SOZIOLOGIE ALS S.-F.- GENERATOR ? -

Eine Analyse von Jack Vances

„Die Mondmotte “ und „ Die Kriegssprachen von Pao “

anhand Pierre Bourdieus Kapitalientheorie

Schriftliche Hausarbeit zum Kurs 04546 "Literarische Science-Fiction“ angefertigt im Hauptfach Neue Deutsche Literaturwissenschaft von Cornelia Gliem Matrikelnummer: 6418562 2004

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GLIEDERUNG 1. Einleitung S. 1

2. Science Fiction S. 2 2.1. Konfusion der Zugehörigkeit S. 2 2.2. Das Triviale - Verteidigung eines Stiefkindes S. 3 2.3. Die Möglichkeiten der S. F. S. 5

3. Klärung der von Bourdieu verwendeten Begriffe S. 7 3.1. Kapitalien S. 8 3.2. Feld S. 9 3.2.1. Das literarische Feld S. 9 3.3. Habitus S. 10 3.3.1. Der Habitus des Autors S. 11 3.4. illusio S. 11

4. Einordnung von und dessen Werk S. 12 4.1. Jack Vance‘ Werdegang S. 12 4.2. Vance‘ Stellung im S.F.-Genre S. 13 4.3. Jack Vance‘ Habitus S. 14 4.4. Kunst, Künstler und das Schreiben S. 14

5. Interpretation von Die Mondmotte und Kriegssprachen von Pao S. 16 5.1. Die Mondmotte S. 16 5.2. Die Kriegssprachen von Pao S. 20

6.1. Draußen und Drinnen S. 24 6.1. Von Vance zur Vance‘ Geschichte S. 24 6.2. Aus der Realität (Faktion) zur konzeptierten Welt (Fiktion) S. 27 6.2.1. Dichter lügen nicht S. 27 6.2.2. Oft ist Literatur wirklicher als die Realität S. 28

7. Resümee S. 29

2 1. Einleitung

Er schuf etwas aus dem Nichts und machte das Nicht-Seiende zu etwas Seiendem; und er formte große Säulen aus nicht fühlbarer Luft. Das ist das Zeichen: Er sah, sprach und ließ die gesamte Schöpfung und alle Dinge aus einem einzigen Namen entstehen. aus : Sefer Jezira , das Buch der Schöpfung

Klar, ich hätte auch das klassischere (banalerer?) ‚ Am Anfang war das Wort ‘ wählen können, aber ich wollte die ursprüngliche Abstraktheit dieser semiologischen Idee beto- nen, ohne gleich zu viele religiöse Assoziationen zu wecken. Aber habe ich damit nicht schon an Beginn dieser Hausarbeit den Boden der Realität, der Sachlichkeit verlassen? Die Angemessenheit der normalen Grundlagen einer literaturwissenschaftlichen Unter- suchung verletzt? Mag sein, dass ich ähnlich wie andere, bessere Apologeten 1 der Science Fiction einfach nur ein paar edle Ahnen verleihen will. Im folgenden Text möchte ich aber darlegen, dass gerade Science Fiction tatsächlich für mehr als nur Unterhaltung stehen kann (wo- bei dieses ‚nur‘ natürlich bei aller guten Absicht schon taxonomisch ist). Wie kommt man nun darauf, soziologische Kategorien auf Literatur, in diesem Falle fiktionale Werke 2 anzuwenden? Eine Soziologie der Literatur ist so neu ja nicht mehr, die Literatursoziologie 3 beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem gesamten Spektrum der Literaturberufe, hat dabei der Produktion- und der Rezepienten-Ästhetik grundle- gende Daten geliefert bzw. sie erst ermöglicht. Auch wurden literarische Werke im Rahmen

(literatur )-geschichtlicher Untersuchungen oft als Ausdruck der Gesellschaft ihrer Ent- stehung und des Autors verstanden, zumeist in relativ leichtsinniger Gleichsetzungen von Werk, Autor und Zeit. Der französische Wissenschaftler Pierre Bourdieu bezog seine Begriffe Kapital und Feld auch auf die Literatur 4, indem er das Verhältnis von Autor und Verleger im sog. Literarischen Feld fasste. In dieser Hinsicht ist er zur allgemeinen Literatursoziologie zu rechnen, er nimmt mit dem Begriff des Habitus allerdings eine mittlere Position zwi-

1 auch für andere Trivialformen wie Comics: vgl. auch Artmann, H. C.: Grammatik der Rosen. Gesammelte Prosa. Band 2, S.33-34. Salzburg und Wien 1979. " Es wäre heute immerhin an der Zeit, sich bei uns zu bequemen, Comic Writing als das anzuerkennen, was es schon längst geworden ist, nämlich Literatur. Gelesen wird sie von den 97%, die keine Ahnung von Joyce oder Musil haben [sei's drum], doch wäre es meiner Meinung überaus wichtig, daß sich die 3%, die Joyce und Musil (...) zu lesen vorgeben, auch über Comic Writing informieren wollten“ und „In einigen zwanzig Jahren wird man über diese »Comics Epoche« tiefgründige Abhandlungen schreiben“ und auch „ Poplite- ratur ist heute einer der Wege (...) der gegenwärtigen Literaturmisere zu entlaufen“. 2 bis auf weiteres verwende ich die Unterscheidung fiktionale (u.a. Schriftsteller) und pragmatische Literatur (u.a. Journalist), siehe Punkt 6. 3 In den 60igern und 70igern (Frankfurter Schule/Kritischer Theorie, marxistischen Literaturtheorie) ent- standen, erhielt durch Frankreich (Bourdieu) und Deutschland (Systemtheorie) neue Impulse 4 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. 2001

3 schen den Polen der Determination des Werks durch Gesellschaft, Biographie und Au- torenwille 5 und der rein werkimmanenten Interpretation ein. Darüber hinaus wandte Bourdieu sein Instrumentarium 6 konkret auf die fiktionale Welt von Gustave Flauberts Erziehung des Herzens 7 an. Mir persönlich wurde bei der Lektüre von Pierre Bourdieu, Norbert Elias oder auch Arnold Toynbee bewusst, wie gut sich ihre Untersuchungen und Ergebnisse für die kreative Leistung von Schriftstellern verwenden ließen, was für eine unermessliche Fundgrube die Details ihrer Werke für Weltenschöpfer 8 darstellen. In der folgenden Hausarbeit habe ich mein Augenmerk auf den U.S.-amerikanischen Autor Jack Vance, speziell auf dessen SF-Kurzgeschichte Die Mondmotte 9 und seinen Roman Die Kriegssprachen von Pao gelegt und verwende dazu das kulturtheoretische

Instrumentarium des Soziologen 10 Pierre Bourdieu.

2. Science Fiction 2.1. Konfusion der Zugehörigkeit Auf den ersten Blick erscheint die Sache klar: Science Fiction 11 - das sind Außerirdi- sche, Raumschiffe, fremde Planeten, Erfundenes über die Zukunft. Damit dürfte man tatsächlich auch viele Werke richtig eingeordnet haben, zumindest was den Inhalt betrifft. Schwieriger wird es, wenn man Werke wie Gullivers Reisen (J. Swift), Frankenstein (Mary Shelley) oder Das Neue Atlantis (F. Bacon) betrachtet. Kei- ne Spur von Außerirdischen oder Raumschiffen und alles spielt auf der Erde. Dennoch gelten sie u.a. als S.F.-Literatur. Wie bei fast jeder Gattungsbestimmung in der Literatur ist man bei allen Anstrengungen, genuine Kriterien der natürlichen Gattungen zu bestimmen, auf Traditionen und Verweisungen der Autoren und Kritiker selbst ange-

5 vgl. Suvin, der Teile von H. G.Wells mit dessen Herkunft erklärt, Suvin 1979, S.270, siehe auch die mate- rialistische Interpretation, die beispielsweise die Entenhausen -Comics als Widerspiegelung des amerikanischen kapitalistischen Systems versteht, auch Lucien Goldmanns Vorstellung von der Homologie zwischen der Struktur der gesell. Mentalität und literarischen Werk 6 „Frédéric (...) stellt einen hervorragenden Analysator unserer tiefstgehenden Beziehung zur sozialen Welt dar “ Bourdieu 2001, S.69 7 Bourdieu 2001; für diese Hausarbeit lag allerdings eine Ausgabe mit einem anderen Titel vor: C. Has- tings: Erziehung der Gefühle. 8 vgl. Andreas Irle: Wortschmied und Weltenschöpfer. in: Alien Contact Nr. 25 1996 und Jack Vance: The World Thinker. in: Thrilling Wonder Stories 1945 9 erstmals August 1961 in: Galaxy 10 oder auch: das soziologische Instrumentarium des Kulturtheoretikers 11 ich werde mich nachstehend besonders auf Steinmüller, Karlheinz [u.a.]: Science Fiction-Werkzeug oder Sensor einer technisierten Welt? 1995 u. Suvin, Darko: Poetik der Science Fiction. 1979 beziehen, stellvertretend für die große

4 wiesen. Tauf-Paten hat es viele gegeben, ob diese Werke denn nun utopische oder phan- tastische Literatur , technischer Zukunftsroman , kontrafaktische Literatur, Verniade , roman imaginaire, voyages extraordinaires (Titel der für Verne begründeten Buchrei- he), Wissenschaftsmärchen oder speculativ fiction genannt wurden. Als Ahnen werden Utopie 12 , Staatsroman, Tierfabel und Märchen (oft in fiktive Reiseberichte gekleidet) angeführt und die Zuordnung von beispielsweise Frankenstein zum Horror-Genre (gothic-novel ) oder des Herrn der Ringe -Komplexes (J.R.Tolkien) zum Fantasy-Sektor zeigt, dass auch heute noch Verwirrung über die Grenzen dieser Gattung besteht. Trotz der Übernahme von Motiven und Stoffen aus Mythos (Quest) und Märchen hat die S.F. auch ganz eigene ‚Erfindungen‘ in die Literatur eingebracht: die künstliche Intelligenz, was sich klar von moderner, fortschrittsgläubiger Ambition herleitet. ‚Science Fiction‘ - diese Bezeichnung verdeutlicht den Anspruch, den die neuzeitlichen Vertreter aus der angelsächsischen Kultur 13 vertraten: Wissenschaftlichkeit ( science ) in der Literatur ( fic- tion ). (Wobei dies natürlich auch für den literarischen Realismus, die Futuristen und die modernen Autoren allgemein zutrifft.) Generell kann man zwischen realistischere S.F. und phantastischer Fantasy unterscheiden 14 , wobei dies einem hauptsächlich inhaltli- chen Kriterium zu Grunde liegt. Fantasy enthält häufig Figuren aus der Mythologie, aus Märchen und Fabel und diese können mittels Magie, Wunder und Schicksal tätig wer- den. Allerdings kann S.F. wie Fantasy durchaus das gleiche „Personal“ aufweisen, der entscheidende Unterschied dürfte doch in den Prämissen der fiktiven Welt bestehen, sodass Die Drachen von Pern (Louis McMasters Bujold) ob der wissenschaftlichen (biologisch-genetischen) Erklärung trotz der telepathischen Drachen mit Recht zur S.F.- Literatur gezählt werden können. Die Beziehungen zwischen Science Fiction und Wissenschaft sind von unterschiedli- cher Art: Teils werden gegenwärtige wissenschaftliche und technische Entwicklungen in die Zukunft projiziert; teils ermöglichen hypothetische Erfindungen phantastische Abenteuer; teils werden Erkenntnisse der Biologie, Psychologie und Anthropologie (oft populär- oder pseudo-wissenschafltich) zur Grundlage fremdartiger Individuen, Gesell- schaften und Welten, nicht zu vergessen die nach U. Eco gleichartige Vorgehensweise von Wissenschaftler und S.F.-Schriftsteller 15 . Von ihren Vorfahren (besser: Vorbildern) hat die S.F. viele Motive und Darstellungs- weisen, aber auch die Absichten übernommen: klassische Muster aus der Mythologie,

Anzahl an Veröffentlichungen zum Thema S.F. 12 utopisches Denken wird z.T. als Säkularisierungsprozess der Intellektuellen seit dem 12. Jh. aufgefasst 13 ich gehe hier nicht auf die Unterschiede zu dt.(Laßwitz u.a.) und anderen (Capek, Lem) Vertretern ein 14 für den Themenbereich Imagination, realistisch vs. imaginär etc. siehe Punkt 6. 15 vgl. Eco, U.: Konjekturen über Welten. in: Über Spiegel und andere Phänomene. 1991, S. 214-222. Nach Eco ist u.a. autonome S.F . durch Antizipation gekennzeichnet.

5 die Reise, das Fremde (Ungeheuer, alien 16 , Phantom) und das novum 17 (Rätsel, Spekta- kulum). Strukturell lässt sich der Bereich dieser Gattung auch in Allotopie, Utopie, Uchronie und Metatopie (bzw. Metachronie) einteilen - unabhängig von historischen Herleitungen. Die Metatopie 18 – entstanden durch Extrapolation in die Zukunft– gilt so als autonomer, als wahrhaft eigenständiger Teil der S.F. Es ist angebracht, S.F. auch gegen nicht-fiktionale19 Bereiche abzugrenzen, die Unter- schiede zu journalistischen und wissenschaftlichen (Futurologie, Anthropologie, Sozio- logie) und sonst wie prophetischen Texten 20 , die sich inhaltlich mit ähnlichen Themen beschäftigen, herauszustellen. Dies ist nötig, da oft S.F. rein unter ihrem inhaltlichen, dem Gesichtspunkt der prognostischen und wissenschaftlichen Anteile diskutiert 21 und sogar zwischen sog. literarischer und empirischer S.F. differenziert wird. Science Ficti- on – ob Literatur, Film oder andere Kunstform – sollte grundsätzlich nach literarischen Kriterien untersucht werden.

2.2. Das Triviale - Verteidigung eines Stiefkindes

Der Gegenbegriff zur Massenkultur ist Kunst. Leo Löwenthal Gerade dies aber wird häufig abgelehnt, einerseits von einem Teil der Leser, die das novum mehr zu kümmern scheint als das Künstlerische des Ausdrucks (was sehr oft als Grund für die Masse an qualitativ schlechten S.F.-Werken 22 angeführt wird) und ande- rerseits von vielen Literaturwiss-enschaftlern und Kritikern, die sich weigern, der S.F. überhaupt das Etikett Literatur zu zugestehen. Die S.F. teilt so das Schicksal der Ge- ringschätzung mit Horror-, Liebesroman, Western, Comic, historischen Roman und Krimi. Dieser Vorwurf des Trivialen hat ähnlich des Lügentadels eine lange Geschichte, beginnend mit der Entstehung des Romans im 17.Jahrhundert 23 , der sich von Anfang an als formlos – was er größtenteils auch ist -, unmoralisch - weil privat lesbar – und un- kultiviert – weil im Gegensatz zur humanistischen neulateinischen Dichtung in volks- tümlichen deutsch verfasst - verurteilen lassen muss. In Deutschland entsteht so die

16 im Sinne von Wierlacher, Alois: Kulturthema Fremdheit. 1993 17 vgl. auch Plank, Robert: Der ungeheure Augenblick. in: Esselborn, H.: Literarische Science Fiction. Studienbrief Nr. 4546. 2000, S.13-14 18 vgl. Eco 1991 und Suvin 1979, S. 51 und 108, der im Gegensatz zu Eco das extrapolative Modell (im Vergleich zur analogischen S.F.) für ästhetisch platter und einen reinen Kunstgriff hält 19 Unterscheidung naturalistischer zu verfremdender Literatur, vgl. Suvin 1979, S. 40 und Punkt 5. 20 die alte Vates -Vorstellung, siehe U. Suerbaum in: Esselborn 2000, S. 21 21 eben das, was ich gestandenermaßen im Rahmen dieser Hausarbeit ebenfalls tue 22 für Suvin stellt H.G. Wells die klassische Verkörperung des Besten und Schlechtesten der S.F. dar. Suvin 1979, S. 300 23 vgl. Gutzen, Dieter: Erzähler des 17.Jahrhunderts. Studienbrief Nr. 4432. 1987, S. 14 ff.

