 Summer Schools Schon in Mysterienspielen des Mitelalters und der Renaissance ist gelegentlich auch der Einsatz von Maschinerien belegt, mit de- ren Hilfe Sänger oder auch an- dere Musiker musizierend sogar dreidimensional im Raum bewegt wurden und damit etwa ein Herab- schweben vom Himmel oder auch einer Himmelfahrt augenfällig symbolisiert werden konnte. Vergleichbare räumliche Wirkun- gen ließen sich zumindest me- taphorisch auch kompositorisch ▶ Abb. 7 Manuskript eines Lamento für Ferdinand IV von Johann Jakob Froberger andeuten, so beschließt etwa Fro- berger sein Tombeau für den fran- Bernardo Buontalenti zur Insze- geschaffen, in der Tanzszene von zösischen Lautenisten Blancrocher nierung der aufwendigen Floren- Mozarts Don Giovanni sogar in mit dessen tödlichem Treppen- tiner Intermedien zu La Pellegri- simultaner Überlagerung von sturz in Form einer in die tiefste na von 1589 belegen den Einsatz drei Orchestergruppen mit unter- Lage herabstürzenden Melodieli- vielfältiger Arten von Bühnenma- schiedlicher Musik. nie, während sein Lamento für den schinerien, etwa für das Herabstei- Im 20. Jahrhundert experimen- 1654 mit nur 21 Jahren verstorbe- gen der Allegorie der dorischen tierten dann u.a. Komponisten wie nen Ferdinand IV., König von Böh- Harmonie von den Sphären, den Sergej Prokofieff in L’amour des men und Ungarn, dessen Aufstieg Kampf Apolls mit dem Drachen trois oranges und Igor Stravinskij in den Himmel mittels einer auf- oder die Platzierung von Him- in L’histoire du soldat oder später steigenden Melodie symbolisiert melschören hoch über den Ab- Bernd Alois Zimmermann in Die wird, in der Originalhandschrift gründen der Unterwelt. Am Ende Soldaten mit mehreren Bühnen in bildlich dargestellten Wolken der gedruckten Fassung von Mon- und multiplen Theaterräumen. endet, wo Engel wohl die Seele des teverdis L‘Orfeo soll der thrakische Karlheinz Stockhausen und Ian- Verstorbenen in Empfang nehmen Sänger vermutlich mittels einer nis Xenakis verteilten in einigen (Abb. 7). Maschinerie zusammen mit Apol- ihrer Werke einzelne Musiker oder Auf weltlichen Bühnen, mit der lo in den Himmel aufsteigen und Musikergruppen im ganzen Auf- Entstehung der Gattung Oper etwas Ähnliches war vielleicht führungsraum oder auch im Pub- auch im Musiktheater, wurde dann auch intendiert, als die Nymphe likum. John Cage schließlich zielte schon früh mit vielfältigen Raum- Callisto in Cavallis venezianischer in 4’33 darauf, durch Abwesenheit wirkungen gearbeitet, die hier nur Oper La Callisto am Ende in ein von Musik den Raum selbst klang- angedeutet werden sollen. Die Sternbild verwandelt wird. lich erfahrbar zu machen. Das Ver- erhaltenen Abbildungen von In späterer Zeit wurde auf Opern- hältnis von Musik und Raum wird bühnen etwa durch Bühnenmusi- gerade in der heutigen Zeit immer ken gezielt die Illusion eines zu- wieder neu ausgelotet und auf sätzlichen eigenen musikalischen überraschende Weise definiert. Raumes in der Szenerie selbst

Dr. phil. Joachim Steinheuer unterrichtet Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg. Wissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte liegen bei der italienischen und französischen Musikgeschichte des 16. - 18. Jahrhunderts, dem deutschen Lied des 18. und 19. Jahrhunderts sowie bei Aspekten der europäischen und amerikanischen Musikkultur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Langjährige publizistische Tätigkeiten u. a. für Rundfunkanstalten und Tonträgerfirmen.

Summer Schools 89 zur Konzertreihe „Orgelpunkt“ im Magdeburger Dom Ohren öffnen und Neues entdecken Winfried Willems übernahm 2013 die künstlerische und organisatorische Leitung der Konzertreihe „Orgelpunkt“ im Magdeburger Dom. Nach kurzer Zeit hatte sich diese Reihe, was den Publikumszuspruch betraf, zu einer der erfolgreichsten Orgelkonzertreihen in ganz Deutschland entwickelt – mit ca. 800 bis 1000 Besucher*innen pro Konzert. Christoph Bornheimer sprach mit ihm am 27. November 2020. Das Gespräch ist hier auszugsweise wiedergegeben.

Lieber Herr Willems, nachdem Sie Der Domkantor Barry Jordan rialien und nicht irgendwelche fo- in den Jahren 1997-2011 bereits hatte mitgeteilt, dass er den Or- tokopierten Zettel – sie wollen et- den Neubau der Domorgel, die da- gelpunkt an den Sonntagnach- was in die Hand nehmen, von dem zugehörige Sanierung der West- mittagen nicht mehr organisieren sie sagen können: „ja, das schaue empore und den Bau der Rem- wird. Dann ist es zu Gesprächen ich mir gerne an, das nehme ich terorgel im Magdeburger Dom zwischen der Domgemeinde und mit nach Hause“. intensiv durch die Beschaffung mir gekommen – das Anliegen war, Dann war damals schon die Fra- von öffentlichen und privaten ob ich das übernehmen könnte. Ich ge, wie wir die Eintrittsfreiheit Fördergeldern unterstützt hatten, habe dann versucht, das Projekt zu sichern konnten. Eintrittsfrei war übernahmen Sie 2013 die künst- professionalisieren und weiterzu- der Orgelpunkt bereits, aber nicht lerische und organisatorische entwickeln. gesichert. Es gab Kollekten, aber Leitung der Konzertreihe „Orgel- Es fing bei der Öffentlichkeits- die Konzertbesucher waren nicht punkt“. Wie kam es dazu und wel- arbeit an: Professionell gestaltete so zahlreich, sodass die Kollekten che Ambitionen hatten Sie in Be- Programmhefte, Flyer und Plakate. oft gering ausfielen. Ich habe dann zug auf die zukünftige Gestaltung Konzertbesucher erwarten optisch in all den Jahren, auch mit Hilfe der Reihe? ansprechende, gut gestaltete Mate- von Kontakten aus meinem Be- rufsleben, immer Sponsoren für die einzelnen Konzerte gewonnen. Das ergab keine Riesenbeträge, aber doch Summen zwischen 400 und 700 Euro pro Konzert, die sich dann aufsummierten zu einer För- derung, sodass wir zusammen mit den Kollekten die Orgelpunkt-Rei- he jeweils ohne Defizit abschließen konnten. Ich weiß von vielen, die jeden Sonntag kommen. Sie könn- ten es nicht, wenn sie Eintritt zah- len müssten. Wir haben ein unglaublich treues Publikum, eine richtige Fange- meinde. Als sich dieses Jahr ab- gezeichnet hat, dass wir Corona- bedingt vor der Absage stehen, da Wilfried Willems in der Talkshow „Otto hat Gesellschaft“ können Sie sich nicht vorstellen, wie viele sich spontan engagiert

90 Musikvermittlung haben nach dem Motto: „wir müs- lich Dinge, die sie schon kennen. es nicht angesagt, rein „museale“ sen einfach mal helfen“. Die Kollek- Das widerspricht fundamental Konzertprogramme zu machen. ten pro Person und Nase sind dann dem, was Sie machen und deswe- Das Publikum vom Orgelpunkt deutlich in die Höhe gegangen. gen finde ich gerade diesen Aspekt geht zu einem großen Teil in keine Ich glaube, ein entscheidender sehr interessant. Es ist scheinbar anderen Konzerte. Unsere Künst- Punkt, der sich gegenüber 2013 gerade das Entdecken von Neuem ler müssen mit ihrem Programm doch sehr verändert hat, ist die und die Vielfalt, was bei dieser auch die Ohren der Konzertbesu- Programmgestaltung: Ein breit Reihe sehr gut ankommt. cher sensibilisieren, das heißt, ih- gefächertes Programm und – was Darüber bin ich gelegentlich auch nen Gelegenheit bieten, sich auch kein Werturteil ist – nicht mehr mit den Künstlern im Gespräch, für neue, „ungehörte“ Klänge zu ausschließlich die klassischen Or- mit denen ich die Programme öffnen. gelkonzerte – dafür gibt es frei- erörtere. Für meine Begriffe ist tagabends die Orgelreihe „Orgel- kunst“. Im Orgelpunkt wird ein breites Programm geboten: Mit Bearbeitungen, Improvisationen, Transkriptionen, Jazz und auch schon mal Filmmusik sowie mit Duokonzerten, die enorm beliebt sind: Trompete und Orgel, Posau- ne und Orgel, Saxophon und Orgel oder Klarinette und Orgel. Welche Faktoren, die den Erfolg des Orgelpunkts ausmachen, lie- ßen sich Ihrer Einschätzung nach auf andere Orte übertragen? Die Zeit – man muss z. T. weg von den abendlichen Zeiten 19:30 und 20:00 Uhr –, die Eintrittsfreiheit und ganz sicher die Programm- gestaltung. Es ist erstaunlich, dass die Orgelkonzerte klassischer Form im Dom mit wesentlich we- niger Zuhörern zurechtkommen müssen. In der Kathedrale – Sie kennen ja Matthias Mück – gab es auch samstags abendliche Konzer- te. Man hat auf meine Anregung hin Anfang dieses Jahres einen Winter-Orgelpunkt für Januar/ Februar und September/Novem- ber mit genau dem gleichen Kon- zept gestartet und jedes Mal ist die Kathedrale voll bis überfüllt. Das zeigt, dass die Kriterien Zeit, Ein- trittsfreiheit und vor allen Dingen die Programmgestaltung von we- sentlicher Bedeutung sind. Das ist interessant, denn es gibt Studien, die – zum Leidwesen von uns Musikern – besagen, dass die Leute im Konzert nichts Neues hö- Traum eines jeden Veranstalters: Der zum Orgelkonzert voll besetzte Magdeburger ren wollen, sondern hauptsäch- Dom

Musikvermittlung 91 Dazu braucht man sowohl Tradi- eines gemischteren Programms, knüpft vielleicht einmal an einen tionelles – es wird auch Bach ge- das eine ganz breite Adressaten- Text an, z. B. den Text eines Cho- spielt – als auch neue Adaptionen schicht erreicht, überhaupt nicht ralvorspieles oder ein Werkthema, und Neue Musik. Aber in einer widersprechen müssen, sondern und gibt einen Gedanken mit auf Weise, dass die ganze Sache nicht ergänzen – ein Gedanke, sozusagen implodiert. Wenn man der kirchenmusikalisch nämlich 50 Minuten ausschließ- noch weitergedacht » Bin ich jetzt zu lich expressive moderne Musik werden sollte. spielen würde, würden die Leute Der Magdeburger Orgel- wahrscheinlich gehen. Und, was punkt zeigt ja sehr ein- religiös geworden? « auch nicht geht – deswegen sind drucksvoll, dass Orgel- ja die klassischen Orgelkonzertrei- musik weder überholt ist, noch den Weg – keine Mission, keine hen ebenso wichtig – ist ein Pro- nur für Spezialisten interessant Predigt, aber ein religiöser Bezug. gramm mit einer 40 Minuten lan- sein muss. Das bringt mich zu Ich habe den Eindruck, dass Men- gen Vierne-Symphonie bei einer einer Grundsatzfrage, die auch schen das suchen. Sie wollen nicht Gesamtdauer des Konzerts von dazu passt, dass Sie in Ihrem Le- missioniert werden, sie wollen 50 Minuten. Die Konzerte müs- ben auf sehr verschiedenen Ebe- auch nicht in einen Gottesdienst, sen innerhalb dieser 50 Minuten nen mit dem Thema Bildung zu aber sie wollen eine gleichsam re- eine gewisse Abwechslung, eine tun hatten: Welches Potenzial hat ligiöse Erfahrung machen. Da bin Mischung aus Vertrautem und Un- Orgelmusik aus Ihrer Sicht für un- ich ein bisschen begeistert, auch vertrautem bieten. sere heutige Gesellschaft? Warum angesichts einer großen Stille in Diesen zweiten Aspekt, den Sie ist sie relevant und warum sollten den Pausen zwischen den Wer- gerade genannt haben, finde ich Menschen auf jeden Fall durch ken in diesem beeindruckenden sehr interessant – dass sich diese uns von ihr erfahren? Dom. Diese Intensität suchen die beiden Konzepte einerseits eines Die Leute haben einen Sensus da- Menschen offenbar auch im Mit- „klassischen“ Programms für ein für, welch ungeheurer Klangfar- einander. Bin ich jetzt zu religiös etwas exklusiveres, spezialisier- benreichtum in einer Orgel steckt. geworden? teres Publikum, und andererseits Also ich denke schon, dass die Or- Nein, das finde ich sehr wichtig. ganisten auch darauf achten müs- Diesen Gedanken habe ich auch sen, wie sie mit den Instrumenten oft, dass die Orgelmusik wirklich umgehen. Ich habe ja nun sehr vie- ein Bedürfnis, eben auch ein spi- le kennengelernt. Es gibt einerseits rituelles Bedürfnis der Menschen eine hochintelligente Weise, die erfüllen kann – von dem manche zuhörenden Menschen mit diffe- vielleicht selbst gar nicht so ex- renzieren Registrierungen zu er- plizit wissen, dass sie das eigent- reichen und andererseits eine Art lich haben. Aber es wird dadurch und Weise, die sehr ins Gewohnte eben transportiert und erreicht. abgleitet. Das ist jetzt ein bisschen Und daher, so sind wir wieder platt formuliert – das gebe ich ger- beim Bildungsgedanken, geht ne zu. ein Orgelkonzert einfach sehr Der Raum, die Klänge, diese Situ- deutlich über eine reine Unter- ation der Ruhe mitten am Sonn- haltungsveranstaltung hinaus, es tagnachmittag spielen eine extrem hat einen ganz anderen Wert. wichtige Rolle. Obwohl die Leute Leider Gottes werden ja viele die- in Scharen die Kirche verlassen, ser Möglichkeiten in manchen li- sitzen komischerweise im Orgel- turgischen Veranstaltungen und punkt um die 70 Prozent Zuhörer, Gottesdiensten überhaupt nicht die nie in einen Gottesdienst ge- genutzt. Es dominiert das Wort hen, das wissen wir, und sie fühlen und das Orgelspiel ist irgendwie sich angesprochen. Sie kommen, so ein bisschen Lametta. Das wird es sind die Kerzen an, es wird ge- meines Erachtens auch den emo- läutet, es wird ein geistliches Wort tionalen Bedürfnissen der Men- Die Schuke-Orgel im Magdeburger Dom zu Beginn gesprochen. Das Wort schen überhaupt nicht gerecht.

