Plenarprotokoll 19/74

Deutscher

Stenografischer Bericht

74. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- der AfD: Zahl der freiwilligen Organ- neten Albrecht Glaser, Dr. , spender in Deutschland erhöhen – Spen- Dr. , und denbereitschaft als Ehrenamt anerken- Dr. . 8571 A nen Drucksache 19/7034. 8573 D Begrüßung der neuen Abgeordneten und . 8571 B , Bundesminister BMG. 8573 D Wahl der Abgeordneten und Dr. Axel Gehrke (AfD). 8575 A als persönlich stellvertre- tende Mitglieder des Vermittlungsausschus- Dr. (SPD). 8575 D ses. 8571 B Katrin Helling-Plahr (FDP). 8576 D Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- (DIE LINKE). 8577 C nung...... 8571 C Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/ Absetzung der Tagesordnungspunkte 4, 11, 15 DIE GRÜNEN). 8578 C und 23 sowie des Zusatztagesordnungspunk- tes 4. 8573 A (CDU/CSU). 8579 D Feststellung der Tagesordnung. 8573 B (AfD). 8580 C (SPD). 8581 C

Tagesordnungspunkt 3: Christine Aschenberg-Dugnus (FDP). 8582 B a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (CDU/CSU) . 8583 A rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- (fraktionslos). 8583 D ten Gesetzes zur Änderung des Trans- plantationsgesetzes – Verbesserung der (SPD). 8584 B Zusammenarbeit und der Strukturen (CDU/CSU). 8585 B bei der Organspende Drucksache 19/6915. 8573 C b) Antrag der Abgeordneten Katrin Helling-­ Zusatztagesordnungspunkt 1: Plahr, , Christine Antrag Antrag der Abgeordneten Sandra Aschenberg-­Dugnus, weiterer Abgeord- ­Weeser, Michael Theurer, , neter und der Fraktion der FDP: Chancen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der von altruistischen Organlebendspenden FDP: Zollverfahren vereinfachen – Büro- nutzen – Spenden erleichtern kratie abbauen Drucksache 19/5673. 8573 C Drucksache 19/6549. 8586 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Axel Gehrke, (FDP). 8586 B Dr. , Detlev Spangenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Thomas de Maizière (CDU/CSU). 8587 C II Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Kay Gottschalk (AfD). 8588 C gesundheitsbewussten Ernährung – Bes- sere Kennzeichnungspflichten, hoch- Ingrid Arndt-Brauer (SPD). 8589 C wertigeres Schulessen, keine EU-Aus- Jörg Cezanne (DIE LINKE). 8590 D schreibungspflicht Drucksache 19/7033. 8612 D Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 8591 D c) Antrag der Abgeordneten , , Dr. , (CDU/CSU). 8593 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion (AfD). 8594 C DIE LINKE: Für eine zukunftsweisende und soziale Ernährungspolitik – Beson- Dr. Jens Zimmermann (SPD). 8595 C ders für Kinder (FDP). 8596 C Drucksache 19/7025. 8613 A (CDU/CSU) . 8597 B Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 8613 A Dr. (FDP). 8613 D Tagesordnungspunkt 5: (CDU/CSU). 8615 A Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. (BÜNDNIS 90/ Gesetzes für den Übergangszeitraum nach DIE GRÜNEN). 8616 B dem Austritt des Vereinigten Königreichs Marlene Mortler (CDU/CSU). 8616 C Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (Brexit-Übergangsge- (AfD). 8617 A setz – BrexitÜG) (SPD). 8618 A Drucksachen 19/5313, 19/7087 . 8598 C (FDP). 8619 D , Bundesminister AA. 8598 C Amira Mohamed Ali (DIE LINKE). 8620 D (AfD) . 8600 A (CDU/CSU) . 8622 A Dr. (CDU/CSU) . 8601 A Paul Viktor Podolay (AfD). 8623 B Alexander Graf Lambsdorff (FDP). 8602 B Dr. (fraktionslos). 8623 C Dr. (DIE LINKE) . 8603 A (SPD). 8624 C Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 8604 B (FDP) . 8625 D (DIE LINKE). 8605 A (CDU/CSU). 8626 B Markus Töns (SPD) . 8606 A Norbert Kleinwächter (AfD). 8606 C Tagesordnungspunkt 25: Dr . (AfD). 8607 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (CDU/CSU) . 8608 C rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des BDBOS-Ge- (FDP) . 8609 D setzes (CDU/CSU) . 8610 B Drucksache 19/6547. 8627 C Dr. (CDU/CSU). 8611 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Revision 3 des Übereinkommens vom 20. März 1958 über die Annahme Tagesordnungspunkt 6: einheitlicher technischer Vorschriften a) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, für Radfahrzeuge, Ausrüstungsgegen- Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Harald stände und Teile, die in Radfahrzeuge(n) Ebner, weiterer Abgeordneter und der eingebaut und/oder verwendet werden Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: können, und die Bedingungen für die ge- Gesunde Ernährung im Alltag einfach genseitige Anerkennung von Genehmi- machen – Ernährungswende umsetzen gungen, die gemäß diesen Vorschriften Drucksache 19/6441. 8612 D erteilt wurden Drucksache 19/6548. 8627 D b) Antrag der Abgeordneten , Dr. Axel Gehrke, Kay c) Antrag der Abgeordneten , Gottschalk, weiterer Abgeordneter und Renate Künast, Tabea Rößner, weiterer der Fraktion der AfD: Förderung einer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 III

NIS 90/DIE GRÜNEN: Fluggastrechte Zusatztagesordnungspunkt 3: besser durchsetzen, Verbraucherinnen a) Zweite und dritte Beratung des von der und Verbraucher bei Insolvenzen schüt- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs zen eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Drucksache 19/6277. 8627 D Tabakerzeugnisgesetzes Drucksachen 19/4461, 19/4730, 19/4944 d) Antrag der Abgeordneten Roman Johannes Nr. 7, 19/7085. 8628 D Reusch, , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion b) Beschlussempfehlung und Bericht des der AfD: Kundenschutz bei Insolvenzen Ausschusses für Bildung, Forschung und von Fluggesellschaften Technikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Drucksache 19/7035. 8628 A Dr. (Rhein-­Neckar), e) Antrag der Abgeordneten Katharina Dröge, , , weiterer Dr . , , weite- Abgeordneter und der Fraktion der rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- FDP: Ein Update für die berufliche NIS 90/DIE GRÜNEN – zu dem Vorschlag Bildung – Exzellenzinitiative, Digi- für einen Beschluss des Rates zur Unter- talisierung und flexible Ausbildungs- zeichnung des Investitionsschutzabkom- strukturen auf den Weg bringen mens zwischen der Europäischen Union – zu dem Antrag der Abgeordneten ­Birke und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Bull-Bischoff, Dr. , Doris der Sozialistischen Republik Vietnam an- Achelwilm, weiterer Abgeordneter dererseits im Namen der Europäischen und der Fraktion DIE LINKE: Jungen Union – KOM(2018) 694 endg.; Ratsdok. Menschen eine gute Ausbildung er- 13314/18 – und – zu dem Vorschlag für möglichen und die Ausbildungsqua- einen Beschluss des Rates zur Unterzeich- lität verbessern nung des Freihandelsabkommens zwischen – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate der Europäischen Union und der Sozialis- Walter-Rosenheimer, , tischen Republik Vietnam im Namen der Dr . Anna Christmann, weiterer Ab- Europäischen Union – KOM(2018) 692 geordneter und der Fraktion BÜND- endg.; Ratsdok. 13312/18 – hier: Stellung- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungsge- nahme gegenüber der Bundesregierung rechtigkeit schafft Zukunftsfähigkeit gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundge- – Aus- und Weiterbildung garantie- setzes: Freihandelsabkommen mit Viet- ren, Fachkräfte sichern nam fair nachverhandeln – Investitions- Drucksachen 19/1835, 19/1830, 19/1795, schutzabkommen ablehnen 19/7070. 8629 B Drucksache 19/7060. 8628 B Zusatztagesordnungspunkt 5: in Verbindung mit Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der AfD: Zustand der EU – Deutsch-Fran- zösische Sonderwege Zusatztagesordnungspunkt 2: Dr. (AfD). 8629 C Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Jürgen Hardt (CDU/CSU). 8630 D , , weiterer (FDP). Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ 8631 D DIE GRÜNEN: Wildtierhaltung im Zirkus Angelika Glöckner (SPD). 8632 D jetzt beenden (DIE LINKE). 8633 C Drucksache 19/7057. 8628 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 8635 A Tagesordnungspunkt 26: Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU). 8636 B Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Norbert Kleinwächter (AfD). 8637 B von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen Dr. (SPD). 8638 C vom 14. August 2017 zwischen der Bun- Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU). 8639 C desrepublik Deutschland und der Republik Mauritius über den Luftverkehr (SPD). 8640 C Drucksachen 19/6289, 19/7049 . 8628 C (CDU/CSU). 8641 C IV Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Tagesordnungspunkt 7: b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Unterrichtung durch den Parlamentarischen Abgeordneten , Alexander Beirat für nachhaltige Entwicklung: Stellung- Graf Lambsdorff, , weiterer nahme des Parlamentarischen Beirates für Abgeordneter und der Fraktion der FDP: nachhaltige Entwicklung zum Peer Review Zusammenarbeit nutzen, um dauerhaf- 2018 zur Deutschen Nachhaltigkeitsstrate- ten Frieden zwischen Äthiopien und Eri- gie trea zu sichern Drucksache 19/6475. 8642 D Drucksachen 19/4837, 19/7082. 8662 A Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretä- rin BMU. 8643 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag Dr. Rainer Kraft (AfD). 8644 A der Abgeordneten , , Dr. Franziska Brantner, (CDU/CSU). 8645 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Lukas Köhler (FDP). 8646 A BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Frie- densprozess zwischen Äthiopien und (DIE LINKE) . 8647 A Eritrea fördern, schwere Menschen- Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/ rechtsverletzungen in Eritrea beim Na- DIE GRÜNEN). 8647 D men nennen und ahnden Drucksachen 19/6109, 19/7088. 8662 A Dr. (CDU/CSU). 8648 C (SPD). 8649 C (SPD) . 8662 B Mario Mieruch (fraktionslos). 8650 A Paul Viktor Podolay (AfD). 8663 C Rüdiger Kruse (CDU/CSU) . 8650 D (CDU/CSU). 8664 B Olaf in der Beek (FDP). 8665 B

Tagesordnungspunkt 8: (DIE LINKE). 8666 A Erste Beratung des von den Abgeordne- Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/ ten René Springer, Norbert Kleinwächter, DIE GRÜNEN). 8667 A Dr . Birgit Malsack-Winkemann, weiteren (CDU/CSU). 8667 D Abgeordneten und der Fraktion der AfD ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur An- (CDU/CSU). 8668 B passung kindergeldrechtlicher Regelungen Drucksache 19/6984. 8651 C Tagesordnungspunkt 10: (AfD). 8651 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (CDU/CSU). 8653 B schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit (FDP). 8655 A und Entwicklung – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ (SPD). 8656 A CSU und SPD: Schutz von Weltnatur­ Jörg Cezanne (DIE LINKE). 8657 A erbe und Entwicklungsziele in Ein- klang bringen – Alternativen zum Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn geplanten Bau des Megastaudamms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). 8658 A „Stieglers Schlucht“ im tansanischen Dr. h. c. (CDU/CSU). 8659 A ­UNESCO-Weltnaturerbe Selous-Wild­ reservat suchen René Springer (AfD). 8660 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU). 8660 C Dr. Christoph Hoffmann, Alexander Graf Lambsdorff, Grigorios Aggelidis, wei- Ingrid Arndt-Brauer (SPD). 8661 A terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Alternativen zur Zerstörung des ­UNESCO-Weltnaturerbes Selous in Tagesordnungspunkt 9: Tansania aufzeigen a) Beschlussempfehlung und Bericht des Drucksachen 19/6414, 19/5461, 19/7089. 8669 C Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag (CDU/CSU). 8669 D der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Friedensprozess zwischen Äthiopien (AfD). 8670 C und Eritrea unterstützen – Zusammen- (SPD) . 8671 C arbeit ausbauen Drucksachen 19/4847, 19/5644. 8662 A Dr. Christoph Hoffmann (FDP) . 8672 B Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 V

Eva-Maria Schreiber (DIE LINKE). 8673 A Karsten Möring (CDU/CSU) . 8689 A (BÜNDNIS 90/ (FDP). 8690 C DIE GRÜNEN). 8673 D Karsten Möring (CDU/CSU) . 8691 A Armin-Paulus Hampel (AfD). 8674 C (DIE LINKE). 8691 C (CDU/CSU). 8674 D Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/ Christoph Matschie (SPD) . 8675 C DIE GRÜNEN). 8692 B (Rostock) (CDU/CSU). 8676 B Mario Mieruch (fraktionslos). 8693 B (SPD). 8693 D

Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten , Tagesordnungspunkt 13: Eva-Maria Schreiber, Zaklin Nastic, weiterer Antrag der Abgeordneten , Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: , Armin-Paulus Hampel, wei- Seenotrettung im Mittelmeer sicherstellen – terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD: Keine Unterstützung der libyschen Milizen Rechtssicherheit für Unternehmen – Auf- Drucksache 19/4616. 8677 B träge durch verhängte Ausfuhrstopps durch Michel Brandt (DIE LINKE). 8677 C die Bundesrepublik übernehmen Drucksache 19/7039. 8694 C Nikolas Löbel (CDU/CSU). 8678 C Enrico Komning (AfD). 8694 D Armin-Paulus Hampel (AfD). 8680 B Philipp Amthor (CDU/CSU). 8695 D (SPD). 8681 C (FDP). 8697 C (FDP). 8682 C (SPD). 8698 C (BÜNDNIS 90/ Alexander Ulrich (DIE LINKE). 8700 A DIE GRÜNEN). 8683 B Claudia Müller (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU). 8684 D DIE GRÜNEN). 8701 B (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU). 8702 B DIE GRÜNEN). 8685 D Alexander Radwan (CDU/CSU). 8686 A Tagesordnungspunkt 14: (SPD). 8686 B Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Neunten Geset- Tagesordnungspunkt 12: zes zur Änderung des Straßenverkehrsge- setzes a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Drucksachen 19/6334, 19/6926 . 8703 C rung eingebrachten Entwurfs eines Drei- zehnten Gesetzes zur Änderung des (SPD). 8703 D Bundes-Immissionsschutzgesetzes Dr. (AfD). 8704 C Drucksachen 19/6335, 19/6927. 8687 B (FDP). 8705 C b) Antrag der Abgeordneten , Andreas Wagner, Dr. Gesine Lötzsch, wei- Ingrid Remmers (DIE LINKE). 8706 A terer Abgeordneter und der Fraktion DIE (BÜNDNIS 90/ LINKE: Nulltarif im öffentlichen Nah- DIE GRÜNEN). 8707 A verkehr schrittweise einführen Mario Mieruch (fraktionslos). 8707 C Drucksache 19/1359. 8687 C c) Antrag der Abgeordneten Ingrid Remmers, Jörg Cezanne, Dr. Gesine Lötzsch, wei- Zusatztagesordnungspunkt 7: terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Hardware-Nachrüstungen statt Antrag der Abgeordneten Jimmy Schulz, Fahrverbote Frank Sitta, Grigorios Aggelidis, weiterer Drucksache 19/6195. 8687 C Abgeordneter und der Fraktion der FDP: An- erkennung der Gemeinnützigkeit von Frei- Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretä- funk-Initiativen rin BMU. 8687 D Drucksache 19/6490. 8708 B (AfD). 8688 B Manuel Höferlin (FDP). 8708 B VI Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Uwe Feiler (CDU/CSU). 8709 B (FDP) . 8720 C (AfD) . 8710 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . Dr. Jens Zimmermann (SPD). 8711 A 8721 D Anke Domscheit-Berg (DIE LINKE). 8711 D (CDU/CSU) . 8722 C Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ Martin Burkert (SPD) . 8723 C DIE GRÜNEN). 8712 D Florian Oßner (CDU/CSU) . 8724 B Sebastian Brehm (CDU/CSU) . 8713 C

Saskia Esken (SPD) . 8714 D Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Zusatztagesordnungspunkt 8: Dr. , Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zweite und dritte Beratung des von der Bun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Netzwerk- desregierung eingebrachten Entwurfs eines durchsetzungsgesetz weiterentwickeln – Fünften Gesetzes zur Änderung des Allge- Nutzerrechte stärken, Meinungsfreiheit in meinen Eisenbahngesetzes sozialen Netzwerken sicherstellen Drucksachen 19/5421, 19/7084 . 8715 D Drucksache 19/5950 . 8726 A Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 21: DIE GRÜNEN) . 8726 A a) Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, (AfD) . 8727 B Dr. Gesine Lötzsch, Lorenz Gösta Beutin, Manuel Höferlin (FDP) . 8728 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Drohenden Kollaps verhin- Anke Domscheit-Berg (DIE LINKE) . 8729 C dern – Deutsche Bahn AG demokratisch Dr. Jens Zimmermann (SPD) . 8730 C umbauen Drucksache 19/7024. 8716 A Nächste Sitzung . 8731 C b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale In- frastruktur zu dem Antrag der Abgeord- neten Sabine Leidig, , Anlage 1 Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter Entschuldigte Abgeordnete. 8743 A und der Fraktion DIE LINKE: Offenle- gung von neuen Gutachten zur Deut- schen Bahn AG Anlage 2 Drucksachen 19/481, 19/2352. 8716 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung c) Beschlussempfehlung und Bericht des des von der Bundesregierung eingebrachten Ausschusses für Verkehr und digitale Infra- Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Ände- struktur zu dem Antrag der Abgeordneten rung des Straßenverkehrsgesetzes Sabine Leidig, Bernd Riexinger, Dr. Gesine (Tagesordnungspunkt 14). 8743 C Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ausstieg und Um- (CDU/CSU). 8743 C stieg bei dem Bahnprojekt Stuttgart 21 Drucksachen 19/480, 19/3589. 8716 B , Parl. Staatssekretär BMVI. 8745 A d) Antrag der Abgeordneten Torsten Herbst, Frank Sitta, Grigorios Aggelidis, weiterer Anlage 3 Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Digitalisierung der Schiene durch Ver- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung kauf von Beteiligungen der Deutschen des von der Bundesregierung eingebrachten Bahn AG vorantreiben Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Ände- Drucksache 19/6284 . 8716 B rung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (Zusatztagesordnungspunkt 8). 8746 B Sabine Leidig (DIE LINKE) . 8716 C Michael Donth (CDU/CSU). 8746 B , Parl. Staatssekretär BMVI . 8717 B (CDU/CSU). 8746 D (AfD) . 8718 C Martin Burkert (SPD). 8747 D Kirsten Lühmann (SPD) . 8719 C Wolfgang Wiehle (AfD). 8748 C Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 VII

Dr. (FDP). 8748 D NIS 90/DIE GRÜNEN: Netzwerkdurchset- zungsgesetz weiterentwickeln – Nutzerrechte Sabine Leidig (DIE LINKE). 8749 C stärken, Meinungsfreiheit in sozialen Netz- Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/ werken sicherstellen DIE GRÜNEN). 8749 D (Tagesordnungspunkt 24). 8750 A Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU). Anlage 4 8750 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr . Volker Ullrich (CDU/CSU). 8751 A des Antrags der Abgeordneten Renate Künast, (CDU/CSU) . 8751 D Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. (SPD) . 8752 D

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74. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019

Beginn: 10.45 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: habe daher den Bundestag mit der von den anderen Frak- Liebe Kolleginnen und Kollegen, bitte nehmen Sie tionen vorgeschlagenen Tagesordnung einberufen. Nach Platz. Die Sitzung ist eröffnet. § 21 Absatz 3 der Geschäftsordnung ist für die Genehmi- gung der Tagesordnung ein Plenarbeschluss erforderlich. In der parlamentarischen Weihnachtspause haben einige Kollegen besondere Geburtstage gefeiert. Der Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die noch Kollege Albrecht Glaser und der Kollege Dr. Axel zu beschließende Tagesordnung um die in der Zusatz- Gehrke ­feierten jeweils ihren 77. Geburtstag, der Kol- punkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: lege Dr. Bruno Hollnagel seinen 71. Geburtstag sowie ZP 1 Beratung des Antrags der Abgeordneten Sandra die Kollegen Josip Juratovic und Dr. Matthias Bartke Weeser, Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, jeweils ihren 60. Geburtstag. Alle guten Wünsche im weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ­Namen des ganzen Hauses! Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie ab- (B) (Beifall) bauen (D) Für den ausgeschiedenen Kollegen Dr. Gerhard Drucksache 19/6549 Schick ist der Kollege Gerhard Zickenheiner als Mit- glied des Deutschen Bundestags nachgerückt. Herr Kol- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) lege, ich heiße Sie im Namen des ganzen Hauses herzlich Ausschuss für Wirtschaft und Energie willkommen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall) ZP 2 Weitere Überweisung im vereinfachten Ver- Des Weiteren hat die Kollegin Nezahat Baradari für fahren den ausgeschiedenen Kollegen Ulrich Kelber die Mit- (Ergänzung zu TOP 25) gliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Auch Sie, Frau Kollegin, heiße ich im Namen des ganzen Hau- Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate ses herzlich willkommen Künast, Harald Ebner, Friedrich Ostendorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- (Beifall) NIS 90/DIE GRÜNEN und wünsche uns eine gute Zusammenarbeit. Wildtierhaltung im Zirkus jetzt beenden Die Fraktion der CDU/CSU schlägt zur Besetzung des Drucksache 19/7057 Vermittlungsausschusses vor, für den ausgeschiedenen Überweisungsvorschlag: Kollegen Dr. den Kollegen Wilfried Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Oellers als persönliches stellvertretendes Mitglied des Kollegen sowie den Kollegen Eckhardt ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- Rehberg als persönliches stellvertretendes Mitglied sprache des Kollegen Peter Weiß zu wählen. Stimmen Sie dem (Ergänzung zu TOP 26) zu? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die Kolle- gen Oellers und Rehberg als persönliche stellvertretende a) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Mitglieder des Vermittlungsausschusses gewählt. desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Tabak­ Für die heutige 74. und die morgige 75. Sitzung konnte erzeugnisgesetzes zwischen den Fraktionen im Ältestenrat keine Tagesord- nung vereinbart werden. Die Fraktion der AfD hat dem Drucksachen 19/4461, 19/4730, 19/4944 Vorschlag der anderen Fraktionen widersprochen. Ich Nr. 7 8572 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jimmy (C) schusses für Ernährung und Landwirtschaft Schulz, Frank Sitta, Grigorios Aggelidis, weite- (10. Ausschuss) rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Drucksache 19/7085 Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Frei- funk-Initiativen b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung, Drucksache 19/6490 Forschung und Technikfolgenabschätzung Überweisungsvorschlag: (18. Ausschuss) Finanzausschuss (f) Ausschuss Digitale Agenda (f) – zu dem Antrag der Abgeordneten Ausschuss für Inneres und Heimat Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar), Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Katja Suding, Nicola Beer, weiterer Ab- Ausschuss für Wirtschaft und Energie geordneter und der Fraktion der FDP Federführung strittig Ein Update für die berufliche Bil- ZP 8 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- dung – Exzellenzinitiative, Digitalisie- regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften rung und flexible Ausbildungsstruktu- Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Ei- ren auf den Weg bringen senbahngesetzes – zu dem Antrag der Abgeordneten Bir- Drucksache 19/5421 ke Bull-Bischoff, Dr. Petra Sitte, Doris Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Achelwilm, weiterer Abgeordneter und schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur der Fraktion DIE LINKE (15. Ausschuss) Jungen Menschen eine gute Ausbil- Drucksache 19/7084 dung ermöglichen und die Ausbil- dungsqualität verbessern ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicola Beer, Katja Suding, Dr. Jens Brandenburg – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate (Rhein-Neckar), weiterer Abgeordneter und der Walter-Rosenheimer, Kai Gehring, Fraktion der FDP Dr . Anna Christmann, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Chancengerechtigkeit ernst nehmen – Leis- DIE GRÜNEN tungsfähigkeit des Bildungssystems voran- bringen (B) Bildungsgerechtigkeit schafft Zu- (D) kunftsfähigkeit – Aus- und Weiterbil- Drucksache 19/7031 dung garantieren, Fachkräfte sichern Überweisungsvorschlag: Drucksachen 19/1835, 19/1830, 19/1795, Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung (f) 19/7070 Ausschuss für Wirtschaft und Energie ZP 4 Wahlvorschlag der Fraktion der AfD Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss Digitale Agenda Wahl eines Mitglieds des Kuratoriums der Haushaltsausschuss „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Pascal Europas“ Kober, Michael Theurer, Johannes Vogel (Olpe), Drucksache 19/7032 weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ZP 5 Aktuelle Stunde Rechtssicherheit für die Kommunen und Job- center – Berechnung der Kosten der Unter- auf Verlangen der Fraktion der AfD kunft in der Grundsicherung vereinfachen Zustand der EU – Deutsch-Französische Son- Drucksache 19/7030 derwege Überweisungsvorschlag: ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Michel Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Brandt, Eva-Maria Schreiber, Zaklin Nastic, wei- Haushaltsausschuss terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carina Seenotrettung im Mittelmeer sicherstellen – Konrad, Frank Sitta, Dr. Gero Clemens Hocker, Keine Unterstützung der libyschen Milizen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Drucksache 19/4616 Smart Farming – Flächendeckende Breit- bandversorgung für eine innovative Land- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) wirtschaft in Deutschland Ausschuss für Inneres und Heimat Drucksache 19/7029 Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Überweisungsvorschlag: ­Entwicklung Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8573

