Sport

FUSSBALL Erichs Glücksrad folgt bei der Aufstellung seiner Elf dem Zufallsprinzip. Testländerspiele der Nationalmannschaft verwandeln sich zur Beschäftigungstherapie für überlastete Profis. Schon vor der Europameisterschaft hat eine Nachfolgediskussion um das Traineramt begonnen.

iebzehn Stockwerke über dem Zen- bruchs litt und den Teamchef davor So wurde etwa der Mittelfeldspieler Diet- trum von Zagreb vollführte Erich Rib- bewahrte, hernach richtungweisende mar Hamann wegen angeblich unzurei- Sbeck vergangene Woche im Fünf- Erkenntnisse preisgeben zu müssen. Ver- chender Leistungen nach dem Holland-Test Sterne-Hotel eine verwegene Geschick- gebens die Hoffnung von Mannschafts- aus dem Kreis der Auserwählten gestrichen, lichkeitsübung. kapitän , Ribbeck könne dann aber – nach Absagen diverser Kandi- Mit links manövrierte er eine geöffnete wenigstens diesmal einige „Schlüsse zie- daten – in die Belegschaft zurückgeholt. In Mineralwasserflasche in die Waagerechte hen hinsichtlich der Spieler und des Zagreb gehörte der Resozialisierte sogar und balancierte sie kunstfertig auf seiner Systems“. wieder der Stammformation an. Handfläche. Zu seiner eigenen Verblüffung Weil Deutschlands oberster Fußball-Leh- Akzeptanz bei den Kollegen erlangen gelang es ihm so, sich ein Glas einzu- rer vermutlich auch bei der nächsten Mus- derart hin und her geschobene Inhaber von schenken, ohne einen Tropfen zu ver- terung Ende April gegen die Schweiz Schlüsselpositionen wohl nicht. Auch Bier- schütten. Zufrieden zwinkerte er der Fla- wieder veränderte Formationen erprobt, hoff fragte sich nach diffusen Würdigungen sche zu. tendiert der Nutzwert auch dieses Kroa- durch den Nationaltrainer schon, warum er Manchmal scheint es, als übe der tien-Länderspiels wohl gegen null. „immer wieder in Frage gestellt“ werde. Teamchef der deutschen Nationalelf seit Dabei will der passionierte Conféren- Als ein Reporter erfahren wollte, ob es im eineinhalb Jahren seinen Beruf auf ganz cier bei derlei Anlässen nichts dringlicher, Auswahlteam seit dem Ende der Bundes- ähnliche Weise aus: Ribbeck, 62, expe- als „deutlich machen, dass ich sehr wohl trainer-Ära von Berti Vogts irgendwelche rimentiert unablässig vor sich hin, ohne weiß, was ich will“. Nur ist das bislang Fortschritte zu verzeichnen gäbe, fällte der im Einzelfall auch nur annähernd zu noch nicht erkennbar gewesen. Die Zu- Mannschaftsführer ein vernichtendes Ur- wissen, ob der Versuch gelingen könnte sammenstellung des Nationalkaders folgt in teil: „Kurzzeitig“ habe es zwar mit Rib- oder nicht. aller Regel dem Zufallsprinzip. beck „den Trend mit drei Spitzen“ gegeben Die Nationalelf, noch immer die wichtigste Insti- tution des deutschen Fuß- balls, hat sich mittlerweile in ein Übungsgelände ih- res sprunghaften Trainers verwandelt. Zehn Wochen vor ihrem Auftaktspiel bei der Europameisterschaft sind mehr Fragen offen als jemals vorher zum ver- gleichbaren Zeitpunkt ei- ner Turniervorbereitung. Nie war die Ansammlung von Nominierten so weit von einer eingespielten Mannschaft entfernt. Test- länderspiele sind zur Be- schäftigungstherapie oh- nehin überlasteter Profis geworden – so sinnvoll wie Radarkontrollen in der Fußgängerzone. Dem erschütternden Auftritt im Vormonat beim 1:2 gegen die Niederlande folgte vergangenen Mitt- woch ein wenig aussage- kräftiges 1:1 in Kroatien – ein Spiel, das unter dem Einfluss eines Wolken-

* Am vergangenen Mittwoch im AP Spiel gegen Kroatien. Nationalspieler Kirsten (weißes Trikot)*: „Wie die Jahre zuvor“