6 Trennung zwischen Höhenkamm- und Trivialliteratur 24 , was bis heute zur Weigerung für Herrn Omnis zu schreiben, geführt hat, in völliger Verkennung der Tatsache, was die Mehrheit der Menschen (die überhaupt noch liest) größtenteils liest 25 . Der topos vom Geschmack der Gebildeten und der Unkultiviertheit des Pöbels. Aber es entwickelt sich auch die Verteidigung der neuen Gattung 26 . In dieser Zeit prägen sich auch die typischen Formen des Romans aus, jeweils gekenn- zeichnet durch einen bestimmten Stoff, Stil, ein konstantes Reservoir an Personen und einer festgelegten Struktur und Weltanschauung. Damals stellten diese Schemata, die typischen Charaktere und Handlungen allerdings Innovationen dar, was heute trivial wirkt 27 , war damals neu und originell. Es wurde großen Wert auf die Regeln der Form, die Gattung und deren Variation gelegt, nur der kenntnisreiche Leser konnte die Kunst der Abwandlung würdigen 28 , wie dies ähnlich auch bei oraler ‚Literatur‘ der Fall ist. Die S.F. dürfte dem Typus des Picaro-Romans 29 am ehesten entsprechen: die Figuren kommen aus niedrigen Gesellschaftsschichten, der Protagonist muss sich durchschla- gen, meist auf einer Reise und verändert sich durch die Erfahrungen, passt sich an, und das alles auf eine amüsante, unterhaltende Form für den Leser. Die Deklassierung von S.F. wird nicht nur in Deutschland betrieben, wenn auch im angelsächsischen Bereich die Mauer zwischen den zwei Literaturen nicht so hoch und undurchlässig ist, eben weil sehr viel mehr angesehene Autoren 30 sich nicht zu schade waren, S.F. zu schreiben. Dennoch hat die Verachtung dieser Gattung dazu geführt, dass selbst S.F.-Autoren wie

24 mainstream vs. untere Reich laut S. Lem: Science Fiction. Ein hoffnungsloser Fall. in: Esselborn 2000: Literarische Science Fiction, 2000, S. 34-36 25 Paraliteratur , die tatsächlich gelesen wird, vgl. Suvin 1979 in seiner Vorrede. Interessant ist auch die Tatsache, dass Leser derartiger Literatur im Vergleich mit den Lesern beispielsweise Goethes Fans tituliert werden bzw. sich selbst so bezeichnen. 26 z.B.: Blanckenburg, C.F.: Versuch über den Roman. 1774; angefüllt mit allerhand Vorschriften, Regeln über Stil- Lehre, Charakterzeichnung, Handlung, soziale Herkunft etc., um den Roman form -bar zu machen. 27 viele Figuren aus frühen Romanen erscheinen uns heute als Schablonen, vgl. Zerbst, Rainer: Die Fiktion der Realität - Die Realität der Fiktion 1984, S. 120; Shakespeare kann als trivial bezeichnet werden. 28 „ Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans (Trivialromans) in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau. Es ist eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs“. Brecht, B.: Über die Popularität des Kriminalromans. o.J.; erstmals veröf- fentlicht in: Schriften zur Literatur und Kunst 3, Frankfurt 1966 29 Tatsächlich kann man G. Grass‘ Die Blechtrommel als S.F. verstehen, in Hinblick auf die seltsame Fä- higkeit Oskars 30 G. Orwell, M. Twain, A. Huxley etc.

7 Vance das Etikett S.F. (oder Fantasy) ablehnen 31 . Die Verteidiger dieser missachteten Werke verweisen mit schöner Regelmäßigkeit auf die edlen Vorfahren – die Achse Lu- kian-Morus-Rabelais-Cyrano-Swift-Shelley-Verne-Wells 32 – oder auf die Werke geach- teten Höhenkamm-Autoren wie Das Glasperlenspiel (H. Hesse), Stern des Ungebore- nen (F. Werfel), Der Sandmann (E.T.A. Hoffmann) oder Die Verwandlung (F. Kafka) nicht zu vergessen Die gläsernen Bienen von Ernst Jünger oder Berge Meere und Gi- ganten von A. Döblin. Ihre Gegner nennen viele Werke der S.F. jedoch zu recht flach, banal, ideenlos. Es ist allerdings an der Zeit, S.F.-Literatur literarisch eigenständig zu bewerten, nicht mehr nur auf Beförderung durch künstlerische Transformation oder Suspendierung aus zu sein und jedes Werk individuell zu betrachten. Die naive Reakti- on, auf das Inhaltliche der S.F. mit Bewertungsschablonen wie realistisch – unrealis- tisch ; machbar - undenkbar zu reagieren, sollte der kulturwissenschaftlichen Inhaltsana- lyse 33 weichen. Im literarischen Sub-Feld der Gattungsklassifzierungen ist die Gelegenheit für symboli- sche Distinktionsgewinne durch Herausforderung der Legitimationsinstanzen, indem man sich mit dem ach so Verfemten als einer der Ersten abgibt, vorbei. Die Werke der Massenkultur sind in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung längst ange- kommen 34 und können einfach als das betrachtet werden, was sie schon sind: postmo- derne Kunstwerke. XXX

2.3. Die Möglichkeiten der S.-F.

Zum Beispiel hatte Calvino die Vorstellung, dass das Gebiet aus der Ikarus-Legende entstanden sei, (...) der Kommunist dachte, es wäre alles Sozialpropaganda, dass sich die gesamte Sciencefiction der egalitären Revolte der Massen widmen sollte, (...), mei- ner Vorstellung nach war sie einfach nur zum Zwecke der Unterhaltung zu verwenden! Interview 1, Jack Vance Ferner verursacht sie Alpträume, verdirbt die Jugend und kann süchtig machen. Der Science Fiction kann man wie man sieht alles unterstellen, und man tut dies auch.

31 „ Ich hasse das Wort ‚Sciencefiction‘, ich hasse einfach es zu benutzen und Fantasy (...), ich mag das Wort Fantasy nicht .“ Jack Vance in: Interview Nr. 1 und 2. 32 Suvin 1979, S. 33 33 beispielsweise der Tatsache, dass sich S.F. u.a. mit der gesamten Menschheit und nebst den drei üblichen Dimensionen und Personen auch mit der Zeit und dem Fremden beschäftigt. Wie die Poesie die absolute Sprache verkörpern kann, so kann S.F. den absoluten Inhaltsaspekt von Sprache verkörpern, siehe auch U. Suer- baum in: Esselborn 2000, S.20 und Elias 1997, S. 64 ff., der die Psychogenese der gesamten Menschheit untersu- chen will. 34 im Guten wie im Schlechten. Uneigennützigkeit und wahre Autonomie gibt es auch für die S.F. nicht, bedenke die Vorgaben von Verlegern wie J. Campbell: „ Einiges von dem Schlechtesten, das ich je geschrieben habe, habe ich an

8 Aber wie jede menschliche, kulturelle Äußerung transportiert S.F. vielerlei: Information und Belehrung, Unterhaltung und Ergriffenheit, Überredung und Anklage nebst der aristotelisch-freudianischen Katharsis . Vorgeworfen hat man der S.F. dem Eskapismus Vorschub zu leisten, oder auch Propaganda und Tendenzliteratur zu sein. Zu den Quali- täten der S.F. wird hingegen gezählt, Weltflucht zu ermöglichen und engagierten Schriftstellern ein Podium zu bieten. Hier ist man wohl erneut in die Falle der rein in- haltlichen Analyse geraten. Jeder Schriftsteller will irgend etwas aussagen, bewirken, es kommt darauf an, mit welchen Mitteln er dies erreicht. Natürlich ist die S.F. für be- stimmte Themen besser geeignet als andere Gattungen, was schon in der Natur der Sa- che liegt. Als Nicht-Jetzt-Ort kann sie als Gegenwelt, Ideal und Zerrbild dienen und so Sensor und Werkzeug für die Gesellschaft sein. S.F. transponiert die Ängste 35 und Hoff- nungen der Gegenwart in scheinbar gefahrlose Fiktion, wobei andererseits S.F. wie der Picaro-Roman das Verhüllte enthüllen 36 kann und so aufklärerische Aufgaben über- nimmt. In der fiktiven, von der Alltagsrealität losgelösten Welt der S.F. können wie in einem Labor 37 Gedankenexperimente durchgeführt werden, die früher der genuinen Domäne der Philosophie angehörten (Staatsroman beispielsweise) und heute ansatzwei- se von der Soziologie und Psychologie angegangen werden. Was wäre wenn 38 – dieses Spiel der Wahrscheinlichkeiten, der Alternativen und des Weiterdenkens demonstriert und simuliert dabei mehr Realität als so mancher Kriminalroman 39 und hat dabei ähnli- che Auswirkungen wie der klassische Bildungsroman des 19.Jahrhunderts. Dieser gän- gigen didaktischen Funktion gesellt sich aber eine Wirkung zu, die sonst nur schwer, durch die Beherrschung mehrerer Fremdsprachen beispielsweise erreicht werden kann: die Einübung des fremden Blicks 40 . Natürlich liegt der Reiz in nahezu jeder Fiktion, in jeder Erzählung gerade im Erleben anderer Welten, anderer Personen 41 , anderer Per- spektiven. Normalerweise aber ist dieses an mehr oder weniger realistisch-gegenwärtige Augen gebunden und irritiert nur andeutungsweise, variiert nur innerhalb enger Grenzen (der des Kulturkreises, der Sprache). Eine Überschreitung ist eigentlich nur mittels der Lektüre fremdartiger, mit durch Zeit, Raum, Kultur und Sprache getrennter Werke mög-

ihn [Campbell ] verkauft; er liebte es.“ Interview Nr. 1, S.8 35 Wells beispielsweise die Furcht seiner Zeit, vgl. Suvin 1979, S.266 36 ebd., S. 100 und „ die Entlarvung des Irrglauben des Menschen an seine absolute Stellung im Kosmos“ , Esselborn 2000, S.142 37 „ Flaubert (...) schafft (...)eine Art soziologischen Experiments“. Bourdieu 2001, S. 29 und „S.F. (...) als das ‚Auffinden und die Verkörperung einer Formel der Gesellschaft“ . Suvin 1979, S. 107 38 wie sehe unsere Welt heute aus wenn das Feld Kunst das Machtfeld bestimmen würde? siehe Die Mond- motte 39 Zerbst 1984, S. 106 40 Verfremdung - vgl. Suvin 1979 oder Brecht, B. 41 Alterität und Alienität gemäß Wierlacher 1993

9 lich, da ihr ‚ Zumutungsgehalt‘ 42 wesentlich geringer zu sein braucht. Die Komparatistik und die Hermeneutik haben die Herausforderung der tiefdeprimierende Erfahrung sol- cher Kommunikationsbarrieren angenommen und sie als Basis für (Fremd)- Kulturen- kompetenz festgestellt 43 . S.F. nun ermöglicht (theoretisch) sehr viel mehr Menschen den Einblick in fremde Kulturen, Zeiten und Welten, sie stellt Selbstverständlichkeiten in Frage 44 , das Alltagswissen, was in der Gegenwart kaum möglich ist 45 , sie übt also die interkulturelle soziale Kompetenz, erhöht das symbolische und kulturelle Kapital des Lesers und kann der mentalen Vorbereitung dienen 46 . Manche von ihnen werden inspi- riert, gerade auch in technischer Hinsicht: 1907 bekannte der Erfinder des Fernsehens 47 Edouart Belin: Verne war für mich richtungsweisend. Die Tatsache, dass in S.F. häufig technische, naturwissenschaftliche Themen behandelt werden, führt im besten Falle auch zu mehr technischen Verständnis, der Wissenschaft- ler kann so auf dem Markt ankommen, was viele auch zum Schreiben von S.F. veran- lasste 48 . Populärwissenschaftliche Bücher und S.F. bilden so die Pfeiler für den Brü- ckenschlag zwischen den zwei Kulturen 49 . Was davon unterhaltender ist, bleibt dem Leser überlassen.

3. Klärung der bourdieu’schen Begriffe Pierre-Félix Bourdieu wurde in den sechziger Jahren mit seiner ethnologische Analyse der algerischen Gesellschaft bekannt und schuf dort erste Grundbegriffe seiner Kultur- theorie 50 . Selbst Aufsteiger in die angesehene intellektuelle Elite Frankreichs erhielt er viele in- ternationale Preise, lehrte u.a. an der Sorbonne und in Princeton. Er gilt als einer der herausragenden Soziologen und Kulturwissenschaftler der Gegenwart. Bourdieu knüpft in seinen Werken an den Kapitalbegriff von K. Marx und den von Norbert Elias ver-

42 ebd., S.49 (Begriff nach N. Luhmann) 43 ebd., S. 103, 104, 132 44 Geschichten (...), die unter den gegebenen Verhältnissen nicht möglich und daher nicht glaubhaft dar- stellbar wären“; U. Suerbaum in: Esselborn 2000, S. 19 u. 22 Anmerkung 10 45 wenn, führt dies meist zu Fantasy oder surrealen Geschichten, wobei sich gerade S.F. einen größeren Raum für Alltagswissen schafft - durch ein steigendes Repertoire von Symbolen, Stoffen, Motiven (mit Eingang im mainstream) und durch Intertextualität, durch Fußnoten, Lexika, indirekt zitierte Universen der jeweils anderen S.F.- Autoren. 46 Die Fiktion als Auswahlverfahren für The New Prime , in: Vance 1979: Die besten Stories von Jack Van- ce. S. 120-126 47 die Bild-Fernübertragung in Jules Verne: Karpathenschloß. 1892 48 beispielsweise I. Asimow 49 vgl. C.P.Snow: The two cultures. Cambridge 1954 50 vgl. Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethologischen Grundlage der kabylischen Gesell- schaft. 1979

10 wendeten Begriff der ‚ gesellschaftlichen Stärke ‘51 an, wobei er die rein pekuniär- ökonomische Anwendung des Begriffs Kapital um die soziale, kulturelle und symboli- sche Dimension erweiterte. Zudem legte Bourdieu dar, dass die Zugehörigkeit, noch mehr die Zuordnung des Einzelnen zu (s)einer Schicht oder Klasse auch in modernen Gesellschaften als fast ebenso fixiert verstanden werden kann wie in scheinbar unter- entwickelten, unzivilisierten Kulturen und so die neuzeitliche Gesellschaftsschicht ebenso starr ist wie das Kastensystem in Indien, das Zunftwesen im europäischen Mit- telalter oder das Spezialisierungssystem der Seleniten auf dem Mond 52 . Bourdieu entwirft darüber hinaus ein komplexes Gesellschaftsgefüge, welches mittels verschiedener Teilbereiche (Politik, Wirtschaft, Religion, Bildung, Kunst und Literatur), von Bourdieu Felder genannt, die Aufstiegs- und Abstiegsstrategien des Einzelnen (u.a. vermittels des sog. Habitus ) und der gesellschaftlichen Gruppen organisiert. Nun hat Bourdieu eine Reihe soziologisch-empirischer Untersuchungen getätigt, u.a. über das Schulsystem 53 und das Hochschulwesen 54 . Aber ebenso hat er sich grundlegend mit Kunst und Ästhetik 55 beschäftigt, wobei beides sich als konstituierend für gesell- schaftliche Formierungen erwies (als kleiner, aber feiner 56 Unterschied sozusagen). Speziell behandelte er das Gebiet der Literatur , indem er die Entwicklung und Entste- hung des Literarischen Feldes anhand des Schriftstellers Gustave Flaubert aufzeigte 57 . Seine Analyse, die er werkimmanent 58 versteht, kommt zu dem Ergebnis, dass Flauberts fiktionale Romanwelt der Erziehung des Herzens eine Spiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit Flauberts darstellt und quasi das Litera- rische Feld idealiter demonstriert 59 .

3.1. Kapitalien

Ökonomisches Kapital hierunter wird alles gefasst, was normalerweise unter Kapital verstanden wird: Bargeld, Aktien, Grundbesitz, Bankkonten. – die sog. materiellen Werte.

