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Fantastische Filme Kiss Me Deadly (1955) Von Christof Berger Foto: Filmstill, zVg.

Eine nächtliche Überlandstrasse. Eine Frau, bar- Gewaltdarstellungen. Neben dem Denn der Koffer enthält das fuss und offensichtlich nur mit einem Trenchcoat Angriff auf die puritanische Ge- Böse an sich. Klar ist es physikali- bekleidet, versucht verzweifelt, vorbeirasende Autos sellschaft und die Hollywood’sche scher Unfug, radioaktives Material anzuhalten. Schliesslich zwingt sie einen Wagen zur Selbstzensur (den Hays Code resp. als Licht- und Hitzequelle darzu- Vollbremsung, indem sie sich mitten auf die Fahrbahn den Motion Picture Production stellen. Optisch und filmisch ist stellt. Am Steuer sitzt Privatdetektiv Code) packt Aldrich eine Kritik an allerdings gerade das überaus ef- (), der die verängstigte Christina Bai- der atomaren Aufrüstung in seine fektvoll. Selten wurde auf der Lein- ley () widerwillig mitnimmt. Stunden Geschichte. wand das Öffnen der Büchse der später ist die Frau tot, Hammers Wagen Schrott und Im Lauf seiner Ermittlungen Pandora eindrucksvoller in Szene er selbst kommt im Spital wieder zu sich. Da lässt es stösst Mike Hammer nämlich auf gesetzt. sein Berufsstolz natürlich nicht zu, nicht herauszu- einen Koffer. Beim Versuch, diesen finden, wer ihn da um die Ecke bringen wollte. Und zu öffnen, dringt gleissendes Licht er treibt seine Untersuchungen umso hartnäckiger aus dem Innern und verbrennt ihm voran, als ihm sein Polizeikumpel Pat Murphy davon das Handgelenk. Bald erfährt er, Kiss Me Deadly (Rattennest) USA 1955, abrät, sein Freund Nick ermordet und seine Freundin dass es sich beim Inhalt um gestoh- 105 Minuten, Regie: , Velda entführt wird. lenes atomares Material aus dem Drehbuch: A. I. Bezzerides, nach dem Ro- «Kiss Me Deadly» wurde in lediglich drei Wochen «Manhattan-Projekt» (dem militä- man von (Aldrich dazu: abgedreht und kostete 410 000 Dollar. Trotzdem ist rischen US-Forschungsprojekt zur «Wir haben den Titel genommen und das nichts hingeschludert. Dies ist nicht zuletzt der sorg- Entwicklung von Nuklearwaffen) Buch weggeschmissen»), Kamera: Ernest fältigen und originellen Kameraführung von Ernest handelt. Der Koffer ist einerseits Laszlo, Schnitt: , Ausstat- Laszlo zu verdanken. Hollywood-Regie-Querschläger ein typischer Hitchcock’scher tung: William Glasgow, Howard Bristol, Robert Aldrich tischt uns da eine typische Film-noir- «MacGuffin». Grundsätzlich ist es Darsteller: Ralph Meeker (Mike Hammer), Geschichte auf. Alle Elemente dieser Krimifilmgat- unwichtig, was der Auftraggeber (Dr. Soberin), tung der 40er- und 50er-Jahre sind vorhanden: der des Diebstahls damit anzustellen (Carl Evello), Juano Hernandez (Eddie zynische, hartgesottene Privatdetektiv, die Femme gedenkt. Der Koffer dient vorerst Yeager), (Lt. Murphy), Mari- fatale (gar in Ausführung), zwielichtige Ganoven, bru- lediglich dazu, die Handlung vor- an Carr (Friday), Maxine Cooper (Velda), tale Cops sowie Finstermänner der Upper Class. Doch anzutreiben, und rechtfertigt die Cloris Leachman (Christina Bailey), Gaby distanzieren sich Drehbuchautor und Regisseur auch Toten auf seinem Weg. Und den- Rodgers (Gabrielle), Nick Dennis (Nick), klar vom Genre, indem sie es gnadenlos karikieren noch wandelt er sich dann doch Jack Lambert (Sugar Smallhouse), Jack und übersteigern. Das gilt für die holzschnittartig noch zum Hauptrequisit der fulmi- Elam (Charlie Max). überzeichneten Figuren, eine absurd verschachtelte nanten Schlussszene. Der Film ist bei Koch-Media als DVD und Handlung, sexuelle Anspielungen und die drastischen Bluray erhältlich.

