Originalveröffentlichung in: Friedrich, Julia ; Prinzing, Andreas (Hrsgg.): "So fing man einfach an, ohne viele Worte" : Ausstellungswesen und Sammlungspolitik in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin 2013, S. 18-25 Die theoretischen Diskurse über moderne Kunst in der Nachkriegszeit

Christoph Zuschlag

Die theoretischen Diskurse über moderne Kunst im Deutschland der Nachkriegszeit in einem Aufsatz angemessen zu würdigen, ist unmöglich. So muss ich mich auf Stichworte und Schlaglich ­ ter beschränken. Dennoch bin ich froh, dass das Thema hier zur Sprache kommt, weil es mir zum Verständnis des Ausstellungs ­ wesens und der Sammlungspolitik der Museen nach 1945 not­ wendig scheint.

Doch wie lassen sich die kunsttheoretischen Diskurse - die Debatten, Kontroversen, Erörterungen, Gespräche - überhaupt greifen, wie und wo kristallisieren sie sich heraus, und wie geht man methodisch bei ihrer Analyse vor? Sicher ist, dass sie im Kontext der politisch-gesellschaftlichen und ökonomisch-sozi ­ alen Systeme gesehen werden müssen, innerhalb deren sie sich herausbilden. Sicher ist auch, dass sie von den einzelnen Fakto­ ren des Kunstsystems geprägt werden, also von dem Geflecht aus berufsständischen Vereinigungen und Künstlergruppen, Kunst ­ kritik und Publizistik, Kunsthändlern und -Sammlern, Ausstel ­ lungswesen und musealer Ankaufspolitik, und dass die Künst ­ lerausbildung dabei ebenso eine Rolle spielt wie die öffentliche Kunstförderung. Kunsttheoretische Diskurse entstehen nicht im luftleeren Raum, weswegen im Folgenden auch viel die Rede von Künstlergruppen, Ausstellungen und Publikationen sein wird.

Die vier Besatzungszonen und die Entwicklung in Ost und West Die Kulturpolitik und die kunsttheoretischen Diskurse entwi­ ckelten sich in den ersten Nachkriegsjahren in den vier Besat­ zungszonen unterschiedlich. Obwohl viele Städte bis weit in die 1950er Jahre zerstört waren und es der Bevölkerung an lebens­ notwendigen Gütern mangelte, begann man sofort nach Kriegs­ ende mit dem Wiederaufbau der Städte, der Infrastruktur und damit auch der kulturellen Institutionen. So wurde schon am 3. Juli 1945 in Berlin der Kulturbund zur demokratischen Erneue ­ rung Deutschlands gegründet. Zum ersten Präsidenten wurde Johannes R. Becher gewählt (der spätere erste Minister für Kultur der DDR), zu einem der Vizepräsidenten der Maler Karl Hofer.

18 Zu Beginn war der Kulturbund eine interzonale und überpartei ­ liche Einrichtung, die zahlreiche Veranstaltungen, insbesondere Ausstellungen, organisierte. Nach Gründung der DDR diente er der SED zur Schaffung einer sozialistischen Kultur. Ebenfalls in Berlin eröffnete im August 1945 die Galerie Gerd Rosen als erste private Kunstgalerie nach dem Krieg. In Köln eröffneten Ende 1945 die Galerie »Der Spiegel« von Eva und Hein Stünke und die

Moderne Galerie des Künstlers Erich Mueller-Kraus. 1 1 Vgl. 7945-7985. Kunst in der Bundes ­ republik Deutschland, hrsg. von der Natio ­ nalgalerie Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Ausst.-Kat. Nationalgalerie In der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) entwickelte sich Dres­ Berlin, Berlin 1985, S. 454 f. Daniela Wilmes, Wettbewerb um die Moderne. den zu einem kulturellen Zentrum. Hier gründeten bereits im Zur Geschichte des Kunsthandels in Köln November 1945 Edmund Kesting, Hermann Glöckner, Helmut nach 7945, Berlin 2012, S. 107-115. Schmidt-Kirstein und andere Künstler die Gruppe Der Ruf. Es war die erste Künstlergruppe in der SBZ nach dem Zweiten Weltkrieg. Die an der klassischen Moderne und sozialistischen Ideen orientierte Gruppe bestand bis 1948. Nach ihrer Auflösung schlossen sich einige Mitglieder der im März 1947 ebenfalls in