92 Musikvermittlung Ich komme zu meiner letzten weil sie nichts mehr hören, außer programm. Und das spielt man Frage, auch wenn sich vielleicht gerade bei Orgelmusik ein vieltö- dann nochmal. Und dann versucht manches wiederholen wird – was niges Getöse. Viele der Konzert- man, das hier und da anzubieten. würden Sie der jungen Kirchen- besucher können vielleicht nicht Und so weiter. Das muss man si- musikergeneration mit auf den Notenlesen. Aber sie kriegen das cher auch machen. Aber diese Fo- Weg geben aus Ihren Erfahrungen, auf einer anderen Ebene der Emp- kussierung hat, glaube ich, auch die Sie am Magdeburger Dom und findung mit, das ist meine feste Risiken. Ich plädiere sehr dafür in Ihrem Leben gesammelt ha- Überzeugung. sich breit aufzustellen. Und auch ben? Was ich noch sagen möchte: Stellt wenn man Konzerte spielt, nach- Hm, wie soll ich das sagen? Es steht mir natürlich nicht zu, weil ich nicht Professor oder Lehrer bin … » Wir spielen hier nicht … gerade deshalb steht es Ihnen zu, weil Sie den wertvollen Blick von außen einbringen! Schreibmaschine « Dann sage ich es mal so als Im- perativ – auch wenn es vielleicht euch möglichst breit auf! zuschauen, wie man Orgelmusik gewagt ist: Setzt euch mit dem in- Im Studium beginnt ja die Fokus- in einer größeren Breite abbilden neren Kern, mit dem Geist eines sierung auf die Wettbewerbe. Und kann! Stückes auseinander! dann spielt man sein Wettbewerbs- Mein alter Lehrer hat immer ge- sagt „Herr Willems, passen se auf. Weitere Informationen unter: www.orgelpunkt-magdeburg.de Wir spielen hier nicht Schreibma- schine“. Das fand ich einen sehr bemerkenswerten Satz. Ich habe auch schon Organisten erlebt, die waren technisch perfekt, aber ir- gendwo fehlte das innere Movens, der innere Geist. Lange Jahre wurden völlig über- zogene Tempi auch bei Bach ge- spielt, die keine Strukturen mehr erkennen lassen, keine Groß- und Kleinstrukturen, sondern nur die technische Perfektion in den Vor- dergrund stellten. Meiner Erfah- rung nach merken das die Zuhörer,

Winfried Willems *1949 in Griethausen (bei Kleve) 1970-1976 Studium der katholischen Theologie, Germanistik, Pädagogik und Musikpädagogik/Musikwissenschaft in Münster (Westfalen) 1977-1993 Gymnasiallehrer in Ahlen (Westfalen) und Kleve 1993-2002 Schulleiter des Ökumenischen Domgymnasiums in Magdeburg 2002-2011 Staatssekretär im Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt 2011-2016 Präsident des Landesmusikrates Sachsen-Anhalt seit 2013 Künstlerische und organisatorische Leitung der Konzertreihe „Orgelpunkt“ im Magdeburger Dom

Musikvermittlung 93 Fünfzig Generationen „Wissen. Können. Weitergeben.“ Orgelbau und Orgelmusik als Immaterielles Kulturerbe der UNESCO

Am 7. Dezember 2017 hat die UNESCO auf ihrer Tagung im südkoreanischen Jeju „Orgelbau und Orgel- musik“ unter dem Titel „Organ Craftsmanship and Music“ in ihre „Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit“ aufgenommen. Bereits am 12. Dezember 2014 war der Eintrag in das „Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der Bundesrepublik Deutschland“ erfolgt. Neben der Tradition und der Inno- vation der deutschen Orgelkultur in ihrer etwa 1.250-jährigen Geschichte hatten die lebendige Vielfalt und die zahlreichen Aktivitäten der sich in Deutschland heute für das Instrument engagierenden Men- schen die Gutachter überzeugt. Damit wurden das Handwerk des Orgelbaus und die Kunst des Orgel- spiels – und indirekt das Musikinstrument Orgel – offiziell von einer der bedeutendsten transnationalen Organisationen ausgezeichnet.

von Michael Gerhard Kaufmann

(überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 23. Mai 2018 in Hamburg anlässlich der Tagung der Vereinigung der Orgelsachverständigen Deutschlands und dem Bund Deutscher Orgelbaumeister)

erzeit gibt es in Deutsch- Universitäten, Schulen, Museen Fünfzig Generationen von Orgel- land etwa 400 Orgelbau- oder als Drehorgeln auf den Stra- bauern und Organisten haben seit D betriebe mit etwa 2.000 ßen und als Musikautomaten auf der Karolingischen Renaissance Mitarbeitern und 200 Auszubil- Jahrmärkten. Die nachhaltige Si- im 8./9. Jahrhundert sich um das denden sowie etwa 3.500 haupt- cherung und Fortentwicklung der „Wissen. Können. Weitergeben.“ (So amtliche und mehrere zehntau- Berufsfelder und der Instrumente steht es auf dem UNESCO-Logo sende ehrenamtliche Organisten. gleichermaßen ist eine gesamtge- für das immaterielle Kulturerbe.) Ungefähr 50.000 Orgeln sind hier- sellschaftliche Aufgabe, für deren bemüht und durch alle Epochen zulande im Einsatz und erklingen Umsetzung es ideeller, personeller Orgelbau und Orgelmusik zu regelmäßig in Kirchen, Konzert- und finanzieller Ressourcen be- kunsthandwerklichen und künst- sälen, Salons, Wohnzimmern, darf.1 lerischen Höhen geführt, wie man

1 Vgl. Michael Gerhard Kaufmann, Länderbericht Deutschland, in: Orgel | Orgue | Organo | Organ 2011 – Internationales Sympo- sium zur Bedeutung und Zukunft der Orgel – Dokumentation | Länderberichte, hrsg. von Bernhard Billeter, Markus Funck und Michael Gerhard Kaufmann, Öhringen 2014, S. 128-133, english version on CDR; vgl. Michael Gerhard Kaufmann, Anträge zur Aufnahme von Orgelbau und Orgelmusik bei der UNESCO: https://ich.unesco.org/en/RL/organ-craftsmanship-and-mu- sic-01277 und https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-deutsch- land/bundesweites-65 sowie https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immaterielles-kultur- erbe-weltweit/orgelbau-und-orgelmusik.

94 Musikvermittlung sie nirgendwo sonst auf der Welt 1. Schutz auf nationaler und in- staatlichen und kirchlichen Bau- finden kann. Die restaurierten, ternationaler Ebene wesen und in der Denkmalpflege teilrekonstruierten oder auch au- sowie bei der institutionellen Ver- thentisch erhaltenen Instrumente 2. Akzeptanz und Respekt vor ortung und personellen Besetzung aus dem Mittelalter, der Renais- den handwerklich-technischen von Orgelreferaten in beiden Ins- sance, dem Barock, der Romantik, und künstlerisch-musikalischen titutionen. Dort gibt es oft zu we- der Orgelreform bzw. Orgelbe- Leistungen der Orgelbau und Or- nige bis keine Fachleute, die sich wegung bis zum Stilpluralismus gelmusik ausübenden Menschen hauptamtlich mit einem ausrei- in der Gegenwart, die verbun- chenden Deputat um die Belange den sind mit Namen wie Arnolt 3. Bereitstellung von ausreichen- des Orgelbaus kümmern können. Schlick, Jörg Ebert, Arp Schnitger, den Kapazitäten zum Erwerb Vergleichbar ist dem die perso- Andreas Silbermann, Gottfried Sil- von Fähigkeiten und Fertigkeiten nelle und materielle Ausstattung bermann, Johann Andreas Silber- sowie Erweiterung der Möglich- von Ämtern für Kirchenmusik in mann, Gottfried Heinrich Trost, keiten zur Aus- und Fortbildung den Bistümern und Landeskirchen, Zacharias Hildebrandt, Joseph von Orgelbauern und Orgelspie- die oft mit minimalen Kapazitäten Gabler, Georg Friedrich Schmahl, lern für alle möglichen kirchenmusi- Eberhard Friedrich Walcker, Ge- kalischen Aktivitäten zuständig org Friedrich Steinmeyer, Paul 4. Förderung einer verstärkten sind, wobei für die Orgel selbst nur Ott, Jürgen Ahrendt, Philipp Klais Bildung des Bewusstseins um wenig Raum bleibt. In beiden Be- und anderen legen Zeugnis davon den Wert des Kulturguts Orgel, reichen wären Verbesserungen der ab; ebenso die Kompositionen von für dessen Erhalt Mittel privater Strukturen wünschenswert. Doch Hans Buchner, Michael Praetorius, und öffentlicher Geldgeber einge- muss man auch sehen, dass dies Dietrich Buxtehude, Johann Sebas- setzt werden müssen eine Klage auf hohem Niveau ist, tian Bach, Carl Philipp Emanuel wenn man vergleichend in andere Bach, Felix Mendelssohn Barthol- 5. Bereitstellung von Geldern Länder blickt, darunter in die eu- dy, Joseph Gabriel Rheinberger, durch den Staat zur Restaurie- ropäischen Nachbarstaaten: Bspw. Max Reger, Paul Hindemith, Gerd rung und Modernisierung be- überschwemmen historische Or- Zacher, Wolfgang Rihm, Wolfram deutender Orgeln durch den Staat geln aus Italien und England den Graf, Dominik Susteck oder Isa- sowie durch Stiftungen zum Neu- Gebrauchtmarkt, kirchenmusika- bel Mundry, Liselotte Kunkel und bau von zeitgemäßen Orgeln lische Geschäftsstellen gibt es ru- weiteren. Unzählbar und unnenn- dimentär in Frankreich oder Polen. bar sind die Interpreten aus Ge- Diesen Punkten gilt es nach zu schichte und Gegenwart, die auf spüren mit der Frage: Wo befinden AD 2. höchstem Niveau immer wieder in wir uns und wie geht es weiter? Es unerhörten Klängen musizierten folgt jeweils eine Analyse des der- Zur Akzeptanz und zum Respekt und musizieren. zeitigen Stands und das Ziehen vor den handwerklich-technischen von Schlüssen zum notwendigen und künstlerisch-musikalischen Für alle, die diesen Orgel-Kosmos Vorgehen. Leistungen der Orgelbau und Or- mitgestalten, und für zukünftige, gelmusik ausübenden Menschen darin wirkende Generationen ist AD 1. gehört es, dass man deren Können mit dem UNESCO-Eintrag ein nicht nur bestaunt, sondern dafür klarer Auftrag verbunden, der bei Beim Schutz von Orgelbau und Or- Sorge trägt, dass diese samt ihren aller Verantwortung, die ein solch gelmusik auf nationaler Ebene und Familien von der Arbeit leben kön- bedeutendes Erbe immer auch mit internationaler Ebene ist die Situ- nen. Das ist auch in Deutschland sich bringt, eine Ehre darstellt: Or- ation differenziert zu bewerten. In nicht immer der Fall. Bei den we- gelbau und Orgelmusik als imma- Deutschland ist die Lage – mit ei- nigsten der Eigentümer der Inst- terielles Kulturerbe der Deutschen nigen Abstrichen – durchweg po- rumente ist das im Bewusstsein, und der Menschheit bedürfen sitiv. Der Eintrag in die UNESCO- wenn sie Aufträge im Orgelbau eines perspektivischen Wirkens, Kulturerbe-Listen steht auf einem vergeben, so dass Orgelbaufirmen das sich wie folgt zusammenfassen soliden Fundament, sonst wäre er immer wieder am Rande der Exis- lässt: nicht gelungen. Dennoch finden tenz stehen und ihre Mitarbeiter sich Bereiche, in denen Mängel auf bescheidenem Schreinereck- zu verzeichnen sind, wie bspw. im lohn einstufen bzw. manchmal mit

Musikvermittlung 95 unbezahlten Überstunden de facto dauerhaften Qualitätssicherung Kursen für Orgelliteratur und Or- darunter entlohnen. Bei vielen Or- und zum Bestand der Ludwigs- gelimprovisation führt Profis und ganisten sieht es auch nicht besser burger Schule. Die Weiterbildung Laien in die Geheimnisse der ver- aus, denn durch das Herunterfah- zum Restaurator im Orgelbau, die schiedenen Stile der unterschiedli- ren der einstmals vorhandenen ebenfalls dort als eine freiwillige chen Epochen der klingenden Or- Vollzeit- auf Teilzeitstellen müssen Leistung angeboten wird, stagniert gelgeschichte ein. Auch hier finden in manchen Gegenden die Mu- nach zwei erfolgreichen Durch- sich deutsche Organisten bei inter- siker bei steigenden Mietpreisen gängen. Die vom Bund Deutscher nationalen Wettbewerben immer ihren Lebensstandard kontinuier- Orgelbaumeister (BDO) und der wieder mit auf den Spitzenplätzen lich nach unten anpassen bzw. sich International Society of Organ- oder sind auf dem überquellenden durch privates Unterrichten ein builders (ISO) angebotenen Work- Markt von Tonträgern und sons- Zubrot verdienen. Und bzgl. der shops bringen vertiefendes und tigen Medien einschließlich des Honorierung von Gottesdiensten zusätzliches Know-how. Das da- Internets mit musikalisch interes- für nebenamtliche Orgelspieler, ob mit zu erreichende Niveau kann santen und stilsicheren Interpre- mit oder ohne Examen, schweigt zu Höchstleistungen im Orgelbau tationen zu hören, wobei – wie in des Sängers Höflichkeit. Als ge- führen, die sich auch im inter- anderen Metiers ebenfalls – Aus- lungene Beispiele für eine Verbes- nationalen Vergleich sehen und nahmen die Regel bestätigen. Das serung der Situation würde sich hören lassen können und sich vor in Deutschland installierte System eine Orientierung an dem Vorbild der Konkurrenz bspw. aus der zur Aus- und Fortbildung von der Schweiz anbieten. Der Blick in Schweiz oder aus Österreich nicht Orgelsachverständigen, das von andere umliegende Länder zeigt verstecken müssen. Das ursprüng- der Vereinigung der Orgelsach- allerdings noch deutlich tristere lich im 19. Jahrhundert für das bri- verständigen Deutschlands (VOD) Umstände. tische Empire pejorativ gemünzte getragen und an der Hochschule „Made in Germany“ ist im Orgel- für Kirchenmusik Heidelberg (HfK AD 3. bau schon immer ein Gütesiegel HD) verortet ist, ist ebenfalls welt- mit Langzeitgarantie gewesen. Die weit einzigartig und schafft die Bei der Bereitstellung von Kapazi- Kunst des Orgelspiels kann man Grundlage dafür, dass Entwicklun- täten zum Erwerb von Fähigkeiten an zahlreichen staatlichen und gen im Orgelwesen reflektiert und und Fertigkeiten sowie zur Erwei- kirchlichen Hochschulen, Konser- diskutiert werden. Nicht zuletzt ist terung der Möglichkeiten zur Aus- vatorien oder Berufsakademien in es dadurch gelungen, die über Jahr- und Fortbildung von Orgelbauern diversen Studiengängen vertiefen, zehnte die Orgelwelt beherrschen- und Orgelspielern ist Deutschland nachdem man bspw. zuvor privat de Ideologie der Orgelbewegung wahrscheinlich weltweit führend. oder an einem kirchlichen Institut zu neutralisieren. Der Pluralismus Im Orgelbau basiert die Vermitt- die dafür notwendigen Kenntnisse für die Orgel im Allgemeinen und lung von Wissen und Können des erworben hat. Eine schier unüber- im Besonderen hat sich durch- Handwerks auf dem System der schaubare Vielzahl von speziellen gesetzt. Es wird heute Vielfalt an- dualen Ausbildung. Dieses hat sich bewährt, so dass seit Jahren an der exzellent ausgestatteten Oscar-Walcker-Schule – Bundes- fachschule für Orgelbau in Lud- wigsburg, neben den deutschen Lehrlingen zahlreiche ausländi- sche Schüler unterrichtet werden. Seit der Abschaffung des Meister- zwangs im Orgelbau werden die Meisterkurse zwar seltener und mit weniger Teilnehmern durch- geführt, doch finden sie weiterhin statt. Der unlängst vom Gesetzge- ber wieder eingeführte Meisterti- tel zur Führung eines eigenen Be- triebs ist ein wichtiger Schritt zur