28 Kultur der Politik Wie wichtig ist der Linken die werktätige Bevölkerung?

Von Christof Berger Foto: Archivbild / zVg.

In meinem Essay «Unfriendly Takeover – die stehen. Und um auch dies klarzu- schlechten Geschmack und die Working Class Heroes sind tot» (ensuite Nr. stellen: Ich möchte dem Gros des derbe Ausdrucksweise der Arbei- 210/211, Juni/Juli 2020) stellte ich die These zur Partei- und Verbandspersonals terInnen empfinden. Und damit ei- Diskussion, dass die linken Parteien und Ver- keineswegs Verantwortungslosig- nem Klischee aufsitzen. Das kann bände die «werktätige Bevölkerung» sukzessive keit unterstellen. Allerdings ist sehr überheblich und beleidigend von der ernsthaften politischen Teilnahme aus- der Vorwurf des Elfenbeinturms wirken. Ich vermute stark, dass ge- schliessen würden. eben auch nicht unberechtigt. In rade auch deswegen in den letzten den Diskurs der Linken hat sich 30 Jahren eine erkleckliche Zahl Die Reaktionen auf diesen Artikel waren kontro- beispielsweise so ein Sozialarbei- der Mitglieder aus der Arbeiter- vers. Die einen fühlten sich verstanden oder aner- terInnen-Jargon eingeschlichen, schaft, der Angestellten und Selbst- kannten zumindest das Problem, andere waren be- den ich fatal finde: Auch wenn sie ständigen die politische Seite ge- leidigt und/oder unterstellten mir, Elite-Bashing zu sich noch so Mühe geben, Sozial- wechselt hat. betreiben und dadurch Wasser auf die Mühlen der arbeiterInnen sprechen mit ihren Die linken Parteien fussen auf rechten «Volkspartei» zu giessen. «Klientinnen» nie auf Augenhöhe, der Arbeiterbewegung Dabei ist Grundsätzlich möchte ich meinen Text als konst- da besteht ein soziales Gefälle. die SP1 effektiv historisch gesehen ruktive Kritik verstanden wissen. Ich finde durchaus, Gut gemeint ist dann oft das ge- klar eine Arbeiterpartei. Sie ent- dass die Linke auf ihre intellektuellen Eliten und ihre naue Gegenteil von gut. Und ich stand Ende des 19. Jahrhunderts AkademikerInnen nicht verzichten soll und kann. Ich möchte nicht die Hand dafür ins 1 Wenn hier nur von der Sozialdemokratie die Rede war, bin aber der Meinung, dass diese der Bewegung und Feuer legen, dass nicht Teile un- dann deshalb, weil es die Grünen erst seit den 70er- /80er-Jahren gibt. Sie fundieren jedoch auf derselben ihrer Geschichte gegenüber in einer Verantwortung serer «Eliten» Verachtung für den Geschichte.