51 Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisationen, S. 91-93. 1997 52 H.G. Wells: Die ersten Menschen auf dem Mond. 1901 53 vgl. Bourdieu / Passeron: Illusion der Chancengleichheit . 54 vgl. Bourdieu: Homo accademicus. 1992 55 vgl. ders.: 2001 und Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt 1981. 56 vgl. ders.: Die feinen Unterschiede. 1987 57 vgl. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen 1974 und Die Regeln der Kunst 2001 . 58 Bourdieu 2001, S. 19 und S. 62, Anmerkung 121 59 „ die Personen in Erziehung des Herzens fungieren als Symbole (...) des sozialen Feldes“. Bourdieu 2001, S.22 u. er erwähnt andere Interpretationsansätze, ebd. , Anhang 2, S. 69.

11 Kulturelles Kapital stellt ein Konglomerat aus Bildung, Sprache, Brauchtum, Titel, praktischen Fähigkeiten, kulturellen Güter (Bücher, Kunstwerke etc. 60 ), geographische Lage, Umgebung 61 , Einstellungen, Verhalten 62 und Kompetenzen dar 63 .

Soziales Kapital Das soziale Kapital umfasst alle Möglichkeiten, die sich aus der Nutzung der sozia- len Beziehungen ergeben: Herkunft, Gruppenzugehörigkeiten, Beteiligung an ei- nem spezifischen Feld und ganz allgemein den Beziehungen , es wird vererbt (Her- kunft) und durch Beziehungsarbeit erworben. Diese findet in Form von materiellen oder symbolischen Austauschakten statt (z.B. Geschenke), welche grundlegend durch ein Geben und Nehmen, ein Kennen und Anerkennen fundiert sind.

symbolisches Kapital dieses Kapital 64 beinhaltet Begriffe wie Ehre, Anerkennung, Reputation. Symbolisch heisst diese Kapitalsorte, da sie grundsätzlich über Zeichen wie Asse- coirs, Mode, Kleidung, Architektur, Design, Manieren, Rituale und vor allem na- türlich über Sprache 65 vermittelt wird. Zudem verleiht symbolisches Kapital dem Sprecher die Verfügungsgewalt, einer Gruppe Definitionsmacht 66 . Das symbolische Kapital ist Grundlage der sozialen Wahrnehmung bzw. des sozia- len Wahrgenommenwerdens und ist leicht eintauschbar. 67

60 sog. objektiviertes Kulturkapital, welches über das Bildungssystem die Zugangsmöglichkeiten zu Positi- onen regelt 61 geprägt durch natürliche und institutionelle Tatsachen im weitesten Sinne. Searle, J.: Sprechakte. 1983, S. 78ff. 62 sog. inkorporiertes, einverleibtes Kulturkapital, verinnerlichte Kulturkompetenz, bes. die Sprache, Ma- nieren, Haltung, Geschmack, Kleidung, Interessen- der Lebensstil allgemein, siehe 3.1. 63 sog. institutionalisiertes Kulturkapital, wobei der symbolische Gehalt solcher Güter nicht automatisch mit transferiert werden kann 64 in Ergänzung durch Papilloud, Christian: Bourdieu lesen. und Schroeder, Joachim: Bildung im geteilten Raum . vgl. Goody, Jack / Watt, Ian: Konsequenzen der Literalität, S. 243 in: Texte zur Medientheorie. Hg.v. Hel- mes, G. 2002 65 auch Körpersprache, Gestik, Mimik 66 vgl. Michel Foucaults Begriff des discurs 67 „ Symbolisches Kapital [ist Kredit], (...) im weitesten Sinn des Wortes, d.h. eine Art Vorschuß,Diskont, Akkreditiv, allein vom Glauben der Gruppe (...) eingeräumt“. vgl. Bourdieu: Sozialer Sinn. 1993

12 andere Kapitalsorten Deutsche Wissenschaftler griffen Bourdieus Kapital-Modell auf 68 und ergänzten dieses um das juridische 69 , das ökologische 70 und das physische Kapital 71 .

Alle Kapitalsorten sind auf verschiedene Weise ineinander umwandelbar, interagieren in den drei Dimensionen Kapitalvolumen, -struktur und der sozialen Laufbahn und bestimmen die Position des Einzelnen im jeweiligen Feld.

3.2. Feld Bourdieu erläutert die soziale Wirklichkeit, den Sozialraum als Konglomerat aus mehr- dimensionalen, verbundenen und sich überschneidenden Feldern. Diese differenzieren sich dabei horizontal (Wirtschaft, Literatur u.a.) und vertikal (Hierarchien). In verschie- denen Feldern sind unterschiedliche Kapitalsorten hoch im Kurs, etwas anderes ist di- stinktiv, ebenso gelten in jedem Feld 72 eigene Regeln und Legitimitätsnormen. Im Feld findet dabei ein permanenter Kampf zwischen den Polen (Arrivierte und Herausforde- rer 73 ) statt, der allerdings mehr oder weniger offen (offensiv) oder bewusst 74 abläuft und so im steten Wandel auch die Beharrlichkeit des Feldes an sich gewährt. Unterschieden wird dabei zwischen der objektiven und der relationalen sozialen Stellung.

3.2.1. Das literarische Feld Für das literarische Feld gelten die grundlegenden Regeln wie für alle Felder 75 , es geht um Machterhalt und –erlangung, aber das Haupt-Kapital ist weniger ökonomischer als symbolischer Natur 76 . Im Zuge der Autonomisierung des Sub-Feldes Literatur (als Teil des Kunst- und Bildungsfeldes) im 19.Jahrhundert entwickelte sich die Vorstellung des Intellektuellen, des Künstlers, des genialen Autors, der zweckfrei 77 und originell ein Werk als Kunstwerk schafft, welches unabhängig von seinem Inhalt verstanden will.

68 vgl. Schroeder 1998, in: Hansen, Georg: Ergänzung zum Kurs. S.2. 2000 69 der allgemeine Rechtsstatus: Staatsbürgerschaft, Alter, Geschlecht, Gesundheit u.a. 70 städtisch oder ländlich, geologisch-meteorologisches Umfeld, direkte Umwelt (Innen- und Außenraum) 71 auch sportives oder körperliches Kapital genannt: Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Krankheiten, Gene, Aussehen, Behinderung, Geschlecht, Alter, sexuelle Disposition – zu diesem Gebiet gehört i.w.S. die Physiognomik v. J.K Lavater 72 diesem sozialisierten Körper, Bourdieu 1993, S.28 73 „ Nichts ist charakteristischer für das mittleständische Bewußtsein als diese Äußerung: Die Tore nach unten sollen verschlossen bleiben, die Tore nach oben sollen sich öffnen“ . Elias 1997, S.111. 74 vgl. Bourdieus Begriff der illusio . 75 zur Homologie der Felder siehe Bourdieu 1987, S. 365 f. 76 auch wenn Verleger, Autoren, Agenten, Rezensenten, Institutionen etc. durchaus den Bestseller favorisie- ren 77 hier die Pole: die sog. reine Kunst vs. ökonomische Überlegungen, Kunst vs. Handwerk, „ Künstler vs. bürgerlicher Künstler“ , in: Streifzüge durch das literarische Feld. Hg. L.Pinto 1979, vgl. auch Bourdieu 2001, S. 22 Anmerkung 7

13 Eine solche ästhetische Einstellung 78 fungiert nach Bourdieu hauptsächlich der De- monstration der Distinktion, der Abgrenzung und ist so keineswegs zweckfrei, ist Teil dessen, was er illusio 79 nennt. Damit wird Kunstgeschmack, Ästethik zu einer relativen Kategorie, die Veränderungen gesellschaftlicher Art unterliegt. Literatur ist für Bour- dieu die Objektivierung, Manifestation eines bestimmten Habitus, der sich über ein differenziertes Brechungsverhältnis 80 im Werk niederschlägt. Die Vorstellung eines Dichtergenies lehnt er ab, das Feld selbst bestimmt die soziale Rolle des Schriftstellers 81 wie die des Publikums. Er wendet sich somit gegen die Idee einer überzeitlichen Kunst (l’art pour l’art), allerdings ebenso gegen die Position, dass Künstler nur als Medium für gesellschaftliche Vorgänge 82 agieren. Bourdieu unterstellt nicht direkt, dass beispiels- weise Flaubert diese Spiegelung seiner Wirklichkeit absichtlich 83 in sein Werk über- nommen hat, dergleichen kann wegen des Habitus unbewusst geschehen 84 . Aber in Flauberts Notizbüchern 85 gibt es Hinweise, auch in Flauberts Wörterbuch der Gemein- plätze 86 , dass er sich seiner Dispositionen und der seines Standes durchaus bewusst ge- wesen ist und sie als Strukturprinzipien für seinen Roman verwandte. Interessant ist, das Georg Lukács die Konstruktion der Wirklichkeit in Die Erziehung des Herzens ebenso erkennt wie Bourdieu: „scheinbar am wenigsten komponiert (...)stehen die einzelnen Bruchstücke der Wirk- lichkeit nebeneinander da.“ Theorie des Romans , S. 110, 111

Zudem wird Flaubert als Kristallationspunkt der Entwicklung des realistischen, 87 soziologischen Romans angesehen, zwischen Positivismus und Objektivismus schreibt Flaubert Romane mit dem Ansatz 88 zu personaler Erzählsituation, was den modernen Roman (mit-)begründet hat.

und Mann, Thomas : Tonio Kröger u.a. Novellen oder Hesse, Hermann: Narziß und Goldmund. 78 u.a. die „ trüben Topoi“, dass Literatur etwas ontologisch verschiedenes von Wissenschaft und Kommerz sei, diese Autonomie der Literatur würde von der Soziologie entweiht, wer sagt denn, daß die Lektüre der literari- schen Texte ausschließlich literarisch sein muß?“ Bourdieu 2001, S.9, 10 79 siehe Punkt 3.4. 80 vermittels des Habitus, siehe Punkt 3.3. 81 seinen praktischen Sinn (dt. mit sozialer Sinn übersetzt), Pinto 1997, S. 16 82 was dann als bewusster Auftrag in der literatur engagee verstanden wird 83 was allerdings explizit bei den Naturalisten der Fall sein dürfte 84 wessen sich Jack Vance beispielsweise bewusst ist, vgl. Interview Nr. 1, S.36 85 vgl. Vorbemerkung zu: Auszug aus den Notizbüchern.. In: Flaubert: Erziehung der Gefühle, S. 577. 2001 86 „ Adel – Ihn verachten und beneiden“. Flaubert: Wörterbuch der Gemeinplätze. 1999, S.33 87 Zerbst 1984, S. 129 88 Stanzel 1993, S. 40-41

14 3.3. Habitus Der Habitus 89 charakterisiert die äußere Gestalt 90 , die Stimmung, den Zustand, die Be- wegungsform, Lautäußerung und den Stil 91 eines Menschen 92 . Die Verwandtschaft zu Habit, Habitat ist bezeichnend, da Wohnraum und (Berufs-)Kleidung großen Anteil am Habitus haben. Habitus wird in der Sozialisation erworben, verinnerlicht und in die soziale Identität integriert, wird zur Rolle . Er wirkt dabei bis in die kleinste Lebensäuße- rung, im Sprechen, tanzen, lachen, was man wie liest, welche Bekannte und Freunde der Einzelne hat. 93 Der Habitus ist also ein kollektives, historisches Denksystem dar, welches als Wahr- nehmungsfilter und Handlungsmuster wirkt. Die objektivierte Geschichte wird subjekti- viert im Individuum. Menschen in ähnlicher Position weisen einen ähnlichen Habitus auf, greifen auf gleiche Bewertungsschemata zurück und treffen vergleichbare Ent- scheidungen. So funktioniert der Habitus als symbolisches Kapital, wird also auch dem jeweils anderen zugeschrieben (‚du bist, was du tust‘) und stellt ein Erzeugungsprinzip 94 dar. Der Habitus 95 wird erworben, zugeschrieben, aber auch gewählt, er ist selbst- strukturierend und strukturiert . Diese Kategorie stellt also den dialektischen Angelpunkt zwischen Gesellschaft und Individuum, der Autorenhabitus das Prisma 96 zwischen Feld

und einzelnem literarischen Werk dar.

89 aristotelisch-thomistischer Herkunft, in der antiken Rhetorik unterschieden nach habitus corporis (Ab- stammung, Geschlecht, Erziehung, Körperbeschaffenheit) und conditio (Wesensart, soziale Stellung) nebst quid affectet quisque (Vorlieben und Neigungen) 90 die Maske , siehe Punkt 5.1. 91 „le style est l’homme même“, J. Buffon: Antrittsrede. in: Flaubert: 1999; vgl. auch Erasmus-Zitat. Elias 1997, S. 161. 92 eben Haltung und Ver halten 93 nach Bourdieu: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung der Intellektuellen; so gibt es im menschli- chen Verhalten, an seinem Körper „kein Merkmal und keine Eigenschaft, die nicht zugleich auch symbolischen Charak- ter trüge .“ Bourdieu 1987, S.752, vgl. auch Elias, N.: Über den Prozess der Zivilisationen. 1997, der den Wandel der sog. natürlichen Bedürfnisse aufzeigt. 94 „die generative Tiefenformel“, Bourdieu 1987, S.279 95 unterteilt in einen primären (individuellen) und einen sekundären Klassenhabitus, in Geschlechter- und Altershabitus und in Hexis (dem äußerlich Wahrnehmbaren, nonverbale Kommunikation, kulturelle Distanzzonen etc.) und Habitus i.e.S. (der Tiefenstruktur, Persönlichkeit) 96 vgl. Boudieu: Aber wer hat denn die „Schöpfer“ geschaffen, S. 202. In: Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 197-211, auch der Begriff der gesellschaftlichen Brechung

15 3.3.1. Der Autoren-Habitus In seiner Flaubert-Analyse 97 demonstriert Bourdieu, wie Flauberts Habitus die gesell- schaftliche Wirklichkeit in die Erziehung des Herzens transponiert. Die Genese des Kunstwerks entsteht also aus der dialektischen Beziehung zwischen Autor, Gesellschaft und Werk(intention) selbst. Der Feldbegriff wehrt nun die naive Annahme des unmittel- baren Einflusses der Gesellschaft und Biographie des Autors auf die Literatur ab, ent- hält aber das Risiko, den Autor auf bloßen soziologischen Determinismus zu reduzieren. Der Habitusbegriff nun verhindert letzteres, indem er innerhalb der Grenzen der Dispo- sitionen dem Autor kreative Freiheiten 98 lässt. Wer Individualität und Kollektivität zu Gegensätzen macht, (..) um den Rechtsanspruch des schöpferischen Individuums zu bewahren (..), begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des Individuellen selber Kollektives zu entdecken; Kollektives in Form von Kultur (...), der den Künstler mit (...) seinem Zeitalter verbindet. Bourdieu 1974, S.132 Diese kreative Freiheit ermöglicht dem Autor nun, beispielsweise bewusst seinen Habi- tus und die Felddispositionen zu reflektieren und in sein Werk direkt, indirekt, gespie- gelt oder entgegengesetzt einzubringen. Untersuchungen haben sich in letzter Zeit mit der Maskerade des Autors beschäftigt 99 . Das Spiel mit der Identität ist ein wichtiges Motiv in der modernen Literatur als Ausdruck literarischer Selbststilisierung, als Be- reitwilligkeit des Autors, eine Vielzahl möglicher, verschiedener Identitäten zu über- nehmen. Insofern kann sogar ein Bruch mit dem eigenen Habitus erfolgen. Das Schrei- ben kann also (Fremd-)Bestimmungen und Zwänge zumindest z.T. außer Kraft setzten.