96 Musikvermittlung stelle der früheren Uniformiertheit AD 5. rasant auf uns zukommenden ge- gefördert. Im Vergleich zu dem, sellschaftlichen Umbruch betrifft. was man anderswo auf der Welt Der Wandel in der bundesdeut- Von diesem werden die allgemei- rund um das Thema Orgel finden schen Gesellschaft in den letzten ne Orgelkultur, der Orgelbau und kann, ist das unbestritten viel und Jahrzehnten hat immense Aus- die Orgelmusik, in der nächsten durchaus ein Grund, stolz auf das wirkungen auf die Orgelkultur in Zeit noch mehr betroffen sein, als Erreichte zu sein. Allerdings darf Deutschland. Die bereits vorge- sie es in manchen Landstrichen man damit nicht in ein Ausruhen nommenen und die kommenden schon sind. Umso mehr ist es und eine Bequemlichkeit verfallen. Schließungen von hunderten von notwendig, dass durch den Staat Zur weiterhin notwendigen Aus- Kirchen in Deutschland sind ein (Bund, Länder, Kommunen) kon- einandersetzung und Entwicklung sichtbares Symptom der Verände- tinuierlich Gelder bereitgestellt von inhaltlichen Fragen zum The- rungen. Der Verlust der Bindung werden, die zur Sicherung und ma Orgel treten vermehrt soziale der Gesellschaft an traditionelle Bewahrung sowie zur Fortsetzung und politische Aspekte. Werte tangiert nicht nur die christ- dieser deutschen Orgelkultur ein- lichen Konfessionen, sondern auch gesetzt werden können. Während AD 4. den Sektor der klassischen Musik Politiker aus Stadt, Landkreis, und dessen medialen Markt. Die Bundesland oder auch Bund sich An erster Stelle ist es daher nötig, Folgen der sogenannten Flücht- vor allem für einzelne Instrumente an einer verstärkten Bildung des lingskrise und die Zuwanderung einsetzen, ist es doch vor allem die Bewusstseins um den Wert des von Menschen aus anderen Kul- Stetigkeit der Förderung, die eine Kulturguts Orgel zu arbeiten, für turen führen mittelfristig zu Um- Entwicklung in die gewünschte dessen Erhalt Mittel privater und wälzungen ganzer Schichten in der Richtung möglich machen kann. öffentlicher Geldgeber eingesetzt Bevölkerung. Die bisher durch die Diese Verlässlichkeit schafft zu- werden müssen. Notwendig sind Kirchenmusik geleistete kulturelle sätzliche Perspektiven in Zeiten u.a. die Entwicklung bzw. die und zugleich soziale Arbeit, die im des allgemeinen Infrage-Stellens Weiterentwicklung von speziellen Verhältnis zum finanziellen Auf- überlieferter kultureller und ethi- Fundraising- und Marketingstra- wand ungleich größere Wirkung scher Werte in der Gesellschaft. tegien für die Orgel zur Akquise zeigte und zeigt, wird vielerorts Daher bedarf es vor allem dauer- von Sponsoren innerhalb und au- nicht mehr in dem bisherigen Um- hafter Förderungen von zentralen ßerhalb kirchlicher Sphären oder fang möglich sein und daher an- Stellen, wie den Ländern oder dem die Erstellung von Materialen für dere Formen annehmen müssen. Bund. Allerdings haben die Länder Kirchengemeinden, Orgelbauer Auch noch so immense Summen ihre auch für Orgelmaßnahmen und Orgelsachverständige zur Be- an Geldern (mehrstellige Milliar- zur Verfügung stehenden Mittel in werbung und Durchführung von denzahlen an Euro) können die er- der Denkmalpflege zumeist deut- Orgelprojekten. Es gehört aber zielten Effekte nicht kompensieren, lich reduziert oder ganz gestrichen. auch dazu, dass gezielt Orgelfor- wie sie über eine Einbindung der In manchen Bundesländern hat die schung betrieben wird, wozu auch Menschen in musikpädagogische Denkmalbehörde mittlerweile nur sogenannte Drittmittelfinanzie- Erziehungskonzepte oder in mu- noch eine verwaltende Funktion. rungen hilfreich sind, wie bspw. sikalische Ensembles wie Chöre Hier springt nun der Bund ein, der durch die Volkswagenstiftung oder Orchester an Kantoraten so- ja Deutschland – und damit sich (VWS). Diese förderte an der HfK wie mit diesen kooperierenden In- selbst – mit dem UNESCO-Ein- HD das Forschungsprojekt „Die stitutionen erreicht werden. Doch trag von Orgelbau und Orgelmu- Orgel als Erklärungsmodell für gerade hier hat die „Corona“-Pan- sik auf internationaler Ebene als Kulturphänomene von der Aufklä- demie der vergangenen Monate Kulturstaat profiliert hat. Dadurch rung bis zur Gegenwart – Betrach- einen massiven Einbruch bewirkt ist er auch die Verpflichtung ein- tungen von Transformationen und – und über die Langzeitfolgen der gegangen, dieses Kulturerbe auf Paradigmenwechsel im kulturhis- viral bedingten Kettenreaktionen allen Ebenen aktiv zu bewahren. torischen Diskurs“. liegen Prognosen vor, die für das Im Vorfeld bzw. während der Be- bisherige kulturelle Engagement werbung zum UNESCO-Eintrag im deutschen und internationalen stellte der Deutsche Bundestag Gemeinwesen Schlimmes befürch- aus seinem Haushalt Sondermittel ten lassen. Es wäre an dieser Stelle für ein Orgelförderprogramm zur noch vieles zu benennen, was den Verfügung, die über die Beauftrag-

Musikvermittlung 97 te der Bundesregierung für Kultur meinden ist allgemein und wird die Die Darstellung der Situation soll und Medien, Staatsministerin Prof. Strukturen umformen. Ihr finanzi- nicht erschrecken, aber wach- Monika Grütters, projektbezogen elles Engagement werden diese In- rütteln. In unserer heutigen Zeit beantragt werden konnten. Für stitutionen in Zukunft kaum noch und in einer sich immer weiter die Sanierung und Modernisie- in gewohntem Umfang aufrechter- individualisierenden Gesellschaft rung von national bedeutsamen halten können. Ähnlich wie andere erhält nur der Gehör, der es sich Orgeln wurden folgende Beträge kulturelle Institutionen, bspw. die verschafft. Wir leben alle für ein bisher bereitgestellt: im Jahr 2016 Deutsche Stiftung Denkmalschutz Instrument, das mit leisen und – 5.000.000 € und im Jahr 2017 – (DSD), braucht die Orgelkultur zu- mit lauten Tönen die Menschen 4.780.000 €. Nach dem Eintrag in künftig einen Vertreter mit direk- begeistern kann. Und gerade des- die Liste des immateriellen Kul- halb lohnt es sich, darüber nach- turerbes wurden auch für 2018 zudenken, wie man über diese bis 2020 Mittel für Orgeln durch spontane Begeisterung auch eine die Abgeordneten freigegeben, die kontinuierliche Bindung herstel- innerhalb des bereits bestehen- len kann. Dass es sich bspw. die den und um 15.000.000 € aufge- von der Waldkircher Orgelstif- stockten allgemeinen Denkmal- tung (WOS) initiierte Deutsche programms mit nunmehr einem Orgelstraße (DOS) zur Aufgabe Gesamtvolumen von 40.000.000 gemacht hat, Synergien zwischen € anteilig beantragt werden kön- den bestehenden Organisationen, nen.2 Eine Bedarfsberechnung der den Orgelbaubetreiben und den VOD geht von 10.500.000 € jähr- Orgelmusikern zu schaffen so- lich aus, die als Zuschuss benötigt wie diese für die Politik und die werden. Insofern bleibt nun die Menschen in der Bundesrepublik Aufgabe, die bestehende Finanzie- Deutschland nutzbar zu machen, rungslücke zu schließen. Es gibt ist eine sehr positive Entwicklung, positive Beispiele aus der jüngsten die es verdient hat, tatkräftig un- Zeit, wie dies durch bspw. bürger- terstützt und dauerhaft gefördert schaftliches Engagement punktu- zu werden. Dasselbe gilt für die ell gelingen kann. Neben kirch- weiteren Waldkircher Projekte: lichen Orgelprojekten kann man tem Zugang in die Politik, sprich: die „Straße der Waldkircher Or- den spektakulären Neubau in der einen Lobbyisten. Der Umfang sei- geln“, das pädagogische Wirken Hamburger Elbphilharmonie nen- ner Aufgaben wird weit über eine bei den „KönigsKindern“, die Teil- nen. Eine Aufstockung der staatli- ehrenamtliche Tätigkeit hinausge- nahme am bundesweiten „Jahr der chen Subvention würde es jedoch hen, was im Klartext bedeutet, dass Orgel 2021“, und die in Planung erleichtern, den flächendeckenden dieser bezahlt werden muss. Hier- befindlichen „Waldkircher Orgel- Erhalt von musikalisch und histo- über sollten sich die Vorstände der Akademie“, die nachhaltig für das risch wertvollen Orgeln zu sichern. drei großen Institutionen im deut- Orgelwesen wirken. schen Orgelwesen – Gesellschaft Aus dem Verlauf des Ganzen wird der Orgelfreunde (GdO), BDO und Abschließend soll hier das Zitat klar, dass die Institutionen, welche VOD – Gedanken machen. Es wird aus einer Rede stehen, die Bundes- die Orgelkultur tragen, die Zu- nur durch den zielgerichteten Ein- präsident Richard von Weizsäcker kunft eben dieser Orgelkultur zu satz einer solchen Person möglich bei der Entgegennahme der Denk- großen Teilen selbst in die Hand sein, die zukünftig zu bewältigen- schrift „Kultur in Berlin“ am 11. nehmen müssen, um ein dauer- den Aufgaben zu meistern und die September 1991 gehalten hat. Da- haftes Fortbestehen dieses „ausge- Restaurierung von historischen rin heißt es: zeichneten“ Kulturgutes gewähr- Orgeln sowie den Neubau von leisten zu können. Der Wandel in zeitgemäßen Orgeln dauerhaft auf kirchlichen und politischen Ge- einem hohen Niveau zu halten.

2 Vgl. hierzu die Kleine Anfrage der FDP-Fraktion vom 19. März 2019; Drucksache 19/8515 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode, S. 1-4: http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/085/1908515.pdf und die Antwort der Bundesregierung vom 3. April 2019; Drucksache 19/9034 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode, S. 1-6: http://dipbt.bundestag.de/dip21/ btd/19/090/1909034.pdf.

98 Musikvermittlung „Kultur kostet Geld. Sie kostet Geld Der Ausdruck lenkt uns in die fal- Ganz in diesem Sinne gehe ich vor allem auch deshalb, weil der sche Richtung. Denn Kultur ist kein als Autor der UNESCO-Anträ- Zugang zu ihr nicht in erster Li- Luxus, den wir uns leisten oder auch ge davon aus, dass der Erfolg des nie durch einen privat gefüllten streichen können, sondern der geis- UNESCO-Welterbe-Eintrags uns Geldbeutel bestimmt sein darf. […] tige Boden, der unsere eigentliche sowohl Grund zur Freude als auch Substanziell hat die Förderung von innere Überlebensfähigkeit sichert. erneuter Anlass zu weiterem En- Kulturellem nicht weniger eine Und Kultur hängt auch von Perso- gagement für „unser“ Instrument Pflichtaufgabe der öffentlichen nen ab, die sie ins Werk setzen sollen. sein kann. Das gilt nicht nur für Haushalte zu sein als zum Beispiel Es ist ein zentrales öffentliches Inte- die Kirchen als Förderer der Or- der Straßenbau, die öffentliche Si- resse, dass Leute, die das können […], gelkultur, sondern auch für öffent- cherheit oder die Finanzierung der die notwendigen Entfaltungsmög- liche und private Sponsoren sowie Gehälter im öffentlichen Dienst. Es lichkeiten behalten oder bekommen. v.a. auch für die Politik, gegenüber ist grotesk, dass wir Ausgaben im Und darüber hinaus auch, dass in denen immer wieder die Karte des kulturellen Bereich zumeist „Sub- möglichst großer Dichte und Quali- UNESCO-Eintrags als zusätzli- ventionen“ nennen, während kein tät solche Menschen […] gewonnen cher Trumpf gespielt werden darf. Mensch auf die Idee käme, die Aus- werden, wenn sie bereit sind, sich Denn alle Initiativen um die Orgel gaben für ein Bahnhofsgebäude oder zu engagieren, damit sie [...] ihre verdienen weitreichende Unter- einen Spielplatz als Subventionen zu Kreativität und ihre Kenntnisse wie stützung, sind sie doch im Sinne bezeichnen. ihre Weltläufigkeit in den Dienst der der UNESCO-Definition erlebba- Kultur […] des ganzen Landes stel- res Zeugnis alten und neuen Wis- len.“3 sens, Könnens und Weitergebens – und das seit fünfzig Generationen.4

3 Richard von Weizsäcker, Ansprache bei der Entgegennahme der von Ruth Zechlin u.a. übergebenen Denkschrift „Kultur in Ber- lin“ im Schloß Bellevue am 11. September 1991, veröffentlicht am 28. März 2000 auf Welt24, https://www.welt.de/print-welt/ article509229/Kultur-sichert-Ueberleben.html; vgl. Neues Deutschland, Ausgabe vom 12. September 1991, vgl. https://www. neues-deutschland.de/artikel/323937.denkschrift-fuer-erhalt-der-berliner-kultur.html. 4 Vgl. Orgelbau und Orgelmusik, in: Wissen. Können. Weitergeben. Bundesweites Verzeichnis Immaterielles Kulturerbe, hrsg. von der Deutschen UNESCO-Kommission, Bonn 22017, S. 85; ständig aktualisierter Eintrag mit Präsentationsfilm und Artikelserien auf der website der Deutschen UNESCO-Kommission: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/ immaterielles-kulturerbe-deutschland/bundesweites-65 und https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles- kulturerbe/immaterielles-kulturerbe-weltweit/orgelbau-und-orgelmusik.

Prof. Dr. Michael Gerhard Kaufmann unterrichtet an der Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg Musik- wissenschaft und leitet die Aus- und Fortbildung von Orgel- und Glockensachverständigen. Er ist Orgelsachverständiger für die Badische Landeskirche und für die Erzdiözese Freiburg, Künstlerischer Leiter der Konzertreihe „Orgel-Welten“ der Stiftungsverwaltung Freiburg (Adelhauserkirche), Moderator beim Südwestrundfunk (SWR 2), Autor und Herausgeber von Publikationen zur Orgel und erstellte die Anträge zur Aufnahme von „Orgelbau und Orgelmusik“ in die UNESCO-Listen des immate- riellen Kulturerbes der Bundesrepublik Deutschland und der Mensch- heit (Eintrag 2014 bzw. 2017). Konzerttätigkeit als Organist, Aufnahmen auf Ton- und Bildträgern, für Rundfunk und Fernsehen; Mitglied des Präsidiums der Vereini- gung der Orgelsachverständigen Deutschlands (VOD).

Musikvermittlung 99 BERICHTE

Chorreise nach Frankreich 2018 Amitié franco-allemand ls der Badische Kammerchor zusammen mit der Heidelberger Kantorei am 9. November 2018 zu seiner vorerst letzten gro- A ßen Konzertreise aufbrach, ahnte niemand, welch tiefe Eindrü- cke mit ihr verbunden sein würden, besonders nach den sehr zähen und sich über mehrere Monate erstreckenden Verhandlungen mit den infra- ge kommenden Veranstaltern. Dass Frankreich für deutsche Chöre ein nicht ganz leichtes Pflaster ist, zeigte sich schon bei der ersten Unterneh- mung dieser Art im Jahr 1990, als zwei der drei geplanten Konzerte ext- rem schlecht besucht waren. Also war man auch diesmal mit gemischten Gefühlen aufgebrochen. Da ich selbst die Aufgabe der Logistik übernommen hatte, stand ich bei allen organisatorischen Unwägbarkeiten natürlich besonders unter Strom. Und das ging schon gleich bei der Abfahrt mit dem gemieteten Bus los: Natürlich waren nicht alle Studierenden am vereinbarten Ab- fahrtsort. Ein besonders mit morgendlichem Tiefschlaf gesegneter Stu- dent (Name: unbekannt) musste noch per PKW eingesammelt werden und unterwegs zusteigen. Danach ging die Fahrt in Richtung Südwesten sehr glatt vonstatten. Alle waren guter Dinge und freuten sich auf »la vie en France«. Avignon war unser erstes Ziel – aber in der Schlussphase gar nicht so leicht zu erreichen. Das Navi unseres Busfahrers führte uns kurz vor Erreichen der altehrwürdigen Stadt mit ihrer weltberühmten Brücke und dem nicht minder bedeutenden »Palais des Papes« zunächst in die Noten im Gepäck Niederungen bäuerlicher Kultur mit ihren busunfreundlichen Feldwe- gen. Nach dem dann unausweichlichen »es geht weder vor noch zurück« befreite eine zufällig umherirrende Polizeistreife uns ganz freundlich aus der misslichen Lage. An unserem Quartier angekommen, war nach Zimmerverteilung und Abendessen aller Kummer verflogen. Am nächsten Morgen dann: ein grandioser Blick auf Avignon und den dahinter im Dunst sich abzeich- nenden (zumindest für Rennradfahrer*innen) legendären Mont Ventoux. Der Vormittag war dann für eine Besichtigung des Stadtteils Villeneuve, in dem unser Gästehaus lag, vorgesehen. Unter der fachkundigen und überaus freundlichen Führung von Christian Martin, der sich als ebenso Avignon-kundig wie Heidelberg-affin erwies, erkundeten wir die Ruinen des alten Kartäuserklosters, den Turm Philippe des Schönen und erfreu- ten uns immer wieder an der wunderschönen Aussicht auf die Stadt und den Papstpalast. Nach einer nachmittäglichen kurzen, aber intensiven Probeneinheit, bei der noch vier französische Sängerinnen und Sänger zum Chor stießen, ging es dann zum ersten Konzertort, der »Église Saint-Martial«, einem, Probe in Avignon wie es so schön auf französisch heißt: »Temple protestant«. Chor wie Di- rigent waren natürlich extrem angespannt, war das doch der erste Auf-