Dresden gegründeten Gruppe Das Ufer an.2 2 Vgl. Petra Jacoby, Kollektivierung der Phantasie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung 1946 fand in Dresden die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung und Erfindungsgabe, Bielefeld 2007.

statt, an die sich ein Kunstkongress anschloss. 3 Einer der Veran­ 3 Vgl. Kurt Winkler, »Allgemeine Deutsche Kunstausstellung«, in: Stationen der stalter war der erwähnte Kulturbund. Dieser Ausstellung kommt Moderne. Die bedeutenden Kunstausstel ­ lungen des 20.Jahrhunderts in Deutsch ­ ein hoher Rang zu, war sie doch die erste und wegen des bald land, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie im Martin-Gropius-Bau Berlin 1988-89, Berlin beginnenden Kalten Krieges gewissermaßen auch letzte gesamt­ 1988, S. 352-360. Kathleen Schröter, »Kunst zwischen den Systemen. Die deutsche Kunstausstellung nach dem Krieg. Sie versammelte Allgemeine Deutsche Kunstausstellung« 1946 in Dresdem«, in: Nikola Doll u.a. knapp 600 Werke der klassischen Moderne sowie Beispiele des (Hrsg.), Kunstgeschichte nach 7945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland, aktuellen Kunstschaffens aus fast dem ganzen Land (die vorge ­ Köln u.a. 2006, S. 211-237. sehenen Arbeiten aus der Britischen Besatzungszone konnten diese aus ungeklärten Gründen nicht verlassen). Damit sollte zum einen die während der NS-Herrschaft verfemte Moderne rehabilitiert und zum anderen ein Querschnitt durch die jüng ­ ste Kunstproduktion gezeigt werden. Die Schau wurde in Presse und Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Hans Grundig, Rektor der Staatlichen Kunsthochschule in Dresden und Mitglied der Jury, schrieb: »Die Probleme der Malerei, der bildenden Kunst überhaupt, ob realistisch oder abstrakt, ob zeitnahe und für unsere künftige Kunstgestaltung entwicklungsfähig, das sind die Fragen. Alles dies ist zu klären notwendig. Aber daß diese Aus ­ stellung überhaupt zur Tatsache werden konnte [...], ist wohl das Besondere und Positive. Zum ersten Male seit 1933 eine beinahe vollständige Übersicht über das Schaffen Deutschlands und zum ersten Male eine Interzonenschau von großer Bedeutung, die klärend über die Grenzen hinweg den Weg zur Einheit Deutsch ­ lands weist.« 4 Doch der Weg führte bekanntermaßen keineswegs 4 Zit. nach 1945-1985. Kunst in der Bundesrepublik Deutschland zur Einheit Deutschlands, sondern im Gegenteil zur Spaltung. (wie Anm. 1),S. 457.