3.4. illusio Die Mitglieder Gesellschaft beteiligen sich am Regelsystem der Felder, können am Kampf um Macht teilnehmen, weil sie soziale Feld-Kompetenz besitzen. Die Regeln verinnerlichen sie mittels des Habitus, benötigt aber die Anerkennung, eine ‚ unerlässli- che Komplizenschaft ‘, welche allen stillschweigend aufgenötigt wird, die Zugang zum Spiel gewinnen 100 wollen. Diese allgemein gebilligte Illusion (Bourdieu 2001, S.35) muss in Form von

97 in zwei Versionen: L’invention de la vie d’artiste. Actes de la recherche en sciences sociales. Nr. 2, 1975 und in Les Règles de l’art 1992 (dt. Die Regeln der Kunst. 2001) 98 der Habitus erzeugt „relativ unvorhersehbares Verhalten (...), freilich innerhalb bestimmter Grenzen.“ und „innerhalb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer vorausseh- bar.“ Bourdieu 1993, S.33f. 99 für T. S. Eliot und Ezra Pound beispielsweise: Christoph Irmscher: Masken der Moderne. Literarische Selbststilisierung bei T. S. Eliot; Ezra Pound, Wallace Stevens und William Carlos Williams. Würzburg: Königshausen und Neumann 1992 100 Bourdieu 1987, S.389 und Bourdieu 2001, S.427

16 symbolischen Kapital erworben werden. Speziell die literarische Illusion ernst nehmen, heißt im Grunde eine illusio gegen die andere ausspielen, ist eine den happy few vorbehaltene illusio, die literarische, den Glauben der Schriftkundigen, das Privileg 101 .

4. Einordnung von Jack Vance und dessen Werk 4.1. Jack Vance Werdegang 102 Durch Jack Vance‘ Einsiedler-Image hielt sich längere Zeit das Gerücht , ‚Jack Vance‘ wäre nur ein weiteres Pseudonym des Schriftstellers Henry Kuttner. Aber tatsächlich wurde John Holbrook Vance am 28. August 1916 in San Franzisco geboren. Sein Groß- vater mütterlicherseits war ein prominenter wohlhabender Anwalt, dessen Tochter Edith Hoefler hatte die Möglichkeit, eine weiterführende Schule zu besuchen, in der sie sich hauptsächlich in Geschichte und Musik hervortat. Sein Vater Charles Albert Vance besaß Einrichtungsgeschäfte in San Franzisco, Benecia, Stockton und Sacramento. Im Zuge der Depression, bei der die Vances weniger verloren als viele andere, zogen sie auf eine Ranch im Sacramento-Delta, wo Jack Vance seine Kindheit verbrachte. Jack Vances Familie gehörten also i.S. von Bourdieu dem gehobenes Besitz- und Bildungs- bürgertum. 1937 begann Jack Vance sein Studium an der Berkeley Universität, zunächst in Bergbau und Physik, später in Englisch, Geschichte und Journalismus. Bis 1945 ar- beitete er als Elektriker in Pearl Harbor, schrieb als Jazz-Kolummnist für The Daily Californian , spielte Jazztrompete und beschäftigte sich mit der japanischen Sprache. Vance fuhr als Matrose bei der Handelsmarine zur See, arbeitete in einer Konservenfab- rik, als Vermesser, Rigger 103 und Zimmermann und Obstpflücker. 1945 veröffentlichte seine erste Kurzgeschichte The World-Thinker (dt. Der Weltersinner ). Im Jahr darauf heiratete er Norma Ingold und veröffentlichte 1950 sein erstes Buch: The (Die sterbende Erde) , das heute als Klassiker der Fantasy-Literatur gilt. In den 50igern schrieb Vance Episoden für TV-Serien und mehrere Kriminalromane, für die er u.a. den Edgar Allan Poe Award erhielt und die verfilmt wurden 104 , zudem wurden eine Reihe seiner Kurzgeschichten und Romane in Pulp 105 -Magazinen wie Startling Stories und Thrilling Wonder Stories veröffentlicht. 1961 wurde sein Sohn John Holbrook II gebo- ren. Ab 1964 arbeitete Vance als freiberuflicher Schriftsteller und ist bis heute ein äu- ßerst produktiver Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Essays im Bereich Fantasy, Science Fiction und Kriminalliteratur, die er gleich serienweise veröffentlicht, was Aus-

101 Bourdieu 2001, S. 517 102 vgl. u.a. Interview Nr. 2 103 rigging, Rigger: das Takeln von Schiffen und allgemein die Arbeit mit schwerer Gerätschaft. Interview Nr. 1, S. 41, 47 104 The Man in the Ca ge (dt. Der Mann im Käfig) 1960

17 kunft gibt über sein Vorhaben, ein Millionen-Worte-im-Jahr-Mann 106 zu sein. Gegen Ende der 80iger erkrankte Jack Vance am Grünen Star und erblindete. Seitdem schreibt Vance unter großen Schwierigkeiten 107 mittels eines sprechenden Computers. Jack Van- ce lebt mit seiner Familie in Oakland und zusammen haben sie viele Reisen unternom- men. Im Lauf seiner Schriftsteller-Laufbahn erhielt er viele angesehene Preise wie den Edgar Allen Poe Award , den Hugo Award zweimal, den Nebula Award , den Jupiter Award , den japanischen Sejun-Award , den spanischen Gilgamés Award viermal, den holländi- schen Warp Award und den Retro-Hugo Award . 1984 erhielt er den World Fantasy Award , ebenso 1997 den Nebula Grand Masters Award und 1998 den französischen Prix Utopia für sein Lebenswerk und wurde 2001 in die Science Fiction Hall of Fame der amerikanischen Science Fiction Autoren aufgenommen. In Deutschland ist Vance etwas unbekannter als etwa in den Niederlanden oder in Frankreich, wo beispielsweise Tschai-Rollenspielszenarien zu Vance‘ Planet der Abenteuer -Zyklus veranstaltet wer- den und mit Le Cycle des Tschai vor kurzem der erste Band einer Ableger-Comic-Serie erschienen ist. Erst 1999 wird die erste deutsche Bibliographie von Jack Vance veröf- fentlicht. 2001 wird anlässlich der Frankfurter Buchmesse die VIE, the Vance Integral Edition 108 mit dem Untertitel Undiscovered American Classics vorgestellt, die 2003 mit zunächst 22 Bänden veröffentlicht werden konnte. Bücher von Vance werden in über einem Dutzend Ländern verkauft. Unter seinen Schriftsteller-Kollegen verfügt Vance über viele Freunde, ist er doch u.a. eng mit den bekannten SF-Autoren Frank Herbert (Der Wüstenplanet ), Poul Anderson ( Die Sternenhändler ) und Robert Silverberg ( Abso- lut unbeugsam ) befreundet. Zudem erfreut er sich allgemein der Wertschätzung seiner Schriftstellerkollegen, was auch daran zu ermessen ist, dass ihm wichtige Werke ge- widmet werden 109 , beispielsweise in The Rise of Endymion (dt. Endymion - Die Aufer- stehung ) von Dan Simmons: Dieses Buch ist für Jack Vance, unseren besten Weltenschöpfer.

105 Bezeichnung von Heftserien und Zeitschriften aus dem sog. Trivialbereich; engl. pulp = Brei (Billigpa- pier) 106 vgl. Interview Nr. 2 107 vgl. Interview Nr.1 108 internationales Projekt von ehrenamtlichen Vance-Fans, gegründet von Paul Rhoads, in Deutschland von Andreas Irle 109 auch intertextuell J.K. Rawlings: Harry Potter und der Feuerkelch. Hamburg: Carlsonverlag 2003, die Namen von Emmeline Vance , Alastor Moody und Araminta Black (die Vornamen klingen wie Titel von Vance‘ Wer- ken ) werden von diversen Erläuterungswerken (z.B.: Do you know Severus Snape?) auf Jack Vance zurück geführt, allerdings ohne Gewähr durch die Autorin.

18 4.2. Vance‘ Stellung im S.F.-Genre Er ist Vertreter der angelsächsischen S.F. und Fantasy, auch wenn er beide Etikettierun- gen ablehnt. Er lässt sich innerhalb der S.F. gar nicht so leicht einordnen 110 : seine Wer- ke (mehr als sechzig Romane, zig Kurzgeschichten) – vor allem die früheren – sind klassische hard-boiled -S.F., er hat ausgefeilte Fantasy geschrieben, Sozialsatiren, Wer- ke des sog. New-Wave 111 , verfasst Abenteuer mit widersprüchlicher Helden, konstruiert komplexe, schillernde Gesellschaften, die typisch für seinen ausgereiften Stil sind, kann ausgesprochen komisch und tragisch zu gleich sein, und das alles in einer meisterhaften Sprache, die gerade unter S.F . seines gleichen sucht 112 . Vance nimmt mit dem Schwer- punkt auf komplexe Gesellschaften eine Mittelstellung zwischen den Vertretern der outer-space - und inner-space -S.F. ein.

4.3. Jack Vance‘ Habitus Die Herkunft Vance‘ aus der oberen Mittelschicht wurde ja schon angesprochen, durch sein Aufwachsen auf einer Farm lernte er u.a. die Schönheit von Sümpfen und Flüssen zu schätzen, was Eingang in viele seiner Geschichten gefunden hat ( Die Mondmotte oder Showboat-Welt ). Schon als Kind hat Vance nach eigenen Worten viel gelesen 113 , was wohl neben des Thesaurus – seiner Standartantwort auf Fragen nach seiner Wortwahl - seine varianten- reiche Sprache erklärt, war nicht sehr gesellig und beschloß, vor seinem Studium das Intellektuellen-Dasein abzustreifen und arbeitete in verschiedensten, körperlich anstren- gende Berufen 114 . Auf der Universität, wo er in naturwissenschaftlichen Fächern begon- nen hatte, wechselte er zu geisteswissenschaftlichem Gebiet, weil erstere ihm so einen- gend 115 erschienen waren. Handwerklich ist er sehr früh auch in seiner Freizeit tätig, am eigenen Haus baute er größtenteils alles selbst, ein Kamin, Baumhaus und diverse Boote - sein Lieblingshobby - folgten. Gerade Handwerk findet sich in vielen seiner Geschichten wieder, besonders in (1969). Er kocht leidenschaftlich gern und arbeitet mit Keramiken 116 . Einen großen Teil seiner Zeit verbrachte er mit dem Bau eines Hausbootes mit Hilfe seiner Freunde Frank Herbert und Poul Anderson, er entwarf eine innovative Mechanik für den Außenbordmotor. Das Hausboot wurde zum geselligen Zentrum von Feiern im Freien und auf dem Wasser. Immer wieder wurden alle möglichen Dinge am Hausboot verbessert, neu gebaut, geschnitzt, verändert, es wurden Karten studiert und Reiserouten

110 „ Ich versuche (…) den Schlüssel zu wechseln, sozusagen“ . Jack Vance, Interview Nr. 2, S. 10 111 vgl. Die Menschen kehren zurück (The Men Return) in: Vance 1979, S. 159-173 112 ich kann mich diesbezüglich nur auf zwei seiner Werke in englisch beziehen und auf Hörensagen 113 auch Weird Tales, Märchen, Abenteuergeschichten von Jeffrey Farnol: Interview Nr. 1 114 ebd. 115 vgl. Interview Nr. 2 116 „ Die Namen der Bestandteile dieser Glasierungen sind in sich romantisch, gerade so wie die Namen

19 geplant. Der glücklichste Abschnitt seines Lebens – so bezeichnet Vance diese Zeit heute, in der ihm u.a. der Grüne Star derartiges und vieles mehr (insbesondere auch das gewohnte Schreiben) verwehrt. Nach eigenen Worten liest Vance seit vierzig Jahren keine S.F. oder Fantasy mehr, dafür aber viele Krimis.

4.4. Kunst, Künstler und das Schreiben Jack Vance hat sich in diversen Interviews auch zur Kunst und S.F. geäußert; sein Künstlerbild entspricht der typischen Vorstellung, diese Leute mit langen Haaren und komischen Haltungen. Ich spreche von den altmodischen Stereotypen des Künstlers 117 . welches er selbst als klassisches Intellektuellen-Klischee aus dem 19.Jahrhundert er- kennt. Seine Definition von Kunst sollte erwähnt werden, auch wenn natürlich nicht automatisch von der Poetik eines Autors auf seine tatsächliche schriftstellerische Arbeit zu schließen ist. Kunst ist für Vance der Versuch, emotionale Impressionen in emotio- nale Expressionen zu verwandeln, die auf symbolische Art dem Anderen vermittelt wird. Diese Symbole können Teil des gemeinsamen Wissens von Künstler und Leser, Zuschauer sein, was Vance als unabdingbar für wahre Kunst hält oder aber unverständ- lich für die Mehrheit, was Vance narzisstisch nennt 118 . Trotz dieser These von der Kunst als Kommunikation legt Vance Wert auf das intellektuelle Niveau seiner Werke, will keine Kompromisse an das hintere Ende der Leserschaft eingehen. Der typische Leser von Vance scheint dann auch überdurchschnittlich intelligent zu sein 119 , worauf Vance zu recht sehr stolz ist. Was den Science-Character seiner S.F. betrifft, so ist dieser vernachlässigenbar, Tech- nik ist für ihn Hintergrund, Werkzeug, Raumschiffe sind nur Mittel, um von einer Umgebung in die andere zu gelangen 120 . In seinen Geschichten kommen keine Roboter (...) vor, das ist wie mogeln beim Schach. Wenn man will, dass ein Roboter schnell läuft, kurbelt man einfach am Griff (... )121 . sie handeln von der Menschheit, wie die Menschen sich auf verschiedenen Planeten, unter mannigfaltigen Bedingungen entwickelt und verändert, wie die Umgebungen ihre Vorstellungen verändern 122 . Seine Welten sind bevölkert von Massen, menschlichen, außerirdischen, Mischlinge aus menschlich und außerirdisch – und sie alle bilden hochkomplexe, farbige Gesellschaf- ten, fremde, absonderliche Kulturen, die sich in Jahrhunderten, Jahrtausenden entwi- ckelt haben.

von Musikkompositionen“. vgl. Interview 1, S. 3 117 vgl. Interview Nr. 1, S. 5 118 ebd. 119 und männlich, was sich Vance auch nicht erklären kann. vgl. Interview Nr. 3 120 Interview Nr. 2, S. 14 121 Interview Nr. 3, S. 3

20 Vance Helden verweigern sich der typischen, klischeehaften Heldenkarriere, oft lassen sie sich von Ort zu Ort treiben und hadern mit ihrem Quest -Schicksal als Held. Ihre Suche dient eher der Möglichkeit, exotischste Welten zu besuchen und dem Leser vor- zustellen. Selbst in seinen Fantasy-Büchern 123 herrscht Logik vor: Seine Fantasy stellt für Vance eigentlich keine Fantasy dar, es sind geradlinige [s] Abenteuer innerhalb der Prämissen, die [er ] für diese Welt 124 festlegt. Vance schrieb viele qualitätsreiche Geschichten, aber auch eine Menge an schlechten Werken, beispielsweise Der Krieg der Gehirne (Brains of Earth, auch Nopalgarth) oder Magarak – Planet der Hölle ( Planet of the Damned , auch Slaves of the Kau ), beides allerdings frühere Werke. Aber selbst in seinen minderwertigeren Geschichten gibt es oft immer wieder einzelne, höchst interessante Dinge, Vorkommnisse, grundlegende Motive, die beim Leser haften bleiben und durchaus Stoff für ganze Romanreihen bie- ten würden, wie die Idee einer Wasserwelt, in der das härteste Material die Knochen der Bewohner sind ( Die blaue Welt, Blue World oder The Kragen) . Vance verleiht seinen Kurzgeschichten so viel Tiefe mittels reichhaltiger Details und Hintergrundinformatio- nen, oft in ‚nebensächlichen‘ Fußnoten versteckt, er verwendet beispielsweise die au- ßergewöhnliche Beschreibung des Imagisten -Wettbewerbs für eine 32-Seiten- Geschichte und relativ einfache Pointe (in Das Gehirn der Galaxis , dt. The New Prime ) oder in Der Galaktische Spürhund, (dt . The Galactic Effectuator ) entwirft er auf vier Seiten drei komplette Planeten mit entsprechender Gesellschaft, um dann einen (!) wei- teren Ausgangspunkt für den Detektiv Miro Hetzel zu liefern - nur für weitere drei Seiten, bis dieser weiter reist und das Planetensystem verlässt 125 . In den 50igern und 60igern neigte Vance eher zu simplen space-operas 126 voller Strahlenkanonen und Flash-Gordon -Helden, aber auch in dieser frühen Phase lässt sich schon der spätere, reife Stil Vance‘ erkennen 127 , wobei man grundsätzlich zwischen seinen kurzen und seinen umfangreicheren Werken unterscheiden muss: seine Stärke liegt meiner Ansicht nach eindeutig bei Kurzgeschichten wie Die Mondmotte und weniger bei seinen Roma- nen wie Die Kriegssprachen von Pao 128 . Der Stil seiner Helden hat sich im Lauf der Zeit jedenfalls verändert, wurde komplexer, psychologischer, weil Vance nach eigenen Worten

122 ebd., S. 4; mit Anklängen an das ökologische Kapital 123 beispielsweise The Eyes of the Otherworld, (dt. Der Lachende Magier), J. Rawlins, Interview Nr. 2, S.9 124 ebd., siehe auch Nünning, V.: Erzähltheorie. 2002, S. 29; Transformation von Unwahrscheinlichkeit in Wahrscheinlichkeit 125 vgl. im Anhang Textausschnitt 126 die er selbst gadget stories nennt. „ Das schlechte Zeug vergesse ich!“ vgl. Interview Nr. 2, S.14 127 Treffen Sie Miss Universum!(Meet Miss Universe) 1955; Geräusche ( o. Music of Speres)1952 128 erstmals als 1957/58

21 nicht über Conan oder Tarzan schreiben [will ]; (...) möchte über menschliche Wesen schrei- ben 129 , [mit ] dem sie [die Leser ] sich identifizieren können 130 .