100 Berichte tritt mit diesen äußerst anspruchsvollen Werken: Johann Sebastian Bach »Komm, Jesu, komm«, Johannes Brahms »Fest- und Gedenksprüche«, Francis Poulenc »Figure humaine«. Doch es handelte sich dabei nicht um irgendein ambitioniertes A-cappella-Programm, es stand unter dem Motto »Fin des guerres« und war im Zusammenhang mit der 6. Heidel- berger Summer School 2017 entstanden, die unter dem Thema »Kriege beenden« stand. Ein wichtiger Aspekt unserer Frankreichreise war somit auch ein dezi- diert politischer. Sie wurde bewusst als Beitrag eines deutschen Ensem- bles zur Erinnerung an das Ende des ersten Weltkrieges 1918 geplant. Mein Mann Bernd moderierte die Programmfolge entsprechend und hob dabei die deutsch-französische Freundschaft besonders hervor. Natür- lich standen sich im Konzert bewusst die in der Zeit deutsch-nationaler Pathetik entstandenen Fest- und Gedenksprüche und Poulencs während der Résistance komponierte Vertonung des Gedichts »Liberté« von Paul Eluard gegenüber – auf der einen Seite mit der Touristisches Programm Beschwörung des »stark Gewappneten, der seinen Palast bewahrt«, auf der anderen die litaneiarti- »J’ écris ge , wie ein einziger Sog sich entwickelnde Auf- zählung der Gegenstände, die auf ein bestimmtes Wort geschrieben werden soll (»J’ écris ton nom«), ton nom« nämlich: Liberté. Man muss wissen, dass dieses Gedicht zum identitätsstiftenden Text geworden ist. Jedes Kind lernt ihn in der Schule kennen, er ist auf Marktplätzen eingraviert, es kennt ihn fast jede/r. Daher auch die überwältigende Begeisterung, ja Rührung, die nach dem Konzert mit Händen zu greifen war, darüber, dass ausgerech- net ein deutscher Chor, bestehend aus überwiegend jungen Leuten sich gerade dieses Stückes annahm. Der denkwürdige Abend klang dann bei einem Glas Rotwein in einer gemütlichen Kneipe unmittelbar am ge- heimnisvoll erleuchteten Palais du Pape aus.

Nach diesem tollen Auftakt ging es dann anderntags weiter nach Mont- pellier, der Partnerstadt Heidelbergs, und mit ihr zusammen eine uni- versitäre Weltstadt – nur eben beträchtlich älter! Sie verbindet großstäd- Konzertbesuch beim Auszug des Chores tisches Flair mit dem Charme unzähliger kleiner Gassen und Plätze. Ein in Avignon lauer Wind machte überdies deutlich: wir sind im Mittelmeerraum, und der fühlt sich im November anders an als in Germanien. Eine Stadtfüh- rung u. a. mit Besichtigung des »Maison de Heidelberg« war natürlich auch hier obligatorisch. Außerdem wartete auf Chor und Dirigent am nächsten Tag ein straffes Programm: Ab 6:30 Frühstück, danach 7:30 Einsingen im Hotel, 8:00 Fahrt zum Place de la République; 8:30 Stell- probe, 10:00 offizieller Festakt zum 100-jährigen Jubiläum des Kriegsen- des 1918, ab 11:30 Singen im Gottesdienst der protestantischen Kirche, 13:00 Mittagessen auf dem Place de la Comédie (dem »Ei«), 15:00 Probe im Temple Maguelone, 17:00 Konzert, danach ausgiebiges »Nachseuf- zen« in einem gemütlichen Restaurant oder am Strand. Dass ausgerechnet ein deutscher Chor anlässlich der für Frankreich be- deutenden offiziellen Gedenkfeier zum Ende des 1. Weltkrieges sang – und dazu noch den französischen Identifikationstext »Liberté« – darf als absolut singulär angesehen werden und erfüllte uns mit großer Dankbar- keit. Über tausend Menschen drängten sich dicht an dicht auf dem zen- „Maison de Heidelberg“ in Montpellier tralen Platz. Der Chor wurde ein wenig verstärkt und klang wunderbar homogen und mitreißend. Oberbürgermeister Philippe Saurel dankte

Berichte 101 Badischer Kammerchor und Heidelber- ger Kantorei singen beim Festakt zum 100-jährigen Jubiläum des Kriegsendes 1918 auf dem Place de la République Montpellier.

MONTPELLIER HEIDELBERG

Armistice 1918-2018 Concert de la paix Badischer Kammerchor & Heidelberger Kantorei den Heidelbergern herzlich für diese Hymne an die Freiheit unter freiem Sous la direction de Bernd Stegmann Himmel. Dass dieser lange Tag, in dessen Verlauf dem einen oder anderen Concert a cappella Johann Sebastian Bach „Komm, Jesu, komm“ BWV 229 während des Gottesdienstsingens schon die Augendeckel etwas schwer Johannes Brahms „Fest- und Gedenksprüche“ op. 109 Francis Poulenc „Figure humaine“ wurden, ein derart fulminanter Abschluss bereithielt, war eigentlich ein Dimanche 11 novembre 2018. 17h kleines Wunder. Vielleicht kam hier mehreres in glücklicherweise zu- Temple Maguelone. Montpellier sammen: Der unglaublich gute Besuch (ca. 500 Zuhörer strömten in die Participation libre. Kirche), die exzellente Akustik des Raumes, das Gefühl, jetzt noch einmal alles geben zu müssen und vielleicht spielte auch eine gewisse Rolle, zu

wissen: Das wird das letzte Konzert von Bernd mit seinem Badischen Konzertplakat in Montpellier Kammerchor sein. Wie auch immer – es war eine unglaublich dichte Performance, die da auf die Zuhörerschaft einwirkte. Die Begeisterung war dementsprechend überwältigend. Die vielleicht schönsten Kom- mentare kamen von den französischen Gastsängerinnen: »Eine solche Aufführung von Poulencs »Figure humaine« ist in Frankreich schwerlich zu hören«, und: »das Französisch war perfekt!« Wer hätte das gedacht, nach den zahlreichen Diskussionen bezüglich der Feinheiten der franzö- sischen Sprache. Besonders tief bewegte sie, mit einem deutschen Chor dieses Stück an diesem denkwürdigen 11. November gesungen zu haben – so sieht wohl wirkliche Freundschaft aus. Einigermaßen erschöpft, doch voll von den noch lang nachklingenden Erlebnissen traten wir dann am Montag die Heimreise an. Hier gab es glücklicherweise keinerlei Zwischenfälle (außer den, dass uns auf einer der französischen Raststätten eine Einheit der Fremdenlegion begegnete, was uns nach all dem Paix-Gesang ahnen ließ, dass das Militärische uns wohl noch eine Weile begleiten wird. Am frühen Abend waren wir, die 60 Leute, von denen tatsächlich niemand verloren gegangen war, wieder wohlbehalten in Heidelberg. Am Schluss diese Reiseberichtes muss ich aber unbedingt noch dies er- wähnen: Ohne die wirklich hervorragende Unterstützung von Nadine François Bergouignan (Pfarrer), Nadine Gruner, die das Maison de Heidelberg, also die eigentliche Nahtstelle Gruner (Maison de Heidelberg) und von Heidelberg und Montpellier, leitet, wäre diese schöne Reise so nicht Bernd Stegmann möglich gewesen. Sie hat im Vorfeld vieles möglich gemacht und orga- nisiert, uns vor Ort ganz hervorragend betreut und auch danach den freundschaftlichen Kontakt gehalten. von Andrea Stegmann

102 Berichte HfK-Choristen singen in der Berliner Philharmonie There was a Child m Mai 2019 konnten acht HfK-Studierende mit Sänger*innen des Heidelberger Anglistenchors einem eindrucksvollen Projekt bei- I wohnen. Zehn Chöre, die zuerst getrennt probten (für uns hieß das ein Probenwochenende und zwei weitere Proben unter Leitung von Jan Wilke in Heidelberg) und schließlich in Berlin zusammengeführt wur- den, führten in der voll besetzten Philharmonie das groß angelegte zeit- genössische Werk „There Was A Child“ auf. Der Brite Jonathan Dove komponierte das 9-sätzige Stück, das in unter- schiedlichen Gedichten liebevoll erzählt, welche unterschiedlichen Emo- tionen beim Heranwachsen eines Kindes zu beobachten sind. Die Leitung des Konzerts lag bei Simon Halsey (Birmingham), einem prägenden Lehrer Jan Wilkes. Unter den teilnehmenden Chören sang außerdem der Kinderchor Cantus Juvenum Karlsruhe unter Leitung von HfK-Absolvent und -Dozent Peter Gortner. Es lohnt sich sehr, die weiterhin kostenlos zugängliche Aufzeichnung in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker anzusehen und an- zuhören. Vielen Dank an Jan Wilke für diese einmalige Gelegenheit und die Vorbereitung dafür! Einmal in Berlin, kamen außerdem Song-Yi Lee, Matthias Berges, Jan Wilke und Christoph Bornheimer von der HfK in einem Radiointerview der Sendung „Einstand“ im Deutschlandfunk Kultur zu Wort.

von Matthias Berges

Lichtinstallationen tauchen den großen Saal der Philharmonie schon hier bei der Generalprobe ins rechte Licht

Berichte 103 Romreise vom 9. - 15. September 2018 Quo vadis? chnell sprach es sich herum, dass Prof. Dr. Mautner eine von ihm geführte Exkursion anbietet. Noch schneller war die dafür in Um- S lauf gebrachte Liste gefüllt. Dies lag sicher nicht nur an den hoch- interessanten Bauwerken, die es zu sehen gäbe, nein, auch die Option, dem nahenden Herbst ein klimatisches Schnäppchen zu schlagen, sorg- te für eine gewisse Aufbruchseuphorie. War es dort doch fast ständig so warm wie bei uns acht Wochen lang zuvor, aber das wusste zum Zeit- punkt der Anmeldung natürlich niemand. Unsere aus 20 Teilnehmern bestehende Gruppe startete zentral vom Hei- delberger Bahnhof, machte einen kleinen Zwischenstopp in München um dann den Nightliner nach Rom zu nehmen.

TAG 1: ANKOMMEN UND SPAZIERENGEHEN

Mit nur 40 Minuten Verspätung – für italienische Verhältnisse und ös- terreichischer Züge geradezu sensationell, wie wir auf der Rückreise erleben konnten – kamen wir wohlbehalten, aber doch etwas gerädert, an. Ticketkauf, Metro erfahren, Hoteleinchecken und los ging’s zu einem kleinen Erkundungsspaziergang. Dass dieser dann doch etwa sieben Angekommen in der Casa Valdese, dem Stunden dauerte und manche Schrittzähler auf über 14.000 Schritte ka- Gästehaus der Evangelischen Kirche in men, minderte den Elan unserer hochkompetenten Stadtführung nicht Rom im Geringsten. Im Gegenzug konnten wir das Forum Romanum, das Co- losseum, den Titusbogen sowie den Circus Maximus als besichtigt auf unserer Liste abhaken.

TAG 2: VATIKAN

8:30 Uhr, Marsch Richtung Vatikanische Museen, die ja mit nur 20-mi- nütigem Fußmarsch locker zu erreichen waren. Prof. Dr. Mautner hat- te zuvor online eine Gruppenreservierung organisiert, was sich schon beim Anblick der über 200 m langen Warteschlange für Nichtticketbe- sitzer als sehr beruhigend erwies. Ca. 30.000 Besucher pro Tag besuchen die Museen. Die hier ausgestellten Exponate waren umwerfend, sei es in Form von Skulpturen, Bildern, Fresken, Artefakten und der Raumge- staltung. Beeindruckend auch ihre Anzahl, die wahrscheinlich für min- destens zehn große Museen gereicht hätte. Man war erschlagen von den Exponaten, den Menschenmassen, der zunehmenden Wärme – was sind schon dreiunddreißig Grad nach diesem Sommer – und der zurückge- legten Wegstrecke. Nach kurzem Intermezzo per Pedes gelangten wir an den Petersdom. Hier war die Wartezeit mit nur 25 Minuten (inklusive Sicherheitscheck) ein Kinderspiel, auch wenn es auf dem Vorplatz an Fußmarsch hinter Reiseführer Martin Schatten mangelte. Einige Teilnehmer wagten sich auch noch auf die 168 Mautner, im Hintergrund der Tempio m hohe Kuppel und konnten den Blick über die Stadt genießen. Valdese Zur Komplettierung unseres Bildungshungers gab es noch Teil 1 des Hol- lywood-Epos’ „Quo Vadis“ aus dem Jahr 1951 im spontan organisierten Freilichtkino auf der Hotelterrasse im fünften Stockwerk. Wir stellten leichtere historische und modische Ungenauigkeiten fest, Chips und Ge- tränke wurden stilecht gereicht.

104 Berichte Unsere Reisegruppe im Ausgrabungs- gelände des antiken Hafen Roms TAG 3: OSTIA

Nach einer gemütlichen, rund 40-minütigen S-und Metrofahrt kamen wir im antiken Ostia an. Ein echtes Highlight, da Ostia nach Pompeji die zweitgrößte antike Ausgrabungsstelle in Italien ist. Wir wurden nicht enttäuscht! Die damals rund 60.000 Einwohner zählende Stadt war auf- grund des Tibers nach und nach aufgegeben worden und bot einen über- wältigenden Einblick in das römische Alltagsleben: Von der Luxusvilla bis zum – wohl unter sozialem Wohnbau hergestellten – dreistöckigen Mehrfamilienhaus, von der Bäckerei bis zum Schnellimbiss und von der marmornen Gemeinschaftstoilette bis hin zur Therme war alles zu sehen. Besonders beeindruckten uns eine private Kapelle, das sehr gut erhaltene Theater und ein antikes, der DHL Konkurrenz machendes Schiffs- und Großhandelsterminal. Da wollten wir unbedingt mehr, ... Meer! Etwas erschöpft, gönnten wir uns den Lido von Rom. Leider war der Zugang zum Meer, wie typisch für ganz Italien, doch etwas eigen. Auf rund 5 km Privatstrand kommen ca. 5 m freier Zugang. Ein angenehm warmes Bad im Mittelmeer ent- schädigte uns für alle Mühen des Tages, hatten wir doch schon gute 12 km zu Fuß zurückgelegt. Das Essen schmeckte besonders gut und auch Quo Vadis’ zweiter Teil passte sehr gut zur morgigen Tagesplanung: den Katakomben.