Theoretische Diskurse 19 Zum Kunstkongress schreibt Grundig: »Abstrakte oder realisti­ sche Kunst, das war die Frage, aber noch ist der Fall nicht restlos geklärt.«5 5 Zit. nach Winkler 1988 (wie Anm. 3), S. 359. Es waren die SED und die Sowjetische Militäradministration, die für die SBZ die Frage nach der zukünftigen Kunst »klärten«. Unter deren Einfluss wurde den Künstlern zunehmend das Beispiel der Sowjetunion mit ihrem Sozialistischen Realismus nahegelegt, während alles andere als »bürgerlich dekadente«, »volksfremde« und »formalistische«' Kunst abgelehnt wurde. Der einflussreiche sowjetische Kulturoffizier Major Alexander Dymschitz eröffnete am 24. November 1948 mit einem Artikel in der Täglichen Rund ­ schau, dem Organ der Sowjetischen Militäradministration, eine Kampagne gegen den sogenannten Formalismus und die gesamte moderne Kunst. 6 Der Formalismusvorwurf traf abstrakte Strö ­ 6 Vgl. zur Formalismuskampagne Eckhart Gillen, Das Kunstkombinat DDR. mungen ebenso wie Anknüpfungen an den Expressionismus, wie Zäsuren einer gescheiterten Kunstpolitik, hrsg. vom Museumspädagogischen man sie etwa im Werk Karl Hofers beobachten kann. Stattdes- Dienst Berlin, Köln 2005, S. 34-40. sen forderte die SED eine realistische, »volksnahe« Kunst, die den Aufbau des Sozialismus bejahte und optimistisch unterstützte. Ministerpräsident Otto Grotewohl machte am 1. September 1951 unmissverständlich klar: »Literatur und bildende Kunst sind der 7 Zit. nach ebd., S. 36. Politik untergeordnet [...]. Die Idee in der Kunst muß der Mar­ 8 Vgl. Hans M. Schmidt, »>Eine Gemein ­ schrichtung des politischen Kampfes folgen. [...] Was sich in der schaft Einsamer, eine Verbundenheit Selbständigen. Künstlervereinigungen der Politik als richtig erweist, ist es auch unbedingt in der Kunst.« 7 Nachkriegszeit«, in: Aus den Trümmern. Kunst und Kultur im Rheinland und in Westfalen 1945-1952. Neu beginn und Kontinuität, hrsg. von Klaus Honnef und Auch in den westlichen Besatzungszonen kam es bald nach Hans M. Schmidt, Ausst.-Kat. Rheinisches Landesmuseum u.a., Köln und Bonn Kriegsende zur Gründung von Künstlergruppen, deren Aktivi­ 1985, S. 423-431. Vgl. ferner Christoph Zuschlag, »Künstlergruppen in Deutsch ­ täten die kunsttheoretischen Diskurse der Zeit maßgeblich präg­ land: ZEN 49, Gruppe 53«, in: ders., »Infor ­ mel - Ecole de Paris - Abstract Expressio- ten. Diese Gruppen bestanden oft nur wenige Jahre, boten ihren nism - Cobra. Die Sammlung Kraft Bretschneider in der Stiftung Kunst und Mitgliedern aber in der schwierigen Nachkriegszeit wichtigen Recht«, in: Donata Bretschneider (Hrsg.), Tendenzen der abstrakten Kunst nach 1945. Rückhalt. Erwähnt seien etwa die Westfälische Sezession 1945 Die Sammlung Kraft Bretschneider in der Stiftung Kunst und Recht, Tübingen, Heidel ­ in Hagen und die Rheinische Künstler-Gemeinschaft in Köln. 8 berg 2003, S. 9-35, hier S. 22-25. In Düsseldorf wurde die Rheinische Sezession 1946 wiederge­ 9 Schmidt 1985 (wie Anm. 8), S. 425. gründet (sie war 1938 verboten worden). »Eine der vitalsten und 10 Vgl. ZEN 49. Die ersten zehn Jahre- Orientierungen, hrsg. von Jochen Poetter, vielleicht auch folgenreichsten Künstlervereinigungen der Nach ­ Ausst.-Kat. Baden-Baden 1986-87, Stutt ­ gart-Bad Cannstatt [1986]; Beate Frosch, kriegszeit«9 war der junge westen, gegründet 1948 in Reckling­ Die Künstlergruppe ZEN 49 und ihr Beitrag zur Entwicklung der gegenstandslosen hausen von Thomas Grochowiak, Emil Schumacher und ande­ Kunst in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1957, Regensburg 1992; Iris Buch ­ ren Künstlern. Die Gruppe war abstrakt ausgerichtet und suchte heim und Cathrin Klingsöhr-Leroy, ZEN 49. Fragmente der Erinnerung, Ausst-Kat. den Anschluss an die internationale Avantgarde. 1962 löste sie München 1999-2000, Ostfildern [1999]. sich auf, der Kunstpreis junger westen wird bis heute alle zwei 11 Vgl. Christoph Zuschlag, »>Vive la critique engageek Kunstkritiker der Jahre verliehen. Ebenfalls ungegenständlich arbeitende, vorwie ­ Stunde Null: John Anthony Thwaites (1909-1981)«, in: Brennpunkt Informel. gend ältere Künstler (darunter Willi Baumeister und Rupprecht Quellen - Strömungen - Reaktionen, hrsg. von Christoph Zuschlag u.a., Ausst. - Geiger) bildeten 1949 in München die Vereinigung ZEN 49.10 Kat. Kurpfälzisches Museum der Stadt Heidelberg und Heidelberger Kunstverein Initiator war der britische Konsul und spätere Kunstkritiker John 1998-99, Köln 1998, S. 166-172. Beate Eickhoff, John Anthony Thwaites und die Anthony Thwaites. 11 Eine von der Gruppe 1956/57 durchgeführte Kunstkritik der 50er Jahre, Weimar 2004.