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Lieber Herr Kollege Grosse-Brömer, es ist völlig in (C) Ausschuss Digitale Agenda Ordnung, dass die Tagesordnung einstimmig festgestellt Federführung strittig worden ist. ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gero (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Clemens Hocker, Frank Sitta, , BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Michael weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ich freue mich Einhaltung von Tierschutzrecht wirksam und darüber!) effizient kontrollieren Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis c auf: Drucksache 19/6285 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung Überweisungsvorschlag: eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) zur Änderung des Transplantationsgesetzes – Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Verbesserung der Zusammenarbeit und der Haushaltsausschuss Strukturen bei der Organspende Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Drucksache 19/6915 weit erforderlich, abgewichen werden. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Vor dem Tagesordnungspunkt 7 soll auf Verlangen der Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Fraktion der AfD nunmehr eine Aktuelle Stunde mit dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Titel „Zustand der EU – Deutsch-Französische Sonder- wege“ aufgesetzt werden. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin Helling-Plahr, Michael Theurer, Christine Der Tagesordnungspunkt 4 soll abgesetzt und stattdes- Aschenberg-Dugnus, weiterer Abgeordneter und sen der Antrag auf der Drucksache 19/6549 mit dem Titel der Fraktion der FDP „Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie abbauen“ mit einer unveränderten Debattenzeit von 60 Minuten aufge- Chancen von altruistischen Organlebendspen- rufen werden. den nutzen – Spenden erleichtern Drucksache 19/5673 Ebenso soll der Tagesordnungspunkt 11 abgesetzt und an dieser Stelle der Antrag auf der Drucksache 19/4616 Überweisungsvorschlag: mit dem Titel „Seenotrettung im Mittelmeer sicherstel- Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz len – Keine Unterstützung der libyschen Milizen“ im (B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (D) Umfang von 38 Minuten beraten werden. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Axel Des Weiteren soll der Tagesordnungspunkt 15 abge- Gehrke, Dr. Robby Schlund, Detlev Spangenberg, setzt und dafür der Antrag auf der Drucksache 19/6490 weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD mit dem Titel „Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk-Initiativen“ mit einer unveränderten Debatten- Zahl der freiwilligen Organspender in zeit von 38 Minuten aufgerufen werden. Deutschland erhöhen – Spendenbereitschaft als Ehrenamt anerkennen Dann soll auch der Tagesordnungspunkt 23 abgesetzt und stattdessen der Antrag auf der Drucksache 19/6285 Drucksache 19/7034 mit dem Titel „Einhaltung von Tierschutzrecht wirksam Überweisungsvorschlag: und effizient kontrollieren“ im Umfang von 38 Minuten Ausschuss für Gesundheit (f) debattiert werden. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Schließlich soll auf Wunsch der Fraktion der AfD der die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Zusatzpunkt 4 – Wahlvorschlag der Fraktion der AfD nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. zur Wahl eines Mitglieds des Kuratoriums der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ – wieder Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort abgesetzt werden. dem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkte- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Sabine Dittmar [SPD]) Wir kommen nun zur Feststellung der Tagesordnun- Bundesminister für Gesundheit: gen der heutigen 74. und der morgigen 75. Sitzung mit Jens Spahn, den eben genannten Ergänzungen. Wer stimmt dafür? – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist das Letzte Woche hat die Deutsche Stiftung Organtransplan- einstimmig so beschlossen. tation die Organspendezahlen für 2018 bekannt gegeben. Die Nachricht ist eine gute: Die Zahlen sind um etwa (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die 20 Prozent gestiegen – von knapp 800 auf über 950 Or- AfD hat ja zugestimmt! – ganspenden. Das ist gut, aber das ist noch nicht gut ge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann hätten nug angesichts der Zahl von 10 000 Patientinnen und wir uns das ja sparen können!) Patienten in Deutschland, die auf ein Organ warten, und 8574 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Bundesminister Jens Spahn (A) angesichts des Umstandes, dass jeder von uns, jeder in auch ein wichtiges Zeichen für die Kliniken ist, sich hier (C) Deutschland morgen auf eine Organspende angewiesen mehr zu engagieren. sein könnte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Das zeigt aber – das ist ja auch erst mal etwas Gutes –, Sabine Dittmar [SPD]) dass allein schon der Umstand sich positiv ausgewirkt Wir haben drittens die Einrichtung eines konsilia- hat, dass wir es im letzten Jahr geschafft haben, durch rärztlichen Rufbereitschaftsdienstes vorgesehen. Was ist öffentliche Diskussionen, durchaus auch durch Informa- das Ziel? Das Ziel ist, in jedem Entnahmekrankenhaus tionskampagnen zu erreichen, dass ein Diskurs in der sicherzustellen, dass zu jeder Zeit Neurologen oder Neu- Gesellschaft – ich habe das in vielen Rückmeldungen rochirurgen feststellen können, wann die Hirnfunktionen mitbekommen – am Mittagstisch, auf der Arbeit, in der unwiederbringlich ausgefallen sind und damit eben eine Nachbarschaft geführt worden ist. So ist aus der politi- Organspende möglich ist. Durch Verträge zwischen den schen Debatte hier im Bundestag, aus unserem Ringen Kostenträgern und der Ärzteschaft soll sichergestellt auch um grundsätzlichere Fragen der Organspende, eine werden, dass wir regional entsprechende Bereitschafts- Debatte geworden, die tatsächlich in die Breite der Ge- dienste haben, die kurzfristig abrufbar sind. Wir sammeln sellschaft gestreut ist. Das zeigt eben: Sich mit dem The- parallel ja auch Erfahrungen aus dem Transplantations- ma zu beschäftigen und Aufmerksamkeit zu schaffen für register; dabei geht es darum, gezielt im Einzelfall zu die Fragen von Organspende, vor allem für die Situation, sehen, was dann passiert ist oder woran möglicherweise dass 10 000 Menschen warten, führt dazu, dass Organ- eine Organspende gescheitert ist. spendezahlen steigen. Und das zeigt: Eine Debatte macht einen Unterschied. Ich halte das für sich genommen auch Ein letzter, ein vierter Punkt, den ich ansprechen will, schon für ein gutes Signal. der mir auch persönlich sehr wichtig ist, ist die Frage der Angehörigenbetreuung. Die Empfänger eines Organs, ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ner Organspende möchten ihren Dank gerne ausdrücken, Sabine Dittmar [SPD]) auch ausdrücken können gegenüber der Familie, den Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir Angehörigen des Spenders. Das muss natürlich anonym vor allem die Strukturen in den Krankenhäusern verän- passieren. Es muss aber trotzdem möglich sein. Nach der dern, die Organisation dort verbessern, auch Vergütungs- derzeitigen Rechtsprechung haben wir keine ausreichen- fragen so regeln, dass es für die Krankenhäuser, die sich de Rechtsgrundlage dafür. Das heißt, der Dank des Emp- um Organspende und höhere Spendenzahlen kümmern, fängers erreicht heute nicht die Angehörigen des Organ- nicht auch noch ein Nachteil ist, das zu tun. spenders. Und das wollen wir hiermit ändern. Was genau haben wir vor? Ich will vier Punkte kurz Ich weiß aus dem eigenen Bekanntenkreis etwa von (B) aufgreifen. einer Familie, die ihren Sohn leider sehr früh durch einen (D) Unfall verloren hat und die bis heute im positiven Sinne Das Erste ist die Frage des Transplantationsbeauf- davon zehrt, dass ihr Sohn – sie musste ja in einer sehr tragten, der es im Klinikalltag heute oft schwer hat, den schwierigen Situation die Entscheidung treffen, dass er nötigen Freiraum, die nötige Zeit und manchmal auch als Organspender zur Verfügung steht – die nötige Aufmerksamkeit in der jeweiligen Klinik zu haben. Das ist, wie ich aus vielen Gesprächen weiß, sehr ( [SPD]: Finde ich ganz rich- unterschiedlich. Einige Krankenhäuser machen das sehr tig!) vorbildlich; andere tun sich da bis jetzt eher schwer. Es helfen konnte. Eine solche Entscheidung fällt einem ja geht also darum, dem Transplantationsbeauftragten durch erst einmal schwer. Die Dankesbriefe und auch die Tref- verbindliche Freistellungsregelungen und eine entspre- fen, die die Stiftung im Rahmen der Nachbetreuung or- chende Refinanzierung mehr Freiraum und mehr Zeit zu ganisiert, sind für sie sehr wichtig, auch emotional, weil geben. Seine Position im Klinikalltag soll aufgewertet sie so wissen, dass es geholfen hat, und das dann auch werden, auch hinsichtlich Informationsmöglichkeiten, für sich selbst klar haben. Deswegen ist das eine relativ also Zugang zu Informationen und zu Intensivstationen, kleine, aber eine wichtige Regelung, gerade auch für die aber vor allem auch hinsichtlich der Möglichkeiten, po- Angehörigen der Organspender. tenzielle Organspender zu identifizieren und insbesonde- re – das ist ja das Entscheidende – in sehr schwierigen (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Lebenslagen Gespräche in aller Ruhe zu führen. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Das zweite große Thema ist die Frage der Vergütung. Harald Weinberg [DIE LINKE]) In den Krankenhäusern, in denen die Organe entnommen werden, bedeutet das natürlich auch eine Beanspruchung Ich würde mich sehr freuen, wenn dieses Gesetz in von Ressourcen und Kapazitäten, ob es um Apparate, einem relativ großen Konsens beschlossen würde. Wir Diagnostik, Pfleger, Ärzte oder auch den Operationssaal haben schon im Bundesrat gemerkt, dass dies einer der geht, der dann über Stunden entsprechend vorgehalten ganz wenigen Gesetzentwürfe ist, zu dem es nicht ei- wird. Es muss dafür gesorgt sein, dass ein Krankenhaus, nen einzigen Änderungswunsch des Bundesrates gege- das sich aktiv darum kümmert, dass die Spenderzahlen ben hat. Meine Bitte an den Deutschen Bundestag ist, steigen und dass Organe entnommen werden können, dass wir schnell in die Beratungen einsteigen und sie nicht auch noch finanziell schlechtergestellt ist. Deswe- möglichst zügig abschließen, damit die entsprechenden gen haben wir sehr großzügige Regelungen vorgesehen, Verbesserungen dann auch sehr schnell in den Kliniken um diese Mehrkosten abzudecken. Ich denke, dass das spürbar sind. Parallel werden wir hier im Deutschen Bun- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8575

Bundesminister Jens Spahn (A) destag noch die grundsätzlichen Fragen, zum Beispiel ob regeln, dass dadurch die Würde des Todes für die Ange- (C) Entscheidungs- oder Widerspruchslösung, miteinander hörigen nicht genommen wird. debattieren. Ich fände es aber ein starkes, ein schönes (Beifall bei der AfD) Signal, wenn wir dieses Gesetz, das vor allem Organisa- tions- und Finanzfragen, die aber sehr konkrete positive Nur solche klaren Regelungen machen es möglich, al­ Wirkungen haben, beinhaltet, jetzt auch zügig in die Be- truistisches, mitmenschliches Engagement durch Spende ratungen bringen. eigener Organe auch ehrenamtlich zu würdigen. Danke schön. Darüber hinaus werden die Transplantationsbeauf- tragten mit umfassenden Rechten ausgestattet. Während (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- sie vor der Änderung des Gesetzes lediglich organisa- wie bei Abgeordneten der FDP) torische Helfer nach Hirntodfeststellung waren, werden sie jetzt ermächtigt, die Verfahrensregelungen im Kran- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: kenhaus eigenständig und zu beliebigen Zeitpunkten zu Dr. Axel Gehrke, AfD, ist der nächste Redner. bestimmen. So ein Fehlen allgemeingültiger, gesetzlich bestimmter Verfahrensregelungen schafft kein Vertrauen, (Beifall bei der AfD) und genau darum geht es, wenn Sie Organspender gewin- nen wollen. Dr. Axel Gehrke (AfD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall bei der AfD) Herren! Die von Ihnen, Herr Spahn, soeben vorgelegten Zusätzlich werden Entnahmekrankenhäuser für ihre Änderungen zum Transplantationsgesetz leisten in der Leistungen bei der Organspende besser vergütet, wobei Tat einen Beitrag zu entsprechenden Verbesserungen der die Vergütung dafür außerhalb dessen liegt, was über das Organisationsabläufe im Krankenhaus. Eine entschei- DRG-System abgerechnet werden kann. dende Rolle spielt dabei – Sie sagten es – der oder die Transplantationsbeauftragte. Soweit es sich dabei um Die ganze Problematik hat das Mitglied des Deut- Verbesserungen organisatorischer Zuweisungen handelt, schen Ethikrates, Professor Höfling, in einem prägnanten sind wir weitgehend einer Meinung. Satz zusammengefasst. Ich zitiere: Die Transplantationsbeauftragten sollen aber auch die Was die deutsche Transplantationsmedizin und ihre Angehörigen „in angemessener Weise“ begleiten. Wäh- Patienten wirklich brauchen, ist ein Systemwechsel rend Sie in Ihrem Gesetzentwurf an allen möglichen vom Defizitmodell der Selbstregierung zu einem Ecken und Enden Verfahrensabläufe geändert haben, demokratisch legitimierten, rechtsstaatlich struktu- (B) lassen Sie an dieser Stelle einen unbestimmten Rechts- rierten und kontrollierten Transplantationssystem. (D) begriff als leere Worthülse stehen. Sie machen es sich zu Haben Sie den Mut, in diesem Sinne zu handeln. einfach, wenn Sie hier nur Organisatorisches vorlegen, aber die wahren Fragen, Sorgen und Ängste der Bevöl- Vielen Dank. kerung ausklammern. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Es fehlt Ihnen der Mut – der Mut zur Wahrheit. Das laste ich Ihnen gar nicht persönlich an. Denn dieser Mut fehlte Nächster Redner ist Dr. Karl Lauterbach, SPD. auch allen Ihren Vorgängern, und dieser Mut fehlt sogar (Beifall bei der SPD) Ärzteverbänden bis hin zur Bundesärztekammer. (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Dr. Karl Lauterbach (SPD): GRÜNEN]: Und Sie wissen es besser!) Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen! Zunächst einmal ist festzustellen, dass eine leichte Der Gesetzgeber sollte in einer so sensiblen Lebens- Zunahme der Spendenbereitschaft und eine leichte Zu- situation es eben nicht den Transplantationsbeauftragten nahme der Zahl der Organspenden zu verzeichnen sind. anheimstellen, was sie unter „angemessen“ verstehen, Aber wir dürfen uns nichts vormachen: Nach wie vor ste- sondern klare, der Wirklichkeit entsprechende Angaben hen zehnmal so viele Menschen auf der Warteliste, wie machen. Dazu gehören erstens der wahre Umgang mit Organspender zur Verfügung stehen. Weiterhin sterben dem Hirntod als Todesfeststellung – der Hirntod ist zwar pro Jahr doppelt so viele Menschen an einem Organver- ein sicheres Zeichen des unabdingbaren Sterbens, aber sagen, wie es Organspenden gibt. Jetzt nach der Zunah- nicht der Tod eines mit künstlichen Maßnahmen am Le- me wurden zwar etwa 1 000 Organspenden durchgeführt, ben gehaltenen Organismus –, zweitens eine klare Fest- trotzdem sterben jedes Jahr 2 000 Menschen, während sie legung, ab wann und unter welchen Bedingungen sie, auf ein Organ warten. die Transplantationsbeauftragten, anordnen dürfen, mit sogenannten organprotektiven Maßnahmen zu begin- Jeder einzelne Organspender hilft im Durchschnitt nen, drittens klare Regelungen, dass sie zu keinem Zeit- drei bis vier anderen Menschen, die auf ein Organ war- punkt psychischen Druck auf die Angehörigen in dieser ten. Betrifft das Leber-, Lungen- oder Herztransplantati- für diese sowieso schon schweren Zeit ausüben dürfen, onen, bedeutet das, dass die Betroffenen vor dem sonst und viertens gehört dazu, das Prozedere des Abschied- sicheren Tod gerettet werden. Für Menschen, die an der nehmens nach der Transplantation verpflichtend so zu Dialyse sind, bedeutet eine Transplantation, dass ihre 8576 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Karl Lauterbach (A) Lebensqualität verbessert und ihre Lebenserwartung ver- höchstem Niveau zur Verfügung stehen; denn in diesem (C) längert wird. Bereich ist jeder einzelne Fehler absolut unverzeihlich. Daher werden wir einen Rund-um-die-Uhr-Bereit- Im Durchschnitt warten die Menschen in Deutschland schaftsdienst organisieren, der einen entsprechenden Ab- zehn Jahre auf ein Organ. Stellen Sie sich vor, was das lauf auf höchstem Niveau sicherstellt. Auch das ist eine für eine Belastung ist. Es handelt sich oft um junge Men- wichtige Initiative. schen, die zehn Jahre auf ein Organ zu warten. Viele wis- sen, dass im Ausland um uns herum die Wartezeiten viel (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie kürzer sind. Es gibt mittlerweile sogar Spendebedürftige, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE die ins Ausland ziehen, weil dort eher die Möglichkeit GRÜNEN) besteht, ein Organ zu bekommen. Es gibt Wegzüge aus Deutschland nach Spanien, wo die Zahl der Organspen- Wir werden insgesamt über zwei Gesetzentwürfe den um ein Vielfaches höher ist. Daher bitte ich Sie, die debattieren. Heute debattieren wir über die Organisati- Bedeutung des Gesetzes nicht zu unterschätzen. on der Organspende, demnächst debattieren über einen Gesetzentwurf, mit dem wir die Spendebereitschaft re- Ich bin dankbar, dass Konsens über die Notwendig- geln wollen. Wir sollten diese beiden Gesetzentwürfe keit einer Änderung besteht. Ich möchte betonen: Bei der nicht gegeneinander ausspielen. Wir brauchen beides. Ausarbeitung des Gesetzentwurfs haben wir gezeigt, wie Beides muss optimal funktionieren. Was nützt eine opti- gute Zusammenarbeit funktioniert. Wir haben wirklich male Organisation eines Ablaufs, für den uns dann aber jeden Vorschlag aufgegriffen, übrigens auch Vorschläge die Spender fehlen. Wir müssen über die vorliegenden aus der Opposition. Vorschläge diskutieren. Herr Spahn und ich haben sogar einen eigenen Vorschlag vorbereitet, der sich noch in (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Diskussion befindet. Hierzu gibt es auch Gegenvor- NEN]: Das solltet ihr öfter machen!) schläge. Letztendlich brauchen wir eine optimale Orga- Wir haben uns nicht auf das Wissen innerhalb der Großen nisation, aber wir müssen auch sicherstellen, dass jeder Koalition beschränkt, sondern wir haben alle Anregun- potenzielle Spender auch tatsächlich zum Spender wird. gen aufgenommen, weil wir ein Gesetz aus einem Guss Bisher wollen 85 Prozent der Menschen spenden, aber machen wollten. nur rund 35 Prozent der Menschen haben einen Organ- spendeausweis. Das ist ein großes Problem. Wir müssen Lassen Sie mich etwas zum Geist der Gesetzgebung beide Aspekte zusammenbringen. insgesamt sagen. In kaum einem anderen Bereich ver- hält es sich wie bei der Organspende im Krankenhaus. Wir werden die entsprechende Debatte führen, die Dort ist es nämlich so: Wenn ich es gut mache, dann aber den vorliegenden Gesetzentwurf in keiner Weise (B) mache ich Verluste. Tatsächlich können Krankenhäu- entwertet oder überflüssig macht. (D) ser mit einer guten Organisation der Organspende nur Verluste machen, weil der Transplantationsbeauftragte (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nicht freigestellt ist und nicht ausreichend bezahlt wird. Die Pauschale für die Vorbereitung der Spende ist nicht Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ausreichend; denn sie ist undifferenziert, zu niedrig und Katrin Helling-Plahr, FDP, ist die nächste Rednerin. berücksichtigt keine Sonderposten. Alle drei Proble- me lösen wir. Wir werden eine differenzierte Pauschale (Beifall bei der FDP) einführen, es wird eine Kostenerstattung für Mehrkosten geben, und wir werden darüber hinaus eine direkte Ver- Katrin Helling-Plahr (FDP): gütung der Anteile, die nicht in der Pauschale enthalten Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Mi- sind, vornehmen. Das ist eine deutliche Verbesserung. nister! Meine Damen und Herren! Herr Minister, Sie tref- fen einige überfällige Maßnahmen wie etwa die Freistel- Das führt aber nicht dazu – das sage ich in Richtung lung der Transplantationsbeauftragten, die wir lange derjenigen, die es falsch darstellen –, dass man mit ei- gefordert haben und die die Bundesregierung bisher ver- ner Organspende Gewinne machen kann; das ist für ein schlafen hat. Hierfür haben Sie auch aus der Opposition Krankenhaus ein eher kleiner Posten. Hier ist aus meiner heraus Respekt verdient. Aber, Herr Minister Spahn, ich Sicht die Rückkehr zur Kostenerstattung die richtige He- hätte mehr Mut von Ihnen erwartet. rangehensweise, nicht die Hinkehr zur Gewinnmaximie- rung. Die Kosten müssen erstattet werden, aber es dürfen Kürzlich ging der Fall von Alexander Ernst durch die keine Gewinne gemacht werden. Wir wollen an die Kran- Medien. Alexander Ernst ist 31 Jahre alt, dialysepflichtig kenhäusern nicht den Anreiz weitergeben: Spendet mehr und wartet auf eine Spenderniere. Seine Mutter würde als notwendig! – Jede Spende muss angemessen sein. ihm sehr gerne eine Niere spenden. Leider ist das Organ Weder zu wenige noch zu viele Spenden sind akzeptabel. für ihn nicht kompatibel. Es hätte aber die Möglichkeit zu einer Überkreuzspende gegeben. Damit wäre sowohl (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Alexander Ernst als auch einem weiteren Betroffenen ge- der CDU/CSU) holfen gewesen. Eigentlich eine großartige Chance, doch Die Basis für eine Organspende ist das Vertrauen, die Überkreuzspende scheiterte an unserem Transplanta- dass der Tod auch eingetreten ist; der Kollege von der tionsgesetz. Danach bedarf es für die Lebendspende stets AfD hat es eben angesprochen. Dafür brauchen wir eine verwandtschaftlicher Beziehungen oder jedenfalls eines gute, belastbare und sichere Feststellung des Hirntods. besonderen Näheverhältnisses zwischen Organspender Dafür muss in den Kliniken eine Konsiliarbetreuung auf und -empfänger. Das besteht zwar zwischen Alexander Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8577