5. Interpretation 5.1. Die Mondmotte Die Welt besteht aus lauter Masken. Francois La Rochefoucauld

Jack Vance‘ Die Mondmotte 131 gilt als eine seiner besten Kurzgeschichten, gekonnt entwirft er das komplexe Gesellschaftssystem von Sirene, wo die Mehrheit der Bewoh- ner ihren Status und ihren Lebensstil durch das Tragen von kodifizierten Masken 132 und der kunstvollen Verwendung von musikalischer Sprache mittels Gesang und Auswahl aus einer Vielzahl von Instrumenten ausdrückt. Dieses Gesellschaftssystem – ermög- licht durch äußerst günstige Lebensbedingungen des Planeten, die Vance ausdrücklich voraussetzt 133 - lebt von der ständigen Bestätigung, Zuschreibung und Inanspruchnahme des persönlichen strakh , des grundlegenden sirenesischen Kapitals, welches ein Kong- lomerat aus immateriellen Werten wie Prestige, Ehre und Mana 134 darstellt. Güter wer- den ausgetauscht als Geschenkgaben, die gleichwohl dem Schenkenden wie dem Be- schenkten zur Ehre gereicht. Diese Ausübung von strakh 135 bietet normalerweise die Möglichkeit des Aufstiegs. Somit ist strakh das absolute symbolische Kapital im Sinne Bourdieus. Man besitzt, um zu geben. Doch besitzt man auch, indem man gibt . 136 Diese Transaktionen 137 , die stark an das sog. Potlach der Chinook-Indianer oder die Verpflichtung der kabylischen Ehrenmänner zur Schenkung 138 erinnern, sind abhängig vom Status und der Kunstfertigkeit, von der jeweiligen Situation und Beziehung der Personen zueinander, der Stimmung und dem symbolischen Wert der Dinge 139 ; beim Verdacht jedweder Ehrverletzung und Missachtung der Regeln betreffs der Angemes- senheit von Masken- und Musiksprachengebrauchs erfolgt normalerweise ein Duell, welches beim Überlebenden zur Prestige-Gewinnung dienen kann, aber eigentlich als Abstrafung von impertinenter Anmaßung fungiert. Der normale, übliche Weg des Auf- stiegs erfolgt über das Können, Kunst und Tugendhaftigkeit 140 des Einzelnen zum Fürsten, Helden, Meisterhandwerker, große Musiker 141 und wie beim schon erwähnten Potlach ist dies die treibende Kraft für die Entwicklung von außergewöhnlichem Kunsthandwerk 142 . Die symbolischen Auseinandersetzungen betreffs der ‚Diagnose‘ des sozialen Ansehens führen also ohne Umweg über das öko- nomische Kapital direkt zum Erwerb von materiellen Gütern und können konkret äu- ßerst gefährlich werden im Falle eines Duells, welches in dieser Vance- Welt den Beg- riff Satisfaktionsfähigkeit auf den Kopf stellt: satisfaktionsfähige Personen sind poten-

129 Interview Nr. 2, S. 12 130 Interview Nr. 3, S. 4

22 tielle Geber und Empfänger, zum Duell werden die nicht-satisfaktionsfähigen gefordert. Der künstlerische Code (...) hat den Charakter einer gesellschaftlichen Institution 143 , auf Sirene trifft dies im stärksten Maße zu. Aus kleinen Andeutungen in der Kurzge- schichte kann man weiteres Inventar der sirenesischen Welt eruieren: Als kleine allge- meine Bedrohung existieren die ‚Nachtmänner‘ 144 . Auf diese festgefügte Gesellschaft trifft nun Edwer Thissell, Konsularischer Vertreter einer interplanetaren Allianz, die von Vance nur die Heimatplaneten bezeichnet wird (davon einer namentlich Polypolis ) und durch die Erwähnung der sog. Journal für uni- verselle Anthropologie , ebenso des Fußnotensystems 145 intertextuell an ähnlich entwor- fene Kolonial-Planeten-Vereinigungen 146 erinnert. Mit dem klassischen Motiv des Rei- senden und der typischen S.F.-Figur des Botschafters – in der traditionellen neutralen, personalen Erzählweise - ermöglicht Vance die Perspektive 147 auf eine Welt, die dem Protagonisten ähnlich fremd ist wie dem Leser, zumal Thissell aus einer eher westlichen Kultur, einer in die Zukunft und die Galaxy extrapolierte UNO stammt, so dem Leser eine leichtere Identifikation ermöglicht und den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf die fremdartige Welt verlegt. Der Handlungsablauf der Kurzgeschichte ist dramatisch, sie ist grob in drei Abschnitte gegliedert: im ersten Teil wird Thissells derzeitige Situation, mit der er keineswegs zufrieden ist, geschildert, er befindet sich schon einige Zeit auf einer ihm kaum zugänglichen Welt.

131 grundsätzlich bezogen auf: Von Matheson bis Shaw. Hg. v. James Gunn.1991 132 Masken und Sprach‘melodie‘ dürften die stärkste Distinktion aufweisen, vgl. Bourdieu 1974, S.60 133 ebd., S. 195 134 letzteres gleich Charisma , i.S. Bourdieus der individuelle, eigentliche Habitus. 135 Gunn 1991, S. 196 136 Bourdieu 1993, S. 229 137 zum Erlangen symbolischen Kapitals und dadurch aller weiteren Kapitalsorten 138 siehe Bourdieu 1979 139 dem strakh -Wert, Gunn. 1991, S. 199 140 sirenesische Tugenden sind u.a.: Weisheit, Wildheit, Vielseitigkeit, Musiktalent 141 ebd. S. 197 142 mit solch absoluter Perfektion , vgl. den ersten Satz von Die Mondmotte 143 Bourdieu 1974, S. 173 144 die unzivilisierten Wilden aus den Bergen, S. 198 145 die zudem den Realitätseffekt erhöht. Vance verwendet Paratexte im Duktus des Lexikons häufig, z.B. Mnemniphot- Kode in: Die Kokod-Kriege (The Kokod Warriors) in: Vance. 1979, S. 177-179, auch sind dgl. auktoria- le Merkmale 146 Commonwealth, Föderation u. dgl. sowie der oft verwendeten Lexika-Form Enzyklopädia Galaktika und die von Vance erwähnte U.T. (vermutlich Universal Time), Gunn 1991, S. 190 147 „ die ganz und gar der des Ethnologen ähnelt, der sich einer fremden Gesellschaft gegenüber sieht, ( ...) zu dessen Verständnis ihm der Schlüssel fehlt.“ aus: Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. 1974, S. 164 , vgl. auch Wierlacher 1993, S.47 das Paradoxon des Ethnologen und die Nostrifikation, S. 110

23 Er versucht das geringe strakh seiner Person 148 und seiner Position als Vertreter einer auf Sirene nur geduldeten und mit geringem strakh versehenen Institution mittels Mu- sikinstrumenten-Training aufzubessern, als er den Auftrag erhält, einen gesuchten Ver- brecher festzunehmen, was ihm aufgrund seiner niedrigen Position und geringen sym- bolischen Kompetenz im sirenesischen System nicht gelingt. Dies schildert Vance uns in einer direkten, szenischen und so nahen Perspektive. In einem Rückblick wird nun seine Ankunft auf Sirene geschildert (wieder szenisch), in dem ihm und dem Leser die nötigen Vorabinformationen für die sirenesische Kultur nachgeliefert werden (dies z.T. auch zusammenfassend-beschreibend). Im nächsten Teil beginnt die eigentliche Hand- lung, die im Stil der Kriminalgeschichte abläuft mit der Suche nach Haxo Angmark, der durch einen früheren Aufenthalt auf Sirene einen enormen kulturellen Vorsprung ge- genüber Thissell besitzt und sich hinter einer Unzahl 149 von Masken verbergen kann, so nicht einfach als Außenweltler erkennbar ist. Hier zeigt sich die enge Verwandtschaft der S.F. zum Kriminalgenre, im S.F. muss der Leser oft eine ihm fremde Welt, ihm fremde Wesen enträtseln, was natürlich im Krimi noch verstärkt der Fall ist. Die Mondmotte nun ist eine Kriminalgeschichte 150 , auch wenn die Verfolgung des Verbre- chers z.T. schon vor dem Verbrechen in der Geschichte – dem Mord an Cornely Weli- bus – beginnt. Der Mord ist hier allerdings nicht das spannungsgebende Rätsel: Thissell muss auf einer Welt der Maskierten einen Menschen finden, der nicht gefunden werden will, allerdings aus einem begrenzten Kreis von Verdächtigen 151 , was Vance beispiels- weise auch in seiner Geschichte Der Gandenstoß ( Cloup de Grace 1973, in Vance 1979) meisterhaft vorexerziert. Er wählt dazu einen analytischen Weg, der allerdings mangels einer Watson-Figur dem Leser bis zum Schluss etwas unzugänglich ist, also der mystery -Teil gegenüber dem analysis -Teil 152 überwiegt. Im letzten Abschnitt, dem Höhepunkt der Geschichte, findet dann die klassische Konfrontation des Helden mit dem Bösewicht statt. Thissell entlarvt Angmark, wird selbst gefangen genommen, er und der Leser erhalten das Geständnis (dies vor der beabsichtigten Liquidierung des Helden stellt ein gängiges Motiv dar) und in einer großartigen Schluss-Szene wird der Mörder öffentlich gestellt, allerdings für diese Geschichte (und Sirene) passend in typi- schen Umkehrung erst nachdem ‚Detektiv‘ de-maskiert wurde, Angamrk wird für This-

148 „ Wenn die Heimatplaneten wollen, daß ihr Vertreter eine Seedrachen-Eroberer-Maske trägt, sollten sie einen Seedrachen-Eroberer-Typ schicken“ . aus: Gunn 1991, S. 199 149 Vance erwähnt vierzig Masken mit Namen und z.T. Aussehen oder Status, es werden zudem Abwand- lungen der typischen Masken angesprochen, Gunn 1991, S. 197. 150 ich beziehe mich in Punkto Krimi auf Nusser, Peter: Der Kriminalroman. 1992 und Todorov: Acht Regeln für den Detektiv in: Waldmann, Günter: literatur zur unterhaltung 2 . 1980, S. 270 151 der geschlossene Kreis, Nusser 1992, S.38 152 ebd., S. 33

24 sells persona 153 gehalten und aufgrund dessen anfängliche Takt- und strakh -Fehler getö- tet. Oberflächlich gesehen handelt die Kurzgeschichte vom Sieg des westlich-modernen Neuankömmlings Thissell, der seinen Mann fängt und nach einer eindrucksvollen Rede – nackt quasi ohne jede Maske 154 - den Respekt der eingeborenen Bevölkerung erwirbt. Vance bestätigt so die Moralvorstellung Thissells 155 , die mehr oder weniger konform gehen sollte mit der Gerechtigkeitsvorstellung 156 des Lesers, karikiert sie aber auch - denn die sirenesische Moral führt zwar Gerechtigkeit herbei, aber aus Gründen, die Thissell und die westlichen Leser für banal, für ungerecht halten müssen. Allerdings sind dem Leser die eigentlichen Verbrechen von Angmark auch ziemlich egal (mir wa- ren sie es jedenfalls), die intellektuelle Neugier, wie das Rätsel gelöst und Thissell aus der auswegs- und gesichtslosen Situation in letzter Sekunde 157 heraus kommt, das be- stimmt die Spannung, macht den Witz der Lösung aus. Und zuletzt hat Thissell zwar die exotische, anfangs ihm so unzugängliche Gesellschaft von Sirene aus Sicht der Außen- seiter überlistet, da er ja die mutigen Taten, derer er sich in der Rede rühmt, gar nicht absichtlich begangen hat. Aber im Grunde verbleibt Thissell innerhalb des Regelsys- tems von Sirene bzw. ist in diesem angekommen, indem er – letztendlich weitaus besser als sein eigentlich sirenesisch-erfahrenere Gegner Angmark – die Sireneser verstehen und dies zu seinem Vorteil, seinem strakh einsetzen lernte . In einer ersten Leseerfah- rung fragte ich mich – analog zu Thissells Frage bei seiner Ankunft- wie denn in der sirenesischen Gesellschaft bestimmt wird, wer welche Maske tragen darf, welche Mas- ke(n) dem strakh entspricht, wenn doch jeder dies entsprechend der Philosophie, daß kein Mensch gezwungen sein sollte, ein Äußeres zu zeigen, daß ihm Faktoren aufgezwungen haben, über die er keine Kontrolle hat 158 , selbst frei entscheiden darf und es keine ausdrücklichen Verbote gibt 159 . Als Antwort hört er, dass man auch mit den Folgen seiner Maskenwahl leben (und sterben muss), das strakh zwar selbst gewählt aber auch von jedem, der einen begegnet, verliehen wird. Diese Definitionsmacht 160 wird in einem Wechselspiel zwischen Individuum und Ge- sellschaft ausgeübt. So weit so gut. Letztendlich aber entscheidet die Überzeugungskraft der persönlichen Maskenwahl: Thissell ist zu einem Seedrachen-Eroberer-Typ gewor- den, diese Maske steht ihm tatsächlich jetzt zu recht zu.

153 „ Ein Mann kann sein Gesicht maskieren, aber nicht seine Persönlichkeit“ . Gunn 1991, S. 229 154 der Gesichtsverlust unserer nicht-fiktionalen Welt 155 ebd., S. 162 156 ‚Unsere‘ religiösen Differenzen ( ebd., S. 232) interessieren die Sirenesen nicht. 157 abweichender Titel in einer deutschen Ausgabe von Die Mondmotte 158 Gunn 1991, S. 195, 196 159 es hält sich auch nicht jeder an das ehrenhafte sirenesische System, beispielsweise Angmarks Sklave, der mit dem Tragen von Welibus‘ Maske Thissell ‚anlügt‘, Gunn 1991, S. 228 160 „ Jene symbolischen Strategien, deren Ziel es ist, (...)sich der Wörter zu bemächtigen, um in den Besitz der Dinge zu kommen“ , Bourdieu, 1987, S. 751

25 Er entspricht damit dem Aufsteiger gemäß der Bourdieu’schen Gesellschaftstheorie, da er von einer sehr niedrigen Position heraus in einer ihm daneben noch kulturell-fremden Gesellschaft eine der höchsten Stellungen erlangt, was ihm nur möglich war, nachdem er die symbolischen und künstlerischen Codes für sich lesbar 161 und so zu seinem kultu- rellen Kapital machen konnte. Was die verwendete Wortwahl Vance‘ in Die Mondmotte betrifft, kann ich – begrenzt durch meine Sprachkenntnisse und den mir vorliegenden Vance‘ Texten - durchaus die kunstvolle Sprache, für die Vance bekannt ist, bestätigt finden, leider wird diese an- scheinend in den meisten deutschen Übersetzungen nur unvollkommen wieder gegeben. Von meinen drei Die Mondmotte -Versionen (Gunn 1991, Bova 1973 und Vance 1979) stellt die Version des Moewig Verlags, Übersetzerin Leni Obez eine angreifbare dar, wenn beispielsweise intricacy in Gunns und Bovas Übersetzung zutreffend mit Feinhei- ten aber in Leni Obez‘ Text zu Intrigen wird, exchange in erstgenannten Versionen richtiger mit Tauschmittel aber von Obez mit Kleingeld , similitude foisted statt mit Äu- ßeres mit einem sehr seltsamen wenn auch interessanten Similarität übersetzt wird. Dass basic secret bei Moewig zu einem grundlegendes Gesetz wird, ist dann immerhin konsequent. Abgesehen davon stellt Vance ansatzweise die eigentli- che, vokale Sprache von Sirene vor, die Anklänge an Esperanto 162 aufweist. Vance selbst ist in seiner pointierten Geschichte wohl vor allem in der liebevollen Be- schreibung des Hausbootes und der ausgefeilten Darstellung der Musikinstrumente zu finden, dies dürfte offensichtlich sein.