20 Ausstellungstournee durch die USA markierte den Höhepunkt und zugleich in etwa das Ende von ZEN 49.

Figuration versus Abstraktion Der zentrale kunstkritische und -theoretische Diskurs kreiste ohne Zweifel um das Thema gegenständlich-figurative versus abstrakt-ungegenständliche Kunst. Eine der frühesten Manifesta­ tionen der abstrakten Kunst nach 1945 ereignete sich im Rhein ­ land. Auf Schloss Alfter bei Bonn bildete sich 1947 die Don­ nerstag-Gesellschaft, ein loser Zusammenschluss von Malern, Schriftstellern und Musikern, die bis 1950 zu Lesungen, Vorträ­

gen, Diskussionen, Konzerten und Ausstellungen einluden.12 Am 12 Vgl. Die Donnerstag-Gesellschaft Alfter 1947-1950. Eine Dokumentation von 20. Juli 1947 veranstaltete sie einen Tag der Abstrakten Kunst — Frank-R. Hildebrandt und Jens Scholz, Düsseldorf 1997; Hans M. Schmidt, wohl die allererste Ausstellung abstrakter Kunst nach Ende des »Die Donnerstag-Gesellschaft zu Alfter. Eine ungewöhnliche Kultur-Initiative der Zweiten Weltkrieges in Deutschland. Sie umfasste 32 Arbeiten Nachkriegszeit«, in: Dieter Breuer und Gertrude Cepl-Kaufmann (Hrsg.), Öffent ­ von Eugen Batz, Hubert Berke, Joseph Fassbender, Georg Mei­ lichkeit der Moderne - Die Moderne in der Öffentlichkeit. Das Rheinland 1945-1955. stermann, Erich Mueller-Kraus und . Die Begrüßung Vorträge des interdisziplinären Arbeits ­ kreises zur Erforschung der Moderne übernahm Josef Haubrich, den Eröffnungsvortrag Werner Haft­ im Rheinland, Essen 2000, S. 141-156. Vgl. mann. Als um die Jahreswende 1948/49 die von dem Stuttgarter auch Wilmes 2012 (wie Anm. 1), S. 149-158. Sammler Ottomar Domnick organisierte Wanderausstellung fran ­ zösischer abstrakter Malerei in Düsseldorf Station macht, schreibt Anna Klapheck in der Westdeutschen Rundschau: »Der Durch ­ bruch der abstrakten Kunst in allen Ländern muß als Tatsache

hingenommen werden.«13 13 Westdeutsche Rundschau, 15. Januar 1949. Zit. nach Gabriele Lueg, Im Spiegel der Presse. Die Kunstkritik in der Nach ­ kriegszeit, in: Honnef und Schmidt 1985 Ich hatte eingangs die Frage gestellt, wie sich die kunsttheoreti ­ (wie Anm. 8), S. 443-449, hier S. 444. schen Diskurse überhaupt greifen lassen. Ein für diese Epoche signifikantes Format war das öffentliche Expertengespräch, das häufig in Verbindung mit einer Ausstellung organisiert wurde und durch Funk und Fernsehen eine breite Öffentlichkeit erreichte. Die Verschiebung der Diskurse in den fünfziger Jahren lässt sich wie in einem Nukleus an drei Gesprächen in Darmstadt (1950), Leverkusen (1956) und Baden-Baden (1959) nachvollziehen.

Das Darmstädter Gespräch 1950 1950 fand in Darmstadt auf der Mathildenhöhe die von der Neuen Darmstädter Sezession organisierte Ausstellung das menschen- bild in unserer zeit statt. Im Katalog schreibt Adolf Schmoll gen. Eisenwerth: »Im Streit um das Menschenbild der Gegenwart ste­ hen sich [...] nicht nur die Vertreter verschiedener persönlicher Meinungen gegenüber, sondern diejenigen verschiedener Epo­ chen, um nicht pathetisch zu sagen: verschiedener Welten. [...] Das einzig Sichere bleibt die Erkenntnis von einer umstürzen ­