166 der spiegel 14/2000 – eine Spielart, die landläufig schon als Bei- Beispielhaft für Ribbecks trag zur Modernisierung des deutschen konzeptfreie Personalwahl ist Fußballs gefeiert wurde. Inzwischen aber, das Schicksal des Leverkuse- nachdem die Mode mit Flügelstürmern ners Bernd Schneider. Sah es wieder passé zu sein scheint, sieht Bier- im Spätsommer vergangenen hoff die deutsche Elf kicken „wie die Jah- Jahres noch so aus, als setze re zuvor“. der Teamchef auf diesen Ribbecks Assistent Uli Stielike um- Spielertyp eines technisch schreibt die taktische Konzeptlosigkeit in versierten Fleißarbeiters, war resignativem Tonfall: „Aufstellungssache alles wieder anders, nach- ist auch Formsache.“ Die Volten seines dem dessen Vereinstrainer Chefs sind nicht nur für Stielike zuweilen Christoph Daum eine offen- unergründbar. sivere Taktik gewählt und Auch die erwählten Fußballspieler fahn- Schneider auf die Ersatzbank den gelegentlich nach dem Grund ihres verschoben hatte. So wurde Einsatzes. Das Leverkusener Mittelfeld- der Mittelfeldmann, obwohl

talent etwa glaubt seine er nicht schlechter kickt als M. ROSE / BONGARTS Berufung dem Umstand danken zu kön- zuvor, ins Reserveteam der Nationalspieler im Training*: „Aufstellung ist Formsache“ nen, dass „der Trainer oft da gewesen“ sei Nationalelf, die „A 2“, zu- bei Heimspielen seiner Vereinsmannschaft. rückgestuft. Ähnlich tagesaktuell verfährt gebremst. Zickler war vom DFB ein Jahr Von Ribbecks Wohnort in Pulheim bei der Herr über die Aufstellung mit den Pro- lang nicht mehr berufen worden, im Münch- Köln sind es nur 15 Autominuten bis Le- fis von Bayern München. Beim Deutschen ner Rotationsverfahren hatte er aber zu- verkusen. Meister werden, je nach Belastung in den di- letzt ein paar Mal ins Tor getroffen. Mit den Aufgaben des Dienst habenden versen Club-Wettbewerben, Stammspieler Selbst zwei Tage vor Bekanntgabe seiner Strategen wurde in Zagreb der Berliner von Trainer Ottmar Hitzfeld geschont und Mannschaft fürs Kroatien-Spiel war Rib- Dariusz Wosz betraut. Ribbecks Begrün- vorübergehend durch Ausgeruhte ersetzt. beck noch „selbst gespannt“, wen er auf- dung, der Dribbler, den er auf dem Trai- Ribbecks Nominierung richtet sich ent- stellen werde. ningsplatz „Woschi“ ruft, habe zuvor mit sprechend nach dem saisonalen Stand des Was für den Teamchef Experimente Kurzeinsätzen in Amsterdam und Oslo „Rotation“ genannten Münchner Perso- sind, geißelt selbst sein vormaliger Freund überzeugt, kann der Begünstigte selbst nalkarussells. Es ist, als habe Ribbeck ein Udo Lattek als „Kapriolen“. Gemeint sind nicht recht nachvollziehen. Wenn man sich neues „Glücksrad“ in Betrieb gesetzt. Ideen wie die zur Aufstellung des Neulings sein Mitwirken bei diesen Probeläufen am So wäre der Münchner Stürmer Alex- Zoltan Sebescen. Den Mann aus Wolfs- Fernseher anschaue, räumt Wosz ein, ander Zickler um ein Haar an ein Flug- burg, dessen Namen nicht einmal Bierhoff „muss man immer noch sagen: Mein Gott, ticket nach Kroatien gelangt – hätte ihn kannte, hatte „A 2“-Coach Horst Hrubesch was für ’n Scheißspiel“. eine Verletzung nicht im letzten Moment empfohlen – ohne Ribbeck in Kenntnis zu setzen, welche Aufgaben der Proband gemeinhin auf dem Rasen erfüllt. Prompt dilettierte der Mit- telfeldspieler in der Vertei- digerrolle. Obendrein gerät die ein- zige Konstante in Ribbecks Ideenverkehr – Lothar Matthäus als Abwehrchef – unter Beschuss der Ex- perten. Der Ex-National- spieler Bernd Schuster warnt davor, auf „die ol- len Kamellen“ zu bauen. Der Unterhachinger Coach Lorenz-Günther Köstner wagte, „auch wenn es sich keiner auszusprechen traut“, an der Frische des 39-Jährigen zu zweifeln. Die Zeiten, da der Teamchef auf Ratschläge hörte, sind freilich vorbei, seit er glaubt, seinen Auf- trag erfüllt zu haben. Die Qualifikation fürs EM-Tur- nier hält er inzwischen für „wichtiger als das Ergeb- nis, wie wir dort abschnei-