5.2. Die Kriegssprachen von Pao Das Wort als Träger des Geistes. J.-P. Sartre Jack Vance‘ Die Kriegssprachen von Pao 163 ist eine seiner bekanntesten aber auch umstrittenen Romane, geschrieben 1957/58 mit dem neutraleren Titel (dt. zuerst 1976 als Der Neue Geist von Pao ). Thematisch gesehen dürfte Die Kriegssprachen von Pao wirklich zu dem Außergewöhnlichsten gehören 164 , was die S.F. zu bieten hat und Vance 165 formuliert sein Grundprogramm so - Grundregeln: Die

161 Bourdieu 1974, S. 175-176, dort allerdings auf die kulturellen, künstlerischen Codes der eigenen Gesell- schaft bezogen, auf die Thissell ja nicht zurück greifen kann 162 Avan esx trobu, Fasc etz Rex ae Toby, Gunn 1991, S. 202 163 bezogen auf Jack Vance: Die Kriegssprachen von Pao. Bergisch-Gladbach: Bastei-Lübbe 1985 164 zumindest in den 50igern, heute kann man auf eine ganze Reihe ‚linguistischer‘ S.F. zurückgreifen 165 als Autor im Text (vs. Autor des Textes), § 228 Anmerkung in: Weimar, Klaus: Enzyklopädie der Literaturwissenschaft. 1993

26 Sprache bestimmt den Gedankenablauf .166 Gezielt werden zusätzlich zur eigentlichen Spra- che des Planeten Pao drei 167 künstliche Sprachen auf Pao eingeführt, t echnikant , v aliant , kogitant, um die Mentalität der Paonesen zu verändern, linguistisch auf technisch- kapitalistische, kriegerische logisch-intellektuelle Denkweise umzuformen. Vance hat in Die Kriegssprachen von Pao das klassische Motiv des fliehenden Thronprätendenten und sein persönliches Motiv des entwurzelten, elternlosen Kindes 168 , das auf Reisen zu verschiedenen Welten geht, verwandt. Was die Grundidee betrifft 169 , ist der Roman als gelungen zu bezeichnen, da Vance schlüssig aufzeigt, wie Sprache auf das Denken 170 wirkt, veränderte Sprache verändertes Denken und somit ein erweitertes 171 Vorstel- lungsvermögen bewirkt. Eine neue Sprache, eine neue Welt ... Allein das Beispiel, was gedanklich hinter dem neutralen Begriff ‚ ein erfolgreicher Mann ‘ für einen Krieger, Händler und Techniker stehen wird (was wahrscheinlich trotz des gleichen Wortlautetes bisher sowieso schon der Fall ist), bietet Ansatzpunkte für interessante Überlegungen 172 . Allerdings wurde im Roman nicht differenziert zwischen Händler und Industrialist , kein Unterschied zwischen Verkäufer und Hersteller sprachlich umgesetzt: beide Gruppen sprechen technikant, der Unterschied zwischen geschickter Handwerker und überzeu- gend wirkender Mensch bleibt so gedanklich. Dieser Ansatz - für Vance eine Nebenbe- merkung – wurde in der S.F. u.a. dann im Zyklus Die Kzin-Kriege von Larry Niven als Basis für die gesamte Kultur der katzenartigen Kzin173 entwickelt. Vance variiert dies auch im schon angesprochenen Missverstehen zwischen Buzbek und Beran, als dieser Freund nur mit Waffenbruder übersetzen kann. Die Schilderung der paonesischen Gesellschaft ist typischer Vance-Stil, also äußerst diffizil und detailliert dargelegt, wenn im Vergleich zu Die Mondmotte oder auch Marune: Alastor 933 (1975) etwas flacher, was sicher auch daran liegt, dass neben Pao noch zwei weitere Gesell-

166 Lehre von der dynamischen Linguistik, S. 98, 99; gemäß Aristoteles sind Zeichen Zeichen der Laute und Laute Zeichen der Seele, so bewirken Veränderungen am Zeichencode Veränderungen am Geist 167 Pastiche ist ebenfalls künstlich aber ungeplant und ungezielt 168 vgl. beispielsweise Jaro in Nachtlicht ( 1996) 169 Manipulation der Paoneser durch Sprachmanipulation; „ die Rassen des Universums (...) die spezifische Symbolik, mit der Ihr sie beeinflussen könnt.“ in: Vance 1985, S. 55, 56 und das mäeutische Gespräch von Palafox mit Bustamonte S. 68 „ Worte sind Werkzeuge“. 170 „Die Sprache drückt diesen Wesenszug aus“, in: Die Mondmotte, in: Vance 1979, S. 53 171 angezogen werden durch Fremdheiten im Denken des Fremdsprachigen, Wierlacher 1993, S. 134 172 „ Für die Industrialisten wird es ‚geschickter Handwerker‘ heißen, für die Händler kommt es einem ‚unwiderstehlich überzeugend wirkenden Menschen‘ gleich .“ Vance 1985, S. 69,70 173 Unterscheidung zwischen dominierten , dominierenden Fall, Helden-, Frauen-, Sklavensprache; „die einzige Übersetzung für das Wort ‚Frieden‘, die er hatte, war das Wort aus der Heldensprache , das für ‚Un- terwerfung‘ stand. in: Kingsbury, Donald: Die Trojanische Katze . Die Kzin-Kriege. 2000, S. 73

27 schaften vorgestellt werden, nämlich Breakness 174 und im kleineren Rahmen Bat- march. 175 , und zwei weitere – Merkantil 176 und Vale 177 - erwähnt . Ähnlich wie in Die Mondmotte, Freitzkes Stunde 178 und passend zu Bourdieus Habitus 179 werden Kleidung und Farben als festgelegtes Unterscheidungsmerkmal verwendet, beispielsweise schwarz für den Panarchen 180 ocker und purpur für die Öffentliche Wohlfahrt oder braun und purpur für die Geheimpolizei (ein unscheinbar wirkender Scherz von Vance am Rande). Auch die neuen Stände – Übersetzer-Corps, Industrialisten und Krieger - werden diesbezüglich eingeordnet: graugrüne Uniform mit shwarz-weißem Besatz für die Linguisten (Hauptaufgabe der Kogitanten), rotbraun für die Technikanten und „ kom- pliziert und farbenfroh “ mit persönlichem „Abzeichen auf der Brust und die Insignien der Legion auf dem Rücken “181 für die Valianten. Welchen Wert Vance auf diese Gruppierun- gen bzw. Sprachen in Die Kriegssprachen von Pao legt, ist daran sehen, dass er jeder Sprache personifizierend bzw. in Planeten überspitzt darstellt: Merkantil (lat. mercator , Kaufmann) mit Botschafter Sigil Paniche steht Pate für tech- nikant, Batmarch mitsamt Hetmann Eban Buzbek ist zu überflügelndes Vorbild für vali- ant-Sprecher (engl. valiant gleich mutig, kämpferisch), Breakness ist in zweifacher Hin- sicht gleichzusetzen mit den Kogitanten (lat. cogitant , sie denken) und symbolisiert durch Lord Palafox , breakness bildet die Grundlage für kogitant und das Institut von Breakness die architektonische Vorlage zur paonesischen Denkfabrik in Pon. Pastiche dagegen steht zunächst auch für die Linguisten und somit das spielerische der Intelli- genz-Elite, wird dann aber zur lingua franca und zukünftigen paonesischen, zur allge- meinen Sprache. Interessant ist, dass Valianten und Kogitanten ein einheimisches Ge-

174 die Grundlagen der Sprache breakness (und kogitant) wird erläutert, Vance 1985, S. 69, 72, ebenso das Institut, Arbeitsweisen, die Askese, Einstellung gegenüber Frauen, dem Tabu Alter, Tod, S.64, 171 175 streitende Kriegerclans, auf Oberherrschaft aus, fixiert auf die Schätze ihres Clans : geheiligtes Feuer, Wappenteppich, Trophäen Fetische, Vance 1985, S.13, 37 und 157 176 die klassische Kaufmannskultur, die allen alles liefert, wenn der Preis stimmt und buchstabengetreu Verträge erfüllt, ebd. S. 12-14 und 36 177 „die Welt, wo alle verrückt sind“, ebd., S.56, vgl. auch Der große Teufel in: Vance 1979, S.127-158 178 aus: Bova 1973, S. 154,155 und 160,161, auf denen Vance drei komplette Planeten + Kulturen entwirft, siehe Textauszug in der Anlage 179 „Daher besitzen von allen Unterscheidungen diejenigen das größte Prestige, die am deutlichsten die Stellung in der Sozialstruktur symbolisieren, wie etwa Kleidung, (..) Akzent und (...)Geschmack.“ Bourdieu 1974, S.60 180 „ Dieser Kontrast zwischen dem Habitus des Herrschenden und dem der Beherrschten wurde immer mehr als eine der feldübergreifenden Hauptkonstanten betrachtet“ und rasse-übergreifend, Pinto 1979, S.13 181 Vance 1985 , S.119; die enorme Kodifizierung verdeutlicht auch: S. Paniche fragt bezüglich Palafox: „Wer ist dieser Mann? Ich kenne seine Bekleidung nicht .“ ebd.,S. 15, Berans Reaktion auf Fanchiels Anspielung betr. der freien Kleidungswahl: „ Unsere Bekleidung ist vorgeschrieben und keiner würde eine Tracht tragen, die ihm unbekannt ist, oder eine, die möglicherweise Mißverständisse verursacht .“ S.56

28 sicht verliehen bekommen: Großmarschall Esteban Carbone und Finisterle, die Tech- nikanten bleiben bar jedes paonesischen Repräsentanten. Der Handlungsschwerpunkt dieses Romans liegt insofern auch auf Kampf und trickreiches Planen, was u.a. seine Schwäche ausmacht, da das linguistische Programm nicht konsequent ausgelotet wird. Wie interessant wäre es beispielsweise gewesen, mal eine der Auseinandersetzungen von Technikanten und merkantilen Handelsschiffen zu erleben. Man kann Die Kriegssprachen von Pao als Raumroman 182 begreifen, da die Schauplätze Breakness, Pao und die verschiedenen Aufenthaltsorte Berans nach seiner Rückkehr sinntragende Funktion haben. Enttäuschend ist die schablonenhafte Charakterzeichnung der Hauptfiguren – Bustamonte, der aufbrausende Königsmörder und Meuchelmörder im Stil der ital. Oper, Lord Palafox, gefühlskalter Zaubermeister und Dr. Frankenstein- figur - selbst Beran, der Protagonist, wirkt blass und blutleer, was vermutlich auch an der Perspektive der Figurenzeichnung liegt: Vance verwendet nahezu keine Innensicht des Helden, der point-of-view ist zwar nah am Geschehen, Berans Gedankenwelt wird aber kaum 183 deutlich. Und da der Erzähler sich mit auktorialen Tendenzen zudem meist heraus hält 184 , wird das Eintauchen für den Leser in das Geschehen erschwert. Die Kriegssprachen von Pao zeigen Ansätze des Pikaro-Romans 185 , der Held verliert in seiner Jugend die Eltern, muss sich in der Frem- de durchschlagen, lässt sich treiben, passt sich an und erkennt die wahre Natur der Ge- sellschaft. Die Figur des Beran entwickelt sich kaum im Laufe des Romans 186 ; er zeigt niemals Gefühle angesichts der Tatsache, dass er von seinem Onkel Bustamonte zum Mörder seines Vaters programmiert wurde, was allerdings wohl eher ein Versehen des Autors 187 ist, es wird nicht erklärt, wieso Beran einfach aufgibt, als er von der angeblichen Rück- kehr seiner Geliebten in Lord Palafox‘ Harem erfährt. Was genau nach Berans Ver- ständnis eigentlich für die Pamalisthen -Gesänge geplant war (und Opfer forderte, die Beran überraschten und entsetzen) 188 , wird dem Leser auch nicht nahe gebracht. Hier zeigt sich wie bei Thissell in Die Mondmotte , der wirklich einen Watson gebrauchen könnte, eine Barriere zwischen den Hauptfiguren Vances‘ und dem Leser - das Vorherr- schen von Außensicht, nur abgemildert von seltenen Gedankenäußerungen der Figuren,

182 vgl. W. Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. 1948 und Entstehung und Krise des modernen Romans. 1954 183 beispielsweise Berans Identifikationsgefühl mit Palafox, ebd., S. 75 184 abgesehen z.B. vom Vorwort oder der Vorbemerkung zu Kapitel V, S. 33 und Fußnote S.12 185 abgesehen u.a. davon, dass der Medaillon sicher nicht dem niedrigen Personenkreis angehört 186 der angeblich ‚neue‘ Beran von S. 139 war für mich nicht wirklich nachvollziehbar 187 ebenso wie der logische Fehler, Beran nicht einfach b atch mit Eban Buzbek reden zu lassen, um das sprachliche Mißverständnis zu vermeiden bzw. es nicht zu thematisieren, Vance: Die Kriegssprachen von Pao. 1985, S.147 188 ebd. S. 132, 137

29 reicht nicht für eine gelungene Identifikation aus. Im Sinne des Themas Linguistik fällt erschwerend auf, dass Beran abgesehen von seiner Reaktion bei Ankunft auf Pao 189 und des Schlusses 190 nicht einmal vom Erlernen der neuen Sprachen verändert wird, was doch gerade Hauptaussage des Romans ist. Möglicherweise sind Vance‘ Charaktere häufig so passiv und flach, weil sie für Vance eigentlich nur das Medium, als leere Stel- le zwischen Leser und entworfener Gesellschaft darstellen: Beran war nie richtig ganz paonesisch (für sich selbst und für den Leser), da sein Leben als literarische Figur erst beginnt, als er schon unter der Mordauftragskontrolle seines Onkels steht, was erklärt, wieso er in der ersten Leseerfahrung für mich wie ein Kind wirkte. Er war natürlich nie richtig breakness, dafür ist er doch zu sehr Paonese. Beran ist – wie letztendlich wohl ganz Pao sein wird, wenn auch nicht gleich nach den genannten zwanzig Jahren - pasti- che 191 , was im Grunde die moderne, westliche Mentalität ausmacht und so ihn wie den Leser zum geeigneten Beobachter der Gesellschaften macht 192 . In einer möglichen Überinterpretierung möchte ich erwähnen, dass Farblosigkeit und Passivität der Figur Beran allerdings typisch paonesisch wäre 193 . Im großen und ganzen wirkte Die Kriegssprachen von Pao auf mich durch die Be- schreibungen der wichtigen Hintergründe und Geschehnisse streckenweise wie die Skizzierung eines Romans; der eigentliche Romananfang ist szenisch, fast schon in medias res , was natürlich auch bei Romanen ein möglicher Einstieg ist, verweist aber auf die Tatsache, dass Vance Stärken eher bei Kurzgeschichten liegt. All die Stellen, an denen man mehr über Berans Innenleben wissen, ein wenig mehr Beschreibung seines Alltags vor dem Mord am Vater erhalten möchte, erscheinen unfertig und zu kurz für einen Roman (obwohl er es die Seitenzahl betreffend nicht ist) ein wenig mehr showing statt telling 194 , hätte gut getan, was natürlich eine Wertung meinerseits ist. Meine Lese- erwartung verlangt wesentlich mehr an Psychologie des Helden, der hier kein echter