Theoretische Diskurse 21 den Wandlung. Das Menschenbild ist in ihren Strudel gerissen worden. Am jenseitigen Ufer erhebt sich die >absolute<, >ungegen- ständliche< Kunst - für die einen die Erscheinung des schrecklich Sinnleeren oder gar Sinnlosen, für die anderen das Schöpferisch- Befreiende [,..].« 14 14 Adolf Schmoll gen. Eisenwerth, »Zur Ausstellung >Das Menschenbild in unserer Zeit<«, in: das menschenbild in unserer zeit, Ausst.-Kat. Mathildenhöhe Im Rahmen der Ausstellung fand vom 15. bis 17. Juli 1950 eine Darmstadt, Darmstadt [1950], o. S. Gesprächsrunde statt, die als Erstes Darmstädter Gespräch in die Geschichte eingehen sollte.15 An ihm nahmen führende Künstler 15 Vgl. Hans Gerhard Evers (Hrsg.), Das Menschenbild in unserer Zeit, und Kunstkritiker, aber auch Wissenschaftler anderer Diszipli­ Darmstadt [1950]. nen teil. Exemplarisch seien genannt der Philosoph und Sozio­ loge Theodor W. Adorno und der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Hauptkontrahenten waren der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und Willi Baumeister. Sedlmayrs in den 1930er Jahren begonnene Studie Verlust der Mitte mit dem Untertitel Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Sym ­ bol der Zeit erschien 1948 in der ersten und 1951 bereits in vier ­ ter Auflage, der rasch weitere folgen sollten. Das Buch fand auch als Taschenbuch weite Verbreitung und wurde in mehrere Spra­ chen übersetzt. Von einem konservativ-kulturkritischen, religiös geprägten Standpunkt aus beschreibt Sedlmayr mit medizinischem Vokabular die Entwicklung der Kunst vom späten 18. Jahrhun ­ dert bis zur Moderne als die eines allmählichen Verfalls, die ihre Ursache in einer zunehmenden Entfernung von einem geordneten, christlich bestimmten Weltbild mit festen Leitbildern und Wer­ ten habe. In der Abstraktion und dem Verlust des Menschenbildes habe dies schließlich zum »Verlust der Mitte« geführt und folglich zu einer exzentrischen, chaotischen Kunst: »Die Kunst strebt fort vom Menschen, vom Menschlichen und vom Maß.« 16 16 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 79. und 20. Jahrhun ­ derts als Symptom und Symbol derzeit, ungekürzte Ausgabe nach der 10. Auflage, Sedlmayrs Antipode auf der Seite der Befürworter der Abstrak­ Frankfurt am Main und Berlin 1988, S. 148. tion war Willi Baumeister, Professor an der Stuttgarter Kunstaka­ demie und ZEN 49-Gründungsmitglied, dessen ebenfalls in den Kriegsjahren verfasstes Buch Das Unbekannte in der Kunst 1947 erschienen war. Baumeister sah die Entwicklung der bildenden Kunst »als eine fortschreitende Befreiung von Religion, Auftrag und Inhalt. Für Baumeister stellte die abstrakte Kunst »die höch ­ 17 Philipp Gutbrod, »Werner Haftmanns ste Stufe der bisherigen Kunstentwicklung dar [,..]«. 17 Der Künst ­ Einführung im Katalog der >documenta 2<«, in: Michael Glasmeier und Karin Stengel ler plädierte für eine ethisch motivierte, gegenstandsfreie Kunst, (Hrsg.), archive in motion. - Handbuch. documenta manual, Ausst.-Kat. die zum Unbekannten vorstößt: »Der originale Künstler verläßt Kunsthalle Fridericianum , Göttingen 2005, S. 191-200, hier S. 192. Vgl. auch das Bekannte und das Können. Er stößt bis zum Nullpunkt vor. ders., »Baumeister versus Sedlmayr. Die Kontroverse um Kunst und Religion im Hier beginnt sein hoher Zustand«. 18 Im Darmstädter Gespräch ersten Darmstädter Gespräch (1950)«, in: Kirsten Fitzke und Zita Ägota Pataki (Hrsg.), kulminierte die zentrale kunsttheoretische Debatte der unmit ­ Kritische Wege zur Moderne. Festschrift für Dietrich Schubert, Stuttgart 2006, S. 43-67. telbaren Nachkriegszeit. Der Hessische Rundfunk schnitt das 18 Willi Baumeister, Das Unbekannte in der Gespräch mit und sendete an zwei Terminen Ausschnitte daraus. Kunst, Stuttgart 1947, S. 155.