Erfrischender Schatten in alten TAG 4: KATAKOMBEN – QUO VADIS Gemäuern Ostias Aufstehen, frühstücken, Rucksäcke packen, das alles läuft jetzt mit plan- mäßiger Routine. Punkt 9:00 Uhr sind wir in Bewegung Richtung Santa Maria Maggiore. Das Wetter meint es auch gut mit uns, es sind kühle 25 Grad gemeldet und erstmals brauchen wir keine starke Sonnencreme. Die Kirche ist beeindruckend, wie alle bisher besichtigten, nur dass die Masse des Goldes an der Decke wohl gewaltig sein muss. Es folgte ein Abstecher nach Santa Prassede. Nach geduldigem Warten dürfen wir in einem Seitenschiff singen, ein einzigartiges Erlebnis in diesen bedeu- tungsvollen Räumen. Auf ging‘s zur nächsten Station, diesmal per Bus. Busfahren in Rom ist wiederum sehr einfach: Man erfährt, dass es zwi- schen 5:30 Uhr und 23:45 Uhr Busverkehr gibt, mehr aber auch nicht. Also warteten wir und tatsächlich, nach gut 40 Minuten kam der Bus. Eine nicht ganz einwandfrei funktionierende Tür bremste den Zeitplan

Berichte 105 etwas, sodass wir zwei Minuten nach 12 an der Katakombe San Callisto eintrafen. Leider werden hier Tickets nur bis Punkt 12:00 Uhr verkauft. Die zwei Stunden bis zur erneuten Schalteröffnung nutzten wir zu ei- nem kleinen Spaziergang zur Kirche Quo Vadis. Laut dem dort „original“ vorhandenen Fußabdruck von Jesus war uns klar, dass Gottes Sohn min- destens Schuhgröße 45 haben musste. Erwärmt kühlten uns die Katakomben auf angenehme 14 Grad herunter. Wir staunten nicht schlecht, als wir erfuhren, dass das gut dreißig Hektar große Gebiet bis 20 m in die Tiefe geht und 250.000 Gräber beinhaltete. Wir konnten leider nicht alle besichtigen. Wieder im Bus stand San Giovanni in Laterano auf dem Programm. Für viele von uns eine der schönsten Kirchen. Weiter ging es zum Tre- vi-Brunnen. Offenbar hatten die Vatikanischen Museen zu, so dass alle Besucher jetzt hier waren, so unser Eindruck. Vorbei an Geschäften mit unbezahlbaren Waren, der Spanischen Treppe und der Piazza del Popolo ging es zurück zum Hotel. Der letzte Abend wartete und es galt noch, landestypische Spezialitäten in Bier- und Weinform zu verkosten. Menschenmassen rund um den TAG 5: ROM AUF EIGENE FAUST Trevi-Brunnen

Auch die schönste Reise hat einmal ein Ende, so auch die unsrige. Nach gemütlichem Frühstück und anschließender Zimmerräumung gab es die Möglichkeit zu individuellen Unternehmungen oder eines kleineren Besichtigungsprogramms unter Martin Mautners Führung. Die Gruppe wurde zu Grüppchen, die ganz Rom unter verschiedenen Aspekten er- oberten, teils durch den Besuch des Musikinstrumentenmuseums, teils durch ausgiebiges Bummeln und Treibenlassen durch Märkte und Ein- kaufsstraßen. Mindestens zwei Eisdielen – darunter selbstverständlich die weltberühmte Eisdiele „Giolitti“ – sorgten für eine ausreichende Ver- sorgung. Schnäppchen und Souvenirs erleichterten den Geldbeutel. Ein Glück, dass unsere Rucksäcke schon vor dem Stadtbummel ziemlich voll waren. Um 17 Uhr machten wir uns Richtung Bahnhof Termini auf, bunkerten noch Proviant für die Fahrt und entfernten uns mit flauen Gefühlen von der ewigen Stadt, die uns so eindrucksvolle Bilder und Begegnungen ge- schenkt hatte. Ach ja, wie war das noch mit der Pünktlichkeit österrei- chischer Bahnen in Italien? Hatte da nicht einmal irgendwann einer den Nachtreffen mit Rotwein und Bilder- Krieg verloren? schau im Chorsaal der Hochschule von Gerd-Peter Murawski

106 Berichte Orgelexkursion nach Norddeutschland Pfeifen an der Nordsee von Dichtung, Wahrheit und Stilkopien im Stylus fantasticus

ir schrieben das Jahr Weener zu besichtigen und unter gel bauen zu lassen. Nachdem das 2018, als im Zenit der der Führung von LKMD Winfried wertvolle Instrument von Meister W späten Augustsonne Dahlke die reiche Sammlung aus Harmannus aus Groningen aufge- eine Gruppe Heidelberger Studio- über 30 historischen Tasteninstru- stellt wurde, dienten nicht weniger si gemeinsam mit ihrem Begleiter menten auszuprobieren. als zehn der fettesten Rinder der Christoph Bornheimer aufbrach, Der nächste Tag startete früh bei Rysumer Bauernschaft als Lohn dem Berchtesgadener Land exakt Sonnenaufgang. Ziel war die Or- des Baumeisters, welche nach diametral entgegengesetzt, hinter gellandschaft der Krummhörn, Überfahrt auf die andere Emsseite Deichen und einigen Schafen die der westlichsten Region im nörd- durch eine Häuptlingsdelegation wohl ältesten und historischsten lichen Ostfriesland. Wurde bei der übergeben wurden. Gab es zu ka- Orgeln der Nation, womöglich der Erschließung dieser Landschaft tholischer Zeit noch keinen Ge- ganzen Erde, zu erkunden. Viele Stunden an minutiöser Pla- nung waren erforderlich, um die wertvollen Instrumente auszu- machen sowie Unterkünfte und Logistik im fremden Terrain si- cherzustellen. Und viele Stunden intensiver Beschäftigung mit den Orgeltabulaturen der alten Meis- ter wurden allen Beteiligten ab- verlangt, um die Literatur und die Muttersprache der eigentümlichen Instrumente zu erlernen. Und so konnte die Gruppe gespannt einer bis ins kleinste Detail organisier- ten Exkursion entgegentreten; so gut durchorganisiert, dass nach Manuel Knoll an der Schnitger-Orgel in Weener verfrühter Ankunft am ersten Zielort sogar noch etwas Zeit blieb, durch Deichbau bereits streng meindegesang, den die Orgel füh- sich mit einer Tasse des ostfriesi- auf die namensgebende Form des ren konnte, so war sie dennoch ein schen Nationalgetränkes zu stär- Krummhorns geachtet, so verweist weithin strahlendes Symbol des ken, welches auf landestypische diese noch heute auf die lange mu- wirtschaftlich aufsteigenden Bau- Weise entweder in zu Teehäusern sikalische Tradition ihrer Bewoh- erntums im kleinen Rysum, das umfunktionierten alten Mühlen ner. sich mit dem Bau der Orgel zum oder italienischen Eiscafés serviert Nach Überquerung der Ems fan- führenden Wirtschaftsmotor ent- wird. den sich alle am äußersten Ende wickelte und dessen Auswirkun- Vom regenerierten Koffeinhaus- des deutschen Festlandes in Rysum gen bis nach Groningen und den halt belebt, war für den Rest des ein, einem kleinen ostfriesischen Harz strahlten, von wo das Blei für langen Tages Zeit, die historische Bauerndorf, dessen wohlhabende die Pfeifen geliefert wurde. Umso Arp-Schnitger-Orgel der Georgs- Bevölkerung sich bereits gegen bemerkenswerter, dass vier der kirche sowie das Organeum in 1440 dazu entschied, eine neue Or- sieben Orgelregister mehr als ein

Berichte 107 DIe Orgel der Rysumer Kirche, eine der ältesten spielbaren Orgeln der Welt

halbes Jahrtausend ohne tief grei- Ursprünglicher Zweck vermutlich gen gab es stets genügend Mög- fende Änderungen überstanden einer besonders expressiven Dar- lichkeiten des Schwarzteekonsums haben und so als Teil einer der äl- stellung lyrischer Stücke diente. in alten Mühlen oder zum An- testen Orgeln der Welt wohl schon Dies zeigte sich nach dem Fund der schauen der verwinkelten ziegel- von Jan Pieterszoon Sweelincks Abschrift einer alten Hamburger steinernen Ortskerne. Und am Urgroßvater vorgefunden werden Tabulatur mit einem Fragment des Ende dieses anstrengenden, doch konnten. Werkes „König der Löwen“ neben eindrucksreichen Tages konnte Die weiteren Stationen des Tages dem Orgelgehäuse, welches mög- das Gesehene bei zahlreichen Pell- waren die Stadt Norden, Marien- licherweise zu Hochzeiten aufge- kartoffeln, Matjes sowie lokalen hafe – etwas südlich von Norden – führt wurde und durch den beson- Getränken Revue passiert werden. sowie Dornum. Nach kurzem Zwi- deren Tremulanten eine überaus schenhalt am wahrhaft schiefsten plastische und noch heutige Ohren Kirchturm der Welt empfing uns überzeugende Expressivität erhält. Kantor Thiemo Janssen, Schwager Auch die etwas größere Dornumer eines renommierten Heidelberger Holy-Orgel weist mit dem original Improvisations- und Tonsatzpro- erhaltenen „Nashorn 3 Fus“ ein fessors, in St. Ludgeri zu Norden besonders exotisches Register auf. zur Vorstellung der zweitgröß- Jedoch handelt es sich bei genau- ten erhaltenen Schnitger-Orgel erem Hinhören lediglich um die Deutschlands. Die extravagante gewöhnliche, dennoch schön into- Aufstellung des Werkes mit sin- nierte Quinte des Hauptwerks. Der gulär abstehendem Pedalturm ist Legende nach geht die Namensge- Registerbezeichnung in Dornum einzigartig und weist durch die be- bung auf einen recht großen Orga- wusst provozierte Emanzipation nisten zurück, der nach Anbau des Der dritte Tag diente der Über- der Asymmetrie bereits weit hin- groß besetzten Pedals durch Holy fahrt ins Alte Land nach Stade. aus zu Prinzipien moderner Kunst in 1711 zwar viel Freude an der Nach Verlassen der ostfriesischen und Architektur. neuen Gravität hatte, sich jedoch Unterkunft besuchten wir zu- In den beiden folgenden Orten ste- nun andauernd seine Nase am nächst die Orgelwerkstatt von hen Orgeln des Schnittger-Lehr- niedrigen Aufbau der Pedaltürme Hendrik Ahrend in Leer, der wie lings Gerhard von Holy, die als anstieß. Um seinem Leiden Rech- sein Vater schon durch perfekte späte Zeugen des norddeutschen nung zu tragen, fertigte der findige Restaurierungen der historischen Barocks dessen vielseitiges Re- Orgelbauer kurzerhand ein neues Instrumente einen großen Namen pertoire wiederzugeben verstehen. Registerschild an, welches den Or- erlangte. In seiner Werkstatt gab Eine Besonderheit der vollständig ganisten fortan stets daran erin- der Orgelbaumeister einen kurzen erhaltenen Marienhafer Orgel ist nerte, bei Verlassen des Spieltischs und spannenden Einblick in seine der auf die Bewegung der Manu- sein Haupt einzuziehen. Arbeit und seine Prinzipien. brie reagierende Tremulant, dessen Zwischen den Orgelbesichtigun- Auf dem weiteren Weg machten

108 Berichte In der Orgelwerkstatt Ahrend (v.l.n.r.): Song-Yi Lee, Christoph Bornheimer, Viktor Schmidt, Johannes Merkle, Christian Karl, Matthias Berges, Lea Krüger, Hendrik Ahrend, Hella Heidemann, Sun Kim, Manuel Knoll wir zudem noch Halt bei zwei schnelle Einspielungen von Bux- Krummhorn oder Sesquialter des Orgeln aus der Mitte des 18. Jahr- tehudes F-Dur-Toccata oder dem Rückpositivs befinden. Weiterhin hunderts in Reepsholt und Remels, Orgelkalender kennt, der in der müssen sie die kurze Oktave be- um den norddeutschen Stylus HfK in ausgewählten Räumlich- achten und dürfen im Pedal nicht fantasticus in seine Bestandteile keiten die Wand dekoriert. C und D verwechseln. zu zerlegen und improvisatorisch Martin Böcker empfing uns warm Hingegen etwas bedienungs- nun selbst Präludien und Toccaten und erklärte, nachdem er zunächst freundlicher aber nicht charakter- entstehen zu lassen. Nach diversen selbst konzertierte, die gänzlich los ist die Erasmus-Bielfeldt-Orgel Pedalsoli, Durezze und Ligature so- unterschiedlichen Orgeln von St. von St. Wilhadi, die die 1736 durch wie typischen Figuren gelang gele- Cosmae und St. Wilhadi. Darauf- ein Gewitter zerstörte zweite Or- gentlich gar die Ausführung einer hin standen uns diese beiden Ins- gel von Hus und Schnitger ersetz- ganzen Fuge und deren Pendant trumente zur Verfügung und er- te. Mehr Grundstimmen, darunter im ungeraden Metrum. Jedoch möglichten, gegebenenfalls nach Streicher und das fehlende Rück- bestand gerade für einzelne Betei- Genuss eines Schluckes Orgelwein positiv weisen bereits in Richtung ligte absoluten Gehörs die zusätz- zur Verbesserung des improvisa- eines sich wandelnden Zeitge- liche Notwendigkeit, ihr gesamtes torisch-kreativen Vorstellungsver- schmacks. tonales Gedankenkonstrukt inner- mögens, die persönliche Beschäf- Neben den beiden historischen Or- lich einen guten Semitonus nach tigung mit ihnen in nächtlicher geln in Stade selbst fuhren wir zu- oben zu transponieren, auf dass Kirche. Auch ein Rundgang durch dem nach Altenbruch sowie zu den es während der Improvisation mit die alte Stadt und ihren Hafen Schnitger-Orgeln nach Lüding- dem akustischen Resultat überein- stellte sich bei Tag und Nacht als worth, Hollern, Steinkirchen und kam, welches die im Chorton ste- lohnenswert dar. Oederquart. Die Fahrten führten henden Instrumente lieferten. St. Cosmae war Schnitgers ers- durch flache, grüne Wiesenland- tes großes Werk, welches er unter schaften mit Kühen und Schafen, er zweite Teil unserer Rei- seinem Lehrmeister Berent Hus, zwischen denen sich gelegentlich se widmete sich der alten letzter Verfechter der Springladen, kleine Ortschaften um alte Back- D Orgellandschaft des alten aufstellte. Als Meisterstück musste steinkirchen herum gruppierten. Landes rund um Stade. „Wie das auch Schnitger das Hauptwerk auf Die Tatsache, dass einzelne Wa- Land, so seine Orgeln“, erzählte Springladen stellen – eine schrei- genfahrer auf den langen geraden man uns in der Gegend um Jever, nerische Höchstleistung, die die Straßen gelegentlich den Links- und so wurden wir neugierig. Wir Registrierpraxis jedoch nicht ein- verkehr bevorzugen, lässt schon kontaktierten Anna Scholl und facher macht, da die Spieler stets hin und wieder eine gewisse Nähe Martin Böcker und ließen uns un- im Überblick haben müssen, wel- zu England verspüren. ter ihrer fachkundigen Begleitung che Register arretiert werden müs- Die genannten Orgeln baute Arp die Instrumente zeigen, die man sen und welche nicht und zudem, Schnitger allesamt in den 1680er weiter südlich nur durch rasend über welcher Schulter sich nun Jahren in Folge seines großen Er-

Berichte 109 folges in Stade. Doch da das alte Weniger Glück hingegen hatte Land wahrhaftig sehr alt ist, so Schnitgers Orgel in Oederquart, gab es auch zu Schnitgers Zeiten die zwar noch über Gehäuse und dort bereits eine reiche Substanz sämtliche Prospektpfeifen ver- noch älterer Orgelwerke, welche fügte, da sie nie zu Kriegszwecken er sehr schätzte und fast immer, eingefordert wurden, ansonsten sofern es ihr Zustand erlaubte, in aber durch Umbaumaßnahmen seine Neubauten integrierte. Da- vollständig verloren ging. Erst seit mit zeigte er gleichzeitig großen Rowan West vor wenigen Jahren Respekt gegenüber seinen Ahnen das gesamte Innere rekonstruierte und fand als findiger Geschäfts- und einen neuen Spieltisch unter mann außerdem einen Weg, we- Verwendung des sogenannten Lü- niger Pfeifen bauen zu müssen. dingworther Designs schnitzte, ist Besonders in Lüdingworth, wo er die originale Klangpracht wieder mit besonders reich geschnitztem zu erleben. Dabei ließ er unter Ver- neuen Spieltisch und barrierefrei wendung neuester Erkenntnisse lesbarer Registerbeschriftung im jedes einzelne Register aus Schnit- Großdruck auftrumpfte, fügte er gers Disposition wieder auferste- An der Schnitger-Orgel in Oederquart: lediglich ein großes Rückpositiv hen, inklusive der Zungen, Mix- Christian Karl spielt, Martin Böcker hört sowie einige Mixtur- und Pedal- turen, sowie des Terzians und der zu und unterrichtet pfeifen hinzu, sodass die bestehen- Oederquart, einer besonderen al- de Renaissanceorgel von Antonius ternierenden Quartsextzimbel, die, Wilde aus 1598 in neuer Gestalt solistisch eingesetzt, abwechselnd fast vollständig der Nachwelt er- Grund- oder Quartsextakkorde halten blieb. Der erhaltene Spiel- in hoher Lage erklingen lässt. Das tisch, der in puncto Designkunst Resultat war durchweg überzeu- später allenfalls noch von den gend und bis auf die angemessene Spieltischen des Leipziger Spiel- Leichtgängigkeit und ausgewoge- tischdesigners Ferdinand Porsche ne Regulierung der Tasten überaus übertroffen wurde, diente bereits authentisch zu spielen. mehrfach als Vorlage bei der Re- Voller Eindrücke über neu gewon- konstruktion von weniger erhalte- nene musikalische Ausdrücke ver- nen Werken. ließen wir das alte Land wieder Ähnliches wie Schnitger voll- in Richtung Hamburg. Nach ab- brachte später auch sein Kollege schließendem Besuch der großen Klapmeyer, der, sicherlich durch rekonstruierten Schnitger-Orgel Schnitgers Nachhaltigkeit beein- in St. Katharinen, wo sich schon flusst, in Altenbruch nach Anbau Bach seinerzeit mit eindrücklicher eines Brustwerkes ein Sammelsu- g-Moll-Fuge bewarb, ließen wir rium älterer Werke bewahrte, die die Reise im Hof der Elbphilhar- Lea Krüger spielt an der großen Orgel noch Material aus 1497 erhielten. monie ausklingen. der Hauptkirche St. Katharinen in Unter Weisung von Anna Scholl Hamburg und Christoph Bornheimer er- von Christian David Karl klangen hier authentisch Werke von Sweelinck bis Lübeck bei ge- öffnetem Fenster.