Katrin Helling-Plahr (A) Ernst und seiner Mutter, nicht aber zu dem fremden Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (C) Überkreuzspendepaar. (Beifall bei der FDP) Die Spende ist damit bei uns gesetzlich nicht zulässig. Alexander Ernst hängt weiter an der Dialyse. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das Harald Weinberg, Die Linke, ist der nächste Redner. müssen wir ändern!) (Beifall bei der LINKEN) Herr Spahn, Sie weisen zu Recht darauf hin, dass alle acht Stunden ein Mensch auf der Warteliste stirbt, weil kein passendes Spenderorgan gefunden wird. Wir haben Harald Weinberg (DIE LINKE): über 10 000 Menschen auf der Warteliste. Neun von zehn Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und warten auf eine Leber- oder Nierenspende. Ihnen könnte Kollegen! Das Thema des Antrags der FDP, die altruisti- mit einer Lebendspende geholfen werden. sche Lebendspende, ist natürlich ein schwieriges Thema. Ich habe dafür durchaus ein paar Sympathien, sehe aller- (Beifall bei der FDP) dings auch bestimmte Risiken. Ich denke, im weiteren Wenn Sie es ehrlich meinen, wenn Sie wirklich etwas än- Verfahren werden wir sehen, was die Anhörungen und dern wollen, dürfen Sie den Bereich der Lebendspende die Debatten dazu bringen. nicht einfach bewusst vergessen. Zu dem Fall Alexander Wir haben gerade gehört, dass die lange Zeit rückläu- Ernst wollte Ihr Ministerium keine Stellung nehmen. figen Spenderzahlen jetzt wieder anziehen. Das ist schön. Bringen Sie dann wenigstens jetzt den Mut auf, sich der Es gibt aber immer noch sehr, sehr viele Menschen auf Thematik der Organlebendspende zu stellen. der Warteliste. Nicht so im Fokus sind die Entnahme- Auch über die Problematik der Überkreuzspende hi- krankenhäuser. Darauf möchte ich ganz kurz zu sprechen naus ist unser Uralt-Transplantationsgesetz dringend kommen. überarbeitungsbedürftig. Warum ermöglichen wir kei- Insgesamt haben wir knapp 2 000 Krankenhäuser in ne Spenden in anonyme Organpools? Wir finden, wenn Deutschland. Davon sind etwa 1 300 als Entnahmekran- sichergestellt ist, dass jemand freiwillig aus selbstlosen kenhäuser gemeldet, darunter 36 Uniklinika, 124 Kran- Motiven spenden möchte, dann soll er das auch dürfen! kenhäuser mit Neurochirurgie – dort ist das alles sicher (Beifall bei der FDP) kein großes Problem –, aber auch über 1 000 Kranken- häuser ohne Neurochirurgie. Angesichts von insgesamt (B) Lassen Sie uns außerdem die Nachrangigkeit der Le- weniger als 1 000 Entnahmen pro Jahr – wir haben es ja (D) bendspende gegenüber der postmortalen Spende aufhe- gerade gehört; im Schnitt sind es 950 Spender im Jahr – ben. Derzeit ist die Organspende eines Verstorbenen stets ist klar, dass die Organentnahme bei einem Spender in einer Lebendspende vorzuziehen. Das gilt zum Beispiel vielen Häusern eher ein seltenes Ereignis ist. Das führt auch, wenn der eigene Ehepartner ausdrücklich spenden logischerweise dazu, dass die Stellung des Transplantati- möchte; er darf nicht. Obwohl die medizinischen Aus- onsbeauftragten in diesen Häusern nicht besonders stark sichten für einen Betroffenen nach der Lebendspende ist, dass das eher sozusagen nebenherläuft und insgesamt besser sind, muss er erst darauf warten, dass eine andere nicht so besonders wichtig genommen wird. Und im Fal- Person stirbt. Das ist doch absurd. le eines Spenders muss Expertise, zum Beispiel für die Hirntodfeststellung, von weither angefordert werden. (Beifall bei der FDP) Angesichts weniger Intensivbetten und Operationssä- Lassen Sie es uns dem Ehegatten künftig auch erlauben, len in diesen kleinen und mittleren Häusern, die bei einer zu spenden. Einem weiteren Patienten auf der Warteliste Entnahme logischerweise für längere Zeit belegt wären, ist dann gleich mitgeholfen. ist klar: Es bestehen nicht besonders gute Strukturen, Sehr geehrter Herr Minister Spahn, liebe Kolleginnen um das nach vorne zu bringen. Die bisherige Vergütung und Kollegen, natürlich ist die Lebendspende ein ethisch deckt womöglich die Kosten der Infrastruktur, gleicht schwieriges Thema. Aber die Chance auf Leben für Be- aber den Erlösausfall unter den Bedingungen der dia­ troffene auf den Wartelisten ist es wert, sich dieser De- gnoseorientierten Fallpauschalen in den Krankenhäusern batte zu stellen. Natürlich muss sichergestellt werden, nicht aus. Das alles sind also keine günstigen Strukturen dass eine Lebendspende freiwillig und aus selbstlosen für die Organspende. Motiven erfolgt. Spender müssen umfassend aufgeklärt Auch wenn die Debatten über die Zustimmungsrege- werden. Wenn sie dann aber als mündige Patienten eine lung sicher mehr Öffentlichkeit erzielen als die Debatten Entscheidung für eine Spende treffen wollen, sollen sie über die Strukturen, weil sie leichter in ein Talkshowfor- das auch dürfen. mat – Infotainment – zu überführen sind, und auch wenn (Beifall bei der FDP) der neueste Vorschlag, die Spendenbereitschaft mittels Ehrenamtsnadel und Vergünstigungen bei Einkäufen und Die derzeitige Situation in Deutschland wird weder Eintritten anzureizen, nett sein mag – vielleicht auch et- unseren humanistischen Werten noch den Anforderungen was merkwürdig daherkommt –, sind all das aus meiner an eine moderne Versorgung gerecht. Es ist Zeit, etwas Sicht nicht die entscheidenden Punkte. Ich bin trotz allem daran zu ändern. überzeugt, dass die ungünstigen Strukturen in der Orga- 8578 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Harald Weinberg (A) nisation der Organspende der eigentliche Flaschenhals Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) sind. Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Bündnis 90/Die Grünen, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und ist die nächste Rednerin. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Insofern setzt der Gesetzentwurf, der uns vorliegt, auch aus unserer Sicht an den richtigen Stellen an, um Dr. Kirsten Kappert-Gonther (BÜNDNIS 90/DIE das noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen. Das Ge- GRÜNEN): setz, wenn es so oder ähnlich verabschiedet wird – es Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- geht ja noch durch die Beratungen in den Ausschüssen gen! Eine einzige Organspenderin, ein einziger Organ- und durch die Anhörung –, ist dazu angetan, den beste- spender kann im Schnitt drei Menschen helfen, die auf henden Flaschenhals in den organisatorischen Strukturen ein Spenderorgan warten. Organspende rettet Leben; das der Entnahmekrankenhäuser weiter zu machen. Beseiti- ist völlig klar. Gleichzeitig bereitet das Thema vielen gen wird es den Flaschenhals aus unserer Sicht allerdings Unbehagen, weil es immer die Konfrontation mit dem nicht. Dazu wäre eine sehr viel weitreichendere Umstel- eigenen Tod bedeutet. Darum ist es so wichtig, dass wir lung notwendig, vor allen Dingen in der Finanzierung uns alle mit diesem komplizierten Thema auseinander- der Krankenhäuser, weg von den Fallpauschalen. Das ist setzen. Wir haben das jüngst in einer, wie ich finde, be- aber nicht in Sicht, auch wenn das DRG-System immer merkenswerten Orientierungsdebatte hier im Deutschen weiter unter Druck gerät, wie wir in den Diskussionen Bundestag getan. In dieser Debatte ging es vor allem um merken. die ethischen Aspekte dieses ganzen Themas. Heute nun debattieren wir über einen Gesetzentwurf, der die Struk- Aber auch innerhalb der bestehenden Systematik turen in den Kliniken verbessern soll. Diese Strukturen würden wir uns weiter gehende Regelungen an ein paar sind die entscheidenden Stellschrauben, um die Zahl der Stellen wünschen, so zum Beispiel bei der Vergütung, bei tatsächlich realisierten Organspenden endlich zu verbes- der Organisation und bei der Begleitung der Angehörigen sern. und auch der Beschäftigten; denn eine Organentnahme in den Krankenhäusern ist für alle auch eine seelisch her- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausfordernde Situation, die verarbeitet werden muss. NEN sowie des Abg. Harald Weinberg [DIE LINKE]) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (B) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Stellen Sie sich vor, Sie haben sich zu Lebzeiten kom- (D) plett freiwillig und selbstbestimmt dazu entschieden, im Transparenz, Vertrauen und eine sensible Begleitung Fall Ihres Todes Organspenderin oder Organspender zu bei der Organentnahme sind wichtige Aspekte, die einen sein. Und dann gehen im Fall der Fälle Ihre Organe als Einfluss auf die Spendenbereitschaft haben, und zwar ei- Spenderorgane verloren, weil Sie als potenzieller Organ- nen großen Einfluss. Ob eine Stiftung mit einem zentra- spender in der Klinik nicht identifiziert und Ihre Orga- len Einfluss der Bundesärztekammer als privatrechtlicher ne nicht gemeldet werden. Das ist tragisch. Doch das ist Verein – in dem Fall also die DSO, die Deutsche Stiftung leider noch viel zu oft Realität in unseren Kliniken. Das Organtransplantation – die dazu notwendigen Vorausset- darf so nicht bleiben. zungen herzustellen vermag, dahinter darf man mit Blick (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf die vergangenen Jahre ein Fragezeichen setzen. Ich sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und denke an die Skandale, die in den Jahren 2010, 2011 und der LINKEN) 2012 in der Diskussion waren. Schon 2012 haben wir in einem Antrag gefordert, diese Aufgaben einer staatlichen Eine Studie der Universität Kiel hat klar gezeigt: Die Instanz unter strenger Fachaufsicht zu übertragen. Wir entscheidenden Stellschrauben liegen im Erkennen und werden das wieder in die Anhörung und die Beratungen Melden potenzieller Organspender. Das ist der Hebel. einbringen. Im vergangenen Herbst haben wir mit dem Gesund- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. heitsausschuss eine Reise zum Organspendeweltmeister Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/ Spanien gemacht, um zu hören: Wie können sie ihre gu- DIE GRÜNEN]) ten Organspendezahlen realisieren? Auch dort dasselbe Ergebnis – die Antwort war eindeutig –: Organisation Fazit: Alles in allem ist der Gesetzentwurf sicher ein und das Vertrauen der Bevölkerung in das Organspen- Schritt in die richtige Richtung. Wir sind auf die weite- dewesen. ren Beratungen und die Anhörung gespannt. Davon wird letztlich das Votum unserer Fraktion abhängen. Es gibt keinen Grund, in die Entscheidungsfreiheit der Menschen einzugreifen, um die Zahl der Organspenden Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zu erhöhen. Was wir brauchen, sind gute Abläufe in den Kliniken und Menschen, die sich des Themas mit Kennt- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. nis und Herzblut annehmen: Ärztinnen und Ärzte, Pfle- Stephan Pilsinger [CDU/CSU]) gekräfte. Was wir brauchen, ist eine angemessene Vergü- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8579

Dr. Kirsten Kappert-Gonther (A) tung der Organspende in den Kliniken. Was wir brauchen, Grund mangelndes Vertrauen an; mangelndes Vertrau- (C) ist ein sensibler Umgang mit den Angehörigen. en in die Transplantationsmedizin durch die Skandale der letzten Jahre. Das darf uns nicht kaltlassen. Es wäre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dringend geboten, gerade in diesem sensiblen Bereich für sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- mehr Transparenz und klare und, wie ich finde, staatliche KEN) Aufsichtsstrukturen zu sorgen. Ich will mal zum Äußersten schreiten und anerken- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen, Herr Minister Spahn – Sie sitzen da hinten –: Das sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ist wirklich ein gutes Gesetz, das Sie hier vorlegen – end- lich. Im europäischen Ausland sind die Kenntnis und das (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wissen über Organspenden in der Aus- und Weiterbil- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und dung sowohl der Ärztinnen und Ärzte als auch des Pfle- der FDP) gepersonals viel stärker verankert. Das macht doch Sinn! Wir sollten Wege finden, das Thema Organspende auch Früher wäre noch besser gewesen. Aber immerhin jetzt in Deutschland stärker in den Curricula zu verankern. sollen die Transplantationsbeauftragten angemessen frei- gestellt werden, die Finanzierungslücke soll geschlossen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden, und ein neurologischer Konsiliardienst soll ver- Diese Aspekte und vielleicht noch ein paar mehr wer- bindlich eingerichtet werden. Das ist alles richtig. Darum den wir im Zuge der Beratungen noch debattieren. Dann unterstützen wir Grünen diesen Gesetzentwurf – weitge- wird dieses Gesetz vielen Menschen helfen, die jetzt auf hend. den Wartelisten stehen und die sich nichts mehr wün- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – schen als ein Spenderorgan. Tino Sorge [CDU/CSU]: Umfänglich wäre Vielen Dank. besser!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Anders als von Ihnen vorgeschlagen, finden wir, dass sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die private Krankenversicherung bei der Finanzierung SPD und der LINKEN) des geplanten neurologischen Dienstes stärker in die Ver- antwortung genommen werden muss. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Stephan Pilsinger, CDU/CSU, ist der nächste Redner. NEN sowie des Abg. Harald Weinberg [DIE (B) LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Die Expertinnen und Experten, die sich mit dem Ner- vensystem auskennen, sollen überall und jederzeit bei Stephan Pilsinger (CDU/CSU): der Hirntodfeststellung zurate gezogen werden können. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Warum soll dieser Dienst allein von den gesetzlich Ver- Bundesminister Spahn! Meine Damen und Herren! Zu- sicherten finanziert werden? Warum erhält die private allererst: Danke an Bundesminister Spahn für den ge- Krankenversicherung ein Mitspracherecht bei der Aus- lungenen und zielführenden Entwurf des Gesetzes für gestaltung, ihr finanzieller Beitrag aber bleibt freiwillig? bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Das ist ungerecht und muss noch geändert werden. Organspende. Der Gesetzentwurf baut auf der zentralen Erkenntnis auf, dass die niedrigen Organspendezahlen in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland auf Probleme im Prozess der Organspende sowie bei Abgeordneten der SPD und der zurückzuführen sind. Das ist richtig. Und daraus zieht LINKEN) der Gesetzentwurf auch die richtigen Schlüsse. Aus meiner Sicht brauchen wir auch über das Gesetz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hinausgehende Strukturverbesserungen. Wir brauchen ein zentrales Organspenderegister; Bei der Erhöhung der Zahl der Organspenden in Deutschland kommt den Krankenhäusern, in denen Or- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gane entnommen werden, eine entscheidende Rolle zu. SES 90/DIE GRÜNEN) Deshalb setzt der Gesetzentwurf auch hier an. ein Register, in das sich alle freiwillig eintragen können, Fünf Punkte hebe ich hervor: erstens mehr Zeit für die die Organe spenden wollen. Die gesetzliche Grundlage Transplantationsbeauftragten, zweitens eine faire Bezah- steht bereits im Transplantationsgesetz. Warum nutzen lung der Entnahmekrankenhäuser, drittens eine regiona- Sie diese Möglichkeit nicht, Herr Minister? Diese Mög- le Rufbereitschaft für qualifizierte Ärzte, viertens eine lichkeit nicht zu nutzen, bedeutet verschenktes Potenzial. verbesserte Qualitätssicherung und fünftens eine besse- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) re Betreuung der Angehörigen von Spendern. Das alles wird dazu beitragen, mehr Menschenleben zu retten. Ganz besonders wichtig ist es, das Vertrauen in das Organspendesystem wiederherzustellen, und zwar stär- Erstens. Die Transplantationsbeauftragten werden ker, als das jetzt der Fall ist. Viele Menschen, die in ih- mehr Zeit für ihre wichtige Aufgabe haben; denn das rem Organspendeausweis ein Nein stehen haben – das Gesetz sieht vor, dass sie anteilig von ihren sonstigen hat jüngst eine Erhebung der BZgA ergeben –, geben als Aufgaben im Entnahmekrankenhaus freigestellt werden. 8580 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Stephan Pilsinger (A) Diese anteilige Freistellung der Transplantationsbeauf- onymisierten Schreiben. Ein solcher Kontakt ist für viele (C) tragten wird zukünftig vollständig refinanziert. Betroffene von großer Bedeutung.

Darüber hinaus stärken wir die Rolle der Transplan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. tationsbeauftragten deutlich. Sie bekommen künftig Zu- Sabine Dittmar [SPD]) gang zu den Intensivstationen und alle erforderlichen All diese Regelungen tragen dazu bei, die Strukturen Informationen zur Auswertung des Spenderpotenzials. in Bezug auf die Organspende in den Entnahmekranken- Außerdem sollen sie hinzugezogen werden, wenn Pati- häusern zu verbessern. Sie tragen dazu bei, dass die Zah- entinnen und Patienten nach ärztlicher Beurteilung als len der Organtransplantationen in Deutschland wieder Organspender in Betracht kommen. Künftig können die steigen. Das sind wir den etwa 10 000 Patienten schuldig, Transplantationsbeauftragten zudem für fachspezifische die dringlichst auf ein Spenderorgan warten. Fort- und Weiterbildungen freigestellt werden. Die Kos- ten dafür trägt die Klinik. All diese Neuerungen sind Vielen Dank. Ausdruck der Wertschätzung der wichtigen Tätigkeit der Transplantationsbeauftragten. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: neten der FDP und der Abg. Sabine Dittmar Detlev Spangenberg, AfD, ist der nächste Redner. [SPD]) (Beifall bei der AfD) Zweitens. Die Entnahmekrankenhäuser erhalten mehr Geld. Das ist ein äußerst wichtiger Punkt des Gesetzent- Detlev Spangenberg (AfD): wurfes. Bisher ist eine Organentnahme für die Entnah- mekrankenhäuser defizitär, das Krankenhaus zahlt drauf. Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Die aktuellen Erstattungsbeträge mögen zwar den tat- Zahl der freiwilligen Organspender in Deutschland zu sächlichen Aufwand der Organentnahme abdecken. Die erhöhen, ist das Thema. Ansatz: Wir haben zu wenig Or- Beträge berücksichtigen aber unter anderem nicht, dass ganspender. das Bett auf der Intensivstation nicht mit einem anderen Wir müssen zwischen der geringen Organverfügbar- Patienten belegt werden kann, dass das Personal nach keit und der geringen Spendenbereitschaft unterschei- einer nächtlichen Organentnahme am nächsten Tag im den. Die zu geringe Organverfügbarkeit hängt natürlich Routinebetrieb fehlt oder dass ein Arzt Zeit aufwendet, auch damit zusammen, dass wir einen anderen Standard um potenzielle Organspender zu identifizieren. Wer Or- haben: Hirntod gegenüber Herztod. Aber das ist heute (B) gane entnimmt, macht zurzeit ein Minus. Das hört jetzt nicht das Thema, sondern es geht um die Bereitschaft. (D) endlich auf. Meine Damen und Herren, die Spendenbereitschaft (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- betrifft einen der sensibelsten Bereiche in der Medizin. ordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/ Hier geht es um Leben und Tod. Der eine kann nur dann DIE GRÜNEN) leben, wenn der andere stirbt. Das heißt, Vertrauen als Grundlage, als Motivation, zu spenden, ist hierbei das Drittens. Mit dem neuen Gesetz wird zudem ein bun- Wichtigste, was wir haben. Das bedeutet weiterhin, dass desweiter neurologischer Konsiliardienst in Rufbereit- wir uns keine Skandale leisten können. Auch der leiseste schaft eingeführt. Dieser gewährleistet, dass jederzeit Ansatz kann die Motivation, Spender zu sein, zerstören. flächendeckend qualifizierte Ärzte bei der Feststellung Deswegen ist es so wichtig, dass wir hier ganz vorsichtig des irreversiblen Hirnfunktionsausfalles zur Verfügung und ganz korrekt vorgehen. stehen. Damit unterstützen wir insbesondere die kleine- ren Entnahmekrankenhäuser; denn diese stehen vor dem Die Verfahren, die wir zurzeit mit Spenderausweis oder Problem, dass sie oft nicht über die notwendige Expertise Information auf der elektronischen Patientenkarte haben, verfügen, um den Hirntod festzustellen. Mit dem Gesetz reichen nicht aus, weil man solche Karten öfter gar nicht zeigen wir einen Ausweg. bei sich hat oder nicht bei sich haben wird. Das heißt, wir brauchen eine andere Erfassungsstelle. Da schwebt mir Viertens. Mit dem Gesetz führen wir ein klinikinternes als Vorschlag vor, dass wir eine zentrale Stelle einrichten, Qualitätssicherungssystem ein. Das ist Grundlage für ein sodass diejenigen, die aufgrund der Organisationsstruk- flächendeckendes Berichtssystem. Dieses ermöglicht es turen Transplantationen durchführen, per Knopfdruck den Entnahmekrankenhäusern und den Landesbehörden, sofort wissen: Das ist ein Spender. So haben sie keinerlei zu beurteilen, ob und inwieweit die einzelnen Entnahme- Zweifel. Sie können arbeiten, ohne dass sie recherchieren krankenhäuser die vorhandenen Organspendemöglich- müssen. Aber: Bei der Einführung einer solchen Kartei, keiten realisieren. Mit diesem System werden potenzielle einer solchen zentralen Stelle, müsste auch eine Wider- Organspender besser erkannt und gemeldet. spruchsmöglichkeit vorgesehen werden, sodass man im Laufe seines Lebens von einer Zustimmung wieder zu- Fünftens – das ist für Angehörige von Organspendern rücktreten kann, wenn man, aus welchen Gründen auch zentral –: Mit dem neuen Gesetz werden die Angehöri- immer, der Meinung ist, man möchte das nicht mehr tun. gen künftig besser betreut. Insbesondere regeln wir ver- Das Problem der Patientenverfügung sollte vom Gesetz- bindlich den Austausch zwischen den Organempfängern geber unbedingt mitberücksichtigt werden; denn eine und den nächsten Angehörigen der Organspender in an- solche kann die Organentnahme verhindern. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8581