22 Das Leverkusener Gespräch 1956' Ein anderes Gespräch geriet unverdientermaßen fast in Ver­ gessenheit: das Leverkusener Gespräch. 19 Auch dieses stand in 19 Vgl. 1945-1985. Kunst in der Bundes ­ republik Deutschland (wie Anm. 1), S. 499; Verbindung mit einer Ausstellung. Vom 28. November 1956 bis Christoph Zuschlag, »Zur Debatte um ungegenständliche Kunst in den 50er 2. Januar 1957 fand im Museum Morsbroich der Stadt Leverkusen Jahren: Das >Leverkusener Gespräch<«, die Ausstellung Malerei und Plastik in Westdeutschland 1956 statt. in: Doll u.a. 2006 (wie Anm. 3), S. 183-194. Das Unternehmen war hochambitioniert, ging es doch um eine Bestandsaufnahme der aktuellen Kunst in der Bundesrepublik. Veranstalter war der Westdeutsche Künstlerbund. Dessen Vor­ sitzender Wilhelm Wessel schrieb in seinem Katalogvorwort, die Ausstellung wolle »Tendenzen der westdeutschen Kunst von heute sichtbar« machen, wobei eine »jüngere Schicht« von Künstlern im Vordergrund stehe. 20 Ungegenständlich arbeitende Künstler 20 Wilhelm Wessel, in: Malerei und Plastik in Westdeutschland 7956, Ausst.-Kat. dominierten, wenngleich mit Erich Heckei auch ein Repräsen­ Museum Morsbroich der Stadt Leverkusen, tant des Brücke-Expressionismus vertreten war. Von Anfang an Bonn [1956], o. S. hatte Wessel geplant, ausländische Experten um eine schriftliche Begutachtung der Ausstellung zu bitten und diese zusammen mit Pressekritiken zu veröffentlichen. Die Stellungnahmen sowie die aus- und inländische Presse wurden 1957 in einer eigenen Bro­ schüre dokumentiert.21 21 Dokumentation Westdeutscher Künstler ­ bund - Die Meinungen ausländischer Experten und die Meinungen deutscher Kunstkritiker - zur Ausstellung >Malerei Bereits drei Tage nach Eröffnung trafen auf Einladung Wilhelm und Plastik in Westdeutschland < 1956, Wessels im Museum renommierte Kunstexperten aus mehreren Leverkusen, Hagen 1956. europäischen Ländern zusammen: die Kunsthistoriker und -kri- tiker Ernest Goldschmidt (Brüssel), Will Grohmann (Berlin), Giuseppe Marchiori (Venedig), Herbert Read (London), Michel Tapie (Paris) und Herta Wescher (Paris), sodann die Museums ­ leiter Pierre Janlet (Brüssel), Franz Meyer (Bern), Willem J. H. B. Sandberg (Amsterdam) und Georg Schmidt (Basel) sowie der Galerist Rodolphe Stadler (Paris).

Nach einem Rundgang diskutierten die Experten die Fragen, ob der Durchbruch der ungegenständlichen Kunst nach 1945 in den verschiedenen Ländern als Ausdruck der Befreiung zu verstehen sei, ob innerhalb der internationalen Bewegung in den verschie ­ denen Ländern nationale Wesenszüge zu erkennen seien und ob die deutsche Kunst die durch die NS-Zeit bedingte Phase der Iso­ lierung überwunden habe. Sie waren überwiegend der Meinung, dass die (ungegenständliche) Kunst der Gegenwart insgesamt eher international denn national oder regional sei und dass Deutsch ­ land elf Jahre nach Kriegsende wieder den Anschluss an die inter­ nationale Avantgarde gefunden habe. Die Frage, ob der Durch ­ bruch der Abstraktion nach 1945 Ausdruck der »liberation« sei, beantwortete zum Beispiel Georg Schmidt »für Deutschland und Italien mit einem klaren Ja«. Zugleich warnte er davor, »den Geist

Theoretische Diskurse 23 der >liberation< mit dem Geist der ungegenständlichen Kunst zu identifizieren und die >liberation< gar als Vater der ungegen ­ ständlichen Kunst zu bezeichnen. Die >liberation< war vielmehr ein Sammelbecken sämtlicher von den Diktaturen verfolgten gei­ stigen Bewegungen.« Auch Ernest Goldschmidt bestritt, dass die Abstraktion eine Folge der Befreiung gewesen sei, vielmehr habe diese lediglich neuen Schwung in eine bereits seit Anfang des

Jahrhunderts sich entwickelnde Richtung gebracht. 22 Anschlie ­ 22 Zitatnachweise bei Zuschlag 2006 ßend fuhren die Kritiker nach Köln, wo im WDR ein Rundfunk­ (wie Anm. 19), S. 189. gespräch über diese Fragen stattfand, das mit einer Einführung und einem Schlusswort von Carl Einfert am Abend des 1. März

1957 gesendet wurde.23 23 Eine Aufzeichnung befindet sich im Archiv des WDR in Köln.