110 Berichte Interpretationskurs mit Werken von Zsolt Gárdonyi (*1946) Mit den Ohren sehen und den Augen hören n der HfK fand in diesem Jahr ein Interpretationskurs mit Wer- ken von Prof. Dr. h.c. Zsolt Gárdonyi (*1946) statt. Das Wo- A chenende vom 7.-9. Februar 2020 beinhaltete neben der inter- pretatorischen Arbeit mit dem Komponisten auch einen Vortrag sowie die musikalische Gestaltung des Universitätsgottesdienstes und eines Abschlusskonzertes durch teilnehmende Studierende und bot vielfältige Einblicke in Werk und Musikauffassung von Zsolt Gárdonyi.

Im Vorfeld des Kurses hatten die teilnehmenden Studierenden die Mög- lichkeit, eine Vielzahl ausgewählter Chor- und Orgelwerke des Kom- ponisten kennenzulernen und zu erarbeiten. Mit großem Engagement wurden sie dabei von den Organisatoren Maria Mokhova (Orgel), Chris- toph Bornheimer (Orgel) und Jan Wilke (Chorleitung) unterstützt. Letz- terer ist zudem künstlerischer Leiter des Anglistenchors Heidelberg, der als chorischer Klangkörper fungierte. Begonnen hatte das ereignisreiche Wochenende zunächst mit einem In- terview des ungarndeutschen Komponisten. Christoph Bornheimer er- fragte einige biografische Hintergründe. Interessant erscheint in diesem Zsolt Gárdonyi spielt im Orgelsaal der Zusammenhang die frühe musikalische Sozialisation Gárdonyis, insbe- HfK umringt vom Kursteilnehmern und sondere durch dessen Vater Zoltán Gárdonyi (1906-1986). Dieser war Maria Mokhova (rechts) u.a. der einzige ungarische Hindemith-Schüler und ebenfalls als Profes- sor an der von Franz Liszt gegründeten Musikakademie in Budapest tä- tig. Darüber hinaus leitete er dort die Abteilung für Protestantische Kir- chenmusik. So begegnete Zsolt Gárdonyi bereits früh sowohl der Musik Johann Sebastian Bachs als auch Volksmusik ungarischer Tradition. Besonders prägend für ihn waren und sind außerdem spätromantische und impressionistische Klänge. Ein besonderes Augenmerk sei hier auf Komponisten wie Franz Liszt, Claude Debussy, Alexander Skrjabin oder Olivier Messiaen gelegt. Zudem inspiriert ihn der Klavierjazz. Dass sich diese musikalische Vorbildung des Komponisten auch in des- sen eigener Musik widerspiegelt, wurde im weiteren Verlauf des Abends deutlich: In einem Vortrag zum Thema „Beiträge zur Notenlesetechnik jenseits der Dur-Moll-Tonalität“ wurden neben Werken oben genannter Komponisten immer wieder eigene Orgelwerke als analytische Grund- lage einbezogen. Zur Sprache kamen beispielsweise diverse Phänomene wie Enharmonik, skalare Darstellung, Skrjabins „Mystischer Akkord“ oder auch der „Alpha-Akkord“, der im Bereich der Distanzharmonik zu verorten ist. Neben den oben angedeuteten musiktheoretischen Einblicken hinter- ließen bei mir persönlich zwei Erkenntnisse aus diesem Seminar nach- haltigen Eindruck: Die von Zsolt Gárdonyi genannte Improvisation als Impulsgeber für die Hin- und/oder Fortführung (s)eines Kompositions- prozesses – neben der Nutzung des Inneren Gehörs – und die synäs- thetisch anmutende Verknüpfung von auditiver und visueller Wahrneh- mung von Musik. „Mit den Ohren zu sehen und den Augen zu hören“

Berichte 111 sei nicht nur wesentliches Ziel eines jeden Musikstudiums, sondern auch Zsolt Gárdonyi, eine erstrebenswerte individuelle Voraussetzung für eine Reihe weiterer musischer bzw. musikalischer Aspekte. geboren 1946 in Budapest, studierte Im weiteren Verlauf des Wochenendes wurde mit sämtlichen Werken neben den Fächern Komposition und Gárdonyis in mehreren Kurseinheiten intensiv gearbeitet. Unter Anwe- Musiktheorie auch Kirchenmusik senheit des Komponisten konnten so neue technische, interpretatorische und Orgel und wurde mit 34 Jah- und musizierpraktische Ansätze gewonnen und etabliert werden, wobei ren Professor für Musiktheorie an auch musikwissenschaftliche Gesichtspunkte aufgezeigt und somit Zsolt der Würzburger Musikhochschule, Gárdonyis Wirken als Komponist, Musiktheoretiker und Kirchenmusi- nachdem er zehn Jahre als A-Kir- ker in Personalunion entfaltet werden konnte. Der Orgelunterricht wur- chenmusiker in Wildeshausen (Ol- de hierbei in Kleingruppen realisiert, während Chor und Chorleiter zeit- denburg) tätig gewesen war. gleich arbeiteten – selbstverständlich räumlich voneinander distanziert! Das weitere gemeinsame Arbeiten mündete schließlich zunächst in die Seine Orgelkonzerte, Meisterkurse musikalische Gestaltung eines Universitätsgottesdienstes in der Peters- und Gastvorlesungen führten ihn kirche Heidelberg und wenig später in ein gelungenes Abschlusskonzert über die verschiedensten europäi- des Interpretationskurses mit Werken von Zsolt und Zoltán Gárdonyi. schen Länder bis in die USA und Darunter u.a. die „Trois Hommages à J. S. Bach, F. Liszt et M. Reger“ für nach Kanada. Er erhielt 1979 den Orgel solo oder „Der Mond ist aufgegangen“ in einer Bearbeitung für Bayerischen Kompositionspreis, im Chor. Der abschließende Beitrag „Erd und Himmel sollen singen“ wurde Jahr 2000 verlieh ihm die Refor- von Chor und Orgel gemeinsam musiziert. mierte Theologische Universität De- brecen die Ehrendoktorwürde. 2011 von Till Otto wurde Zsolt Gárdonyi für sein Le- benswerk mit der Verdienstmedaille der Republik Ungarn ausgezeichnet.

Nach dem Kurskonzert in der Peterskirche: Zsolt Gárdonyi, Maria Mokhova, Christoph Bornheimer und Jan Wilke inmitten von Anglistenchor, Dirigentinnen und Dirigenten, Organistinnen und Organisten

112 Berichte Orgelklasse Carsten Klomp fährt nach Südbaden Orgelexkursion och erfreut über eine Einladung des Bezirkskantors der kleinen Stadt Schopfheim, KMD Christoph Bogon, machten wir uns auf H die Reise ins Südbadische. Dort erwarteten uns in zwei nahe beieinander gelegenen Kirchen in der Schopfheimer Innenstadt zwei tol- le historische Orgeln: ein Werk des Badischen Orgelbauers Stein aus dem Jahr 1768 in der „Alten Kirche“, 1974 von der Firma Fischer & Krämer restauriert und rekonstruiert, sowie eine restaurierte Voit-Orgel aus dem Jahr 1892 in der Schopheimer Stadtkirche. Vor Ort angekommen, wurden wir von Herrn Bogon freundlich empfan- gen und erhielten eine Führung durch die beiden evangelischen Kirchen Schopfheims mit ihren jeweiligen Orgeln. Besonders spannend war da- bei der fakultativ mechanisch bedienbare Magazinbalg der Stein-Orgel, der von der Truppe sofort begeistert ausprobiert wurde. Anschließend wurde jeder in 30-Minuten-Einheiten unterrichtet, im- mer abwechselnd an den verschiedenen Instrumenten. Im Laufe der Zeit konnte so jeder jeweils mehrere Unterrichtseinheiten an beiden Orgeln erhalten, um die Möglichkeit zu haben, beide Instrumente besser ken- nenzulernen. Für viele von uns war es die erste intensive Begegnung mit historischen Orgeln und dadurch eine sehr eindrückliche Erfahrung. Die Zeiten, in denen man keinen Unterricht erhielt oder selbst übte, nutzten wir für den Austausch untereinander, gemeinsame Mahlzeiten, Carsten Klomp unterrichtet Paul Hafner Schwimmbadbesuche, Spaziergänge und das ein oder andere Feierabend- bierchen, sodass auch der gemeinschaftliche Aspekt nicht zu kurz kam. Alles in allem war diese Fahrt eine bereichernde und tolle Exkursion, die in diesem Format bestimmt eine Wiederholung findet. von Noah Roloff

In der Stadtkirche Schopfheim: Professor Carsten Klomp, Kantor Christoph Bogon, Paul Hafner, San Sung, Noah Roloff, Ana Cho, Manuel Dahme, Takahiro Yamauchi, Yena Jeong

Berichte 113 Orchesterstudientage 2020 Streicher mit Abstand achdem leider – wie so Vieles – pandemiebedingt die für ur- sprünglich Anfang Juni diesen Jahres geplanten Orchesterstu- N dientage abgesagt werden mussten, konnten diese glücklicher- weise durch Herrn Azumis Engagement in Zusammenarbeit mit Gregor Herrmann von der Mannheimer Kammerphilharmonie nachgeholt wer- den. In der Zeit vom 24.-27. September fanden intensive Proben an der Hochschule statt, die am Wochenende mit drei erfolgreichen Konzerten in Essingen (Dalberghalle), Ludwigshafen (Herz-Jesu-Kirche) und Kai- serslautern (Versöhnungskirche) abgeschlossen werden konnten.

Zu hören gab es Antonio Vivaldis Vier Jahreszeiten sowie sein Kon- zert in G-Dur für zwei Mandolinen. Die Violinistin Eva Dannowski (Kaiserslautern) sowie Anna Maria Bagger (Ettlingen) und Evita Schlen- der (Bad Bergzabern) im Mandolinenduo sind Preisträgerinnen des jähr- lich verliehenen Bruno-Herrmann-Preises für besonders erfolgreiche Teilnehmer des Landeswettbewerbs „Jugend musiziert“ aus der Pfalz. Als weiteres Werk wurde Felix Mendelssohn Bartholdys VII. Streicher- sinfonie in d-Moll gespielt.

Wir als Studierende und Dirigenten dieser Konzerte bedanken uns sehr herzlich bei Herrn Azumi und der Hochschulleitung, dass nach doch sehr vielem Umorganisieren die Orchesterstudientage möglich gemacht wur- den. Es sind wertvolle Erfahrungen für uns auf dem Weg als zukünftige Kantorinnen und Kantoren, da ja meist unser alltägliches Tun eher im chorischen Bereich seinen Platz hat. Ebenso möchten wir der Kammer- philharmonie Mannheim für ihre stets engagierte und zugewandte Zu- sammenarbeit danken.

von Caroline Huppert

im linken Streifen dirigieren (v.o.n.u.): Benedikt Schwarz, Sun Kim, Miriam Schulze, Alexander Albrecht (je einen Satz der Vier Jahreszeiten von Vivaldi) Dominic Cerrito (Vivaldi Mandolinenkonzert G-Dur) Matthias Berges, Caroline Huppert (Mendelssohn Streichersinfonie 7)

114 Berichte Heidelberger Karg-Elert-Tage 2020 Nächstes Jahr auch mit der HfK ie erste Ausgabe der Heidelberger Karg-Elert-Tage hatte es nicht leicht: Aufgrund der Pandemie muss- te mehrfach und tiefgreifend umgeplant werden. Umso mehr freut es mich, dass trotz alledem vier D so hochkarätige Veranstaltungen tatsächlich stattfinden konnten und (für Pandemie-Verhältnisse) er- freulich gut besucht waren. Musikkenner wie Laien zeigten Begeisterung und Interesse für mehr.

Schon für dieses Jahr war eine enge Kooperation zwischen der Karg-Elert-Gesellschaft e. V. – die Veranstalterin ist – und der HfK vorgesehen. Da die Durchführbarkeit des Studienbetriebs lange ungewiss blieb, rücken diese Veranstaltungen (u. a. ein Hochschulchorkonzert, ein Orgelmeisterkurs und Konzert mit Stefan Engels, Vorträge und Studentenkonzerte) ins Jahr 2021. Diese 2. Heidelberger Karg-Elert-Tage finden voraussichtlich vom 15.-17. Oktober 2021 statt. Informationen hierzu finden sich zu ge- gebener Zeit unter www.hfk-heidelberg.de/karg-elert2021.

von Matthias Berges

Freitag, 16. Oktober 2020 11:30 Uhr | Heiliggeistkirche Besonders plastisch wer- den diese in Louis Viernes Kunstharmonium-Matinée „Fantômes“ für Orgel und Werke von Karg-Elert, Lefébure-Wély, Mouquet, Saint- Sprecher. Des Weiteren er- Saëns und Camillo Schumann klingen Karg-Elerts „Stim- Joris Verdin (Antwerpen), Kunstharmonium men der Nacht“ sowie ro- mantische Bearbeitungen Das Kunstharmonium und Sigfrid Karg-Elert von Orchesterwerken und 19:30 Uhr | Christuskirche sind kaum voneinander zu trennen. Beide sind Stücken zum Abend. zu Unrecht Raritäten im heutigen Konzertbe- Emotion und Fuge trieb und dadurch umso hörenswerter. Johannes Geffert, ehemals Orgelprofessor Werke von Wunderlich, Schumann, Reger und Karg-Elert in Köln, spielt an den beiden Kuhn-Orgeln. Stefan Engels (Dallas), Orgel Joris Verdin wird mit seinem Gang durch die Die strahlend weißen Wände der prächtigen Kompositionsgeschichte für das romantisch- Jesuitenkirche vermitteln mit Projektionen Wie unterschiedlich sich expressive Instrument einige wichtige Kom- von Himmelskörpern passende Atmosphäre. historische Gattungen in ponisten vorstellen. Er spielt dabei auf sei- der Romantik verselbst- nem historischen Kunstharmorium des Pariser Eintritt: 15 € / ermäßigt 10 € ständigen, stellen u. a. Karg- Fabrikanten Victor Mustel aus dem Jahr 1891. Elerts Sonatine oder Regers Sonntag, 18. Oktober 2020 Monologe unter Beweis. Eintritt: 10 € / ermäßigt 5 € 10:30 Uhr | Friedenskirche Stefan Engels, Orgelprofes- sor und Begründer der Leip- Karg-Elert, Bach und Reger ziger Karg-Elert-Festtage, Evangelischer Gottesdienst spielt an der historischen Walcker-Orgel von Maria Mokhova (Heidelberg), Orgel 1903. Seine Gesamteinspielung der Orgelwerke Pfarrer Reinhard Mentz, Liturg Karg-Elerts findet international Beachtung. „Vor Regers Choralvorspielen schwenkten wir un- Eintritt: 15 € / ermäßigt 10 € 20:00 Uhr | Jesuitenkirche sere Hüte. Bei Karg-Elerts Choralimprovisationen warfen wir sie vor Begeisterung in die Luft.“ Samstag, 17. Oktober 2020 Stimmen der Nacht Werke von Karg-Elert, Mendelssohn, Vierne u.a. Maria Mokhova, Konzert- Johannes Geffert (Köln), Orgel organistin und Dozentin an der Hochschule für Ruhig, sanft, stürmisch, beängstigend … Kirchenmusik Heidelberg, erschien jünst im Guin- Wohl jeder Organist übt ab und zu des Nachts in nessbuch der Rekorde „seiner“ Kirche und tritt in besonderen Kontakt mit ihrer Teilnahme am mit den Stimmen der Orgel und des Raums. längsten Orgelkonzert.