Detlev Spangenberg (A) Im Gesetzentwurf des Ministeriums, des Ministers kommt, auch wenn wir die Spender in dieser Gesellschaft (C) wird unter A. Allgemeiner Teil, zweiter Absatz sugge- wirklich ganz deutlich anerkennen und loben müssen. riert, die niedrige Anzahl an Spendern habe mit der Stär- Vielen Dank. kung der Position der Transplantationsbeauftragten zu tun. Das kann ich hier nicht erkennen. Wir müssten erst (Beifall bei der AfD) einmal wissen, welche konkreten Aufgaben ein Trans- plantationsbeauftragter wirklich hat, welche Qualifikati- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: onen er haben müsste. Vor allen Dingen brauchen wir für Sabine Dittmar, SPD, ist die nächste Rednerin. ihn bundeseinheitliche Regelungen und keinen Flicken- teppich, dass die einen Länder das so und die anderen das (Beifall bei der SPD) so machen. Das, denke ich, wird geregelt werden müs- sen. Daran kommen wir nicht vorbei. Sabine Dittmar (SPD): Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Meine Unter 3.5 im Allgemeinen Teil steht, dass „der Grund- Damen und Herren! Die Orientierungsdebatte hier vor stein für den Aufbau eines Qualitätssicherungssystems“ wenigen Wochen hat eines zum Ausdruck gebracht: Or- gelegt werden solle. Da ist natürlich die Frage: Hatten ganspende ist ein Thema, mit dem sich viele Menschen wir vorher kein Qualitätssicherungssystem? Es macht nur sehr ungern auseinandersetzen und worüber sie nur keinen guten Eindruck, wenn so etwas erst eingeführt ungern eine Entscheidung treffen. Letztendlich bedeutet werden muss. es die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Gleichzeitig ist eine Organspende aber für die gut (Beifall bei der AfD) 10 000 Menschen, die aktuell auf der Warteliste stehen, Ich möchte eines deutlich machen, meine Damen und eine Frage von Leben und Tod. Statistisch gesehen wer- den auch am heutigen Tag wieder drei bis vier Menschen Herren: Mit Gewinnerzielungsabsichten im Gesund- in Deutschland versterben, weil sie nicht rechtzeitig ein heitswesen hatte ich sowieso schon immer Probleme, da- passendes Spenderorgan erhalten haben. Diese Zahlen mit, das als wirtschaftlichen Zweckbetrieb zu sehen. In zeigen ganz deutlich: Wir haben dringenden Handlungs- diesem Bereich finde ich das besonders problematisch. bedarf. Erfreulicherweise waren die Spenderzahlen 2018 Es müsste anders gemacht werden, dass vielleicht Spe- deutlich höher als in der Vergangenheit. Aber machen wir zialkliniken ohne ein eigenes Budget dafür Transplanta- uns nichts vor: Wir bewegen uns noch immer auf einem tionen als Pflichtaufgabe mit einem allgemein höheren sehr niedrigen Niveau. Budget durchführen, zum Beispiel eine Universitäts- Deshalb werden wir in dieser Legislaturperiode mit klinik. Diese würde nur diese Arbeit durchführen: kein (B) zwei wichtigen Vorhaben das Thema Organspende anpa- (D) externer Ausweis der anfallenden Kosten, nur ärztliche cken. In einer offenen Debatte werden wir nach Möglich- Pflichtaufgabe, kein Interesse an der Organverpflanzung keiten suchen, die Organspendebereitschaft zu erhöhen. aus wirtschaftlichen Erwägungen. Das würde das Ver- Wir diskutieren von der Widerspruchslösung bis zur ver- trauen stärken. Denn wenn jemand hört, für die Entnah- bindlichen Entscheidungslösung, und das in einer sehr me eines Organs bekommt die Klinik die und die Vergü- fairen Art und Weise. tung, macht das keinen guten Eindruck auf die Spender. Ich denke mir, wenn das eine Pflichtaufgabe wäre, die Ein weiterer immens wichtiger Baustein ist aber das wirklich eingebaut ist, sodass es für die Krankenhäuser Gesetz, über das wir heute hier sprechen. Wir werden die Rahmenbedingungen für die Entnahmekrankenhäuser uninteressant wäre, wie viele sie durchführen, dann hät- mit dem vorgelegten Gesetzentwurf deutlich verbessern. ten wir mehr Vertrauen. Das könnte ich mir vorstellen. So haben wir aktuell in sehr vielen Entnahmekranken- häusern erhebliche Defizite bei der Erkennung, bei der Dann denke ich daran, dass auch das einbezogene Dokumentation und bei der Meldung von potenziellen Personal durch eine schlüssige moralisch-ethische Be- Organspendern. Ein freigestellter Transplantationsbeauf- gründung ihrer Tätigkeit gestärkt werden müsste. Es gibt tragter ist keineswegs Standard. Viele Häuser sind mit viele, die an einer Organentnahme beteiligt sind, die bei dem Prozessablauf einer Organspende überfordert – von diesem sensiblen Thema wirklich Probleme haben. Diese einer kostendeckenden, leistungsgerechten Vergütung Menschen müssten entsprechend geschult und eingeführt ganz zu schweigen. werden, dass sie diese Arbeit auch wirklich ohne Be- klemmung, ohne irgendwelche Nachwirkungen auf ihre Das werden wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eigene Sensibilität durchführen können. ändern. Wir stärken die Schlüsselposition des Transplan- tationsbeauftragten. Wir werden verbindlich regeln, dass Abschließend möchte ich noch eines sagen: Es ist er freigestellt wird, dass er refinanziert wird und dass er vor allem die erforderlichen Durchsetzungsbefugnisse mittlerweile der Trend zu verzeichnen, dass derjenige, bekommt. Das ist wichtig; denn der Transplantationsbe- der spendet, als ganz lieber Mensch dargestellt wird. Das auftragte ist in der Klinik der erste Ansprechpartner für ist auch so. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die nur alle Fragen rund um die Organspende: für medizinisches Anerkennung findet. Aber gleichzeitig dürfen wir nicht und pflegerisches Personal, für die Deutsche Stiftung Or- dazu übergehen, dass diejenigen herabgewürdigt werden, gantransplantation und vor allem für die Angehörigen. die das nicht tun. Ein Organ zu spenden, ist eine freiwil- Das Thema Organspende in einer für Angehörige emo- lige Aufgabe, eine freiwillige Leistung, ist eine eigene tionalen Ausnahmesituation zu besprechen, das erfordert Entscheidung. Diese sollte jeder für sich treffen können, sehr viel Sensibilität, Empathie und vor allem Zeit. Es ist ohne dass er den moralischen Zeigefinger gezeigt be- wichtig, dass sich die Angehörigen in dieser Phase gut 8582 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Sabine Dittmar (A) betreut wissen und mit dem Transplantationsbeauftragten Schritt, um die Organspenderzahlen in Deutschland zu (C) ihre Fragen klären können. Erfahrungen aus Ländern mit erhöhen; einer hohen Bereitschaft zur Organspende belegen die zentrale Rolle des Transplantationsbeauftragten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Weiterhin werden wir sicherstellen, dass die Kliniken, denn Ursache für die alarmierenden Zahlen in Deutsch- die Verantwortung für diese Gemeinschaftsaufgabe Or- land ist nicht die mangelnde Spendenbereitschaft der Be- ganspende übernehmen, transparent, kostendeckend und völkerung, sondern es sind vielmehr der arbeitsintensive leistungsgerecht finanziert werden. Wir schreiben für die Klinikalltag und der Organisationsablauf in den Kliniken. Kliniken im Gegenzug aber verbindlich fest, dass sie po- tenzielle Spender identifizieren und diese auch melden Der vorliegende Gesetzentwurf sieht klar definierte müssen. So kann sich kein Krankenhaus der Verantwor- Freistellungsregelungen für Transplantationsbeauftragte tung beim Thema Organspende entziehen. vor, die – und das ist ganz wichtig – vollständig refinan- ziert werden. Meine Damen und Herren, das ist eine For- Sehr gut sind auch die Regelungen zur Angehöri- derung, die auch wir immer so gestellt haben und sehr genbetreuung; denn es ist sehr wichtig, dass diese sich begrüßen. austauschen können. Da werden wir den anonymisierten Datenaustausch ermöglichen. Auch die besseren Vergütungsregelungen, die Ange- hörigenbetreuung und die Einrichtung eines neurologi- Abschließend noch eine Bemerkung zu einem Thema, schen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienstes sind das mir wichtig ist, nämlich die Bereitstellung eines neu- wichtige und notwendige Maßnahmen, die wir sehr be- rologischen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienstes. grüßen. Damit werden wir dafür sorgen, dass zu jeder Zeit qua- lifizierte Ärzte für die notwendige Diagnostik zur Ver- Umso weniger verstehen wir, Herr Spahn, dass Sie für fügung stehen. Das hilft vor allem den kleinen Häusern; uns zur Unzeit und ohne die Wirkung Ihres irgendwann denn auch in einem Haus der Grundversorgung kann eine jetzt zu verabschiedenden Gesetzentwurfs abzuwarten, Organspende realisiert werden. Ich habe das in meinem die Widerspruchslösung auf den Tisch gelegt haben. Wahlkreis vor einigen Jahren erlebt. Das kleine Haus in Haben Sie doch einfach mal Vertrauen in Ihr eigenes Ebern mit etwa 70 Betten hat mit großem Engagement Gesetz. Wir vertrauen darauf, dass die darin ergriffenen der Beschäftigten und mit Unterstützung der Deutschen Maßnahmen mehr helfen als eine Widerspruchslösung, Stiftung Organtransplantation eine Organspende realisie- (Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der ren können. Das verdient höchste Anerkennung. Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) (B) Meine Damen und Herren, ich bin davon überzeugt, die ich zum Beispiel vehement ablehne, weil sie das (D) dass wir mit den in dieser Legislatur geplanten Maßnah- Selbstbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger men vielen Menschen auf der Warteliste neue Hoffnung missachtet. geben können. Ich freue mich sehr auf die parlamenta- rische Beratung und auf weitere Anregungen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Stephan Pilsinger [CDU/CSU]) Danke für die Aufmerksamkeit. Herr Kollege Lauterbach, hier wird auch nicht das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eine gegen das andere ausgespielt. Sie führen immer – das haben Sie eben auch getan – Spanien als Beispiel an für die tollen Zahlen. Ja, die haben tolle Zahlen – aber Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: nicht wegen der Widerspruchslösung; denn die wird dort Christine Aschenberg-Dugnus, FDP, ist die nächste gar nicht angewandt. Rednerin. (Beifall der Abg. [Aachen] (Beifall bei der FDP) [SPD]) Das hätten Sie gewusst, wenn Sie mal mit Ihren Kolle- Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): ginnen und Kollegen gesprochen hätten, die in Spanien Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr waren, oder wenn Sie einmal im Gesundheitsausschuss geehrter Herr Minister Spahn! Die Organspende ist ein auftauchen würden. Da hatten wir das auch als Thema, Themenkomplex, den wir als FDP-Fraktion von Beginn und da ist ganz klar hervorgehoben worden, dass die Wi- der Legislaturperiode an intensiv begleitet haben. Daher derspruchslösung dort nicht angewandt wird. Was dort haben wir schon frühzeitig, noch bevor Sie Minister wa- gemacht wird, entspricht genau den organisatorischen ren, Herr Spahn, auf die schlechten Rahmenbedingungen Maßnahmen, die jetzt im Gesetz stehen und die wir be- in den Kliniken aufmerksam gemacht. Die FDP-Fraktion fürworten. war es auch, die im September 2018 einen Fachkongress (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten zu diesem Thema veranstaltet hat und mit allen Beteilig- der CDU/CSU und der Abg. Ulla Schmidt ten aus Kliniken, mit Fachleuten und sogar mit Kirchen- [Aachen] [SPD]) vertretern intensiv zu diesem Thema diskutiert hat. Meine Damen und Herren, was wir brauchen, sind Aus dieser Erkenntnis heraus kann ich sagen: Der hier mehr Informationsangebote – damit meine ich übrigens vorliegende Gesetzentwurf ist ein richtiger, ein wichtiger auch Informationen durch Ärzte, die dafür vergütet wer- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8583

Christine Aschenberg-Dugnus (A) den müssen –, ein Organspenderregister, eine regelmäßi- lere und kleine Krankenhäuser wichtig – einen neurolo- (C) ge Abfrage der Spendenbereitschaft und eine rechtliche gischen konsiliarärztlichen Rufbereitschaftsdienst geben, Erleichterung der Lebendspende. Ich glaube, meine Kol- um rund um die Uhr, sieben Tage in der Woche, 365 Tage legin Katrin Helling-Plahr hat hier einen wunderbaren im Jahr, ständig Zugriff zu haben auf zwei Neurologen, Antrag dazu vorgestellt, und ich hoffe, dass wir diesen die in der Lage sind, den Hirntod festzustellen. entsprechend beraten können. Als vierten Punkt regeln wir in diesem Gesetz die Fi- Wir finden den vorliegenden Gesetzentwurf gut. Un- nanzierung. Es ist sicher nicht so, dass Krankenhäuser ser Antrag ist aber auch gut. Ich freue mich auf die Bera- transplantieren wollen oder Transplantationskranken- tungen im Ausschuss, und zwar zum Wohle der schwer- häuser sein wollen, um Geld zu verdienen. Das ist ganz kranken Patientinnen und Patienten, die dringend auf ein gewiss nicht der Fall. Allerdings war die Finanzierung Spenderorgan warten. in der Vergangenheit nicht auskömmlich. Wir werden jetzt mit diesem Gesetz die einzelnen Prozeduren, die Ganz herzlichen Dank. notwendig sind, voll ausfinanzieren. Wir werden eine (Beifall bei der FDP) Pauschale dafür zur Verfügung stellen, dass die Spen- der überhaupt gemeldet werden, und wir werden einen Zuschlag gewähren für die Inanspruchnahme der Infra-

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: struktureinrichtungen der Krankenhäuser. Damit haben Jetzt hat das Wort der Kollege Lothar Riebsamen, wir sozusagen ein Selbstkostendeckungsprinzip, und es CDU/CSU. wird nicht mehr am Geld liegen, wenn ein potenzieller (Beifall bei der CDU/CSU) Spender nicht weitergemeldet wird. Wir werden eine bessere Qualitätssicherung dadurch Lothar Riebsamen (CDU/CSU): bekommen, dass auch gemeldet werden muss, wenn die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Spende eines ursprünglich potenziellen Spenders nicht wissen alle, dass es nicht diese eine Stellschraube gibt, infrage kommt, und dass einmal im Jahr Bericht erstattet die man bewegen muss, um zu mehr Organspenden in werden muss von den Transplantationskrankenhäusern. unserem Land zu kommen; denn zu vielschichtig ist die- Ich hoffe sehr, dass es aufgrund dieses Gesetzes nicht ses Problem. Es geht darum, dass man sich mit dem ei- mehr dazu kommt – das wurde mir vor kurzem auf ei- genen Tod beschäftigen muss, und das unter Umständen nem Neujahrsempfang geschildert –, dass ein Mensch, schon in jungen Jahren; das ist eine Herausforderung. Es der lange Zeit auf eine Gewebespende gewartet hat, ins geht um ethische Fragen, die wir in der wichtigen Orien- europäische Ausland gehen muss, um dort eine Gewebe- (B) tierungsdebatte vor einigen Wochen aufgegriffen haben, spende zu bekommen. Das sollte der Vergangenheit an- (D) und es geht um die rein technischen, organisatorischen gehören. Ich hoffe sehr, dass uns dies mit diesem Gesetz Fragen, die wir mit diesem Gesetz regeln wollen. gelingt oder wir dem zumindest ein Stück näher kom- Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich hege die Hoffnung, men. dass wir uns mit diesem Gesetz und mit dieser Regelung Herzlichen Dank. der organisatorischen und technischen Fragen möglicher- weise etwas leichter tun bei den ethischen Fragestellun- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gen, damit man sich nicht entscheiden muss – vielleicht Sabine Dittmar [SPD]) muss man es eines Tages trotzdem –, zur Widerspruchs- lösung Ja zu sagen. Ich hoffe, dass das nicht nur ein from- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mer Wunsch bleibt, sondern dass es wirklich so ist. Jetzt erteile ich das Wort dem Abgeordneten Mario (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Mieruch. Wir haben es bei diesem Punkt als Gesetzgeber in der Mario Mieruch (fraktionslos): Hand, abschließende Regelungen in einem Gesetz zu treffen und es nicht dem freien Spiel der Kräfte zu über- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und lassen, sozusagen der Philosophie zu überlassen, ob es zu Herren! Wie in den vorangegangenen Debatten schon mehr Organspenden kommt oder nicht. deutlich gemacht wurde, muss die Entscheidung zur Or- ganspende eine Entscheidung freier Bürger bleiben, frei (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) von jedweder Form staatlicher Beeinflussung. Damit sich wieder mehr Menschen für eine Spende entscheiden, Wichtigster Punkt in diesem Gesetz ist der Transplan- bedarf es der Transparenz und Glaubwürdigkeit der Pro- tationsbeauftragte. Diesen gibt es zwar schon heute in zesse und Strukturen. Zum vorliegenden Entwurf möch- den Krankenhäusern, aber seine Ausgestaltung ist nicht ten wir deshalb, auch wenn wir keinen eigenen Vertreter bundesweit einheitlich geregelt, sondern von Kranken- im Gesundheitsausschuss haben, einige konstruktive An- haus zu Krankenhaus unterschiedlich. Es wird zukünftig merkungen und Vorschläge einbringen. die Freistellung – das ist wichtig – je nach Größe des Krankenhauses, je nach Größe der Intensivstation, je Für jede Intensivstation wird ein Transplantations- nach Anzahl der Beatmungsplätze geben. Es wird eine beauftragter gefordert. Dessen Verfahrensanweisungen Klarstellung geben, welche Rechte und natürlich auch sollen die Kliniken verbindlich umsetzen. Faktisch wird Pflichten der Transplantationsbeauftragte im Kranken- diese Freistellung vor allem in kleineren Häusern Lücken haus hat, und es wird – und das ist insbesondere für mitt- an anderen Stellen reißen, weil man hier meist nur auf 8584 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Mario Mieruch (A) sowieso schon oft überarbeitetes vorhandenes Personal Der Rückgang der postmortalen Organspenden ist (C) zurückgreifen kann. mit einem Erkennungs- und Meldedefizit in den Entnahmekrankenhäusern assoziiert. Gelingt es, 0,1 Stelle für bis zu zehn Betten. Was heißt das in der diesen Prozess organisatorisch und politisch zu stär- Praxis? Das sind knapp vier Stunden in der Woche. Wird ken, könnte die Zahl der Organspenden erheblich das reichen, wenn von den zehn Betten plötzlich drei gesteigert werden. Fälle akut werden? Kann das reichen, wenn eine ange- messene Angehörigenbetreuung nicht erst nach der Ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des nahme, sondern schon weit vorher ansetzen müsste und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der am Prozess der DSO andocken soll? Wodurch wird all Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE]) das sichergestellt, wenn in großen Häusern mit mehreren Intensivstationen mehrere Transplantationsbeauftragte Genau darum geht es. eigene Regelungen erlassen, die dann insbesondere das Ich bin sehr dankbar, dass dieses Gesetz vorliegt, be- Pflegepersonal, wie zum Beispiel die Springer, vor zu- vor wir das Thema „Zustimmungs- oder Widerspruchs- sätzliche Herausforderungen stellen? lösung“ hier im Hohen Haus noch mal debattieren. Wa- Während eine ganze Reihe von sicherlich sinnvollen rum? Weil wir uns – ich glaube, alle Wortbeiträge haben Änderungen für Ärzte und Entnahmekrankenhäuser ge- das gezeigt – einig sind, dass die Entnahmekrankenhäu- setzlich verankert werden soll, fehlt eine solche Veran- ser gestärkt werden müssen, dass es darum geht, den kerung jedoch für die Weiterbildung und Spezialisierung Transplantationsbeauftragten oder die Transplantations- des Pflegepersonals. Deshalb sollte man darauf achten, beauftragte entsprechend freizustellen, auch die Finan- dass dieses nicht wieder auf der Strecke bleibt; denn zierung dieser Freistellung zu gewährleisten und dadurch auch wenn die DSO solche Weiterbildungen bundesweit natürlich auch die Angehörigenarbeit zu verbessern. Das anbietet, sind sie weder verpflichtend, noch besteht ein ist also alles eine gute Grundlage. Rechtsanspruch darauf. Ob das ausreichend ist – schon jetzt wird angemerkt, Die Mehrkosten für die Umsetzung dieses Gesetz- dass die PKV sich entsprechend beteiligen muss –, das entwurfes in Höhe von 34 Millionen Euro werden von werden wir im parlamentarischen Verfahren diskutieren. den gesetzlichen Krankenkassen getragen; die privaten Im Hinblick auf meine Fraktion sage ich: Da werden wir können sich beteiligen. Faktisch heißt das, diese Kosten offen sein, weil es darum geht, diese wichtige Grundlage werden früher oder später beim Beitragszahler landen; so zu legen, um die Entnahmekrankenhäuser zu entlasten. ehrlich sollten wir dann auch sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) (B) Altruistische Spenden, wie von der FDP vorgeschla- (D) gen, sind hoch kontrovers. Denkt man den Begriff „In- Das ist der wichtige Punkt, den wir immer wieder kom- dividualrechtsgüter“ konsequent zu Ende, stellt sich die munizieren müssen: dass es darum geht, beim Thema Frage, wie das Thema später gegen „high urgent“ Gelis- Organspende nicht nur die ethische Frage zu debattieren, tete abgewogen werden soll. sondern auch darum, die Organisation zu verbessern. Ein anderer Vorschlag – er wurde gestern noch ein- Dabei waren die Reise nach Spanien und auch der gebracht – lautet, Ehrenamtskarten einzuführen. Dessen Austausch in Kopenhagen wirklich hilfreich. Ich fand es Umsetzung koppelt dieses hochsensible Thema letztlich besonders bemerkenswert, dass die Intensivmediziner, doch mit wirtschaftlichen Aspekten. Ich mag mir gar mit denen wir diskutiert haben, damit insbesondere auch nicht ausmalen, worauf so etwas hinausläuft. Ansteckna- die ethische Frage verbunden haben, dass sie die Debatte deln und öffentliche Ehrungen, am besten noch in Innen- nicht nur unter medizinischen Gesichtspunkten geführt höfen – ein seltsamer Vorschlag. haben, sondern dass sie auch zu dem Schluss gekommen Wir würden uns sehr freuen, wenn diese Ideen Ein- sind – dies haben sie uns auch so kommuniziert –: Es gang in die Diskussionen im Ausschuss fänden und wir geht letztendlich um die Würde des Sterbens in den Ent- uns mit diesen Denkanstößen ein klein wenig am Prozess nahmekrankenhäusern. Das fand ich besonders beeindru- beteiligen könnten. ckend. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Hilde Mattheis, SPD, ist die nächste Rednerin. Es geht also darum, alles dafür zu tun, dass die Angehö- rigen sich in den Entnahmekrankenhäusern wirklich so (Beifall bei der SPD) aufgehoben fühlen, dass sie sich nicht überrumpelt füh- len, dass ihre Angehörigen, die im Sterben liegen, die auf Hilde Mattheis (SPD): der Intensivstation liegen, nicht als Ware betrachtet wer- den, sondern als Menschen, die keine Verpflichtung ha- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ben, sondern die in äußerster Solidarität mithelfen, dass beginne mit einem Zitat aus einer Studie des Universi- anderes Leben erhalten bleibt. tätsklinikums Schleswig-Holstein, das mit dieser Studie eventuell genau die richtige Grundlage für dieses Gesetz (Beifall der Abg. Kordula Schulz-Asche gelegt hat. Da heißt es: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8585