* , Michael Ballack,

AP Paolo Rink, Dariusz Wosz, Carsten Teamchef Ribbeck, Assistent Stielike: Unergründbare Volten des Chefs Ramelow in Zagreb.

der spiegel 14/2000 167 den“. Insofern fühlt er sich „ganz wohl“ – und trifft seine Entscheidungen weitgehend allein. Noch zu Beginn des vergangenen Jahres ließ sich Ribbeck von Matthäus in der Tak- tik des Bayern-Trainers Hitzfeld unterwei- sen. Stunden vor dem EM-Qualifikations- spiel gegen Nordirland im September 1999 zog er im Dortmunder Teamhotel Assistent Stielike und den Leverkusener Manager Reiner Calmund zu Rate. Inzwischen, da Calmund aus Sorge um das deutsche Fußballwohl gleich einen ganzen Beraterstab aus „Meinungsbild- nern“ wie Franz Beckenbauer, Günter Net- zer, Paul Breitner sowie den Fußball-Leh- rern Daum, Hitzfeld und Otto Rehhagel fordert, bespricht sich Ribbeck offenkundig nicht einmal mehr mit seinen Spielern. Etwas verklausuliert mahnt Kapitän Bier- hoff seinen Chef zur Umkehr: „Ich glaube nicht, dass es jetzt seine Route ist, dass er auf keinen mehr hören will.“ Wie Bierhoff wünschte sich auch Matthäus fürs Wieder- sehen in Kroatien „eine konstruktive Dis- kussion“. Doch kaum hatte Ribbeck durch- blicken lassen, dass er statt einer Ausspra- che eher eine „Ansprache“ anberaumen und dabei weniger über Taktik als vielmehr über Vorsicht im Umgang mit Reportern referieren wolle, sagten Stammspieler wie die Münchner und ihre Mitreise ab. Wegen plötzlich einsetzender Muskelbeschwerden. Während der Teamchef über die Fülle von Krankmeldungen räsonierte („Man- che können besser lügen, manche weniger gut“), haben die Unpässlichen wieder mal nichts versäumt. Die endgültige Besetzung des deutschen EM-Kaders wird sich erst, wie es scheint, aus der „Elf des Tages“ her- leiten, die der „Kicker“ nach dem letzten Bundesligaspieltag vom 20. Mai veröffent- lichen wird. So ist noch vor der EM eine Nachfolge- diskussion in der Trainerfrage entbrannt. Für den Fall, dass der Teamchef beim Tur- nier scheitert, stünde der DFB nach Er- kenntnissen des Insiders Calmund aller- dings „blöd da“, weil kein anderer Kandi- dat mehr frei wäre. Diesen Fall hatte der DFB schon nach dem Rücktritt von Berti Vogts 1998. Folglich richten sich die Experten auf eine Weiterbeschäftigung Ribbecks bis 2002 ein und geben sich Mühe, dem Mann ohne Entwurf konzeptionell auf die Sprünge zu helfen. Als Calmund die Mitnahme mög- lichst vieler Talente zur EM empfahl, weil „der Einsatz junger Spieler den Erwar- tungsdruck senkt“, handelte er sich indes einen Anpfiff ein. Er teste ja schon genü- gend Jungstars, belehrte ihn Ribbeck, Cal- mund habe wohl bei den letzten Länder- spielen geschlafen. Da konterte der Calmund spitz: „Bei dem Fußball, den du spielen lässt“, konn- te er glaubhaft erwidern, sei er zuletzt wirklich eingenickt. Jörg Kramer

168 der spiegel 14/2000