189 dem unpaonesischen Mitleid Berans mit den Massen, verursacht durch seine Beherrschung des individu- alistischen breakness, welches keine Passiv- und Ich-Form aufweist. ebd., S. 103 190 Palafox hatte breakness gesprochen, Beran sprach pastiche. ebd., S. 186 191 Ich bin entwurzelt, zusammengeflickt; ich bin Pastiche. Berans Ankunft auf Pao, S. 109, vgl. zudem, dass pastiche zwar wegen seiner Funktion als Sprache des Dienens im Roman bezeichnet wird, aber als ein Mix aus paonesisch, valiant, technikant, kogitant, mercantil und batch – und somit aus Eigenschaften, die z.gr. Teil den ursprünglichen Paonesern fehlen und in der Gesamtheit die durchschnittliche menschliche Mentalitätspalette abdeckt - dürfte pastiche kriegerische, merkantile, passive wie aktive und intellektuelle Anteile aufweisen. 192 „ Wenn, dann ist es mit Bestimmtheit ein Mensch wie ich, weder aus Pao noch aus Breakness, der Ver- gleiche anstellen kann.“ ebd., S. 80 193 passiv, phlegmatisch, erduldend, unempfindlich gegenüber menschlichem Leid; ebd., S.5, 34, 47, 133 und 134 194 berichtende Erzählung und szenische Darstellung in: Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans. 1993, S.12

30 Sympathieträger sein kann, und so tue ich Jack Vance wahrscheinlich unrecht. Aller- dings kann – ohne größere Ablenkung durch eventuelles Mitleiden mit Beran und durch zu verwickelte Handlungen – die Kultur von Pao und die Idee der sprachlichen Mentali- tätsmanipulation viel direkter wirken. Insofern erinnert mich dieser Roman an die Uto- pien und Staatsromane, in denen die beschriebene Gesellschaft ebenfalls wichtiger war als das Handeln oder Gedanken der Berichterstatter. Da das linguistische Gedankenspiel im Roman einen so großen Platz einnimmt, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass die Gegenposition zur Sprache-gleich-Gedankenformung- Theorie 195 ebenfalls von Vance angesprochen wird, allerdings durch die Figur des Vali- anten-Marschalls, der eher geringe Sympathien des Lesers besitzen dürfte: Was ist schon eine Sprache, wenn nicht eine Folge von Wörtern ?196 Das Problem - Was war zuerst da: die Sprache oder das Verhalten? 197 ; wieviel Identität, wieviel Ich ist variabel? 198 - bleibt als interessante abschließende Erfahrung des Lesers. Vance verwendet in diesem Roman höchst interessante Wort- und Namensschöpfungen: Panarch mit Anklängen an Monarch und Pan (der Allesbeherrscher), die Titel Ayudor und Medaillon erinnern an Dauphin und prince (Bruder des jew. frz. Königs), die an- fangs genannte arkadische Zuflucht des Panarchen Pergolai an Pergola, was durchaus treffend erscheint. Der Großmarschall Esteban Carbone könnte mit dem Namen aus einem Mafia-Film stammen, Ercole Paraio , der Aliasname Berans, erinnert schwach an parat, an vorbereiten, und der Nachname an école - Schule, vermutlich beides von mir übertrieben assoziiert, aber für einen ja Autor möglich ist. Breakness ( break ) wurde möglicherweise wegen der Bedeutung master und Tagesanbruch verwendet, wovon letzteres zumindest zur Beschreibung des Planeten passen würde 199 . Das verwendete Wort für die Mischsprache der Linguisten – pastiche - ist ein schöner Begriff aus der Musik und steht dort für ein aus mehreren alten Opern zusammengesetztes Musikstück, was natürlich Vance‘ Auffassung von Musik als Sprache (in Die Mondmotte ) und seine Liebe zur Musik darüber hinaus hervorragend belegt. Zur Übersetzung kann ich nicht so viel sagen, da mir bei diesem Roman nur eine Versi- on vorlag. Allerdings – durch die Möglichkeit des Vergleich mit dem Originalwortlaut – fiel mir immerhin auf, dass das deutsche ‚ Lehrmeister ‘ im Vance‘ Text dominie lautet, für Oberlehrmeister high dominie , eine ganz eigene Wortschöpfung, die natürlich weni-

195 „ Man kann aber nicht ohne Wörter denken. (...) Dann versuch mal, mit Wörtern einen Ball zu fangen. Du meinst vielmehr: Wörter ermöglichen die Kommunikation.“ und „Aber wir Menschen sind nicht von dem Gedanken abzubringen, daß es unsere Sprache ist, die uns menschlich macht .“ Kingsbury 2000, S. 296, 305 196 Vance 1985, S. 190, dem der Hekateaner aus: Der Gnadenstoß in: Vance 1979, S.278 sicher zugestimmt hätte. 197 ebd., S. 57 198 „ Würde das heißen, daß ich wie Ihr werde?“ ebd., S. 57 und „ Werden sie echte Paonesen sein?“ ebd., S. 80

31 ger wie in der deutschen Version die Tätigkeit der Breakness-Männer als die Funktion als Herren betont.

6. Draußen und Drinnen 6.1.Von Vance zur Vance‘ Geschichte Wenn es auch zum Teil schon angesprochen wurde, möchte ich mich doch noch genau- er der Frage widmen, wieviel von Vance und Vance‘ Habitus nun in seine Geschichten eingeflossen ist. Nun, ersteinmal hat Vance Die Mondmotte und Die Kriegssprachen von Pao selbst geschrieben 200 , er hat sie nicht abgeschrieben, nicht zusammenkopiert oder irgendwo gehört. Soweit so gut. Es dürfte sich also bei beiden Texten um Vance‘ Worte und Sätze handeln, auch ein Teil der Absatzgestaltung stammt wohl von ihm – abgesehen von Lektoratsarbeiten des Verlages, was wir vernachlässigen können. Er hat die Geschichten erfunden, sich ausgedacht, Personen und Handlungen nebst Details gefunden, kreiert und kombiniert. Vance tritt - in der Nachfolge einer langen Tradition – nicht selbst als Erzähler auf, er verfasst keine Autobiographie und schreibt kein Sachbuch. Er erzählt eine Geschichte, entwirft als absoluter Schöpfer seine Welt zwischen Buchdeckeln, insofern ist alles in beiden Geschichten von Vance. Auch wenn wir jetzt nicht auf die Bourdieu’sche Frage: Wer hat denn die Schöpfer geschaffen? 201 eingehen wollen, indem wir aber alles, was von Vance im Werk ist, auf die Prägung, Sozialisation und Erfah- rungen Vance‘ zurück führen und so den Autor gänzlich aus dem Werk schmeißen, möchte ich folgendes ansprechen. Der Autor mag innerhalb eines bestimmten Kontextes und mit einer gezielten Absicht 202 geschrieben haben, aber das ist nach der Veröffentli- chung 203 eine zwar hinreichend interessante Feststellung, nicht aber notwendiges Vor- wissen für das geschriebene Werk (und wenn, ist dieses nicht mehr direkt zugänglich für den normalen Leser). Hiermit wäre der eigene Wert des geschriebenen Textes, der einmal erzählten Geschichte erreicht. Insofern hat jeder Leser das Recht, die Worte des Textes aufzufassen, wie er sie versteht. Dennoch ist dieses Verstehen natürlich nicht beliebig; der Autor projiziert sich normalerweise seine potentiellen Leser, Autor und Leser teilen zumindest anfangs die gleiche Gegenwart, häufig die gleiche Gesellschaft, so dasselbe Alltagswissen und gleiche Erwartungen 204 . Diese Determination des Textes ist allerdings nicht zwingend oder eindimensional 205 : Der Autor hat mittels seiner Phan-

199 grauer Himmel, kleine blasse Sonne. ebd. ,S. 50 200 er ist Autor des Textes , Weimar 1993, § 228 Anmerkung 201 in: Soziologische Fragen. 1993 202 der Intentionale Irrtum: nicht, was Autor wollte, sondern was er getan hat, ist entscheidend 203 der Autor ist jetzt nur noch Autor des Textes, nicht mehr Autor im Text , ebd. 204 der Lektürevertrag, Bourdieu 2001, S. 504 205 Brechungen, siehe Punkt 3.3.

32 tasie die Möglichkeit, sich in seinem Werk frei zu entfalten 206 , wenn auch diese Zwang- losigkeit nicht so absolut ist. Seine Meinung äußert er sowieso nicht direkt, das wäre keine Literatur, keine Kunst 207 . Ein zu direktes Herstellen von Beziehungen zwischen Autor und Geschehnissen, Figu- ren im Werk ist naiv, Vance wehrt derartige Gleichsetzungen in seinen Interviews grundsätzlich ab. Sklaverei in seinen Büchern beispielsweise als Ausfluß der U.S.- amerikanischen herzuleiten, verneint er, es hat nichts mit Amerika zu tun, sondern mit der menschlichen Rasse. 208 Allerdings gibt Vance zu, dass er alle Leute, die ich getroffen habe, sei es hier in den Staaten oder sonst wo, vielleicht verwendet habe, um mir bei den Geschichten zu helfen. 209 Ein Autor erschafft seine künstl(er)ische Welt ja nicht ex nihilo 210 . Es ist zu unterschei- den zwischen der Meinung des Textes , der Absicht des Schreibens und der Form des Schreibens 211 Gerade letzteres ist stark abhängig vom gewählten Genre 212 , dessen Tradi- tionen und Lesererwartungen; die S.F. ist eine der wenigen Gattungen der Neuzeit, die noch stark konturiert sind 213 . Die Variationsbreite und die Freiheit der Gestaltung der Geschichte ist dennoch groß. Vance achtet nach eigenen Worten auf neutrale Adjektive , man sollte sie meiden, wo es nur möglich ist , das Geschehnis soll ohne (...) zu kommentieren 214 präsentiert werden. Vance steht so in der Tradition der modernen Literatur (die aukto- riale Wertungen ablehnt) und besonders in der Realismus-Forderung der S.F., wird doch durch das (angebl.) Ausschalten des Auktorialen Objektivität gewahrt. Intentionen tre- ten bei Vance so nicht eindeutig und klar hervor, er schreibt keine Tendenz-Literatur. Augenscheinlich ist seine Bevorzugung maritimer, handwerklicher 215 und musikalischer Gesellschaften und Details. Sein Hausboot und die Musik in Die Mondmotte , seine Vor-

206 „ eben deshalb liebe ich die Kunst (...) Schreiben setzt alle Determinierungen, alle grundlegenden Zwän- ge und Beschränkungen des gesellschaftlichen Daseins außer Kraft . Flaubert an G. Sand in: Bourdieu 2001, S. 57-58, vgl. auch Punkt 3.3.1. 207 der Autor „ vollzieht eine symbolische Handlung“ , indem er mit einem verhüllten, gar verschlüsselten Werk eine bestimmte Wirkung erzielen will, die seiner Intention entspricht, Schutte, Jürgen: Einführung in die Literaturinterpretation. 1997, S. 45 208 Interview Nr. 3, S.9 209 Interview Nr.1., S.36 210 „ nicht nur die gesellschaftliche Realität als Vorwurf. Ausgangspunkt und intentionaler Zielpunkt ist vielmehr die gesamte Wirklichkeit- für den Künstler zumal nicht zu geringen Teilen aus seiner literarischen und allgemein kulturellen ‚Bildung‘ bestehend.“ Zerbst 1984, S.121 211 Weimar 1993, § 354 212 Gattungszwang siehe Pinto 1997, S. 18 213 Gattungsprimat, U. Suerbaum in: Esselborn 2000, S. 20 214 Interview Nr. 1, S.14

33 liebe für Sprache 216 in Die Kriegssprachen von Pao . Sein Interesse für Architektur, sei- ne Liebe zum Maurer-Handwerk und Zimmern steht bei ihm im Dienst des settings , der Atmosphäre seiner Werke: Die Seele eines Volkes spiegelt sich in seiner Architektur wieder 217 , was Bourdieu ebenso sieht, als er Erwin Panofsky als Ahnherr einer Rhetorik der Archi- tektur nennt 218 . Vance gesamtes Werk zeigt als Hauptthema die Gesellschaft und Kultur, beide in dieser Hausarbeit besprochenen Welten sind ein gutes Beispiel dafür, aber auch Nachtlicht (mit seiner Wortschöpfung Betragung , was ein Bourdieu’scher Terminus für Habitus sein könnte) oder die Beschreibung der Wittemond-Gesellschaft 219 sind exem- plarisch. Letztere ebenso wie die lexikalische Vorbemerkung zu Kapitel V in Die Kriegssprachen demonstrieren seine Vorliebe für die Soziologie, auch wenn er gezielte Gesellschaftsplanungen verneint, sowie Pierre Bourdieu und Norbert Elias nach Worten seines Sohnes nicht kennt 220 , was auch angesichts der Erstveröffentlichung ( Freitzkes Stunde 1977, Die Mondmotte 1961 und Die Kriegssprachen 1958) auch keine direkte Rolle spielt. Als grundsätzliche Intention Vance‘ kann man demnach das Aufzeigen von Alternativen zur Gegenwart formulieren, - was Vance‘ Figur Fanchiel korrekt ‚ verglei- chende Kulturwissenschaft ‘221 nennt – nebst die Aufdeckung 222 der wahren Zusammen- hänge, ganz abgesehen vom Unterhaltungswert, vom Vergnügen der Leser und deren Portemonnaie 223 . Wieviel Bourdieu ( bzw. seiner Theorie) ist nun darüber hinaus in beiden vorliegenden Texten? Viel. Vance liefert mit Sirene, Pao 224 und Wittemond 225 geradezu Paradebei- spiele für Gesellschaften, die durch soziales und symbolisches Kapital bestimmt wer- den.

215 „ Mercantile, (...), seinem Wesen nach ebenso ein Stadtmensch, wie die Paonesen Menschen der Scholle und des Meeres waren“. Vance 1985 , S. 11, wobei dieser Gegensatz durchaus auch literarischer Topos ist. 216 Studienfächer Englisch, Geschichte, Journalismus, vgl. Interview 2, S. 7 217 Freitzkes Stunde in: Vance: Der Galaktische Spürhund. 1983, S. 160 218 Bourdieu 1974, S. 136-37 219 Vance 1983, S. 155 220 vgl. Interview Nr. 1, S. 2, 2, 36, 44 und e-mail-Kontakt mit John Vance; die Wittemond-Schilderung stammt von 1977 221 Vance 1985, S. 55 222 „Ich hoffe, zum gleichen Ergebnis durch kulturelle Analysen zu kommen. Magnus Ridolph, Der Gna- denstoß in: Die besten Stories von Jack Vance 1979, S. 263 223 Interview Nr. 1, S. 21 224 Vance bezeichnet „ Sprachen und grundlegenden Bedürfnisse “ als „ spezifische Symbolik, mit der Ihr sie beeinflussen könnt “, Einweisung der Linguisten in: Vance 1985, S. 55 225 in der Beschreibung nennt Vance die Teilnahme der Gesellschaftsmitglieder wie Bourdieu auch ein „kompliziertes Spiel “, vgl.Bourdieu 1987 u. 2001, Punkt 3.4., illusio . Freitzkes Stunde 1983, S. 155

34 6.2. Aus der Realität (Faktion) zur konzeptierten Welt (Fiktion) Die Dichtkunst scheint dem Verstand aller derer gefährlich zu sein, die nicht im Besitze des Gegenmittels sind, nämlich der Erkenntnis der wirklichen Welt. Plato. Der Staat.