Berichte 115 Umbaumaßnahmen an den Orgeln der Peterskirche Die Königin – und ihre Schwester

er sich neuerdings wohl nicht mehr als besonders er- auf die Orgelbank der freulich und so ließ man (so sagte W Klais-Orgel in der Pe- mir ein Zeitzeuge, der seinerzeit terskirche setzt, wird rechts neben auf dem Instrument viel gespielt sich einen großen Bildschirm mit hat) die Orgel mehr oder weniger einer recht ungewöhnlichen Gra- verlottern bis 1984 ein neues Ins- fik bemerken. Außerdem fallen ein trument der Firma Klais im hinte- paar Veränderungen in der Optik ren Teil des Kirchenschiffs zu ebe- unterhalb des Orgel-Notenbrettes ner Erde erbaut wurde. auf. Beides hängt damit zusam- Aus den Resten des Vorgängerins- men, dass aus der drei-manualigen trumentes baute die Firma Stein- Orgel der Bonner Orgelbauwerk- meyer 1983 das Instrument, dass stätte Klais nun ein Dreifach-Inst- seit spätestens 1984 ein Schatten- rument geworden ist. dasein führte und in das seit Jahr- Dafür wurden in den Sommerse- zehnten kein Cent mehr investiert mesterferien einige Umbauten an wurde. Bis vor wenigen Jahren war Alt und alt, aber neu zusammen: Links die Klais-Orgel mit Carsten Klomp am Spieltisch, rechts die neuerdings der Orgel vorgenommen, wobei dieses Instrument mit Einschrän- von unten anspielbare Emporenorgel. Fotos: Tine Wiechmann bei allen Planungen und Arbeiten kungen noch nutzbar und ließ er- immer darauf geachtet wurde, dass kennen, was für ein wunderbares das eigentliche Instrument, also die Werk dort einmal gestanden haben Traktur (Verbindung Taste-Pfeife) muss. Dann nahmen die Fehler und das Pfeifenwerk dieser spät- und Unzuverlässigkeiten über- neobarocken Orgel unangetastet hand und das Instrument konnte blieb. Trotzdem ist das Instrument gar nicht mehr genutzt werden. nun deutlich bedienungsfreundli- Das ist schon deshalb bedauer- cher und vor allem deutlich größer lich, weil die Emporenorgel schon geworden. Wie ist das möglich? wegen ihres akustisch viel günsti- Auf der Empore der Peterskirche geren Standort – von der Empore steht eine zweite Orgel. Die Ge- aus beschallt sie gleichmäßig das schichte dieses Instrumentes ist im ganze Kirchenschiff, was von hin- Großen und Ganzen (zumindest ten links naturgemäß nicht funk- aus heutiger Sicht) traurig – wenn tioniert – eigentlich eine echte auch leider typisch. 1898 erbaute klangliche Bereicherung der Pe- die damals berühmte Orgelbau- terskirche gewesen wäre. Und so firma Walcker ein mit fast 70 Re- entwickelte sich die Idee, dieses gistern sehr großes Instrument Instrument mit seiner elektrischen für die Heidelberger Peterskirche. Traktur wieder zu beleben und Diese bedeutende spätromantische womöglich von der Klais-Orgel Orgel wurde im Jahr 1952 zum aus spielbar zu machen. ersten Mal von der Firma Stein- Nach vielen Jahren der Planung meyer umgebaut und 1960 gleich kam uns der Zufall zu Hilfe: ein weiteres Mal von der Orgel- Die Setzeranlage der Klais-Or- baufirma Mann. Was dann noch gel musste grundlegend erneuert Der bisherige Spieltisch der Klais-Orgel, erweitert durch Videomonitor, Setzeranzeigen und das neue Touch- übrig geblieben war, empfand man werden und gleichzeitig wurden Terminal für die Registrierung der Emporenorgel. Foto: Mathias Balzer

116 Berichte Orgel-Finanzmittel für das Haus Mitglieder. der Kirchenmusik (jetzt Akademie Fehlt noch die Datenaustauschver- für Kirchenmusik) frei, welches die bindung der beiden Instrumente. Peterskirche während seiner Aus- Da von der Klais-Orgel aus kei- bildungskurse intensiv nutzt. Und nerlei Sicht auf den Altarraum der so konnten, ganz kurz bevor Coro- Peterskirche bestand, was nicht na allen Planungen und möglichen selten zu Pannen im Gottesdienst Beauftragungen ein Ende machte, führte, musste hier Abhilfe durch zwei Vorgänge miteinander ver- Kamera und Bildschirm geschaf- knüpft und von unterschiedlichen fen werden. Zu diesem Zweck Trägern finanziert werden: musste ohnehin ein Kabel von der » Die Klais-Orgel erhielt eine Klais-Orgel auf die Empore gelegt neue Setzeranlage der Firma Si- werden und so konnte diese Kabel- nua. Diese ist kompatibel mit der verbindung gleich so konzipiert Anlage der Schiegnitz-Orgel in werden, dass sie gleichzeitig als Raum 16, d. h. die Dozierenden „Traktur“ der Emporenorgel dient. und Studierenden können mit dem Das besondere an diesem Konzept gleichen Token die Setzeranlage liegt an einer in der Geschichte der beider Orgeln für sich persona- Emporenorgel wurzelnden Eigen- lisieren - und den Chip nebenbei art: Da dies Instrument aus Resten noch als Türöffner zur HfK nut- der Vorgängerorgeln erbaut wurde, zen. Außerdem wurden sämtliche stehen die 16 Register, die sich bis Manuale und das Pedal zusätzlich auf die beiden Pedalregister alle- mit elektronischen Kontakten samt hinter einem großen Jalousie- Alt und alt, aber neu zusammen: Links die Klais-Orgel mit Carsten Klomp am Spieltisch, rechts die neuerdings versehen, mit deren Hilfe sich ein schweller befinden, statt auf zwei von unten anspielbare Emporenorgel. Fotos: Tine Wiechmann neu angeschaffter Expander oder oder drei auf vier Windladen, die weitere Instrumente (wie z.B. die allesamt einzeln angesteuert wer- Emporenorgel) ansteuern lassen. den können. Die neue Setzeranla- Die Kosten hierfür wurden kom- ge macht es nun mit ihrem nahezu plett von der Evangelischen Pflege unendlichen Potenzial nicht nur Schönau übernommen, wofür an möglich, sämtliche Register nach dieser Stelle ausdrücklich gedankt oben oder unten zu oktavieren werden soll. (Super- bzw. Sub-Koppel), sondern » Die Emporen-Orgel wurde er- ermöglicht es, dies auf allen drei tüchtigt, d. h. noch nicht renoviert, Manualen und im Pedal gleich- sondern zunächst nur repariert zeitig unterschiedlich zu tun. Man und wieder ohne Einschränkun- kann also z.B. ein 8‘-Register im 3. gen spielbar gemacht. Zusätzlich Manual als 8‘, im 2. Manual statt- wird in diesem 1. Bauabschnitt das dessen (oder zusätzlich) als 4‘ und Regal 8‘ durch eine 8‘-Trompete im 1. Manual statt dessen (oder zu- ersetzt, damit die Orgel über ein sätzlich) als 16‘ zu spielen. Um die- tragfähiges Zungenregister verfügt se Auswahl zu treffen, wird der zu- und der Spieltisch auf der Empore sätzliche Bildschirm mit seiner auf um ein Manual ergänzt. Finanziert den ersten Blick etwas verwirren- wurden diese Arbeiten aus dem den Schaltfläche benötigt. Diese Orgelfond der Akademie für Kir- neue technische Möglichkeit offe- chenmusik, von der Universitäts- riert zugleich die Möglichkeit, den gemeinde an der Peterskirche, der bisher einmanualigen Spieltisch Ursinus-Stiftung und aus Orgel- auf der Orgelempore zu einem bau-Fördermitteln der Evangeli- zwei-manualigen umzubauen, auf schen Landeskirche. Auch hierfür dem eine Begleitung von Chören Der bisherige Spieltisch der Klais-Orgel, erweitert durch Videomonitor, Setzeranzeigen und das neue Touch- ein herzliches Dankeschön von oder auch der Gemeinde von nun Terminal für die Registrierung der Emporenorgel. Foto: Mathias Balzer Seiten der Hochschule und ihrer an möglich sein wird.

Berichte 117 Das klingt und ist auch alles sehr die klaren und strahlenden Klänge aus einem vom Freundeskreis der technisch, aber schon jetzt, wäh- der Klais-Orgel vortrefflich mit HfK finanzierten Lautsprecher er- rend die Emporenorgel noch un- den weichen und runden Farben klingen werden. renoviert ist, lassen sich all diese der Emporenorgel und führen in Am besten schauen Sie einmal in Möglichkeiten nutzen und erwei- der Peterskirche zu ganz neuen der Peterskirche vorbei und hören tern die klanglichen Möglichkei- Hörerlebnissen und Aufführungs- sich die neue Orgelanlage live an – ten der Orgelanlage um ein Viel- möglichkeiten. Ergänzt werden oder probieren sie selbst aus. faches. Dabei mischen sich die diese durch den neu angeschafften Instrumente im Raum ganz her- Expander mit seinen originär elek- von Carsten Klomp vorragend und so verbinden sich tronischen Klängen, die übrigens

Clara-Schumann-Soiree Abschlusskonzert des Liedseminars am 20.07.2019 Leitung: Prof. Sebastian Hübner und Kyeyoung Lim v.l.n.r.: Prof. Sebastian Hübner, Kyeyoung Lim, Johannes Merkle, Jannick Hüffner, Julia Eppel, Felicity Hotasina, Jun-Hwan Kim

Orgelnacht zu Bachs Geburtstag am 23.07.2019 in der Heiliggeistkiche v.l.n.r.: Christoph Bornheimer, Heilig- geistkantor Christoph Andreas Schäfer, Jannick Hüffner, Matthias Berges, Clara Hahn, Christian Karl, Manuel Knoll, Lea Krüger

Adventskonzert am 14.12.2019 in der Stadtkirche Wein- heim v.l.n.r.: Samuel Huhn, Felicity Hotasina, Christoph Bornheimer, Carolin Raschke, Thilo Ratai, Matthias Berges, Gigi Yau

118 Berichte Heidelberger Orgelakademie vom 15.-17.9.2019 Die Veranstalter und Dozenten Maria Mokhova (5. v. l.) und Christoph Bornheimer (3. v. l.) mit den Teilnehmer*innen in der Christuskirche, einem von 8 Kursorten mit vielfältigen Orgeln

„Der unbekannte Schubert“ Abschlusskonzert des Liedseminars am 16.02.2020 Leitung: Prof. Sebastian Hübner und Kyeyoung Lim Die Teilnehmer v.l.n.r.: Byungyong Yoo, Miriam Schulze, Heyrin Park, Leonie Hübner, Johannes Merkle, Minki Park, Takahiro Yamauchi, Jannick Hüffner, Felicity Hotasina, Yeji Shin, Jisun Youn, Sujung Cho

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Kommunikationswege_A5quer_4C_Rahmen.indd 1 Berichte 10.08.2020 13:37:59119 PERSONEN UND DATEN

Absolventinnen und Absolventen seit Sommersemester 2019

Im Studiengang Kirchenmusik beendeten folgende Studierende ihre Ausbildung:

» Manuel Knoll (Bachelor) » Sooyoung Kyoung (Bachelor) » Caroline Huppert (Bachelor) » Christian D. Karl (Bachelor) » Miriam Schulze (Bachelor) » Carla Braun (Master) » Markus Piringer (Diplom A) » Matthias Berges (Bachelor) » Dominic Cerrito (Bachelor) » Gigi Yau (Bachelor) » Jens Hoffmann (Diplom A) » Joanna Lenk (Master) » Thilo Ratai (Diplom A)

120 Personen und Daten In der Künstlerischen Ausbildung wurden folgende Reifeprüfungen erfolgreich abgelegt:

» Jun-Hwan Kim (Gesang) » Peter Gortner (Gesang) » Medeum Choi (Klavier) » Shuanghui Xu (Klavier) » Jina Chang (Klavier) » Song-Yi Lee (Chorleitung und Orgelimprovisation)

Neue Studierende 2020

» Ana Cho, Martin Höllenriegel, Hosung Kang, Bomi Kim, Michael Müller (Bachelor Kirchenmusik) » Miriam Engel (Bachelor Landesposaunenwartin) » Lars Quincke (Master Popularkirchenmusik) » Künstlerische Ausbildung: Michaela Kögel (Gesang), Jinju Yu (Klavier)

Neu an der HfK (v. l. n. r.): Ana Cho, Bomi Kim, Hosun Kang, Miriam Engel, Martin Höllenriegel, Michael Müller

Lars Quincke ist der erste Student des Ein Ensemble aus Studierenden (zwischen Plexiglas) und Carsten Klomp an der Studiengangs „Popularkirchenmusik“ Orgel eröffnen das Wintersemester 2020/21. Foto: Angelo Cetta

Personen und Daten 121 Wer ist wo? Stellenbesetzungen mit Absolventen der HfK Heidelberg

» Christoph Bornheimer: Christuskirche Heidelberg » Carla Braun: Pauluskirche Bad Kreuznach (Bild 1) » Daniel Cromm: Ev.-Lutherische Kirchengemeinde Wedel » Peter Gortner: Christuskirche Karlsruhe » Clara Hahn: Organistin an der Stiftskirche Stuttgart (Bild 2) » Jens Hoffmann: Ref. Kirchgemeinde Wangen-Brüttisellen (Schweiz) » Sun Kim: Ev. Verbundkirchengemeinde Neuenbürg » André Kraushaar: Ev. Kirchengemeinde Wahlscheid » Song-Yi Lee: Ev. Gemeinde Deutscher Sprache Seoul (Südkorea) » Peter Meyer: Ev. Kirchengemeinde Wörrstadt » Markus Piringer: Ev. Kirche in Mühlacker » Elisa Popp: Kirchengemeinde Eisenberg » Thilo Ratai: Assistenz an der Stiftskirche Stuttgart (Bild 2) » Lukas Ruckelshausen: Ev. Kirchengemeinde Frankfurt-Nied » Niklas Sikner: Lutherkirche Wiesbaden (Bild 3) » Roman Stahl: Ref. Kirchgemeinden Olten und Kriegstetten

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BGD_AZ_Corona_220420_Auswahl.indd 4 29.04.20 11:55 122 Personen und Daten Neue Lehrkräfte

Nach dem Weggang unseres Dozenten Jens Uhlenhoff wurden folgende Lehraufträge ab dem Wintersemester 2019/20 neu vergeben: Partiturspiel an Uli Kneisel sowie Tonsatz an Prof. Dr. Michael Polth und an KMD Christian Schaefer.

Uli Kneisel, geboren in Asselheim (Pfalz), studierte Schulmusik und Mu- siktheorie an der Musikhochschule Mannheim; seine Dirigierausbildung erhielt er u. a. im Leistungsfach bei Marus Theinert, Georg Grün und Christoph Siebert. Er besuchte Meisterkurse bei Morten Schuldt-Jensen, Jan Scheerer und Harald Jers; derzeit leitet er das Vokalensemble Came- rata Cambiata, den Chor Nova Cantica in Grünstadt, den Gesangverein Bissersheim sowie seit März 2017 alle Chorgruppen der Liebfrauenge- meinde Worms.