Hilde Mattheis (A) Diesen Gesichtspunkt fand ich schon sehr beeindru- mehrfach angesprochen worden – bei über 80 Prozent (C) ckend. liegt, erhöhen. Für all das braucht es einen guten organisatorischen Wir müssen stattdessen auch nach außen viel offensi- Rahmen. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass ver darstellen, dass es mit diesem Gesetz konkret darum wir uns heute mit diesem Gesetz befassen und dass wir geht, beispielsweise den angesprochenen Flickenteppich, anstreben, es womöglich noch ein Stück weit effektiver den wir in den Ländern bei den Fragen haben: „Welche zu machen. Es ist aber auch wichtig, in weiteren Schrit- Transplantationsbeauftragten sind in den Entnahme- ten Debatten zu führen, die dann wirklich so was wie krankenhäusern tätig?“, „Welche Aufgaben haben die Organhandel – auch das ist ein Thema – und auch das Transplantationsbeauftragten?“, „Wie werden sie frei- Thema, das wir in der Orientierungsdebatte aufgegriffen gestellt?“, nunmehr – auch im Hinblick auf die Frage haben – Widerspruchs- oder Zustimmungslösung –, zum anteiliger Freistellungen – zu beseitigen und Bundesein- Gegenstand haben. heitlichkeit zu schaffen. Deshalb ist das ein gutes Gesetz, und wir sollten es auch zügig verabschieden. All das führt, glaube ich, dazu, dass wir auch in Deutschland erhöhte Organspendezahlen haben, wenn (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wir das Ganze transparent und immer mit dem Blick auf Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist ja auch das beide Aspekte, nämlich auf diejenigen, die eine Spende Thema angesprochen worden, wie wir diejenigen, die brauchen, und diejenigen, die spenden, gestalten. diese Bereitschaft haben, wenn der Fall eintritt, besser Vielen Dank. unterstützen können. Das Thema Angehörigenbetreuung ist angesprochen worden, und da sollten wir jetzt auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht den Eindruck erwecken, so wie es ebenfalls von der der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- AfD-Seite suggeriert worden ist, als ginge es darum, dass NISSES 90/DIE GRÜNEN) die Angehörigen über den Tisch gezogen würden. Das ist überhaupt nicht der Fall. Herr Gehrke hat suggeriert – ich Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: hoffe, ich habe ihn da falsch verstanden –, als würde das Kriterium der Feststellung des Hirntodes auch in diesem Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tino Gesetz nicht einheitlich geregelt werden bzw. als würden Sorge, CDU/CSU. in diesem Gesetz irgendwelche Unklarheiten sein. Das (Beifall bei der CDU/CSU) ist gerade nicht der Fall. Dieses Gesetz regelt die Frage: Wie können wir in (B) Tino Sorge (CDU/CSU): Entnahmekrankenhäusern, insbesondere in kleinen Ent- (D) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nahmekrankenhäusern, wo gerade die fachärztliche Kollegen! Nach knapp einer Stunde Debatte zum Thema Expertise in der Regel nicht rund um die Uhr vorliegt, Transplantationsgesetz ist natürlich vieles schon gesagt über den neurochirurgischen und neurologischen konsi- worden. liarärztlichen Bereitschaftsdienst sicherstellen, dass die Organspender identifiziert werden, sodass letztendlich (Reinhard Houben [FDP]: Aber noch nicht keine Organe verloren gehen? Insofern ist das Gesetz von jedem, Herr Kollege!) aufgrund dieser Regelung an diesem Punkt klar und ein- deutig. Es ist deshalb sehr gut. Deshalb bin ich froh, dass Insofern will ich mich an den Ausspruch halten – der wir das jetzt hoffentlich zügig verabschieden werden. Kollege hat es gerade so ähnlich zugerufen –: „Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.“ Vielleicht noch ein Punkt zu einer Frage, die man im Rahmen der Diskussion über Organspenden auch häufig Ich will nur noch mal darauf hinweisen, dass wir uns, hört. Wir müssen hier differenzieren – ich habe es am glaube ich, alle in dem Punkt einig sind, dass die Organ- Anfang schon gesagt –: Es geht auf der einen Seite um spendezahlen, so wie sie momentan sind – auf einem die Frage: Wie können wir die strukturellen Defizite in solch niedrigen Niveau –, nicht bleiben dürfen. Auch den Entnahmekrankenhäusern verbessern? Auf der ande- deshalb ist es so wichtig, dass wir bei der Frage „Wo- ren Seite geht es um die Frage: Welche konkrete Lösung rum geht es in dem Gesetz?“ offen darüber sprechen, finden wir für das Problem, ob jemand Organspender dass wir hier nicht wieder alles miteinander vermengen sein möchte? sollten. Das hat ja der Kollege Spangenberg von der AfD wieder gemacht. Er hat so getan, als würde hier grund- Insofern – mein Dank geht auch an den Bundesge- sätzlich über die Frage diskutiert werden, welche Lösung sundheitsminister Jens Spahn – war es gut, dass uns die wir letztendlich bei der Frage, ob Organe eines Einzelnen Orientierungsdebatte, die wir letztes Jahr im November gespendet werden, vorschlagen. geführt haben, eine erhebliche Anzahl an weiteren Debat- ten in der Öffentlichkeit beschert hat, die gut sind, weil Vielmehr diskutieren wir heute tatsächlich nur darü- wir uns so mit diesem Thema auch kontrovers auseinan- ber, wie wir die strukturellen Defizite, beispielsweise dersetzen müssen. Wie letztendlich die Lösung aussieht, im Bereich der Entnahmekrankenhäuser, verbessern ob es eine Zustimmungs- oder eine Widerspruchslösung können. Insofern, glaube ich, helfen wir der Diskussion, gibt, werden wir hier im Hohen Haus entscheiden. wenn wir hier nicht den Eindruck erwecken, als könnten wir mit Einzelregelungen, mit punktuellen Lösungen die Insofern, denke ich, ist dieses Gesetz – Änderung des Organspendebereitschaft der Bevölkerung, die ja – es ist Transplantationsgesetzes, Verbesserungen der strukturel- 8586 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Tino Sorge (A) len Defizite – ein sehr guter erster Schritt. Wir sollten terhalten, um der Zollbürokratie Herr zu werden. Das ist (C) das Gesetz möglichst zügig verabschieden; das sind wir weder zeitgemäß, meine Damen und Herren, noch ist es den Zehntausenden, die auf eine Organspende warten, angemessen. schuldig. Zudem gilt es, Organspenden grundsätzlich zu regeln. Auch das werden wir dieses Jahr noch machen. Wo liegen die Probleme? Erstens. Die Erreichbarkeit und die Betreuung durch die Zollämter sind ausbaufähig. Vielen herzlichen Dank. Zweitens. Die Öffnungs- und Bearbeitungszeiten sind praxisfern. Drittens. Es fehlt an qualifiziertem Personal. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Viel zu spät hat die Bundesregierung hier reagiert und Stellen für den Brexit geschaffen. Allerdings muss man Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: fragen: Woher nehmen wir denn jetzt noch die Zeit, um Damit schließe ich die Aussprache. die Menschen zu qualifizieren? Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf (Beifall bei der FDP) den Drucksachen 19/6915, 19/5673 und 19/7034 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Viertens. Die vorhandenen Softwarelösungen sind zu schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist of- kompliziert, und generell kommt die Digitalisierung des fensichtlich der Fall. Dann sind die Überweisungen so Zollwesens nur schleppend in Gang. Sie geht halbherzig beschlossen. vonstatten. Das heißt: Am Ende des Tages müssen Unter- nehmen doch noch viele Dokumente in Papierform vor- Dann bitte ich, möglichst zügig die offenbar notwen- legen, und das im Jahr 2019, meine Damen und Herren. digen Platztauschaktionen durchzuführen. Liebe Kol- Das ist Wahnsinn. leginnen und Kollegen, wenn es ein bisschen schneller geht, werden wir heute Nacht dafür dankbar sein. (Beifall bei der FDP) Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf: Die Frustration der Menschen, die die Zollabwicklung in den Betrieben machen, können Sie sich bestimmt vor- Beratung des Antrags der Abgeordneten Sandra Weeser, stellen. Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Fünftens. Es gibt zu Recht viele Rechtsänderungen im Zollwesen, dafür aber viel zu wenig praktikable Informa- Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie ab- tionen direkt vom Zoll. Stattdessen gibt es teure Schu- bauen lungen, wodurch gerade kleine Unternehmen besonders Drucksache 19/6549 belastet werden – mit viel Geld und mit viel Zeit. (B) Überweisungsvorschlag: Das sind nur fünf Punkte einer ganzen Reihe von (D) Finanzausschuss (f) Punkten, die sich in der Befragung herauskristallisiert Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union haben. Das beschäftigt die Unternehmen, behindert sie aber auch. Wir müssen handeln und die Zollverfahren Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für digitaler und damit einfacher, besser und effizienter ma- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- chen. nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der FDP) Ich eröffne die Aussprache. Der Brexit wäre eigentlich schon schwer genug, aber (Abg. [FDP] spricht mit der Druck wird bald noch zunehmen. Ich weiß nicht, Abg. Alexander Graf Lambsdorff [FDP]) wer heute Morgen „Moma“ geschaut hat. Dort wurden – Da Ihre Fraktion den Antrag stellt, Herr Kollege Menschen, die für die Zollabwicklungen in Unternehmen Lindner, wollte ich Sie darauf aufmerksam machen: Ich zuständig sind, interviewt. Ein möglicher harter Brexit möchte jetzt gerne Ihrer Kollegin Sandra Weeser das wird die Abfertigung weiter ins Stocken bringen und die Wort erteilen. Wartezeiten weiter erhöhen – und Deutschland ist nicht vorbereitet. Bitte sehr. Wir Freien Demokraten fordern Sie auf, zu handeln. (Beifall bei der FDP) Wir brauchen einfachere Zollverfahren und damit eine spürbare Entlastung der deutschen Betriebe. Sandra Weeser (FDP): (Beifall bei der FDP) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hakt in Deutschland bei der Zollabwick- Mit unserem heute hier vorgelegten Antrag fordern wir lung und bei den Formalitäten: Sie ist zu bürokratisch, Sie auf, den Sorgen von Unternehmerinnen und Un- und es werden gerade die kleinen und mittelständischen ternehmern vor allem in kleinen und mittelständischen Unternehmen überproportional belastet. Unternehmen nachzugehen. Das heißt: Raus aus den Pa- pierbergen, rein in die KI und rein in die Blockchain-Ver- Wir haben in 2018 Unternehmen in ganz Deutschland fahren. von allen Größen gefragt, mit welchen Anforderungen sie im Tagesgeschäft beim Im- und Exportgeschäft kon- (Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dr. Jens frontiert werden. Ich sage Ihnen: Diese Anforderungen Zimmermann [SPD]: „Bingo“ möchte man sind zu hoch. Teilweise werden ganze Abteilungen un- rufen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8587

Sandra Weeser (A) Hier könnte Deutschland Vorreiter werden. Schauen Vizepräsident : (C) Sie einmal nach Südkorea, dort werden bereits Block- Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege chain-Plattformen zur Abwicklung des internationalen Dr. Thomas de Maizière für die Fraktion der CDU/CSU. Warenhandels genutzt. Warum machen wir das nicht? (Beifall bei der CDU/CSU) (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das frage ich mich auch!) Dr. Thomas de Maizière (CDU/CSU): Setzen Sie sich doch bitte dafür ein, und treiben Sie es Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! voran, nicht nur lachen. Lassen Sie mich meine Rede mit einem Dank beginnen, auch mit einem Dank an die FDP: Was tut die Bundesregierung, um die Nutzung von fachlicher Software auch für kleine und mittelständische (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Unternehmen attraktiv zu machen? Herzlichen Dank, dass Sie dazu beitragen, dass an so (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Wenn das nicht prominenter Stelle einmal über den Zoll gesprochen in jeder Rede vorkommt, stirbt ein Freier De- wird; das ist gut. mokrat!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gerade für diese Betriebe sind die Arbeitsbelastung und der FDP – Michael Grosse-Brömer [CDU/ die Kosten der Zollbürokratie zu hoch. Der Aufwand CSU]: Das war es aber auch schon!) muss hier reduziert werden. Wenn der Aufwand sinkt, dann sinkt logischerweise auch der Beratungs- und der Ich will gerne mit einem Dank an die Mitarbeiterinnen Bearbeitungsbedarf in den Zollbüros. Lassen Sie doch und Mitarbeiter des Zolls beginnen, die trotz großer An- diejenigen, die bereits über eine Zuverlässigkeitslizenz forderungen Tag und Nacht bei der Vorbereitung auf den verfügen, auch zu ihrem Recht kommen, statt diese Brexit und trotz vielerlei Anfeindungen jeden Tag gute weiter zu gängeln, indem Sie diese Lizenz im Jahresab- Arbeit leisten. Ich hätte mir gewünscht, Sie hätten sich schlussbericht bei den Zollämtern in schriftlicher Form in Ihrer Rede auch einmal bei den Mitarbeiterinnen und vorlegen lassen. Mitarbeitern des Zolls bedankt, wie ich das hier tue. Die Auskünfte der Zollämter müssen einheitlich und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie rechtssicher erteilt werden. Das spart Zeit und Geld bei bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. den Unternehmen und schafft – was wir wollen – Raum Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) für Investitionen und auch für Innovationen. Handeln Sie Das ist es aber auch schon mit dem Lob; denn wenn (B) endlich, und vereinfachen Sie das Steuerrecht für Impor- man Ihren Antrag im Detail einmal liest, bekommt man (D) te. sehr schnell den Eindruck, als sei nach Auffassung der (Beifall bei der FDP) FDP die gute Arbeit der Zollbeamten eher eine Belastung und eine Zumutung für die Wirtschaft. Duty Free zum Spätestens jetzt müssen wir die Zollbürokratie verein- Beispiel hört sich gut an, ist aber nicht Gegenstand unse- fachen. Ich hoffe noch immer, dass der Brexit nicht zum rer Rechtslage. Chaos an allen See- und Flughäfen hier im Lande führt. Trotzdem sollten wir schleunigst für Verbesserungen sor- Wir von der Union sagen deutlich: Es mag Fehler gen. geben, es mag in dem einen oder anderen Vorgehen des Zolls auch eine Übertreibung geben, aber nach unserer Meine sehr geehrten Kollegen, die Resonanz der Wirt- Meinung behindert der Zoll nicht das unternehmerische schaft auf diese Thematik war sehr groß, und sie ist nach Schaffen in unserem Land, sondern schützt und gewähr- wie vor groß. Damit unser Antrag hier noch mehr Gehör leistet es gerade, damit alles mit rechten Dingen zugeht. findet und auch weiter debattiert wird, haben wir diese Debatte im Netz unter dem Hashtag #dutyfree einge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) stellt. Schauen Sie doch mal rein! Auch wir wollen, wie sicher auch Sie, dass sich der (Beifall bei der FDP – Ingrid Arndt-­ Zoll eher um die schwarzen Schafe kümmert und die Brauer [SPD]: Das ist ja super! – Dr. Jens Ehrlichen in Ruhe lässt. Leider ist es so, dass nicht an Zimmermann [SPD]: Das ist verräterisch! – jedem Firmenschild steht, wer der Ehrliche und wer das Sebastian Brehm [CDU/CSU]: #schonalleser- schwarze Schaf ist. ledigt!) Der Antrag der FDP ist im Übrigen in der Sache sinn- Ich appelliere noch einmal an Sie: Lassen Sie uns die voll, aber zu spät und zu allgemein. Das meiste von dem, Unternehmen von den Lasten des Zolldschungels befrei- was Sie fordern, ist längst auf dem Weg. Sie fordern mehr en! Stimmen Sie diesem Antrag zu, und sorgen Sie dafür, Personal und mehr Informationstechnik. dass die Zollverfahren in Deutschland einfacher werden! Deutschland – Sie haben eben ein Klagelied ange- Vielen Dank. stimmt – ist übrigens laut einem Index der Weltbank, dem Logistikindex, gerade zum Logistikweltmeister er- (Beifall bei der FDP – Dr. Jens Zimmermann klärt worden, was eigentlich ein Indiz dafür ist, dass auch [SPD]: Das ist aber nicht Duty Free! – Ingrid die Zollbearbeitung ziemlich effizient ist, jedenfalls im Arndt-Brauer [SPD]: Ich bin nicht gefragt Vergleich zu anderen Staaten. Wenn ich mit Unterneh- worden, ob ich das will!) men rede, höre ich natürlich manchmal Klagen über den 8588 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Thomas de Maizière (A) Zoll, aber meistens über Zollverfahren anderswo in der Vizepräsident Thomas Oppermann: (C) Welt und nicht bei uns. Vielen Dank für die zwei Minuten, die Sie uns einge- spart haben, Herr Kollege de Maizière. Man kann es auch Jedenfalls wundert mich, dass Sie viele Sachverhalte in der Kürze pointiert sagen. ansprechen, die längst angegangen werden. Der Zoll wur- de unter Wolfgang Schäuble und wird, wie im Koaliti- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Kurz onsvertrag vereinbart, gestärkt. Es sind im Haushalt 2019 und prägnant!) für dieses Jahr 775 zusätzliche Stellen geschaffen wor- Nächster Redner ist Kay Gottschalk für die Fraktion den. Bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit wollen wir der AfD. die Zahl der Beschäftigten von 7 500 auf 10 000 in den nächsten Jahren erhöhen. Das Schwarzarbeitsbekämp- (Beifall bei der AfD) fungsgesetz und das Zollfahndungsdienstgesetz sind auf dem Weg. Wir wollen damit bewirken, dass der Zoll Kay Gottschalk (AfD): noch effektiver wird. Hier drängen wir, Frau Kollegin Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Hagedorn, auf eine zügige Einbringung dieser Gesetz- ren! Den heutigen Antrag der FDP nehmen wir als AfD entwürfe. zum Anlass, den Zoll zum Prüffall zu erklären. Aus Sicht der AfD existieren nämlich hinreichende verdichtete Be- Mehrere Ihrer Forderungen betreffen IT, auch das Pro- weise und Verdachtsfälle, dass der Zoll seinen Aufgaben, gramm „Zoll 2020“, den sogenannten Zollkodex. Dazu dort, wo es nötig wäre, nicht mehr nachkommen kann, gibt es einen sehr kritischen Bericht des Europäischen weil die EU-Bürokratie dem im Wege steht. Die Debatte Rechnungshofes; wir unterstützen das. Da gibt es Zeit- ist etwas verkürzt dargestellt. Zoll ist nämlich mehr: Zoll verzögerungen; da gibt es keine klaren Entscheidungs- ist FIU und Geldwäsche, Zoll ist Protektionismus an den strukturen. Ich habe das gestern schnörkellos und klar an- europäischen Außengrenzen, gesprochen. Ein Wortbeitrag der FDP war dazu gar nicht vorgesehen; Sie haben sich gar nicht geäußert. Daher ist (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das offenbar bei uns in guten Händen. NEN]: Wird der Zoll der Geldwäsche bezich- tigt? Geht’s noch? – Michael Grosse-Brömer (Beifall bei der CDU/CSU) [CDU/CSU]: Zoll ist Kampf gegen Geldwä- sche, nicht Geldwäsche selbst!) Es gibt eher andere Baustellen, die Sie nicht angespro- chen haben: Wie bekommen wir genügend gutes Perso- Zoll ist Schwarzarbeit und, ja, die originäre Aufgabe des nal? Wie und wo kann es effektiv ausgebildet werden? Zolls. Auch von meiner Seite ein Dankeschön an alle Wir begrüßen die kurzfristigen Erweiterungen der Aus- Beamten, die in diesem EU-Bürokratiewahnsinn ihren (B) bildungskapazitäten in Münster und Leipzig. Wir hören, Dienst noch so vorbildlich leisten. (D) dass es ein zukunftsfähiges Standortkonzept geben soll. (Beifall bei der AfD) Wir drängen darauf, dass es schnell kommt, und zwar so, dass die Standorte überwiegend im ländlichen Raum und Der Geldwäscheskandal der Danske Bank sei hier nur im Osten Deutschlands angesiedelt werden und nicht die exemplarisch genannt. Wo waren dort die Geldwäsche- großen Städte verstärken, wo es schon ausreichend Per- beauftragten? Fehlanzeige aufgrund der EU-Bürokratie. sonal gibt. Dort, wo man dem handwerklich zugegebenermaßen (Beifall bei der CDU/CSU) sehr schlecht gemachten Antrag der FDP folgen könnte, wo es um eine Vereinfachung, eine Harmonisierung und Ich halte fest: Die Kompetenzen der Zollbeamten wur- Entbürokratisierung geht – das sind schöne Worte; Stich- den und werden verstärkt. Wir erwarten zügig die Ein- wort „Schlanker Staat“, eine Unterrichtung durch die bringung der beiden Gesetzentwürfe. Ich bin gespannt, Bundesregierung aus dem Jahr 1998; Herr de Maizière ob die FDP diesen Gesetzentwürfen dann zustimmt. Ein wird sich daran erinnern –, produziert der Zoll aufgrund Standortkonzept zur Gewährleistung der hochwertigen der Handlungsunfähigkeit der EU exakt das Gegenteil. Fachausbildung ist in Planung. Die notwendigen zusätz- Nehmen wir zum Beispiel den Sonderbericht des Eu- lichen Planstellen sind im Haushalt beschlossen. Darüber ropäischen Rechnungshofes 26/2018: Zahlreiche Verzö- hinaus wurde übrigens auch die Besoldung des mittleren gerungen bei den IT-Systemen. Diese Systeme sollten Dienstes erhöht, um dessen Attraktivität zu steigern. Es die Zusammenarbeit verbessern und sollten 2020 fertig muss auf europäischer Ebene besser an der Herstellung sein. Wissen Sie, wann sie jetzt fertig sind? 2025 – wir der gemeinsamen IT-Verfahren gearbeitet werden. Auf sind also in der EU beim sozialistischen Fünfjahresplan diese Punkte kommt es an, gerade auch mit Blick auf die angekommen. deutsche Wirtschaft, damit die Ehrlichen im Wettbewerb Vorteile haben. (Beifall bei der AfD – Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Tosender Applaus!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Antrag der FDP enthält also alles in allem wenig Falsches; aber nötig ist Während es also bei den Banken heißt „too big to fail“ er nicht. Sie rennen Türen ein, die längst offen sind. Will- und diese dann – so ist es üblich – mit deutschem Steuer- kommen im Klub der Freunde des Zolls! geld gerettet werden, ist es bei der EU anders. So heißt es zum Beispiel sinngemäß im Prüfbericht: Der ursprüng- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lich von der EU-Kommission festgelegte Zeitplan für ordneten der SPD) die Implementierung der IT-Systeme ließ sich wegen der Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8589