12 als politischer Arm der Arbeiterbewegung. Bis in die deren Ideen dann eben reine Luft- Initiativkomitees mit jeweils ei- 20er-Jahre waren Gewerkschaften und Partei auch or- schlösser geblieben. Und um nem knappen Dutzend Mitgliedern ganisatorisch verbunden. Die sozialen Errungenschaf- diese Unterstützung zu erlangen, tatsächlich genügen. Sie muss sich ten der Linken des 20. Jahrhunderts beruhen auf den brauchte es damals und braucht fragen, wie sich in unserer indi- Forderungen der Arbeiterbewegung. Die wichtigsten es auch heute eine intensiv ge- vidualisierten und zersplitterten sind enthalten im Forderungskatalog, der 1918 beim lebte Basisdemokratie, braucht es Lebenswelt wieder Kollektivität Generalstreik vorgebracht wurde. Nämlich: die gleiche Augenhöhe. Das Ge- und politisches Handeln herstellen schichtsbild der Linken muss da- lässt. Und sie muss sich auch mit  Sofortige Neuwahl des Nationalrats nach dem her zwingend auch das Kollektiv ihrer Geschichte kritisch ausein- kurz vorher angenommenen Proporzwahlrecht ins Blickfeld fassen und nicht nur andersetzen, darf Fehlentwicklun-  Einführung des Frauenstimmrechts bei den «grossen» Männern (und gen nicht beschönigen und sollte  Einführung einer allgemeinen Arbeitspflicht den wenigen «grossen» Frauen) daraus die Lehren für die Zukunft  Einführung der 48-Stunden-Woche hängen bleiben. ziehen.  Reorganisation der Armee zu einem Volksheer Was definiert eine politische  Sicherung der Lebensmittelversorgung Bewegung? Wie gut der geschicht-  Eine Alters- und Invalidenversicherung liche Hintergrund den heute agie-  Ein staatliches Aussenhandelsmonopol renden Linken überhaupt noch be-  Eine Vermögenssteuer zum Abbau der Staats- wusst ist, weiss ich nicht. Oft habe verschuldung ich jedenfalls den Eindruck, dass er für die an den Universitäten Damals, 1918, wurde die 48-Stunden-Woche in ausgebildeten BerufspolitikerIn- der Schweiz umgesetzt. 1919 fand die erste National- nen keine Rolle spielt. Dass für sie ratswahl nach dem Proporzsystem statt und ebenfalls lediglich das Tagesgeschäft zählt. in diesem Jahr wurden die ersten Schritte hin zu ei- Und das bringt mich zur Frage: ner AHV unternommen. Bis zur Umsetzung dauerte Was eigentlich definiert eine po- Christof Berger, Jahrgang 1959, wohnt in es aber noch wesentlich länger. Die AHV wurde erst litische Bewegung respektive eine 3032 Hinterkappelen. Er ist Co-Präsident im Jahr 1948 eingeführt und das Frauenstimmrecht politische Partei? Viele werden der IG Freischaffende syndicom und noch später, nämlich 1971. Und inzwischen scheinen jetzt sicher antworten: «Der Wett- Mitglied Zentralvorstand syndicom sowie viele Feministinnen vergessen zu haben, dass ihre bewerb des besseren Arguments Vorstandsmitglied der SPplus Wohlen BE, Geschichte auch auf den Kämpfen der proletarischen oder der besseren Idee.» Das ist er sass von 2002 bis 2008 für die SP im Frauenbewegung beruht. sicher nicht falsch. Aber nur da- Berner Stadtrat. Es dünkt mich ignorant, fahrlässig und zynisch, mit mobilisiert man keine Bewe- Er räumt ein, selbst nicht dem Arbeiter- diese Grundlagen der Bewegung zu verraten mit gung. Der Ideenwettbewerb taugt milieu zu entstammen. Sein Vater war ein dem Hinweis, die linke Wählerschaft bestehe inzwi- allenfalls als Orientierung im de- nicht sehr geschäftstüchtiger Grafiker, schen nun mal aus der oberen Mittelschicht und aus mokratischen Prozess. Für eine die Mutter Damenschneiderin und die Besitzern von Wohneigentum. Und die unteren Mili- Bewegung braucht es hingegen Einkünfte der Familie waren ärmlich. eus würden sich ja sowieso praktisch nicht politisch doch noch einiges mehr: Sie muss Seine Eltern fühlten sich dem Kunst- und betätigen. So würde die Linke zum etwas sozialeren wissen, wohin sie will, muss eine Kulturmilieu zugehörig und verachteten Freisinn mutieren und sich direkt in die Bedeutungs- glaubhafte Utopie entwickeln, die die ihrer Ansicht nach «ungehobelten» losigkeit manövrieren. erstrebenswert und erreichbar er- ArbeiterInnen. Seine Wurzeln sind somit Demokratie funktioniert nur auf gleicher Au- scheint; sie muss Religion, Familie im Bohème-Prekariat anzusiedeln. Er hat genhöhe Es ist mir übrigens durchaus bewusst, dass und Heimat sein; muss Perspekti- aber rund 10 Jahre lang am Bahnhof Bern weltweit bei Arbeitskämpfen, Umstürzen und Revo- ven aufzeigen, Menschen fördern, im Eisenbahn-Rangierdienst gearbeitet lutionen praktisch immer auch «Eliten» federführend Menschen befähigen. Nur so ist sie und dort warmherzige und interessierte beteiligt waren und sind. Fast immer stammten die basisdemokratisch, ist sie glaub- Menschen kennengelernt. Politisiert wur- Ideengeber, Anstifter und Anführer aus der gebilde- haft. de er während der 80er-Bewegung sowie ten Elite, oft aus der bourgeoisen Oberschicht. Aber Die Linke muss sich die Frage durch die Gewerkschaftsarbeit. ohne Unterstützung durch «das Proletariat» wären stellen, ob ihr ihre Politzirkel und www.christof-berger.ch ensuite - Zeitschrift zu Kultur & Kunst | September 2020 13