6.2.1. Dichter lügen nicht Den Lügenvorwurf muss sich Literatur schon lange gefallen lassen; darauf hin entwi- ckelte die mainstream-Literatur die Strategie, objektiv, positivistisch und realistisch zu sein (Realismus, Rhetorik der Wahrscheinlichkeiten, Überzeugungskraft, der Ich- Erzähler 226 ) und die S.F.-Literatur wagt es permanent, diese Strategie der zu torpedie- ren, indem sie sich weigert, Welten abzubilden, realistisch in diesem Sinne zu sein. So könnte man es jedenfalls etwas übertrieben formulieren. Dieser Punkt verweist in gewisser Hinsicht auf die Gattungsbestimmung. Anfangs un- terschied ich zwischen pragmatischer und fiktionaler Literatur. Dies ist zu vereinfa- chend. Wahrheit und Lüge haben die gleiche grammatische Form, 227 dies gilt auch für literarische Sätze (mal abgesehen von Poesie). Und dass der eine Text eine pragmatische, der andere eine literarische Absicht hat, ist zwar wichtig – nicht aber entscheidend als Literaturkriterium, denn das kann sich ändern. Die Frage, was in wel- chem System als Literatur funktioniert, dafür erklärt wird, führt im Extremfall zum Re- lativismus: alles aus Buchstaben, sogar alles was ‚aussagen, bezeichnen, zeigen‘ will, wäre Literatur. Dies mag ja sogar seine Berechtigung haben, führt aber viel zu weit. Literatur ist, wenn es um erfundene Geschichten, erdachte Figuren geht. Dazu muss man den schon verwendeten Begriff ‚ fiktional‘ zu fiktiv und fingiert abgrenzen: - fingiert ist eine Tatsache, wenn sie in betrügerischer Absicht vorgetäuscht wird, hier trifft der Lügenvorwurf. - fiktiv ist ein Gegenstand, wenn er ausdrücklich als Konstrukt, als Gedankenspiel eingeführt wird, wie es beispielsweise in Sachbüchern oder auch Gesetzesbüchern (der Durchschnitts-bürger etc.) vorkommt. Eine fingierte Person 228 wäre z.B. ein Zeuge, der mit falschen Namen und fingierten Lebenslauf untergetaucht ist. Oliver Twist wäre ein fiktionale Person, ebenso Napoleon in einem Roman, wobei beispielsweise die Literaturwissenschaftler darüber streiten, ob es Homer wirklich gegeben hat und er nicht etwa ein Etikett für mehrere Überliefe- rungstränge und somit fiktiv wäre.

226 Stanzel 1993, S. 29; später auch gerade als subjektiv-psychologische Perspektive 227 Weimar 1993, § 258 Anmerkung 228 die Ich-Erzählung ist gemäß K. Hamburger: Die Logik der Dichtung. 1987 eine „fingierte Wirklich- keitsaussage“.

35 Ein Roman kann nun von real-existierenden (Historischer Roman) oder nicht-existenten Personen, Geschehnissen und Dingen handeln, mehr oder weniger plausibel 229 sein, poetischer oder ‚journalistischer‘ sein, und wäre dennoch ein Roman, was an Lesehal- tung und Autorensignalen 230 deutlich würde. Fiktiv (lat. fictio , etymologisch verwandt mit figura ) muss an einem Text genau eine Sache sein, damit er eindeutig Literatur ist: die literarischen Personen 231 in ihm. Entsprechend der Einschätzung der Fiktionalitäts- signale 232 des Textes durch den Leser (was gelernt, was symbolisches Kapital 233 werden muss) erzeugt dieser in Komplizenschaft mit dem Autor, dem gesamten Literarischen Feld ein eigenes Sprachspiel, eine eigene Realität 234 . Dabei entsteht als Funktion 235 von Leser und Text ‚das Imaginäre‘.

6.2.2. Oft ist die Literatur wirklicher als die Realität Die Vorstellungskraft ist keine (...) zusätzliche Fähigkeit des Bewußtsein, sie ist das ganze Bewußtsein. J.-P. Sartre. Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Imagination also, die Realität wird nur mittelbar zur Wirklichkeit 236 , die sprachliche Fassung des Wahrgenommen ist entscheidend, ist doch jede Sprache schon konventio- nalisierte Welt-Erfahrung. Wenn Menschen unterschiedliche Sprachen sprechen, arbeitet ihr Verstand unterschied- lich und sie handeln unterschiedlich. In einem noch weiter gefaßten Bezugsrahmen stellen wir fest, daß jede Sprache dem Bewußtsein ein bestimmtes Weltbild aufdrängt. 237 Natürlich ist Wahrnehmung nicht gleich Wahrnehmung, man imaginiert konkrete reale Dinge (Erinnerung, direkte Anschauung), zukünftiges Reales, erwartbar oder erwünscht, und Wunsch nebst reiner Phantasievorstellung (un)möglicher Welten. Die Sprache als Abbild 238 der Welt zu verstehen, ist eine Theorie 239 , dass Sprache die Wahrnehmung der Welt erst ermöglicht, eine andere. Dass gerade das - die Welt als Bild durch die Spra-

229 Unrealitätsgrade, siehe Zerbst 1993, S.103 230 ebd., § 28, 60, 168, 170 231 ebd., § 173 und alles wird zum Wort, zur Textperson § 250 232 episches Präteritum oder Buchdeckel beispielsweise, auch Autorennamen-Unterschied zu dem des Er- zählers 233 und als literarisches Verhalten geübt Zerbst 1984, S. 17 234 linguistisch mental spaces (G. Fauconnier), Zerbst 1984, S. 95, siehe auch Virtualität 235 ebd., S. 104 236 Zerbst 1984, S. 66; Wirklichkeit ist die „ Realität in der Erfahrung“, „Wir sehen mit unseren Beinen .“ Baudrillard, J.: Philosophie der Neuen Technologien. 1981, S. 36 und der Mensch ist imme r „einer standortgebundenen Perspektive unterworfen.“ S. 67 237 Finisterle in: Vance 1985, S. 98 und 99 238 Medien im Unterschied zur Kunst:„Abbildung muss vom Gegenstand selbst hervorgebracht sein“, Baudrillard 1981, S.69 239 griech. Mimesis, lat. imitatio; Kriterien sind Anschauulichkeit, Wahrscheinlichkeit, Glaubhaftigkeit, probabile

36 che 240 - bei Literatur besonders zum Tragen kommt, verweist wieder auf die didaktische Funktion gerade der S.F. Als realistisch werden Geschichten empfunden, die mit der Leseerwartung, d.h. mit dem Allgemeinwissen übereinstimmt. Dieses Alltagswissen 241 , welches neben den Kenntnissen auch die Werte, kulturellen Vorstellungen und typische Rollenerwartungen 242 enthält, ist nun der Maßstab 243 für das Verständnis von Literatur, denn selbst die literarische Realität des Textes muss eine minimale Wahrscheinlich- und Glaubwürdigkeit aufweisen, den Glaubenseffekt, dieser, den der literarische Text erzeugt, beruht (...) auf dem Zusammenhang zwischen den von ihm gesetzten Vorannahmen und jenen, die wir in der Alltagserfahrung der Welt ein- setzen 244 , macht alles in der Fiktion wahr, authentisch. Der Text wird je nach Gattungskonvention mehr oder weniger unter dem Gesichtspunkt des Fiktionalitätskontraktes, also pseudo - pragmatisch gelesen, als ob die Geschichte real 245 wäre, was genau das Vergnügen aus- machen kann. Der Zauber des literarischen Werkes gründet gewiß zu einem Großteil darin, daß es von ernsten Dingen spricht, ohne (...) zu verlangen, daß man es vollkommen ernst nimmt. 246 Die Leerstellen, das Angedeutete wird dabei aus der Lebenswelt, den Alltagskenntnis- sen des Lesers aufgefüllt. Diese Lesekompetenz kann dazu führen, dass aus Fiktion Illusion wird und damit zeitweise ununterscheidbar von der Realität. Diese - wenn ge- plant – bekommt die Qualität einer Simulation, Fiktion kann so ein großes Feld für geis- tige Übungen bieten, birgt aber auch die Gefahr von eskapistischer Tendenzen, bei- spielsweise die Figur des Frédéric in Erziehung des Herzens, der fast lebensuntauglich wird durch das Verhaftet sein an der Fiktion in der Fiktion: Frédéric liebt in Madame Arnoux jene , die den Frauen aus den romantischen Büchern gleicht 247 . Dennoch ist es der Literatur möglich, Welten zu erschaffen, die weniger realistisch zu sein brauchen, allein Plausibilität 248 innerhalb der erzählten Welt ist wichtig, sodass diese dann dem Leser häufig ‚realer‘, echter und normaler vorkommen kann als die in moderner Zeit immer unvorhersehbare und undurchschaubare Welt.

240 Sprache repräsentiert nicht die Welt, auch nicht die fiktive, sie „ evoziert “ sie. Zerbst 1984, S. 113 241 Alltagswissen hat Entlastungsfunktion, Zerbst 1984, S. 38; bei Fremdheit im zeitlichen, räumlichen, kulturellen Sinne geringeres, dies trifft auf S.F. in noch weit größerem Maße zu. 242 „dass gerade die anonymsten Typen uns ‚bekannter‘ erscheinen“, ebd. S. 40; diese „Inseln der Ver- trautheit“, Wierlacher 1993. S. 89 243 „ die Realität, an der wir alle Fiktion messen, lediglich der anerkannte Referent einer (nahezu) univer- sell geteilten Illusion“, Bourdieu 2001, S.69 244 ebd., S.66 Anmerkung 126, Zerbst 1984, S. 116 und 147 245 oder zumindest mit den Erwartungen und Leseerfahrung übereinstimmt, wenn nicht, ist große Sympa- thiewilligkeit durch den Leser, vgl. Stanzel 1993 246 Bourdieu 2001, S. 68 247 ebd., S. 55 und 518 248 laut Aristoteles ist das Mögliche den ewigen, wahren Ideen näher als die einzelne empirische Sache

37 7. Resümee Die wahrhaft philosophischen Schriftsteller erfinden das Wahre, mittels der Analogie. Honoré de Balzac Bei jeder Art der Interpretation ist der Interpret, der Dolmetscher immer in der Gefahr eines, der im Spiegelkabinett steht und nicht weiß: was mir entgegenkommt - bin ich’s, ist’s der Text, ist’s der Autor? 249 , weswegen man idealerweise nicht allein interpretieren sollte und es keine allein selig machende Interpretation gibt. Man sollte u.a. deswegen Literatur nicht ausschließlich als Medium für Botschaften und Intentionen mißverstehen, die Analyse der Absichten und Möglichkeiten der S.F. wer- den sowieso derzeit nicht oft verwirklicht, wie bei anderer Literatur übrigens auch. Unsere Methode darf freilich die Literatur nicht zum historischen Material, zum Beleg für soziologische Thesen umfunktionieren 250 , muss sich dem Risiko, zuviel hinein zu lesen, die Soziologie ins Werk erst hinein zu tragen 251 , stellen. Andererseits bietet gerade die Literatur einen solchen Fundus an Ma- terial und Möglichkeiten für den Soziologen, dass es wissenschaftlich unhaltbar wäre, dies nicht zu untersuchen, nur um die Störung des schönen Scheins, der illusio zu ver- meiden 252 . Zur ‚Ehrenrettung‘ des besonderen Status der Literatur sei anzumerken, dass diese soziologische Analyse literarischer Werke die Kunst des Autors nicht abwerten, ihn nicht auf ein unbewusstes Instrument des gesellschaftlichen Kontextes reduzieren will. Die Ausgangslage des Soziologen ist vollkommen mit der des Autors kompatibel 253 , Soziologie ist längst im Werk vorhanden 254 . Die konkreten literarischen Werke sind dabei einzelne Exemplifizierungen, (...) gewissermaßen Stichproben der wirklichen Welt .255 Bei Vance wird dies gerade auch an seinem Duktus des Wissenschaftlers, des Soziolo- gen 256 (Fußnoten, Lexika-Einträge) deutlich.

249 siehe Weimar 1993, Anmerkung zu § 338 250 Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. 1979, S. 85, 86; auch „ Es sei der Soziologe selbst, der“ Flau- bert zum Soziologen macht. Bourdieu 2001, S. 19; dagegen ist nach Zerbst „Literatur nicht nur integraler Be- standteil sondern für Soziologie auch wesentliches Informationsmaterial“, Zerbst 1984, S. 128; vgl. Elias 1993, S. 295 u.1997, S. 67-69 251 Pinto 1997, S. 25 252 „die soziologische Lektüre bricht den Zauber, (...) offenbart sie die Wahrheit, die der Text zwar äußerst, aber auf eine sie wieder nicht äußernde Weise“ Bourdieu 2001, S. 67 253 Pinto 1997, S. 25 254 nach Suvin war beispielsweise H.G. Wells in seinem Werk „auf der Suche nach der dritten gesellschaft- lichen Kraft“, Suvin 1979, S.304 255 Bourdieu 2001, S. 518 256 z.B. Adam Ostwalds ‚ Die menschliche Gesellschaft‘ in: Vance 1985, S.33

38 Die Frage dieser Hausarbeit lautete, ob Soziologie ein S.F.-Generator sein kann: Ich denke, dies gezeigt zu haben, liefert Soziologie doch erstens viel Material für das Set- ting , die Gestaltung der Romanhintergründe 257 , zweitens ermöglicht sie dem Autor, Alternativen zu den Selbstverständlichkeiten zu sehen, ja diese erst zu erkennen und über die Anthropologie, Xenologie und Ethnologie neue, fremdartig (erscheinende) Gesellschaften zu entwerfen, teilweise durch Überspitzung oder Umkehrung bestehen- der Verhältnisse 258 . Durch die Soziologie kann man den Autor und auch seine Vorge- hensweise - S.F. als Soziologie-Generator 259 – besser verstehen, zudem erkennt sie die ‚Inseln der Vertrautheit ‘260 in den fremden Welten der S.F. So ist Soziologie ein geeig- netes, scharfes Instrument für die Analyse des literarischen Produkts. Die Literatur ge- nerell, speziell S.F. funktioniert als ein Sensor , ein Analysator der Gesellschaft. Letzt- endlich soll nicht vergessen sein, dass Bourdieu ja seine Vorstellung vom Literarische Feld erst an einem Roman entwickelt hat 261 . Vance‘ Werke kann man als literarische Verkörperungen, als Schulbeispiel für Bourdieus Theorien ansehen: des symbolischen Kapitals Sprache und Ehre. Somit dürfte die didaktische Funktion 262 von S.F.-Literatur (insbesondere der Welten von Jack Vance) enorm sein.

Gesellt sich Bourdieus Theorie nun zum allgemeinen Methodenpluralismus der Inter- pretations-möglichkeiten? Hat die Soziologie der Literatur mehr als nur ‚Literatensozio- logie‘ zu geben? Sofern man das bourdieu’sche Instrumentarium nicht allein unter Bezug auf das Litera- rische Feld anwendet, stellt dies tatsächlich einen neuen Interpretationsansatz dar, gera- de für die S.F., die viel zu oft nur unter inhaltlichen, zu wenig unter literarischen Ge- sichtspunkten untersucht wird. Aber halt, ist denn die verwendete Methode nicht gerade eine auf das Inhaltliche abzielende? Sicher, sie geht nicht direkt auf literarische Katego- rien wie Perspektive, point-of-view oder Metaphernverwendung ein, allerdings beschäf- tigt sie sich ausdrücklich mit der gewählten Struktur der entworfenen Gesellschaft des jeweiligen Werks, der Fiktion. Dies spielt aus Sicht des Autors – und so auch des Interpreten – eine grundlegende Rol- le für die literarische Wirkung und Qualität.

257 siehe z.B. die Homologie von geographischer Positionierung und gesellschaftlicher Stellung, Bourdieu 2001, S.75 258 z.B. Nahrungsaufnahme oder Ausscheidungen, vgl. den „Etikette-Schirm“ in Vance: Alastor-Triologie. 259 ebenso societas-Kreation 260 vgl. Wierlacher 1993 261 siehe auch seine Behandlung von W. Faulkners: Rose für Emily. in: Bourdieu 2001, S. 503 262 sachlich für Soziologen, die Formel der Gesellschaft (Suvin 1979, S. 107) zu finden; allgemein für die Einübung von Toleranz: wie fremd erscheinen Menschen des Mittelalters, Aborigines, Chinesen, Berber etc., wenn man echte Aliens kennen gelernt hat?

39 Und ich denke, gerade dies geht bei herkömmlichen Analysen im Spannungsfeld zwi- schen Inhalt und Form häufig verloren. Jack Vance mit sprichtwörtlichen Werken wie Weltraum-Oper, Kaleidoskop der Welten, Weltersinner hat besseres verdient.

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Anhang

41 Literaturliste

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