Das Baden-Badener Gespräch 1959 Unter der Fragestellung: »Wird die moderne Kunst >gemanagtGEMANAGT

24 Fazit und Ausblick Auch wenn ich hier nur einen sehr kursorischen Blick auf das Thema werfen konnte, so zeigt sich doch Folgendes: Der zentrale kunsttheore ­ tische Diskurs der Zeit kreiste um die Frage Figuration oder Abstrak­ tion. In der SBZ bestimmten die Sowjetische Militäradministration und die SED den Diskurs - »Formalismuskampagne« und »Soziali ­ stischer Realismus« lauten die Stichworte. Im Westen kulminierte die Auseinandersetzung um gegenständliche und ungegenständliche Kunst und um das Menschenbild in der Moderne zum ersten Mal im Darmstädter Gespräch 1950. Beim Leverkusener Gespräch Ende 1956, ein Jahr nach der ersten documenta, war die historische und kunsthistorische Situation schon eine gänzlich andere. In den Pariser Verträgen vom 5. Mai 1955 hatten die Westmächte die BRD in die Unabhängigkeit entlassen und ihr die Aufstellung eigener Streitkräfte im Rahmen der Westeuropäischen Union und der NATO ermöglicht. Bundeskanzler Konrad Adenauer setzte seine Politik der Westintegra­ tion fort. Außenpolitisch wuchs die Rolle der BRD in der internatio­ nalen Staatengemeinschaft, während die Wirtschaft im Lande prospe­ rierte (»Wirtschaftswunder«), Es waren die Jahre des Kalten Krieges, in dem auch die Kunst instrumentalisiert wurde (und zwar in beiden deutschen Staaten). In Leverkusen wurde die mittlerweile dominie­ rende Rolle der ungegenständlichen Kunst nicht mehr bezweifelt. Ziel war es zu demonstrieren, dass die deutsche Kunst wieder Anschluss an die internationale Avantgarde gefunden hatte, und dies sollte durch die Sicht von außen bestätigt werden. Während es in Darmstadt in heftigen Diskussionen um die Alternative gegenständliche oder unge ­ genständliche Kunst ging und man darin regelrecht zwei gegensätzli­ che Ideologien sah, herrschte in Leverkusen weitgehend Harmonie. Hier hatten sich Befürworter und Förderer nichtfigurativer Kunst zusammengefunden, deren Anschauungen in einzelnen Punkten dif­ ferierten, nicht aber grundsätzlich voneinander abwichen. 1959, im Jahr des Baden-Badener Gesprächs, standen erneut andere Fragen im Mittelpunkt der Diskurse. Im selben Jahr hatte Werner Haftmann für die II. documenta die nicht unumstrittene Devise »Die Kunst ist

abstrakt geworden«27 ausgegeben. Die junge deutsche Kunst war in 27 Werner Haftmann, Malerei nach 7945. Einführung, in: II. documenta ‘59. Kunst Kassel ganz selbstverständlich als Teil der internationalen Avantgar ­ nach 7945, Ausst.-Kat. Kassel, Band 1: Malerei, Köln [1959), S. 11-19, hier S. 17. den gezeigt worden. Vom Gefühl der Isolation also keine Spur mehr. Vgl. jüngst Werner Haftmann, Das antwor ­ tende Gegenbild. Ausgewählte Texte In Baden-Badenrückte nun erstmals der ökonomische Aspekt, in den 7947-7990, hrsg. von Evelyn Haftmann, Mittelpunkt. Die Kritiker der Abstraktion bzw. deren vermeintlich München 2012. einseitiger Bevorzugung warfen Handel und Kunstbetrieb Dirigismus und Manipulation vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die künstleri­ sche Avantgarde längst in andere Richtungen bewegt — »Neue Figu ­ rationen« hatten sich manifestiert, die Gruppen Zero und Spur sich gebildet, und nur wenig später sollte die Fluxus-Bewegung Kunstbe ­ griff und Kunstbetrieb gehörig aufmischen.

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