Cinéma Beur Versus Cinéma De Banlieue 108 2
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Inhalt I. Einleitung 9 1. Ein neues Genre 9 2. Genrebegriffe 16 Exkurs: Prototypensemantik 20 3. Produktion und Rezeption 25 4. Genre beur 29 5. Interkulturelle Intertextualität – Vorbilder des cinéma 40 beur 1. Großbritannien 42 2. Deutschland 45 3. USA 50 II. Die Entwicklung des genre beur 57 III. Le thé au harem d’Archimède 67 1. „[...] a much needed personal exorcism“? 67 Synopsis 71 2. Original und Kopie 72 1. Peripherie und Zentrum 72 2. Interkulturelle Kinderbetreuung 76 3. Rassismus und seine kreative Nutzung 81 4. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft 87 5. Und wieder Truffaut 92 3. Prototypische Elemente 96 IV. La haine 99 1. Mathieu Kassovitz – Auf dem Weg nach Hollywood 99 2. Dekonstruktion von Stereotypen - Métisse 102 Synopsis 107 3. Die banlieue als mediales Konstrukt – La haine 108 1. Cinéma beur versus Cinéma de banlieue 108 2. Realität und Fiktion der banlieue 112 3. Die Vorstadt als Zoo 116 4. „Beurz ’n the Hood“? 121 5. Mediale Einflüsse und identitäre Entwicklung 127 4. Kritik am genre beur? 133 Inhalt V. L’autre côté de la mer 137 1. Engagiertes Kino 137 Synopsis 140 2. Die Konstruktion nationaler Zugehörigkeit und 142 Identität 1. Gaouris à vie 142 2. Probleme der Perspektive 147 3. Südfrankreich als Ort des métissage 151 3. Perspektivenwechsel 154 VI. Bye-bye 157 1. „Marseille c’est une ville à l’intersection“ 157 Synopsis 159 2. Kultureller und intertextueller Métissage 161 1. Topographische und kategoriale Schwierigkeiten 161 2. Das Meer als Projektionsfläche 164 3. „Beur pourri“ 173 4. Die Mean Streets von Marseille 180 5. Spanien – „à mi-chemin“ 186 3. Variationen und Parallelen 190 VII. Salut cousin! 191 1. Zwischen Algerien und Frankreich 191 Synopsis 193 2. Dichtung und Wahrheit 195 1. Mythomanie und medial induzierte Vorurteile 195 2. Immer in Bewegung 204 3. Der Koffer – Original und Kopie ? 210 4. Nachbarschaftshilfe 215 5. „Lafontaine ne m’a pas mis dans sa fable“ 217 6. „Les princes de la ville“ 219 3. Zunehmende Selbstreflexivität 222 VIII. Nés quelque part 223 1. „Cher pays de mon enfance“? 223 Synopsis 230 2. Enttäuschte Erwartungen 231 1. Vorstadtrambos 231 2. Im Dschungel der Vorstadt 233 3. Verständigungsschwierigkeiten 237 6 Inhalt 4. Jazz, Rap und Handicap 240 3. Reduktion von Vielfalt 246 XI. Genre beur 255 Bibliographie 263 7 I. Einleitung Métissage! destruction de vingt siècles, Poulet! rien d’autre! faite pour! créée pour! chaque création porte en elle-même, avec elle, avec sa naissance, sa propre fin, son assassinat! (Louis-Ferdinand Céline1) 1. Ein neues Genre Als im März 2005 wie jedes Jahr mit den Césars die wichtigsten französi- schen Filmpreise vergeben werden, erlebt das Publikum eine Überraschung. Obwohl große Produktionen bekannter Regisseure wie Jean-Pierre Jeunets Mathilde und Christophe Barratiers Les choristes mit zahlreichen Nominie- rungen glänzen, gehen schließlich alle wichtigen Preise – für den besten Film, die beste Regie und das beste Drehbuch – an den bis dahin eher unbe- kannten Regisseur Abdellatif Kechiche und seinen Film L’esquive. Es ist ein kleiner Film mit Laiendarstellern, der in der tristen Vorstadt von Paris spielt und von der Kritik der Kategorie des film beur oder film de ban- lieue zugeordnet wird. Dass dieses Genre des französischen Kinos, das bis dahin eher eine marginale Existenz bei Kritikern und vor allem Preisverlei- hungen führte, plötzlich so sehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, spricht für einen Wandel der französischen Mentalität: Die Entscheidung wirkt, als habe die Branche damit ein Zei- chen setzen wollen, gegen eine gewisse formale und intellek- tuelle Selbstgefälligkeit, gegen ein französisches Kino, das sich allzu französisch gebärdet, für einen Film, der ein anderes Frankreich zeigt, das vor der Realität nicht die Augen ver- schließt.2 In der Tat wird damit einem Filmgenre, das seit etwa zwanzig Jahren in der französischen Kinolandschaft präsent ist, ohne dass es ihm gelungen wäre, 1 Louis-Ferdinand Céline: Rigodon. Roman. In: Ders.: Romans II. Paris 1974. S. 709-962. Hier S. 712. 2 Michael Althen: „Aus dem Leben eines Drückebergers“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.03.2005. S. 39. 9 Einleitung sich dort einen adäquaten Platz zu erkämpfen, bemerkenswerte Aufmerksam- keit zuteil. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Film über die Schicksale ma- ghrebinischer Immigranten und ihrer Kinder renommierte Filmpreise davon- trägt – so gewann Le thé au harem d’Archimède von Mehdi Charef 1985 den César für den besten Nachwuchsregisseur, Mathieu Kassovitz’ La haine 1995 beim Filmfestival in Cannes den Preis für die beste Regie und im selben Jahr den César für den besten Film. Erklärt sich die französische Filmindustrie also in regelmäßigen Abstän- den von zehn Jahren bereit, die Existenz eines Kinos des métissage anzuer- kennen? Oder spricht die Tatsache, dass 2005 ein Film über die banlieue gleich alle drei wichtigen Césars auf sich vereint dafür, dass damit einer der zentralen Bereiche der französischen Kulturindustrie die Bedeutung des ci- néma beur erkannt hat und entsprechend honoriert, ohne sie sodann für die nächsten zehn Jahr wieder zu vergessen? Ist der Ausgang dieser Preisverlei- hung nur Ausdruck einer Entwicklung, die sich auf anderen Ebenen der fran- zösischen Gesellschaft spiegelt: Stellen die Kinder der postkolonialen Wan- derungsbewegungen nun einen integralen Teil dieser Gesellschaft dar und können sogar genuin französischen Regisseuren und Themen die Show steh- len? Oder bedeutet gerade diese Einverleibung ihrer selbst und ihrer Lebens- geschichten in Frankreichs „mythologie médiatique“ ihre umso effektivere Ausgrenzung – im Sinne des oben zitierten Mottos von Céline vielleicht gar „sa propre fin“? Am sich wandelnden Verhältnis der Immigranten zum französischen Kul- turbetrieb (und umgekehrt) lässt sich die Veränderung ihres Selbstverständ- nisses ablesen. In der immer noch nationalistisch geprägten französischen Gesellschaft gelingt es ihnen, sich mit neuem Selbstbewusstsein zu manifes- tieren und die ihnen zustehende Position zu reklamieren. Dies verdankt sich allerdings – und damit schließt sich ein Kreis – nicht zuletzt der Tatsache, dass sie durch Literatur und Film bereits seit geraumer Zeit in der kulturellen Landschaft Frankreichs präsent sind. Die Rezeption der Texte und Filme, in denen der Erfahrungshorizont dieser culture métissée ästhetisch fassbar ge- macht wird, ist gleichwohl nicht immer unproblematisch. Für die Literatur der Kinder der Immigration scheint der biographische Hintergrund die Lektüre- und Interpretationsanweisung – und –abweisung – gleichsam mitzuliefern. Die Autoren der littérature issue de l’immigration, so ein Tenor der Kritik, würden in klassisch-realistischer Erzähltradition von den Unbilden des eigenen Lebens berichten. Sie reduziert diesen vielfältigen und unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten hochinteressanten Teil der zeitgenössischen französischen Literatur zu einer littérature de témoi- gnage, die ohne alle künstlerischen Ambitionen die Missstände am Rande der französischen Gesellschaft getreulich widerspiegelt. Damit wären die Texte 10 Ein neues Genre einer literaturwissenschaftlich ebenso problematischen Kategorie von Pro- duktionen zuzuordnen – der der Autobiographie, „longtemps considérée comme appartenant au registre du pragmatique“3. Die scheinbare Vermi- schung von Ästhetik und Pragmatik, von Fakt und Fiktion in diesen Texten droht, sie zu hybriden Texten zu machen, für die sich keine wissenschaftliche Disziplin unmittelbar zuständig fühlt. So ist die Rezeption häufig in einem eigenartigen Zwischenraum zwischen Soziologie, alltagsweltlichem Wissen und Literaturwissenschaft angesiedelt. Diese reduktionistische und verfäl- schende Sichtweise erlaubt es dem kanonverhafteten Literaturwissenschaft- ler, Wahrnehmung und Zurückweisung der littérature issue de l’immigration in eins zu setzen. So hat die Herkunft der Autoren die seriöse Auseinander- setzung mit den Texten vielfach verhindert.4 Nicht umsonst hat gerade das Aufdecken des Pseudonyms eines lange a- nonym gebliebenen Autors, der sich über die Themen seiner Texte in den li- terarischen Kontext der Immigration einzuordnen suchte, massive Reaktionen der französischen Presse provoziert. Paul Smaïl alias Jack-Alain Léger wurde als Verräter an der eigenen, französischen Sache bezeichnet, weil er in seinen Texten offensiv und lautstark die Position der Kinder der Immigration ver- trat5. Als „auteur beur“ wurde er allerdings aufgrund seines biographischen Hintergrundes auch nicht akzeptiert. Die Aneignung des Themas der Immig- ration und ihrer Folgen durch einen Autor, der offensichtlich nicht den ent- sprechenden biographischen Hintergrund aufweist, produziert durch die Bloßlegung der Verfahren (обнажение приёмов) im Sinne Viktor Šklovskijs einen Verfremdungseffekt (остранение)6. Der hybride Status der Texte wird in diesem Fall noch dadurch verstärkt, dass der Autor und insbesondere seine mediale Konstruktion sich selbst als hybrid erweist. Der durch das Aufdecken des Pseudonyms angestoßene Prozess der Be- wusstwerdung bzw. der Bloßlegung der Verfahren war im Diskurs über die littérature issue de l’immigration dringend notwendig. Die Abhängigkeit der gängigen Lektüre- und Interpretationspraxis von den Faktoren „Autor“ und „Biographie“, die spätestens seit Michel Foucaults Aufsatz „Qu’est-ce qu’un 3 Doris Ruhe: „Le scorpion en phénix. L’écriture autobiographique d’Albert Memmi“. In: Alfred Hornung/Ernstpeter Ruhe (Hrsg.): Postcolonialisme & Autobiographie. Amsterdam/Atlanta 1998. 2 Bde. Bd. 1: Albert