Kay Gottschalk (A) Änderungen des Umfanges einiger Projekte nicht mehr Danke schön. (C) einhalten. – Im Klartext: Diese EU ist „too big to work“ und gehört auf den Scheiterhaufen der Geschichte, meine (Beifall bei der AfD – Alexander Graf Damen und Herren. Lambsdorff [FDP]: De Gaulle hätte mit Ih- nen nichts zu tun haben wollen, gar nichts! – (Beifall bei der AfD) Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er hat seine Rede verwechselt!) Wir brauchen eine EU, die den Menschen da draußen und der Wirtschaft tatsächlich hilft. Vizepräsident Thomas Oppermann: Ich zitiere weiter sinngemäß: Die tatsächlichen Ent- Als Nächstes spricht für die Fraktion der SPD die Ab- wicklungskosten für Kommissionskomponenten waren geordnete Ingrid Arndt-Brauer. erheblich höher als die ursprünglich geschätzten Res- sourcen. Ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten: Un- (Beifall bei der SPD) zureichende von den Mitgliedstaaten zur Verfügung ge- stellte Mittel waren einer der vier Hauptgründe für die Ingrid Arndt-Brauer (SPD): Verzögerung. – Was ist an dieser EU überhaupt noch Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- positiv, wenn für ein sinnvolles und wesentliches Pro- be Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte jetzt jekt keine ausreichenden Gelder zur Verfügung gestellt nicht in den EU-Wahlkampf einsteigen. werden? Oder hat Deutschland wieder einmal zu wenig gezahlt, verehrte Kollegen von der Koalition? (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Er hat nur die Rede verwechselt!) (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Ganz neue Töne hier!) Ich möchte zurück zur Tagesordnung, zurück zum An- trag mit dem Titel „Zollverfahren vereinfachen – Bü- Oder aber fehlt es wie so häufig am Willen, weil einige rokratie abbauen“. Ursprünglich wollten Sie über den Mitgliedstaaten ihre Privilegien nicht aufgeben wollen? Münchener Flughafen reden – das wäre vielleicht besser Diese EU, meine Damen und Herren, ist offensichtlich gewesen; vielleicht war in diesem Antrag mehr Substanz, zu einer reinen Transfer- und Schuldenunion verkom- ich kenne ihn nicht –; aber ich beschäftige mich jetzt mit men. In allen anderen Bereichen und auch hier steht das dem vorliegenden Antrag. Sie haben 14 Forderungen an EU-Monster, das im Wesentlichen durch den weinselig die Bundesregierung, also auch an die Große Koalition torkelnden Herrn Juncker repräsentiert wird, dafür Pate. gestellt. Sie fordern, dass die Große Koalition ihre Haus- Dieses EU-Monster steht sich selbst im Wege. aufgaben macht und die Dinge richtig angeht. Bürokra- (B) tieabbau, unbürokratische Hilfe beim Brexit und Verbes- (D) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Da serungen der Stellensituation beim Zoll – das sind die klatscht noch nicht mal die eigene Fraktion!) ganz großen Themen, mit denen Sie sich beschäftigen. Mister Entbürokratisierung – das kann man wohl sa- Ich lege übrigens keinen Wert darauf, in Ihrem Hashtag gen – schafft das offensichtlich nur in Luxemburg, bei zu erscheinen; den können Sie also gerne ohne mich lau- seinen Steuerbehörden, wenn es um die Erteilung von fen lassen. Steuerprivilegien für Großkonzerne zulasten der lieben Ich möchte mich mit den Forderungen konkreter aus- deutschen Steuerzahler geht, eine Entbürokratisierung einandersetzen. Sie erwarten von der Bundesregierung – vorzunehmen. Oder anders gesagt: Die EU ist eine Ge- erster Punkt –, dass sie sich aktiv an der Reform der schichte voller Missverständnisse, in der nun endlich WTO beteiligt. Das tut sie bereits. Die Bundesregierung Reformen anstehen. Diese jedenfalls hat ihre ursprüngli- ist auf einem sehr guten Weg. Das ist ein Prozess, und chen Ziele komplett aus den Augen verloren und ist eine den kann man verfolgen. reine Selbstzweckveranstaltung geworden. Ihre zweite große Forderung ist – mein Vorredner (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wann Dr. de Maizière hat schon darauf hingewiesen –, die Per- kommen Sie denn zum Thema?) sonallücke beim Zoll abzubauen bzw. zu verkleinern. Das wird massiv angegangen. Mein Vorredner Dr. de Gemeinsam, liebe Freunde von der AfD, werden wir Maizière hat bereits gesagt: Es werden sehr viele Plan- das Unfehlbarkeitsdogma dieser EU-Autokraten über- stellen zusätzlich geschaffen. 2018 und 2019 sind mehr winden. Zusammen sprengen wir die Ketten im Kopf als 6 100 zusätzliche Planstellen und andere Stellen be- und die Fesseln der Seele und schaffen ein neues Europa, willigt worden; diese werden zunehmend besetzt. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo­ (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Sehr rüber reden Sie denn? Ist das schon der nächs- gut!) te Tagesordnungspunkt?) Das ist natürlich aufwendig und erfordert Ausbildungs- ein Europa der Vaterländer, wie es schon de Gaulle for- und Weiterbildungsmaßnahmen. Ich denke, da sind wir derte. auf einem sehr guten Weg; das wird sehr gut angegangen. Meine Damen und Herren, wir eröffnen hier jetzt auch Ihr dritter Punkt: Sie möchten eine europaweit einheit- den EU-Wahlkampf; denn es wird Zeit, dass wir diese liche IT-basierte Zollabwicklung. Wir haben in der letz- EU reformieren. Das, meine Damen und Herren, wird ten Sitzung des Finanzausschusses gehört, dass es mit der nur mit der AfD gehen. IT schwierig ist, auch europaweit. Es wird, glaube ich, 8590 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Ingrid Arndt-Brauer (A) auch nicht einfacher, wenn jetzt auch noch Blockchain Ihr Punkt zwölf, bei dem es um die bürokratischen (C) und künstliche Intelligenz aufgebaut und eingesetzt wer- Hürden bei der Zollabwicklung geht, ist, denke ich, den sollen, so wie Sie das fordern. Südkorea ist vielleicht schon ausreichend behandelt worden. ein schlechtes Beispiel. Es ist sehr weit weg, und man kann es sich nicht mal eben so anschauen. Ich glaube, wir Außerdem möchten Sie das deutsche Steuerrecht für sind mit unserer IT normalerweise ganz gut ausgestattet. Importe gerne erheblich vereinfachen. Ich denke, das ist Eine zusätzliche Zusammenarbeit streben wir ja an; da ein Anliegen, das Ihnen mit Ihrem ursprünglichen An- wird noch mehr zu machen sein. Wir sind auf dem Weg; sinnen als freiheitliche Partei naheliegt. Sie wollen mög- aber Blockchain halte ich jetzt nicht für den Ausweg aus lichst viele Menschen von möglichst vielen Verpflich- irgendwelchen Missständen, die Sie vielleicht meinen er- tungen befreien. Das können Sie gerne fordern. Ich aber kannt zu haben. denke, dass wir das deutsche Steuerrecht brauchen; es ist wichtig – auch bei der Verzollung. Wettbewerbsnachtei- Punkt vier ist: Hilfestellung bei der Bewältigung von le für Deutschland sehen wir nicht. Deshalb, denke ich, Zollformalitäten. – Grundsätzlich sind die steuerberaten- läuft diese Forderung ins Leere. den Berufe da Hilfesteller. Ich sehe auch nicht, dass es da bisher irgendwelche Probleme gegeben hätte. Es gibt Auch ich möchte mich dem Dank an die Zollbehör- von den Zollbehörden sowohl unverbindliche als auch den, den mein Vorredner von der CDU/CSU ausgespro- verbindliche Auskünfte. Die gibt es permanent. Kein chen hat, anschließen. Ich möchte dem Zoll auch zur Unternehmen, das ich besichtigt habe, hat sich bei mir Auszeichnung der Weltbank als effizienteste Zollbehörde beschwert, dass der Zoll dabei zu wenig Hilfestellung gratulieren. leisten würde. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Zu Punkt fünf, der vorsieht, die Arbeitsbelastung und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE die Kosten der Zollbürokratie für kleine und mittlere Un- GRÜNEN) ternehmen zu vereinfachen, habe ich, glaube ich, schon etwas gesagt. Ich denke, dass man angesichts dieser Auszeichnung hier nicht ernsthaft sagen kann: Wir möchten jetzt endlich, Bei Punkt sechs geht es um die Nutzung der fachli- dass der Zoll besser arbeitet. – Das zeigt die ganze Lä- chen Software ATLAS. Gerade für kleine und mittelstän- cherlichkeit Ihres Antrages. dische Unternehmen soll diese bedienbar und kosten- günstig sein. Die Pflicht, Schulungsbedarfe zu decken, Sie haben für diese Debatte eine gute Tageszeit ge- liegt allerdings bei den Unternehmen selbst. Sie müssen wählt. Deswegen werden wir – das gilt, denke ich, auch (B) ihre Mitarbeiter natürlich ausbilden. Darüber hinaus ist für die nachfolgenden Redner – die Gelegenheit nutzen, (D) aber die kostenfreie Nutzung von Internetzollanmeldun- um zu zeigen, wie gut unser Zoll arbeitet. Ich bin sicher: gen beim Zoll jederzeit möglich und jedem freigestellt. Er wird es auch weiterhin tun. Ich wünsche ihm dafür alles Gute. Mit Punkt sieben geht es Ihnen ebenfalls um die IT. Dazu habe ich, denke ich, schon alles gesagt. Der fach- Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. liche Austausch zwischen den Mitgliedstaaten findet be- reits statt und wird von den jeweiligen Rechnungshöfen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) streng überwacht. Vizepräsident Thomas Oppermann: In Punkt acht möchten Sie, dass „nicht-präferenzielle Ursprungsregeln beibehalten werden“. Sie werden beibe- Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege Jörg halten. Außerdem kümmern wir uns bereits darum, dass Cezanne für die Fraktion Die Linke. die Lizenzen, die die Unternehmen jetzt schon haben, weiterhin unbürokratisch genutzt werden können. (Beifall bei der LINKEN)

Ihr Punkt elf ist etwas wichtiger. Darin beschäftigen (DIE LINKE): Sie sich intensiv mit dem Brexit. Das ist überhaupt ein Jörg Cezanne großes Anliegen von Ihnen. Sie haben dazu gerade die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Zoll Kleine Anfrage „Arbeitsanfall und Personalplanung erhebt neben seinen anderen Aufgaben im internatio- beim Zoll unter anderem durch den Brexit“ gestellt. Die nalen Warenverkehr nach Deutschland die Einfuhrab- Bundesregierung hat umfassend dargestellt, wie man gaben. Er überwacht, ob Verbote und Beschränkungen sich auf den Brexit vorbereitet – egal in welcher Form einer Einfuhr entgegenstehen. 2017 wurden mehr als er stattfindet. Da ist keiner überrascht vom Brexit. Ich 220 Millionen Sendungen im Warenverkehr mit Staa- denke, es wird eine Menge getan. ten außerhalb der Europäischen Union abgewickelt. Mit 130 Milliarden Euro nimmt der Zoll den größten Teil der Der Zoll ist, denke ich, in einer besonderen Verant- Steuereinnahmen des Bundes ein. wortung, wenn der Brexit kommt. Das wollen wir gar nicht infrage stellen; aber ich denke, es sind bestimmte Ich finde es sonst ein bisschen seltsam, wenn wir hier Maßnahmen vorgesehen, die dann eingeleitet werden. vorne stehen und uns bei Beschäftigten des Bundes be- Das ist in der Antwort der Bundesregierung auch klar danken; aber angesichts dieser stillen, ruhigen und so- ausgeführt worden. liden Tätigkeit der Zollbeamtinnen und Zollbeamten Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8591

Jörg Cezanne (A) schließe ich mich dem Dank meiner Vorrednerinnen und Behörden zahlreiche Unzulänglichkeiten gibt. So ist (C) Vorredner an. offensichtlich die Kommunikation zwischen den Zoll- praktikern und dem Informationstechnikzentrum Bund (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- stark verbesserungsbedürftig. Häufig kommt es zu Ver- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zögerungen bei Projekten. Bereits verabredete Roll-out- GRÜNEN) Pläne müssen nicht selten verschoben werden. Allein die Für Schlagzeilen hat die Zollverwaltung in den letzten Antragsverfahren für neue IT-Projekte benötigen nach Monaten aber gesorgt, weil die neu aufgebaute Einheit Auskunft derer, die es wissen müssen, meist bis zu zwei zur Bekämpfung von Geldwäsche und illegalen Geldge- Jahre Zeit. Und das ist die Zeit, in der der Antrag erar- schäften mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. beitet wird. Geldwäscheverdachtsmeldungen von Banken einschließ- Insbesondere bei einer der beiden IT-Abteilungen, die lich Verdachtsmeldungen bezüglich Terrorfinanzierung der Zoll unterhält, beim Zollkriminalamt in Köln, ist es sind wochenlang und in sehr großer Zahl unbearbeitet offensichtlich nicht möglich, Stellen zu besetzen, weil liegen geblieben. die Tarifbedingungen des Zolls mit dem allgemeinen Das verweist auf das größte Problem beim deutschen Gehalts- und Vergütungsniveau in Köln kaum mithalten Zoll: Im vergangenen Jahr waren von 39 000 Planstellen können. Häufig werden dann hohe Summen für externe 6 000 gar nicht besetzt. Es ist gut, dass der Bundesfinanz- Dienstleister ausgegeben, deren Know-how aber mit Ab- minister jetzt zielgerichtet vor allen Dingen Stellen bei schluss des Projekts verschwindet und dem Zoll verloren der Geldwäscheeinheit, der Mindestlohnkontrolle und geht. der Schwarzarbeitsbekämpfung besetzen will. Aber mit diesen neuen Stellen verbleiben wir immer noch beim Meine Damen und Herren, die FDP hat uns – jetzt Stopfen der durch falsche politische Entscheidungen in werde ich ein bisschen polemisch – eine Liste einzelner den vergangenen Jahren gerissenen Lücken. Aspekte der Zollabfertigung zusammengestellt und ver- merkt: Es muss alles einfacher werden. – Das kann man Es freut mich, dass die FDP die Personalnot in der öf- machen. Das ist eine verständliche Absichtserklärung, fentlichen Verwaltung sieht und anspricht. Aber das ist aber natürlich kein überzeugendes Konzept. auch ein Hinweis darauf, dass eine schwarze Null um je- den Preis, ein schlanker Staat im Zweifelsfalle mehr Geld (Beifall bei der LINKEN) kostet, als man kurzfristig einsparen kann. Vielleicht fällt den Kolleginnen und Kollegen von der (Beifall bei der LINKEN) FDP aber bis zum Beginn der Ausschussberatungen noch der eine oder andere konkrete und praktikable Vorschlag Dabei führt der wachsende internationale Warenaus- ein, über den sich dann zu reden lohnt. (B) tausch auch zu einer stetig wachsenden Zahl von Abfer- (D) tigungsbewegungen beim Zoll. Am stärksten treten die Ich danke Ihnen. Personalprobleme – das erfährt man, wenn man mit Prak- (Beifall bei der LINKEN) tikern spricht – offensichtlich bei der Freigabe von Wa- ren an den großen Einfuhrzentren, also den Seehäfen in Hamburg und Bremerhaven und an den internationalen Vizepräsident Thomas Oppermann: Flughäfen, allen voran natürlich dem Frankfurter Flug- Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Abgeordnete hafen, auf. Die Dauer der Freigabe wird auch von den Katharina Dröge für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Beschäftigten selbst als zu lang angesehen. nen. Meine Damen und Herren, der Abfertigungsprozess (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) darf für die Beteiligten nicht zu einem Handelshemm- nis werden; das ist völlig klar. Die IT-Ausstattung des Katharina Dröge (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zolls spielt dabei offensichtlich eine zentrale Rolle. Die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Vereinheitlichung der Zollverfahren in der Europäischen Kollegen! Liebe Frau Weeser, ich hätte nicht gedacht, Union ist erfolgt, aber sie ist eben nur insoweit erfolgt, dass ich das zu Beginn in einer Debatte einmal sagen als dass die Abfertigungsregeln vereinheitlicht worden würde: Ich kann verstehen, warum Sie diesen Tagesord- sind. Was noch nicht gelungen ist – auch das haben mei- nungspunkt heute setzen. Auch wenn das einige andere ne Vorredner zum Teil schon angesprochen –, ist die Ver- Redner in der Debatte leider nicht so richtig verstanden einheitlichung der Informationstechnik, über die das lau- haben: Wir diskutieren hier nicht nur irgendwie allge- fen kann. Der EU-Zollkodex wurde 2016 eingeführt. Die mein über den Zoll, sondern wir diskutieren heute – heu- Umsetzung einer einheitlichen IT-Lösung ist für 2020 te – hier über Zollverfahren, angestrebt. Wir haben jetzt die Hoffnung – der Bericht des Rechnungshofs der Europäischen Union ist schon an- (Beifall des Abg. Reinhard Houben [FDP]) gesprochen worden –, dass das bis 2025 gelingt. weil am Dienstag in Großbritannien über die Brexit-Ent- Das ist kein Ruhmesblatt. Es liegt aber – das will ich scheidung abgestimmt wurde. an dieser Stelle deutlich sagen – nicht in erster Linie am (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN deutschen Zoll. Trotzdem sind Mängel in der IT-Aus- und bei der FDP) stattung und Vernetzung nicht nur auf der europäischen Ebene ein Problem. Fragt man Praktiker aus der Zoll- Dadurch steht die Frage im Raum: Was können wir als verwaltung, erfährt man, dass es auch bei den deutschen Deutscher Bundestag eigentlich tun, wenn wir immer 8592 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Katharina Dröge (A) näher auf einen chaotischen Brexit zusteuern, wenn wir Frankreich hat heute begonnen, seinen Notfallplan für (C) immer mehr auf einen harten Brexit zusteuern? einen harten Brexit zu aktivieren, und deswegen steht die Frage im Raum: Was tut die Bundesregierung? Wie ( [FDP]: Sie haben es bereiten wir die Unternehmen ausreichend darauf vor, verstanden!) wenn der harte Brexit kommt? Ich glaube, fast alle Fraktionen hier im Haus hätten (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Das ist aber sich gewünscht, dass Großbritannien anders abgestimmt nicht das Thema heute!) hätte, Und das, Frau Weeser, ist dann wiederum auch meine (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: So ist Kritik an dem Antrag: Es ist richtig, über Zollerleichte- es!) rungen zu sprechen; aber wir müssen ebenso ehrlich sein, dass man gemeinsam einen Weg findet, wie man noch zu zu sagen: Sie werden bei weitem nicht ausreichen, um einem geordneten Verfahren kommt, am besten natürlich den Schock, den ein Brexit dem europäischen Binnen- zu gar keinem Austritt aus dem Binnenmarkt – aber wenn markt zuführen wird, wenn er als harter Brexit kommt, schon, dann in einem geordneten Verfahren und nicht in abzufedern. dem Chaos, auf das wir momentan zusteuern. Deswegen müssen wir darüber hinaus diskutieren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen wir endlich hier im Deutschen Bundestag nach und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der vorne gerichtet diskutieren. Wenn es um den europä- CDU/CSU und der LINKEN) ischen Binnenmarkt geht, dann müssen wir über eine gemeinsame Investitionsstrategie in der Europäischen Ich kann verstehen, wenn Sie, liebe Kolleginnen und Union sprechen. Dann müssen wir über eine gemeinsame Kollegen von der FDP, sagen: Dann lasst uns jetzt we- industriepolitische Strategie in der Europäischen Union nigstens das bisschen tun, was wir tun können, sprechen, und dann müssen wir miteinander darüber dis- kutieren, wie wir endlich den Binnenmarkt weiterentwi- (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Aber nicht bis ckeln können. Dienstag!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dann lasst uns an das Thema Zölle herangehen, dann lasst uns damit beschäftigen, dass, wenn der harte Brexit Wenn es um Investitionen geht, dann hat insbesondere kommt, wir wahrscheinlich kilometerlange Staus an den Deutschland eine besondere Verantwortung. Deutsch- Grenzen bei Dover und Calais haben. land ist die Lokomotive Europas. Deutschland ist auf der anderen Seite – ganz im Gegensatz zu den falschen Aus- (B) Wenn wir diese Zollabfertigung machen müssen, sagen, die die AfD hier immer verbreitet – das Land, das (D) dann müssen wir uns mit den Produktionsprozessen der auch am meisten wirtschaftlich von diesem Binnenmarkt Unternehmen beschäftigen, und dann ist es auch rich- profitiert hat. tig – deswegen werden wir Grünen Ihrem Antrag auch zustimmen –, zu sagen: Lasst uns das machen, was man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen kann; lasst uns mehr Personal einstellen bei der und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Zollverwaltung; lasst uns gucken, wie man Bürokratie CDU/CSU und des Abg. Dr. vereinfachen kann; lasst uns gucken, wie man gerade für [SPD]) die kleinen und mittleren Unternehmen die Bedingungen Deswegen sind wir, wenn es zu einer schwierigen Situa- verbessern kann. tion in der Europäischen Union kommen sollte, auch in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Lage, diesen Zug weiterzuziehen. Aber dafür braucht und bei der FDP – Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: es mehr Entschlossenheit; dafür braucht es mehr gemein- Haben Sie den Antrag gelesen?) same europäische Investitionen. Dafür braucht es eine ehrliche Debatte, auch über den Investitionsfonds der – Natürlich habe ich diesen Antrag gelesen. Sie haben ihn Europäischen Union, ob er so gewirkt hat, wie wir uns ja Punkt für Punkt abgearbeitet; das fand ich auch etwas das in der Vergangenheit gewünscht hätten oder ob nicht erstaunlich. Ich frage Sie: Wie kann man in einer Zeit wie zu wenig Investitionsprojekte im Süden Europas ange- heute so eine Rede halten? kommen sind, wo sie am Ende aber einen wirtschaftli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen Impuls hätten entfachen sollen, ob die Investitionen und bei der FDP) ausreichend zielgerichtet auf innovative Projekte, auf ökologische Projekte, auf Digitalisierung ausgerichtet Sie sagen die ganze Zeit: Ja, wir machen das, wir sind waren oder ob wir am Ende zu sehr mit der Gießkanne irgendwie auf dem Weg; irgendwann wird das alles kom- investiert haben. Diese Debatte müssen wir jetzt führen, men. – Aber: Der mögliche harte Brexit Ende März ist um die Investitionsdynamik in Europa anzustoßen. bald und nur zu sagen: „Wir sind auf dem Weg, wir wer- den irgendwann dazu kommen“, reicht nicht. Das Tem- Wir müssen auf der anderen Seite natürlich auch über po, mit dem die Große Koalition in der Vergangenheit die deutschen Investitionen sprechen. Wir als Bundes- unterwegs war, wird hier nicht reichen. Wir müssen uns republik Deutschland haben immer noch einen riesigen jetzt auf den Brexit vorbereiten. Leistungsbilanzüberschuss. Wir haben angefangen, ihn ein bisschen abzubauen; aber da ist immer noch ein rie- (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Aber dieser An- siger Weg zu gehen. Es wäre doch gerade jetzt ein gutes trag reicht nicht!) europäisches Zeichen, wenn Deutschland sagen würde: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8593