Prof. Dr. Michael Polth studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Klassische Philologie (Griechisch) an der Universität Bonn und der Technischen Universität Berlin sowie Musiktheorie und Gehörbildung an der Hochschule der Künste Berlin (heute Universität der Künste). Seine Dissertation verfasste er zum Thema „Sinfo- nieexpositionen des 18. Jahrhunderts“. Bis zum Wintersemester 2001/02 war der als Dozent an der HdK (heute UdK) tätig, seither als Professor für Musiktheorie an der Musikhochschule Mannheim. Von 2000 bis 2004 war er Präsident und bis 2010 Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Musiktheorie (GMTH), von 2008 bis 2015 Mitherausgeber der Zeitschrift der Gesellschaft (ZGMTH), von 2009 bis 2016 zu- gleich Vorsitzender des GMTH-Aufsatzwettbewerbs.

KMD Christian Schaefer ist Kantor an der Stadtkirche Wiesloch und für den Kir- chenbezirk Südliche Kurpfalz tätig. Aufgewachsen in Mittelhessen, war er bereits in seiner Jugend vielfältig als Sänger, Bläser und Organist aktiv; er studierte Kir- chenmusik A und Orgel (künstlerische Reifeprüfung) in Düsseldorf und Herford, Musiktheorie und Historische Improvisation an der Schola Cantorum Basiliensis. Er absolvierte zahlreiche Meisterkurse sowie eine Ausbildung in Themenzentrier- ter Interaktion; nach fünfjähriger Tätigkeit in Bielefeld trat er im Jahr 2000 seine jetzige Kantorenstelle an; seit 2007 unterrichtet er am Haus der Kirchenmusik in Beuggen, (heute Akademie für Kirchenmusik Heidelberg).

Wir begrüßen die neuen Dozenten dieses Fachbereichs herzlich an der HfK.

Im selben Bereich (Musiktheorie/Gehörbildung) ist seit dem Wintersemester 2020/21 Manuel Durão an unserer Hochschule tätig. Er erhielt als Komponist und Dirigent zahlreiche Preise und Stipendien; seit 2019 ist er Doktorand an der Musik- hochschule Mannheim; er absolvierte die Musikhochschule Lissabon (Bachelor in Komposition), nahm an Meisterkursen im Dirigieren bei Jean-Sébastien Béreau teil, erhielt 2011 sein Diplom an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendels- sohn Bartholdy“ in Leipzig bei Prof. Reinhard Pfundt (Komposition) und Dr. Barbara Rucha (Dirigieren); sein Meisterklassenexamen datiert von 2013; in Mannheim be- gann er 2018 ein Kontaktstudium bei Sidney Corbett.

Wir freuen uns über unseren neuen Kollegen.

Personen und Daten 123 Seit dem Wintersemester 2020/21 sind drei Lehraufträge im Bereich Orgel vergeben worden: an Anna Pikul- ska, Julian Handlos (beide Orgelliteraturspiel) und Joachim Schreiber (Orgelimprovisation).

Anna Pikulska, geboren in Oppeln (Polen) studierte von 2004 bis 2009 Orgel bei Julian Gembalsi an der Musikakademie Kattowitz; es folgte ein Aufbaustudium bei Gerhard Gnann an der Musikhochschule Mainz (Konzertexamen 2012); bei Wettbewerben errang sie Preise und Stipendien – eines verbunden mit einer Do- zentur an der Mainzer Hochschule; sie nahm an Meisterkursen bei Jacques van Oortmerssen, Christoph Bossert, Bernhard Haas und Daniel Roth teil; in ihrer Heimat sowie im Ausland wurde sie vielfach ausgezeichnet; zahlreiche Einspie- lungen zeugen von ihrer Tätigkeit; 2018 wurde sie mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. Frau Pikulska wird demnächst ihren Unter- richt an unserer Hochschule beginnen.

Julian Handlos studierte Kirchenmusik (Master) und Schulmusik mit Neben- fach Philosophie in Freiburg im Breisgau; zu seinen Lehrern zählten Martin Schmeding, Matthias Maierhofer, David Franke (Orgel), Manfred Schreier und Frank Markowitsch (Dirigieren); er nahm an Meisterkursen bei Ton Koopmann, Daniel Roth und Jaroslav Tuma teil; im Jahr 2019 wurde er in die Orgelsolisten- klassen von Matthias Maierhofer und Vincent Dubois in Freiburg aufgenommen und studiert Chorleitung (Master) bei Frank Markowitsch; seit 2014 leitet er den Ökumenischen Chor Freiburg-Rieselfeld, seit 2018 ist er außerdem Kantor der Evangelischen Kirchengemeinde Hinterzarten, seit 2019 auch Organist an der Schlosskirche Mahlberg; mehrere internationale Orgelwettbewerbe konnte er mit Preisen absolvieren; eine reiche Konzerttätigkeit im In- und Ausland (so 2018 eine Konzertreise durch Russland) sei außerdem erwähnt.

Joachim Schreiber, geboren in Rheinhessen, studierte Kirchenmusik an der HfK; er besuchte Meisterkurse bei Ludger Lohmann, Gaston Litaize, Jon Lauk- vik, Harald Vogel und Alfred Gross; seit 1995 ist er Kantor an der Stephanskirche in Simmern und für den Kirchenkreis Simmern-Trarbach zuständig; von 1997 bis 2002 wirkte er bereits als Dozent für Orgelimprovisation an unserer Hoch- schule; seit 2009 wirkt er als Orgelsachverständiger für die südlichen Kirchen- kreise der Evangelischen Landeskirche im Rheinland.

Wir begrüßen die neuen Lehrbeauftragten, die unseren Fachbereich Orgel bereichern, sehr herzlich.

Weitere Veränderungen im Lehrkörper

Seit Erscheinen der letzten Ausgabe von HfK aktuell gab es folgende Veränderungen bei den Dozierenden der Hochschule:

Jens Uhlenhoff, Dozent in den Bereichen Partiturspiel und Tonsatz vom Sommersemester 2015 bis zum Sommersemester 2019, wechselte zur Musikhochschule in Detmold. Für seine Arbeit an der HfK danken wir. Unsere besten Wünsche begleiten ihn.

Christian Roos, Lehrkraft im Bereich Klavier seit dem Sommersemester 2016, pausiert derzeit aus privaten Gründen. Wir grüßen ihn herzlich und hoffen sehr, dass er seine Tätigkeit bei uns recht bald wird fortsetzen können.

124 Personen und Daten Patrick Fritz-Benzing aus Karlsruhe unterstützte unsere Hochschule vom Sommersemester 2015 bis zum Sommersemester 2019 im Bereich Orgelliteraturspiel. Er beendete seine Tätigkeit aus privaten Gründen. Beste Wünsche für ihn und großen Dank für sein Wirken an der HfK!

KMD Johannes Michel, nordbadischer Landeskantor, war bereits früher an unserer Hochschule tätig und unterstützt uns seit dem Sommersemester 2019 wieder im Bereich Orgelliteraturspiel. Wir danken ihm für seinen Einsatz an unserer Hochschule.

KMD Gunther Martin Göttsche, bereits früher Dozent im Bereich Orgel- improvisation, war nach seinem Eintritt in der Ruhestand vom Sommerse- mester 2018 bis zum Sommersemester 2020 erneut bei uns tätig. Für seinen Einsatz danken wir sehr. Inzwischen hat er seine Tätigkeit aus gesundheit- lichen Gründen beenden müssen. Wir wünschen ihm alles erdenklich Gute.

Daniel Gárdonyi unterrichtete vom Wintersemester 2019/20 bis zum Be- ginn des Wintersemesters 2020/21 auf Empfehlung Gunther Martin Gött- sches vertretungsweise im Bereich Orgelimprovisation. Für die Bereit- schaft danken wir sehr. Sein Dienst half uns, den Unterricht bis zum Ende des Ausschreibungsverfahrens für neue LO-Lehraufträge fortführen zu kön- nen. Wir wünschen ihm alles erdenklich Gute und freuen uns, ihn womög- lich einmal wieder in unserem Haus begrüßen zu dürfen.

Neue Verwaltungsleiterin

Sehr herzlich begrüßen wir Andrea Hadwiger als neue Verwaltungsleiterin unserer Hochschule. Durch eine Umstrukturierung in der Verwaltung der HfK gelingt es, Abläufe besser zu gestalten und die Organisation zu verein- fachen. Dass hierfür die jüngst eingerichtete Stelle der Verwaltungsleitung mit deutlich weiterreichenden Kompetenzen ausgestattet wurde, trägt we- sentlich dazu bei.

Die besten Wünsche für Frau Hadwiger für ihre erweiterte Tätigkeit!

Verleihung von Professorentiteln

Heinrich Walther und Stefan Göttelmann, beide langjährig verdienstvoll Unterrichtende im Fachbe- reich Orgel an unserem Haus, wurden auf Beschluss des Senats, im Einvernehmen mit dem Evangelischen Oberkirchenrat, zu Professoren unseres Hauses er- nannt. Für beiden Dozenten, die die Orgel-Ausbil- dung an der HfK wesentlich mitgeprägen, sei dies ein Zeichen der Wertschätzung ihrer Tätigkeit. Beiden wünschen wir das Allerbeste und noch viele Jahre des erfolgreichen Wirkens in Heidelberg.

Personen und Daten 125 Dienstjubiläen

Wir gratulieren Prof. Christiane Michel-Ostertun sehr herzlich zu 30 Jahren Tätigkeit als Dozentin im Bereich Orgelimprovisation an unserer Hoch- schule. Wir durften zur Semestereröffnung des Sommersemesters 2019 persönlich danken für die sehr erfolgreiche und prägende Arbeit zugunsten unserer Studierenden.

Im Wintersemester 2019/20 konnte Dr. Gerhard Luchterhandt, Professor in den Fachbereichen Musiktheorie und Orgelimprovisation, zugleich Prorektor unserer Hochschule, auf 20 Jahre Tätig- keit an unserem Haus zurückblicken. Für seine er- folgreiche Unterrichtstätigkeit und seine umsichti- ge Hilfe bei der Leitung des Hauses danken wir ihm sehr. Gerade die Durchführung der Besetzungsver- fahren für die inzwischen vergebenen Professuren in den Bereichen Chorleitung und Popular-Kirchenmusik sowie der Lehrauftragsverfahren der letzten Zeit, waren wesentlich sein Werk. Auch dafür besten Dank!

Ebenso war mit dem Wintersemester 2019/20 Christiane Lux 10 Jahre an unserem Haus als Dozierende im Bereich Cembalo und Generalbass tätig. Für ihren großen Beitrag dazu, dass die Beschäftigung mit histori- schen Tasteninstrumenten vielen Studierenden ihr Studium wesentlich bereichert, danken wir ihr. Auf viele weitere Jahre erfolgreicher Tätigkeit an der HfK!

Prof. Heidrun Luchterhandt wurde zur Eröffnung des Winter- semesters 2020/21 für 20 Jahre sehr lobenswerter Unterrichtstä- tigkeit im Bereich Gesang geehrt. Wir freuen uns, dass sie neben ihrem Dienst an der Hochschule in Herford an unserem Haus tätig ist und den Unterricht im Vokal- bereich mitprägt.

Armin Schaefer, nordbadischer Landesposaunenwart, bereichert seit 25 Jahren die HfK mit seiner Unterrichtstätigkeit in den Bereichen Posau- ne und Bläserchorleitung. Dafür danken wir sehr. Mit seiner Expertise hat er außerdem gerade in letzter Zeit sehr geholfen, bei der Erstellung der Ausbildungspläne für neue bläserspezifische Studiengänge. Auch für diese Unterstützung besten Dank!

126 Personen und Daten Außerhochschulische Aktivitäten der Lehrkräfte

Prof. Carola Keil Carola Keil wirkte bei der im Dezember 2019 erschienenen CD „Parole e Testi“ des Klangforum Heidelberg mit, die dieses Jahr auf der Bestenliste der Deutschen Schallplattenkritik steht. Die Juroren werten die Produktion „als eine der künstlerisch herausragenden Neuveröf- fentlichungen des Tonträgermarktes im vergangenen Quartal“.

Prof. Sebastian Hübner Im Dezember 2019 leitete Sebastian Hübner eine Aufführung des Bach‘- schen Weihnachtsoratoriums. Es musizierten Cornelia Winter, Franz Fitzthum, Christian Rathgeber, Georg Gädker, das Karlsruher Barock- orchester sowie der Kammerchor Bruchsal.

Im Jahr 2020 wurden wegen der Corona-Krise zahlreiche Konzerte ab- gesagt, darunter Konzertreisen nach Italien und Israel. Ende Mai 2020 konnte jedoch eine CD-Aufnahme mit dem Klangforum Heidelberg realisiert werden. Zusammen mit den Kollegen Dorothea Jakob, Franz Fitzthum, Terry Wey und Matthias Horn entstand unter der Leitung von Walter Nußbaum eine CD mit Sätzen aus Renaissance und Frühbarock, die zu Weihnachten 2020 erscheinen wird.

KMD Prof. Carsten Klomp Nachdem der 2018 erschienene erste Band der Orgelschule „Orgelspiel von Anfang an“ unseres Orgelprofessors Carsten Klomp bereits nach knapp einem Jahr in die zweite Auflage gegangen ist, hat der Butz-Ver- lag Anfang 2020 eine englische Übersetzung in Auftrag gegeben, die seit Mitte des Jahres vorliegt und wurde bereits in der amerikanischen Or- gel-Fachzeitschrift Diapason vorgestellt wurde. Die englische Fassung wurde von dem Neuseeländer Paul Tarling auf orgelspezifische Fachter- mini hin überprüft. Tarling ist ehemaliger Student von Carsten Klomp und arbeitet am musikwissenschaftlichen Seminar der Uni Heidelberg. Der zweite Band der Schule wird (in deutscher Fassung) voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2021 erscheinen.

Prof. Christiane Michel-Ostertun 2019 Uraufführung: Credo, für vier- bis achtsimmigen Chor, Martins- kirche Leinsweiler, Kammerchor Cantabile, Leitung: Christiane Michel- Ostertun. Seit Februar 2020: Erstellung von Tutorials über Orgelimpro- visation auf ihrem YouTube-Kanal

Jan Wilke Jan Wilkes Komposition „Lob des Schöpfers”, eine Vertonung von Psalm 104 für Chor, Solisten und großes Orchester, wurde im Mai 2019 von der Melanchthonkantorei Mannheim unter Leitung von Christiane Brasse- Nothdurft uraufgeführt. Im September 2020 wurde Jan Wilke vom „Or- chester im Treppenhaus Hannover“, das für seine experimentellen Kon- zertformate bekannt ist, eingeladen, mit diesem ein Stummfilmkonzert zu Scherenschnittfilmen von Lotte Reiniger zu gestalten. Seine Motet- te „O magnum mysterium” wurde vom Vokalensemble „Renaissance Men“ (Boston, USA) auf CD aufgenommen, die Ende 2020 erscheinen wird.

Personen und Daten 127 IMPRESSUM HfK aktuell – Die Zeitschrift der Druckt Hochschule für Kirchenmusik zuverlässig, Hildastr. 8, 69115 Heidelberg

schnell Telefon: 06221 27062 und günstig. [email protected] www.hfk-heidelberg.de

ISSN 1869-2230 Ausgabe 13, Dezember 2020

HERAUSGEBER Prof. Dr. Martin Mautner, Colorpress Druckerei GmbH Rektor der HfK (V.i.S.d.P.) Max-Born-Strasse 2 72622 Nürtingen www.colorpress.de REDAKTION Matthias Berges Andrea Hadwiger Manuel Knoll

LAYOUT UND SATZ Matthias Berges

ERSCHEINUNGSWEISE jährlich

AUFLAGE 600

128 Impressum HfK im Juni 2019

aktuell ISSN: 1869-2230 | Musik in Zeiten der Pandemie 2020 | Musik in Zeiten 13 | Dezember | Ausgabe der Hochschule für Kirchenmusik – Die Zeitschrift HfK aktuell

Zu beziehen über die Hochschule für Kirchenmusik Heidelberg der Evangelischen Landeskirche in Baden Hildastr. 8, 69115 Heidelberg | Tel.: 06221 27062 | Fax: 06221 21876 E-Mail: [email protected] | www.hfk-heidelberg.de