Katharina Dröge (A) Angesichts dieser schwierigen wirtschaftlichen Situati- voll und ganz unter dem Eindruck der Entscheidung des (C) on, in die uns ein harter Brexit bringen könnte, gehen wir britischen Unterhauses vom vergangenen Dienstag. Seit- noch einmal entschlossen voran und machen auch hier in dem stellen sich einige Fragen: Wie geht es weiter im Deutschland einen Investitionsaufbruch. Verhältnis des Vereinigten Königreichs zur Europäischen Union? Was bedeutet das für die Bürgerinnen und Bür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ger? Was bedeutet das für unsere Wirtschaft? sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Frau Dröge, glauben Sie mir: Die Bundesregierung Das zweite Thema, das wir miteinander diskutieren und auch die Große Koalition arbeiten vehement an all müssten, ist, endlich den Binnenmarkt weiter zu ver- den Dingen, die wir für einen harten Brexit brauchen, die tiefen, endlich neben eine Währungsunion auch eine wir für ein Übergangsabkommen brauchen oder die wir Wirtschaftsunion zu stellen, die ihren Namen verdient benötigen, wenn der Brexit verschoben wird. hat, endlich das Europäische Semester so weiterzuent- wickeln, dass wir eine gemeinsame wirtschaftspolitische Auch der Zoll rückt bei dieser Diskussion immer Koordination haben. Wir müssen endlich auch etwas im mehr ins Licht der Öffentlichkeit. Es arbeiten über Bereich eines sozialen Europas tun, um am Ende das 40 000 Zollbeamtinnen und -beamte im Dienste unseres Versprechen, das wir den Bürgerinnen und Bürgern in Landes jeden Tag an einer Vielzahl von Aufgaben. Diese Europa gegeben haben, auch zu halten, nämlich dass es Beamtinnen und Beamte sind nicht nur gut ausgebildet, ein Europa ist, das bei jedem einzelnen Bürger ankommt. sie machen auch tagtäglich einen guten Job. Das ist die Werbung, die wir auch in Großbritannien ma- (Beifall bei der CDU/CSU) chen können. Das ist am Ende die beste Einladung, die wir an die Menschen in Großbritannien aussprechen kön- Vom Vollzug der besonderen Verbrauchsteuern, von der nen, falls sie sich wirklich entscheiden sollten, aus der Finanzkontrolle Schwarzarbeit bis hin zur Zollfahndung Europäischen Union auszutreten. Lassen Sie uns einfach reicht das Spektrum. damit, dass dieser Binnenmarkt super funktioniert, dass Meine Damen und Herren, seien wir mal ganz ehr- die europäische Integration weitergeht, so gute Werbung lich: Auch wir als Gesetzgeber haben dem Zoll in den machen, dass Großbritannien am Ende gar nicht anders vergangenen Jahren immer neue Aufgaben zugewiesen. kann, als zurück in die Europäische Union zu kommen; Die Verwaltung hat dabei natürlich große personelle und das wäre das Zeichen, das wir hier heute ausstrahlen soll- auch organisatorische Herausforderungen zu bewältigen ten. gehabt. Glauben Sie mir: Bei meinen Besuchen in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zollverwaltung konnte ich mich darüber informieren sowie des Abg. Dr. Jens Zimmermann [SPD]) bzw. konnte ich sehen, dass diese Verwaltung nicht nur (B) gut aufgestellt ist, sondern dass sie diese Herausforde- (D) Und ganz zum Schluss der Debatte möchte ich noch rungen auch bewältigt hat. An dieser Stelle von meiner sagen: Ich glaube, auch dieses Haus muss aus dem Cha- Seite natürlich auch noch einmal ein großes Dankeschön os, muss aus dem Versagen der politischen Parteien in an unsere Beamtinnen und Beamte. Großbritannien lernen. Lassen Sie uns gemeinsam als demokratische Parteien dafür sorgen, dass das, was in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Großbritannien passiert ist, hier nicht passiert, neten der SPD und der Abg. [DIE LINKE]) (Kay Gottschalk [AfD]: Dann erkennen Sie das Votum an!) Die Kolleginnen und Kollegen der FDP-Fraktion wer- ben in ihrem Antrag mit der verheißungsvollen Über- dass falsche Behauptungen, dass Populisten einen Dis- schrift „Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie ab- kurs bestimmt haben, der dazu geführt hat, dass ein ge- bauen“. Wer in diesem Hause wird diesem hehren Ziel samtes Land im Chaos und in der Handlungsunfähigkeit denn widersprechen wollen? Ich glaube, niemand. Das geendet ist. Das darf hier nicht passieren. Deswegen dür- Problem liegt in der Politik jedoch in den seltensten Fäl- fen Ideen wie die, die Sie formulieren, mit einem Austritt len bei der Formulierung griffiger Überschriften, sondern Deutschlands aus der Europäischen Union hier niemals vielmehr in der seriösen Umsetzung ambitionierter Vor- die Debatte prägen. haben durch sorgfältige gesetzgeberische Arbeit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Ge- bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- nau!) geordneten der SPD und der LINKEN) Da kommen wir zu den Details Ihres Antrags, der im Vizepräsident Thomas Oppermann: Wesentlichen auf Dinge reflektiert, die bereits angegan- gen wurden oder vor ihrer Umsetzung stehen. Der Kolle- Vielen Dank. – Als Nächster spricht der Kollege Uwe ge de Maizière hat das in seiner Rede bereits ausgeführt; Feiler für die Fraktion CDU/CSU. deswegen möchte ich auch noch weiter auf den Brexit (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt eingehen, anstatt mich jetzt mit diesen Dingen zu be- mal wieder zum Zoll!) schäftigen. Ich hatte das Vergnügen, am Montag an der Anhörung Uwe Feiler (CDU/CSU): des Europaausschusses teilzunehmen und dort auch meh- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und rere Fragen zum Thema Zoll im Zusammenhang mit dem Kollegen! Die meisten von uns stehen sicherlich noch Brexit zu stellen. Dabei sei uns in Erinnerung gerufen, 8594 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Uwe Feiler (A) Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Nicht der Vizepräsident Thomas Oppermann: (C) Zoll hat den Brexit zu verantworten, vielmehr muss er Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Abgeordnete mit seinen Auswirkungen umgehen. Da stellen sich na- Stefan Keuter für die AfD. türlich einige Fragen. Eine Frage wäre beispielsweise, wie die Verwaltung mit den durch den Brexit zu erwar- (Beifall bei der AfD) tenden 4,6 Millionen zusätzlichen Einfuhranmeldungen britischer Unternehmen und den 10 Millionen zusätzli- Stefan Keuter (AfD): chen Ausfuhranmeldungen deutscher Unternehmen um- Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Kollegen und zugehen gedenkt. Das sind 14,6 Millionen zusätzliche Zuschauer! Liebes – leider noch unvollständiges – Präsi- Vorgänge. Schon allein diese Größenordnung, meine Da- dium! Ich darf daran erinnern: Die Kandidatin zur Bun- men und Herren, macht deutlich, dass die Europäische destagsvizepräsidentin der AfD wurde bisher leider von Union und das gemeinsame Zollgebiet insbesondere für diesem Hohen Haus immer noch nicht gewählt. die deutsche Wirtschaft enorme bürokratische Erleichte- rungen mit sich bringen. (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Ihr wählt unse- re Leute ja auch nicht! – Zuruf von der CDU/ Das sei jetzt insbesondere der AfD ins Stammbuch ge- CSU: Wir reden über den Zoll!) schrieben: Stellen Sie sich einmal vor, mit welchem bü- „Zollverfahren vereinfachen – Bürokratie abbauen“ rokratischen Aufwand deutsche Unternehmen zu rechnen ist ein schöner Titel für einen Antrag, dem wir sehr gerne hätten, wenn es die EU gar nicht geben würde, von den zustimmen würden. Lastwagenschlangen an den Grenzen ganz zu schweigen, die insbesondere Deutschland als Exportnation natürlich (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Nur zu verzeichnen hätte. Da würde uns auch eine Simulation zu!) nach britischem Vorbild auf einem verlassenen Flugha- Aber dieser Antrag der FDP ist handwerklich schlecht fen, zum Beispiel in Schönefeld, nicht weiterhelfen. gemacht. Nicht nur deshalb, sondern auch generell ist es not- (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Wollen wendig, dass wir alles dafür tun, dass Unternehmen zum Sie die Handwerker beleidigen?) Beispiel durch den Ausbau der ATLAS-Fachanwendung ihren Aufwand so gering wie möglich halten und die Es fehlen mir klare Strukturen. Sie möchten Dinge fest- Fälle, in denen Unternehmer persönlich bei der Behör- gestellt haben, die mit subjektiven Tatsachenbeschrei- de vorstellig werden müssen, auf ein Minimum reduziert bungen vermixt sind, und dies ist alles viel zu allge- werden – das jedoch zulasten der Sicherheit, zum Bei- mein. Wo „Lindner“ druntersteht, ist offensichtlich auch Lindner drin. (B) spiel durch Abstriche bei der notwendigen Kodierung, (D) wie es die FDP fordert, ist für mich kein Weg. Unsere Um eines vorwegzunehmen: Wir stimmen der Über- Unternehmen müssen sich auch sicher sein können, dass weisung in den Ausschuss zu, um uns da mit diesem An- ihre unternehmerischen Daten bei der Zollbehörde gut trag noch einmal gründlich auseinanderzusetzen. aufgehoben sind. (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Oh (Beifall bei der CDU/CSU) nein!) Auch der Aufforderung, die Personallücke in der Ich habe mich neulich mit einem mittelständischen Zollverwaltung zu schließen, bedarf es nicht, zumal das Landmaschinenhersteller aus Deutschland unterhalten, schon zu meinen Kernanliegen in der vergangenen Wahl- der sehr stark vom Export lebt. Dieser hat sich über die periode gehörte. Alleine die Übernahme des Einzugs der Handelshemmnisse, insbesondere über die Zollabferti- Kfz-Steuer durch den Zoll oder der Ausbau der Kontrolle gungen, beklagt. Auch bei immer wiederkehrenden Lie- der Schwarzarbeit hat zu Tausenden neuen Stellen ge- ferungen in bestimmte Länder sind jedes Mal die neuen führt. Das ist auch nicht das Problem. Stellen sind keine präzisen Produktbeschreibungen und technische Daten- Menschen. Vielmehr müssen die Stellen auch mit geeig- blätter vorzulegen und zahllose Formulare auszufüllen. neten Personen besetzt werden, und da konkurriert der Dies führt häufig dazu, dass Waren den Lkw nicht errei- Zoll mittlerweile mit zahlreichen anderen Arbeitgebern chen, teure Standkosten entstehen oder Container nicht aus der freien Wirtschaft. Wir müssen also darüber spre- rechtzeitig verschifft werden können. Gerade bei immer chen, die Attraktivität des Berufsbildes Zoll zu verbes- wiederkehrenden Lieferungen wäre es schon hilfreich, sern, und zwar nicht nur mit warmen Worten, sondern wenn die vom Zoll eingesetzte Software ATLAS lernfä- auch mit Taten, sei es bei der Besoldung oder den weite- hig wäre. ren Rahmenbedingungen bis hin zu Dienstwohnungen. Die Zollverwaltung muss im Allgemeinen kunden- Ich glaube, die Mehrheit dieses Hauses weiß sehr freundlicher werden. Deutschland ist – wir wissen es wohl, was wir am Zoll haben, und unterstützt das BMF in alle – eine Exportnation. Wir müssen die Rahmenbedin- seinen Bemühungen, die vielfältigen Aufgaben des Zolls gungen dafür schaffen, dass sich unsere Unternehmer effektiv und effizient wahrzunehmen. Einen Antrag der bei uns wohlfühlen, Arbeitsplätze schaffen und Steuern FDP braucht es dazu eigentlich nicht. Ich halte es mit zahlen. Hase und Igel: Wir sind schon da. (Beifall bei der AfD) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Grundvoraussetzung dafür sind Zuverlässigkeit und Be- (Beifall bei der CDU/CSU) rechenbarkeit. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8595

Stefan Keuter (A) Wenn ich auf die Brexit-Verhandlungen schaue und Vizepräsident Thomas Oppermann: (C) sehe, wie man hier mit Großbritannien umgeht und ver- Als Nächster spricht Dr. Jens Zimmermann für die sucht, Großbritannien zu gängeln und Schreckensszena- Fraktion der SPD. rien aufzuzeigen, (Beifall bei der SPD) (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Dr. Jens Zimmermann (SPD): dann wird mir schlecht. Ich wünsche Großbritannien Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- nach dem EU-Austritt alles Gute für die Zukunft, die das ren! Auch ich möchte zu Beginn meiner Rede zunächst britische Volk in freier Selbstbestimmung außerhalb des einmal den Kolleginnen und Kollegen beim Zoll, den Brüssel-Diktates selbst gestalten wird. Zöllnerinnen und Zöllnern, danken. Denn was viele nicht so auf dem Schirm haben – das könnte man auch aus die- (Beifall bei der AfD) ser Debatte schließen –, ist, dass der Zoll heute viel, viel mehr macht als nur das, was man klassischerweise von Die Insel wird nicht untergehen. Wir werden weiter- der Grenze kennt, also Warenlieferungen zu überprüfen. hin Handel treiben; schließlich gehen circa 7 Prozent Der Zoll hat in den letzten Jahrzehnten einen sehr, sehr unserer Exporte nach Großbritannien. Wir werden auch großen Wandel durchlaufen, und das ist auch für viele weiterhin, liebe Briten, zu euch gute Handelsbeziehun- Kolleginnen und Kollegen nicht immer einfach gewesen. gen pflegen. Die verschiedentlich aufgezeichneten Ka- Deswegen an dieser Stellen einen herzlichen Dank für tastrophenszenarien halten wir für absolut absurd. Die die wichtige Arbeit, die sie jeden Tag für uns alle leisten. Heterogenität der bilateralen Handelsabkommen macht die Sache kompliziert. Ob sich eine Vereinheitlichung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf WTO-Ebene durchsetzen lässt, muss sich zeigen. Ich der CDU/CSU und des Abg. Alexander Graf persönlich halte das – kurzfristig jedenfalls – nicht für Lambsdorff [FDP]) realistisch. Die FDP hat einen Antrag gestellt, der zum Teil wich- Wie wir immer wieder von Unternehmen hören, tige Punkte anspricht, auch viele Punkte, die die Bundes- sind es die sich ständig verändernden Bedingungen im regierung und die Koalition ebenfalls bearbeiten. Ganz Außenwirtschaftsverkehr und die Zollvorschriften, die oben steht die Frage, wie es mit der Weiterentwicklung ihnen das Leben schwer machen. Es wäre schon viel der WTO aussieht. Ich glaube, wir sind alle daran inte- geholfen, wenn die Bundesregierung nicht immer wie- ressiert, dass der Multilateralismus wieder gestärkt wird. der Außenhandelspolitik nach Großwetterlage machen Aber der Antrag atmet eben doch den typischen FDP- Slang im Sinne von: Da muss Bürokratie abgebaut wer- (B) würde. Wenn in den Medien irgendwo Menschenrechts- (D) verletzungen thematisiert werden, ist man schnell dabei, den. über neue Handelsbeschränkungen und Sanktionen nach- (Reinhard Houben [FDP]: Das ist auch rich- zudenken, tig! – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Es wäre ja auch komisch, wenn das von der FDP (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Richtig so!) nicht käme!) und das noch nicht einmal konsequent. Denken wir ein- – Bürokratieabbau ist da gut, wo er sinnvoll ist. Wir un- mal an die drohende Enteignung weißer Farmer in Südaf- terstützen Bürokratieabbau auch da, wo er sinnvoll ist. rika ohne Kompensationen. Dies bleibt von Deutschland Seien Sie mir nicht böse, aber das Problem ist: Wenn aus nahezu unkommentiert, während einzelne Verhaftun- Sie von Bürokratieabbau reden, dann haben wir einfach gen von Journalisten türkischer Herkunft in der Türkei immer Angst, dass am Ende Deregulierung, das Öffnen zum großen Drama hochstilisiert werden. von Lücken sowie Verluste für den Staat herauskommen. (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Sebastian Erlauben Sie uns deswegen, ein bisschen kritisch zu sein, Brehm [CDU/CSU]: Interessant! Sie unter- wenn die FDP mit dem Thema Bürokratieabbau um die scheiden Menschenrechte! Gute Menschen- Ecke kommt. rechte, böse Menschenrechte!) (Beifall bei der SPD – Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Erlauben wir!) Es kann nicht Ziel unserer Wirtschaftspolitik sein, Wirt- schaftssanktionen mit irgendwelchen Demokratisie- – Danke schön. rungsprozessen in Drittstaaten zu verknüpfen. In den Frau Kollegin Dröge hat aufgezeigt, wie heute ein gu- meisten Fällen funktioniert das nicht, und das, meine Da- ter Antrag vor dem Hintergrund der Brexit-Debatte aus- men und Herren, ist moderner Kolonialismus. sehen könnte. Ich muss allerdings sagen: Frau Kollegin, Lassen Sie mich noch ein letztes Wort zu Russland so, wie Sie den Antrag der FDP umgestaltet haben, sieht verlieren: Die Russland-Sanktionen gehören ganz klar er nicht aus. Dort steht etwas anderes, aber das sei nur am auf den Prüfstand. Sie schaden der deutschen Wirtschaft. Rande erwähnt. Die Krim kommt dadurch nicht zurück zur Ukraine, und Lassen Sie mich auf das Thema Brexit zurückkom- die Ukraine wird dadurch kein EU-Mitglied. men. Das ist natürlich ein absolut berechtigter Punkt, der Vielen Dank. es wert ist, hier im Bundestag debattiert zu werden. Es ist bezeichnend, was soeben vom Kollegen der AfD gesagt (Beifall bei der AfD) wurde: Na ja, es wird nicht so schlimm kommen, auch 8596 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Jens Zimmermann (A) wenn dort am Ende Lkw-Schlangen stehen. – Ich will im 2019er-Haushalt einen Stellenaufbau durchgesetzt, (C) eines sagen: In Großbritannien, in Dover, stehen diese der seinesgleichen sucht. Wir haben für 2018 ungefähr Lkw-Schlangen zurzeit, weil man dort testet. Es wur- 1 400 Planstellen und für 2019 4 500 Planstellen be- den 90 Lkw hintereinander aufgestellt, um den Ablauf schlossen. Diese müssen noch mit neuen Kolleginnen zu prüfen. Das geschieht nicht, weil Europa den Briten und Kollegen besetzt werden. Sie müssen ausgebildet Angst machen will, sondern weil Großbritannien selbst werden. Das sind große Aufgaben. Aber ich glaube, an gemerkt hat: Wenn der Brexit so kommt, wie es momen- dieser Stelle zeigt es sich, dass wir die Aufgaben des tan aussieht, nämlich ohne ein vernünftiges Abkommen, Zolls sehr ernst nehmen, dass wir als SPD an der Seite dann wird Chaos ausbrechen. Das muss man an dieser der Zöllnerinnen und Zöllner stehen. Stelle noch einmal unterstreichen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Spannend ist auch: Wer hätte gedacht, dass das Thema Zoll möglicherweise sogar das Kernproblem ist, weshalb Vizepräsident Thomas Oppermann: es in Großbritannien im Parlament aktuell zu keiner Lö- Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion sung kommt? Wer hätte gedacht, dass es am Ende der der FDP der Kollege Reinhard Houben. Zoll ist? Einer der zentralen Punkte, bei denen sich die Kolleginnen und Kollegen nicht einigen können, ist die (Beifall bei der FDP) Grenze zwischen Irland und Nordirland. Wir haben hier im Deutschen Bundestag immer wieder gesagt: Wir ste- hen an der Seite unserer Freunde in Irland. Wenn Groß- Reinhard Houben (FDP): britannien austritt, dann wird es an der Grenze zwischen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen der Republik Irland und Nordirland eine Zollgrenze Dank, Herr Feiler und Herr Zimmermann, wir hätten uns geben. – Die Frage zu beantworten, wie man eine Zoll- als FDP gefreut, wenn wir in dieser Woche Gelegenheit grenze am Ende ohne Zöllnerinnen und Zöllner, ohne gehabt hätten, über den Brexit vernünftig zu diskutieren. Kontrollen durchsetzt, ist schwierig. Dieses Problem ist quasi nicht zu lösen. Wir haben mit der sogenannten (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Gucken Sie Backstop-Lösung sehr komplexe Ideen entwickelt. Aber mal unter TOP 5!) lassen Sie mich noch einmal sagen: Dass am Ende die Lösung zwischen Irland und Nordirland nicht zustande – Herr Zimmermann, Sie wissen genau, dass der Au- kommt, liegt zum großen Teil an einem Zollproblem. Das ßenminister sieben Minuten zum sperrigen Begriff Bre- (B) zeigt, wie wichtig das Thema im Kontext des Brexits ist, xit-Übergangsgesetz reden wird. Sie glauben doch nicht (D) meine Damen und Herren. im Ernst, dass das eine ehrliche und ausführliche Debatte bezüglich dieser wichtigen Frage ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Christian Petry [SPD]: Was redet der denn Lassen Sie mich aber auch noch darauf eingehen, was da?) die Bundesregierung zur Vorbereitung auf den Brexit im Bereich des Zolls schon getan hat. Es sind dort zusätz- Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Herr Zimmermann. liche Geschäftsaushilfen eingestellt worden. Es werden Das glaubt doch kein Mensch in diesem Land. Verlagerungen von Tätigkeiten aus den Bereichen vor- genommen, die von einem harten Brexit besonders be- (Beifall bei der FDP – Christian Petry [SPD]: troffen wären. Es gab bereits im letzten Jahr vonseiten Das ist doch lächerlich!) des Zolls Informationen an die Unternehmen über die möglichen Auswirkungen, und es gab sieben Großver- Herr de Maizière, wir haben Unternehmen angefragt. anstaltungen gemeinsam mit dem DIHK, bei denen Vor- Meinen Sie, wir haben einen schlechten Traum, um einen bereitungen getroffen wurden. Es wurden Informationen solchen Antrag zu schreiben? Wir haben massive Rück- an die Unternehmen weitergegeben, was bei einem har- meldungen von Unternehmen bekommen in der Zeit vor ten Brexit möglicherweise drohen kann. Insofern ist die dem Brexit. Den Antrag, den wir geschrieben haben, ha- Behauptung, die Bundesregierung hätte keine Vorkeh- ben wir natürlich in dem Gedanken geschrieben, dass wir rungen für diesen Fall getroffen, einfach falsch. Sie sind zumindest einen irgendwie geregelten Brexit bekommen. getroffen worden, aber man muss auch ganz klar sagen: Wenn er aber nicht kommt, Herr de Maizière, Es ist ein Fall, der möglicherweise ohne Vorbild eintreten (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hät- wird. Sich darauf vorbereiten zu können, ist nur bis zu ei- ten Sie den Antrag nicht geschrieben!) nem gewissen Maße möglich, meine Damen und Herren. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – rechnet der DIHK mit ungefähr 10 Millionen zusätz- Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Frank- lichen Zollanmeldungen pro Jahr. Das sind an einem reich und Belgien schaffen das auch!) Arbeitstag ungefähr 20 000 Zollanmeldungen. Dann er- klären Sie mir, wie Sie das mit 750 noch nicht eingear- Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir als SPD beiteten Leuten regeln wollen. Das ist für mich wirklich haben uns in den zurückliegen Haushaltsverhandlun- eine ganz spannende Frage. gen immer wieder für die Stärkung des Zolls einge- setzt. Deshalb haben wir sowohl im 2018er- als auch (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8597

Reinhard Houben (A) Vielen Dank, liebe Frau Dröge, Sie haben scheinbar Wenn man den Zoll anschaut, dann stellt man fest, (C) als Einzige den Antrag so gelesen, dass er eine hervorragende Arbeit und einen wesentlichen Beitrag für unseren Rechtsstaat und die Erhebung von ( [SPD]: Wie Sie ihn nicht Zöllen und Steuern leistet. Allein im letzten Jahr wurden geschrieben haben!) über 130 Milliarden Euro durch die Zollverwaltung ein- wie er gemeint ist. Es geht hier nicht um Mitarbeiterbas- genommen. Dies ist ein großer und wichtiger Anteil des hing beim Zoll, sondern es geht darum, Verfahren zu ver- deutschen Bundeshaushaltes. einfachen. Kollege Zimmermann, Ihr Grummeln bei der Auch auf europäischer Ebene hat der länderüber- Bemerkung Blockchain zeigt, dass die SPD im Moment greifende Zollkodex, also die Neuregelungen und die bei technologischen Entwicklungen nicht auf der Höhe Überarbeitung des Zollkodexes, zur Vereinfachung im der aktuellen Entwicklung ist. Wirtschaftsraum geführt. In diesem neuen Zollkodex (Beifall bei der FDP) sind übrigens auch die Grundlagen für die europäische IT-Steuerung, die Sie fordern, gelegt. Er ist auch in die- Ich wünsche ganz besonders Ihnen einen schönen Tag sem Punkt umgesetzt. Die moderne IT-Struktur ist der- und freue mich auf die Ausführungen unseres Außenmi- zeit leider – Kollege de Maizière hat darauf hingewie- nisters. Ob er hier wirklich in sieben Minuten die kom- sen – noch nicht in dem Zeitrahmen umgesetzt, wie wir plexen Probleme des Brexits, vor allem eines harten Bre- uns das vorgestellt haben. Deswegen müssen wir auch xits, darstellen kann? Vollgas und Unterstützung geben, dass eine schnelle Umsetzung dieser europäischen IT-Strukturen kommt. Vielen Dank. Auf deutscher Ebene haben wir das ATLAS-System, das (Beifall bei der FDP – Christian Petry [SPD]: weiter ausgebaut wird. Also auch da handeln wir. Das war wirklich peinlich! – Michael Grosse-­ Ich glaube, man muss auch feststellen – Sie hat- Brömer [CDU/CSU]: Sie haben es in drei Mi- ten es gerade in Ihrem Beitrag gesagt –, dass allein mit nuten nicht geschafft!) IT-Strukturen, Blockchain und künstlicher Intelligenz beim Zoll nicht alles gemeistert werden kann. Wenn man Vizepräsident Thomas Oppermann: auf der einen Seite eine IT hat, braucht man auf der an- Letzter Redner in der Debatte ist der Abgeordnete deren Seite auch leistungsfähiges Personal. Deswegen ist Sebastian Brehm für die Fraktion der CDU/CSU. es richtig und notwendig, dass wir in den letzten Wochen und Jahren auch die Personalsituation beim deutschen (Beifall bei der CDU/CSU) Zoll deutlich verbessert haben. Es ist ja darauf hingewie- sen worden, was im Haushalt bereits an neuen Stellen (B) (D) Sebastian Brehm (CDU/CSU): ausgewiesen worden ist, die jetzt besetzt werden. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Ich selbst – und ich empfehle das jedem Abgeord- Kollegen! Natürlich sind die aktuellen Ereignisse rund neten – war in meinem Wahlkreis am Zollstandort, in um den Brexit – Kollege Feiler und viele andere haben Nürnberg. Ich habe mir das angeschaut und bin wirklich darüber gesprochen –, aber auch die Handelspolitik von beeindruckt von der hervorragenden Arbeit und der Ef- Präsident Trump und der Handelsstreit mit China und fektivität des Zolls. Insofern ist es schlecht, wenn Sie Europa für die deutsche Wirtschaft, aber auch für die heute den Zoll schlechtreden. Zollorganisation eine Herausforderung. Deshalb ist es (Sandra Weeser [FDP]: Das machen wir ja gut und richtig, dass wir heute zu dieser Zeit im Deut- nicht!) schen Bundestag über den Zoll und die Strukturreformen sprechen, die übrigens zum großen Teil schon eingeleitet Vielmehr sollte man bei einer solchen Debatte im Deut- worden sind. schen Bundestag, zu dieser Zeit, einmal ein großes Dan- keschön an den Zoll richten, weil er effektiv arbeitet. Wir hätten keinen Antrag der FDP gebraucht, weil letztlich alles, was sie in ihrem Antrag fordert, bereits (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) umgesetzt ist. Wenn Sie einen Hashtag verwenden wol- Es sind rund 40 000 Mitarbeiter in der Generalzolldirek- len, dann nehmen Sie den Hashtag: Die Regierungskoali- tion, 43 Hauptzollämtern, 253 Zollämtern und 8 Zoll- tion hat bereits alles umgesetzt. fahndungsämtern. Sie leisten eine gute Arbeit. Herzli- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – chen Dank dafür, dass die Zollstruktur in Deutschland Heiterkeit bei der FDP) von Ihnen so gut geschützt wird! Ich sage Ihnen auch, wie. Im Jahr 2016 ist auf natio- Aber Dank allein, liebe Kolleginnen und Kollegen, naler Ebene die Generalzolldirektion eingeführt worden. reicht nicht. Wir müssen daran arbeiten, dass wir die Stel- Man hat dort seit Jahren eine tiefgreifende Reform für len, die wir geschaffen haben, besetzen, und weiterhin eine leistungsfähige Zollverwaltung geschaffen. Hinzu zusätzliche Stellen schaffen. Wir haben im vergangenen kamen neue Aufgaben, zum Beispiel im Jahr 2017 die Jahr über 1 400 Stellen geschaffen und besetzt. In diesem Financial Intelligence Unit mit großen Aufgaben bei der Jahr schaffen wir 775 Stellen, die jetzt zu besetzen sind. Bekämpfung der Geldwäsche und Terrorismusfinanzie- Wir brauchen, um die zukünftigen Aufgaben abarbeiten rung. Das alles ist beim Zoll gebündelt. zu können, natürlich auch im Zusammenhang mit dem Brexit, mehr Personal. Es geht immer um eine Kombina- (Sepp Müller [CDU/CSU]: Gute Arbeit!) tion von IT und Zöllnern. Deswegen wird auch in diesem 8598 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Sebastian Brehm (A) Jahr die Ausbildung beim Zoll weiter vorangetrieben, mit Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 5 auf: (C) 3 000 neuen Stellen für Auszubildende, die nach der Aus- bildung in den Ausbildungszentren auch übernommen Zweite und dritte Beratung des von der Bun- werden können. Damit kommen weitere 3 000 Personen desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- beim Zoll hinzu. setzes für den Übergangszeitraum nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbri- Natürlich gibt es in Ihrem Antrag ein, zwei Fachthe- tannien und Nordirland aus der Europäischen men, über die wir im Finanzausschuss eine Fachdebatte Union (Brexit-Übergangsgesetz – BrexitÜG) führen können, zum Beispiel zur Ausschöpfung des Prä- ferenzrechts oder auch zur Einführung der Fiskalversteu- Drucksache 19/5313 erung in Deutschland, um Liquiditätsvorteile für unsere deutschen Unternehmen zu schaffen. Darüber werden Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- wir im Finanzausschuss sprechen. Ich glaube, da ist der ses für die Angelegenheiten der Europäischen eine oder andere gute Gedanke dabei. Union (21. Ausschuss)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sprechen hier Drucksache 19/7087 über Chancen und Risiken. Es ist viel dazu gesagt wor- Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der den, was die Herausforderungen für die deutsche Wirt- FDP vor. schaft sind. Das ist auf der einen Seite natürlich der Bre- xit, auf der anderen Seite aber auch der Nationalismus Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die Aus- und Protektionismus. Wie da international gehandelt sprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu keinen wird, ist natürlich Gift für die Entwicklung der deutschen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wirtschaft und für ein friedliches Miteinander. Deswegen lassen Sie uns gemeinsam unsere Hausaufgaben machen. Ich eröffne die Aussprache. Als Erster redet für die Bundesregierung unser Außenminister Heiko Maas. In der nächsten Woche beginnt ja das Weltwirtschafts- forum in Davos. Auch da wird auf diese Themen Bezug (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genommen, auch da wird diskutiert, was die zukünftigen der CDU/CSU) Herausforderungen unserer Wirtschaft sind. Wir müssen zum Beispiel darüber diskutieren, wie wir neue Freihan- delsabkommen schaffen; wir müssen neuen Freihandels- Heiko Maas, Bundesminister des Auswärtigen: abkommen positiv gegenüberstehen. Sie brächten wieder Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (B) Zollerleichterungen in Deutschland und für die deutsche Kollegen! Der 15. Januar war kein guter Tag für die Eu- (D) Wirtschaft. ropäische Union. Die Entscheidung des britischen Un- terhauses war ein ernster Rückschlag; denn damit ist die (Beifall bei der CDU/CSU) Wahrscheinlichkeit eines ungeordneten Brexits deutlich gestiegen. Dennoch: Der Weg dahin ist keinesfalls vorge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend zeichnet. Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen will ich noch eines sagen, weil die Europawahl bevor- alles daransetzen, dass ein Austritt Großbritanniens nicht steht und es Parteien gibt, die gegen den Euro und die ohne Abkommen, sondern nur mit einem Abkommen er- europäischen Strukturen sind: Wer solche Dinge in ein folgt. Wir wissen seit Dienstag aber lediglich, was die Wahlprogramm schreibt, wer die Strukturen ablehnt, die britischen Abgeordneten nicht wollen. Was wir immer ein Vorteil für Deutschland sind und unseren deutschen noch nicht wissen, ist, was Großbritannien stattdessen Wirtschaftsraum stärken, der schädigt unsere deutsche will. So, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden wir Wirtschaft nachhaltig. Deswegen muss man vor seiner nicht weiterkommen. Das sagen wir auch in aller Deut- Entscheidung bei der Europawahl schauen: Wer ist für lichkeit unseren britischen Kollegen. Letztlich können den Europäischen Wirtschaftsraum, wer ist für den Euro? wir nicht mit uns selber verhandeln. Wer dafür ist, der ist auch für die deutsche Wirtschaft. Alle anderen Maßnahmen sind abzulehnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass es viele gibt, die nunmehr auf einen Exit vom Brexit hoffen, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. auf ein neues Referendum, auf eine Verschiebung des Austrittstermins nach Artikel 50 des EU-Vertrages. Und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ja, ganz persönlich würde ich mir auch wünschen, die Briten hätten sich nie für den Brexit entschieden. Vizepräsident Thomas Oppermann: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Vielen Dank. – Weitere Wortmeldungen liegen nicht bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- vor. Dann schließe ich diese Aussprache. NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Aber im Moment sind alle Überlegungen zu solchen Op- Drucksache 19/6549 an die in der Tagesordnung auf- tionen reine Spekulation; denn die britische Regierung geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie hat bislang jede – wirklich jede – dieser Möglichkeiten einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung ausgeschlossen. Ohne britischen Antrag gibt es keine so beschlossen. Verlängerung der Austrittsfrist, und ohne Mehrheit im Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8599

Bundesminister Heiko Maas (A) britischen Parlament gibt es auch kein zweites Referen- Oder sollen sie an der Europawahl teilnehmen, um an- (C) dum. Das ist die Realität in dieser Frage. schließend zu entscheiden, dass sie doch austreten?

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Und (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE kein Abkommen!) GRÜNEN]: Das geht ja rechtlich gar nicht!) Das ist ein bisschen schwierig. Deshalb muss man auch in aller Deutlichkeit in Richtung London sagen: Die Zeit der Spielchen ist jetzt vorbei. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es in diesem Prozess ein positives Element gab, dann war es (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der die Einigkeit und die Geschlossenheit der 27 Mitglied- CDU/CSU) staaten der Europäischen Union. Diese Einigkeit müssen wir über den Brexit hinaus und auch jetzt, in dieser Pha- Der Ball liegt im Feld Großbritanniens. Alle, die in Lon- se, beibehalten. don politische Verantwortung tragen, sind jetzt in der Pflicht, sich zu verständigen und klar zu sagen, für wel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten chen Weg es in London eine Mehrheit gibt. Vielleicht der CDU/CSU) sollte der eine oder andere in Großbritannien sich dabei Wir werden diese Einigkeit darüber hinaus für ein starkes an Shakespeare erinnern: und souveränes Europa brauchen, ein Europa, das wei- terhin so eng wie möglich mit Großbritannien als Partner Was du nicht hast, dem jagst du ewig nach, verges- und als Freund in einer immer unübersichtlicheren Welt send, was du hast. zusammenarbeitet. Dafür brauchen wir die Briten eigent- Am Montag wollen Regierung und Parlament in Lon- lich mehr als zuvor. don einen Vorschlag diskutieren, und die Europäische Unabhängig davon, wie die Diskussion in Großbritan- Union ist auch bereit, sich diesen Vorschlag sehr genau nien in den kommenden Wochen verlaufen wird, sind wir anzuschauen. Kaum vorstellbar ist allerdings, dass das auf alle Szenarien vorbereitet. Wir setzen unsere Planun- Austrittsabkommen wieder aufgeschnürt wird. Das ha- gen für den Fall eines ungeregelten Brexits fort und wer- ben wir im Vorfeld der Abstimmung immer sehr deutlich den sie noch weiter intensivieren. Es geht darum, nega- gemacht, und daran hat sich auch durch die Entscheidung tive Folgen für die Bürgerinnen und Bürger und auch für in London in der Sache nichts geändert – so wie sich unsere Unternehmen so weit wie möglich abzuwenden. nichts an unseren Prinzipien geändert hat, insbesonde- re, was die Integrität des Binnenmarktes mit seinen vier Die Maßnahmen, die wir dazu ergriffen haben, ken- Grundfreiheiten betrifft. nen Sie. Im Mittelpunkt stehen drei Gesetzespakete. Das (B) Gesetz, das den britischen Limited-Gesellschaften die (D) Wir haben jetzt zwei Jahre lang intensiv mit Großbri- Umwandlung in deutsche Gesellschaftsformen ermög- tannien verhandelt. Ich finde, wir – und damit meine ich licht, ist bereits in Kraft. Eines der beiden Gesetze, die alle innerhalb der Europäischen Union – waren kreativ, wir derzeit beraten, soll negative Auswirkungen bei den waren flexibel, haben die roten Linien der britischen Re- Renten, der Krankenversicherung und der Ausbildungs- gierung berücksichtigt und sind Kompromisse eingegan- förderung abfedern. Das andere dient dazu, die Risiken gen. für die Stabilität der Finanzmärkte zu berücksichtigen und zu vermindern. Darüber hinaus haben wir – darüber (Andrea Nahles [SPD]: Ganz richtig!) haben Sie gerade diskutiert – mit der Einstellung von zu- sätzlichen Zollbeamten begonnen. Wir stocken aber auch Dabei wurden die Ziele beider Seiten berücksichtigt. das Personal in unseren Zulassungsbehörden auf, etwa Dieses Abkommen ist ein Kompromiss für beide Seiten. um wichtige Medizinprodukte weiterhin schnell und zu- Das, was wichtig war, ist in diesem Abkommen enthal- verlässig zulassen zu können. Letztlich arbeiten wir an ten: Rechtssicherheit für die Wirtschaft, eine Übergangs- einer Verordnung, die britischen Bürgerinnen und Bür- phase, um über das künftige Verhältnis ausreichend und gern eine Übergangsfrist einräumt, um ihren künftigen vernünftig verhandeln zu können, die Vermeidung ei- Aufenthaltsstatus in Deutschland auch bei einem ungere- ner harten Grenze zwischen Nordirland und Irland und gelten Brexit zu regeln. insbesondere die Wahrung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Auch für eine mögliche Verlängerung der Darüber hinaus tauschen wir uns natürlich eng mit den Austrittsfrist nach Artikel 50 müsste Großbritannien zu- Ländern, der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der nächst einmal klar sagen, wohin die Reise gehen soll. Es Wissenschaft über all die Dinge aus, die zu regeln sein müsste also eine klare Perspektive geben, um die Frage werden. Das tun wir auch mit den europäischen Partnern, des Ob und des „Wie lange“ beantworten zu können. dem Rat und der Europäischen Kommission, damit die nationalen und die europäischen Maßnahmen eng und Sie alle wissen, dass wir dabei die anstehenden Euro- gut ineinandergreifen. pawahlen im Blick behalten müssen. Sollen die Briten Kurzum: Wir sind vorbereitet, aber wissen auch, dass etwa an der Europawahl nicht teilnehmen, aber danach ein ungeregelter Brexit uns allen schaden wird, mögli- ein Referendum durchführen und in der Folge doch in cherweise bzw. sehr wahrscheinlich den Bürgerinnen der Europäischen Union bleiben? und Bürgern in Großbritannien mehr als uns. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Man kann daher eigentlich nur an die britischen Kol- GRÜNEN]: Das geht ja gar nicht!) legen appellieren: Euren Sinn für schwarzen Humor habt 8600 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Bundesminister Heiko Maas (A) ihr in den letzten Tagen eindrücklich unter Beweis ge- sind abwählbar durch das Europaparlament, (C) stellt. Jetzt setzen wir auf euren legendären Pragmatis- das Sie abschaffen wollen!) mus und Realitätssinn. „Take back control“ ist das Ziel vieler Briten in dieser Si- Herzlichen Dank. tuation. Die Briten wollen die Steuerung über ihr eigenes (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Land zurückbekommen. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Die 28 EU-Kommissare haben weiterhin gar kein Interesse daran, dass sie oder gar die Bürger über ihre Existenzberechtigung nachdenken. Auch in diesem Haus Vizepräsident Thomas Oppermann: wird über dieses Thema viel zu wenig gesprochen. Es Vielen Dank. – Nächster Redner ist Martin Hebner für wird geradezu ausgeklammert, als ob es eine Gottesläs- die Fraktion der AfD. terung wäre. Aber mit dem Brexit hat die Götterdämme- rung begonnen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Zurufe von der SPD: Martin Hebner (AfD): Oh!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Ver- träge dürfen Sie kündigen, einschließlich der Ehe. Für Und diese Götterdämmerung will man in Brüssel mit der alles gibt es Regelungen, die Ihnen bereits vor Vertrags­ Schlammschlacht bei der Scheidung, beim Brexit, ver- abschluss bekannt sind. Nicht so bei der EU-Mitglied- hindern. Das Mittel ist Hinauszögern. Es geht hier defini- schaft! Für die EU war eine Scheidung undenkbar, ein tiv nicht nur um die Briten, Herr Maas, sondern auch um Sakrileg wie früher die Ehescheidung. Und jetzt erleben die Verhandlungsführung der EU. wir eine sehr unangenehme, geradezu schmutzige Schei- (Markus Töns [SPD]: Sehr guter Verhand- dung. lungsführer!) Herr Minister Maas, die Briten wissen, was sie wol- len. Sie wollen nicht fremdbestimmt sein. Deshalb auch die Dauer der Verhandlungen von zwei Jahren und die Unnachgiebigkeit, zu der jetzt die zeitli- (Beifall bei der AfD) che Zuspitzung kommt! Damit soll eigentlich nur eines In Brüssel arbeiten über 60 000 Bürokraten, von denen erreicht werden, meine Damen und Herren: andere Staa- allein 30 000 für EU-Kommissare tätig sind. Sie wollen ten von einem solchen Schritt abzuschrecken. ihre Macht und ihre Position natürlich um keinen Preis (B) (Beifall des Abg. Dr. Alexander Gauland (D) verlieren. Die Bürokraten in Brüssel wollen ihre Insti- [AfD]) tutionen und Behörden nicht infrage stellen lassen und infrage gestellt sehen. Aber die EU-Bürokratie ist nicht Alle Ansätze einer Reform der EU, die Herr Cameron alternativlos – genauso wenig wie, Frau Merkel, die Eu- angestoßen hat, sind im Sande verlaufen. Von der Bun- ro-Rettungspolitik. desregierung wurde er leider nicht wirklich unterstützt. (Reinhard Houben [FDP]: Wie auch das Eu- Übrigens hat sich auch Herr Stoiber einmal den Bürokra- ropäische Parlament!) tieabbau in der EU auf die Fahnen geschrieben. Deshalb wollen wir den Briten helfen. Die EU-Kommis- (Florian Hahn [CDU/CSU]: Hat er auch ge- sare in Brüssel steuern uns mit ihren Tausenden von Mit- macht, Herr Hebner!) arbeitern und herrschen über Bürger, die noch nicht ein- mal die Namen der EU-Kommissare kennen – eventuell Nachdem er in die EU-Kommissariate gegangen ist, hat bis auf die Herren Juncker und Oettinger. man ihn nicht mehr gesehen. Die EU war und ist zur- zeit unreformierbar. Auch das ist etwas, was viele Briten Herr Minister Maas, Sie sind verantwortlich, und Sie stört: Die EU-Kommissare herrschen mit immer weiterer kennt man; man sieht Sie zumindest gelegentlich. Ausdehnung ihrer Zuständigkeit. (Lachen der Abg. Andrea Nahles [SPD]) „Take back control“ ist das Motto der Briten. Was Sie Wenn hier Minister, salopp gesagt, Mist bauen, dann nicht verstanden haben – das haben wir gerade auch von werden sie entlassen, Herrn Brehm gehört – und nicht verstehen wollen: Viele (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE auch in unserem Land, wie wir, sind keinesfalls Gegner GRÜNEN]: Die Kommissare auch, Herr von Europa. Hebner, durch das Europaparlament!) (Markus Töns [SPD]: Nein! Natürlich nicht! – angesichts des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes leider Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Herr nicht ausreichend. Aber EU-Kommissare können tun, Gottschalk hat gerade gesagt, die EU gehöre was immer sie wollen, oder nichts tun. Sie sind unfehl- auf den Scheiterhaufen!) bar, wie der Papst, und das ist Religion. Wir sind gegen diese EU-Bürokratie (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, stimmt ja gar nicht! Die (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8601

Martin Hebner (A) und gegen diese überbordende Zentralsteuerung. Wir ausgerechnet von denjenigen, die Theresa May durch (C) sind überzeugte Europäer, ihre Schmutzkampagnen, ihre Hetzkampagnen und ihre Lügen erst in diese Lage gebracht haben. Viele andere (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der meinen nach wie vor, dieses U-Boot aus Käse sei von SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜND- Anfang an Irrsinn gewesen und werde niemals schwim- NIS 90/DIE GRÜNEN) men und niemals tauchen. – Das ist momentan die Situa- aber keine Zentralisten. tion in Großbritannien. Deshalb gibt es jetzt keine parla- mentarische Mehrheit, weder für diesen Prototypen eines (Beifall bei der AfD) Käse-U-Boots noch für die Verschrottung des ganzen Projekts und auch nicht dafür, das britische Volk noch Und die EU-Bürokratie ist keinesfalls alternativlos. einmal abstimmen zu lassen. Ich sage es noch einmal: Vielen Dank. So etwas, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf bei uns nicht passieren. (Beifall bei der AfD) Mir ist nach der Rede von Herrn Hebner schon klar, dass ihm diese Rückkehr des Nationalstaats, die von ihm Vizepräsident Thomas Oppermann: immer wieder gefeiert wird, gerade recht wäre. Grotesk Vielen Dank. – Als Nächste spricht für die Fraktion ist das. Aber für uns gilt: So etwas wollen wir nicht. der CDU/CSU die Kollegin Dr. Katja Leikert. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Mögliche Nachverhandlungen wurden bereits ange- sprochen. Die britische Regierung wird möglicherweise Dr. Katja Leikert (CDU/CSU): bei den Europäern nachfragen, inwiefern Entgegenkom- Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen men möglich sein wird. und Kollegen! Es ist ein Drama ohne absehbares Ende, (Jürgen Braun [AfD]: Wir haben einen Natio- ein echtes Trauerspiel mit diesem Brexit, das wir jetzt nalstaat, Frau Leikert! Ihnen scheint das nicht seit Monaten beobachten. Wir haben gesehen, wie eine klar zu sein!) stabile, gut funktionierende europäische Demokratie in Chaos und Lähmung abrutscht. Die Folgen für das Verei- Das Austrittsabkommen ist aber schon ein sehr gutes Ab- nigte Königreich, für seine Bürgerinnen und Bürger, sind kommen. Wir sind nicht zu substanziellen Veränderun- unabsehbar. Welche Meinung man auch immer zu Euro- gen bereit. Auch das hat der Außenminister eben noch pa und zur Europäischen Union hat: Das ist tragisch, das einmal deutlich gemacht. Und warum ist das so? Es ist (B) (D) ist erschreckend, und das muss uns alle alarmieren. Des- ein gutes und faires Abkommen, erstens, weil die Briten halb, liebe Kolleginnen und Kollegen, würde ich mich genau das bekommen, was sie wollen – sie verbleiben freuen, wenn in diesem Hause Einigkeit darüber herrsch- so lange in der Zollunion, bis die Nordirlandfrage ge- te, dass so etwas in Deutschland nie passieren darf, dass klärt ist, und danach bekommen sie ihre Freihandelszo- so etwas uns als Politikerinnen und Politikern nie passie- ne –, zweitens, weil der Frieden auf der irischen Insel ren darf und dass wir so etwas unserem Land und unseren nur durch das Karfreitagsabkommen und nur durch die Bürgerinnen und Bürgern nie antun dürfen. Europäische Union gewahrt werden kann und, drittens, weil wir unsere Freundschaft zu Irland nicht opfern, nur (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- weil in Großbritannien innenpolitisches Chaos herrscht. ordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN – Martin Hebner [AfD]: Es gibt keine (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Einigkeit!) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Braun [AfD]: Die Deutschen sind Herr Maas hat es schon angesprochen: Die Briten wä- Ihnen völlig egal! Interessiert Sie überhaupt ren natürlich nicht Briten, wenn sie nicht über eine gute nicht!) Mischung aus Humor, Sarkasmus und Zynismus ver- Ich fand sehr schön, dass Außenminister Maas bei sei- fügen würden. Ich bin bestimmt keine große Freundin nem Besuch in Dublin letzte Woche betont hat: Die Euro- von Twitter, habe dort aber kürzlich etwas Interessantes päische Union ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. gelesen. Ein Kolumnist der „Times“ hat den Brexit so Sie ist das größte Friedensprojekt. – Recht hat er. Mehr erklärt: Eine knappe Mehrheit der Bürger habe, schlecht gibt es dazu auch nicht zu sagen. und falsch informiert, beschlossen, die Regierung möge ein U-Boot aus Käse bauen. Theresa May habe dies im- Das Vereinigte Königreich ist heute in dieser Lage, mer für eine schlechte Idee gehalten, für Käse sozusagen. weil das Gift des Populismus dort schon vor Jahren die Aber sie sei in die Lage gekommen, dieses U-Boot bau- europapolitische Debatte befallen hat. Das Thema wurde en zu müssen. Darum habe sie zweieinhalb Jahre nichts vergiftet, sodass ein sachlicher und politischer Diskurs anderes getan, als alles daranzusetzen, dieses U-Boot zu kaum noch möglich ist. Wir erkennen unsere britischen bauen. Jetzt wird Theresa May vorgeworfen: „Dieses Freunde kaum wieder, wie hysterisch und wie irrational U-Boot ist nicht besonders gut; man hätte ein besseres sie an vielen Stellen sind. bauen können“, Die CDU/CSU-Fraktion will die europapolitische De- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE batte aber nicht verzagt führen, sondern sachlich, mutig GRÜNEN]: Aus Hartkäse!) und klar. Wir schüren keine Zukunftsangst, keine Angst 8602 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Katja Leikert (A) vor Globalisierung oder irgendwelchen Mächten. Wir anderen Europäern unser Land und die EU‑27 auf einen (C) wollen kein Europa der Abschottung, kein Europa des harten Brexit vorbereiten. Der vorliegende Gesetzent- Protektionismus, kein Europa der Bevormundung. wurf, über den wir heute reden, macht aber die Probleme der Bundesregierung in dieser Lage deutlich. Lassen Sie (Zuruf von der AfD: Aber der Bürokratie!) mich – mit Erlaubnis des Präsidenten – aus dem Gesetz- Wir wollen ein Europa der Offenheit, ein mutiges Euro- entwurf zitieren: pa, das stark seine Rolle in der Welt wahrnimmt. Das geplante Abkommen über den Austritt des Ver- (Norbert Kleinwächter [AfD]: Sie sind ein einigten Königreichs … aus der Europäischen Uni- Engel!) on … sieht einen anschließenden Übergangszeit- raum bis zum 31. Dezember 2020 vor … Wir wollen ein Europa der Chancen für jeden einzelnen Hauptziel des Gesetzentwurfs ist es, für den Über- Bürger auf gute Bildung, auf beruflichen Erfolg und auf gangszeitraum Rechtsklarheit … herzustellen … Wohlstand. Dann zitiere ich aus § 4 des Gesetzentwurfs: (Jürgen Braun [AfD]: Phrasenhafte Aneinan- derreihung schrecklichster Art! Null Inhalt, Dieses Gesetz tritt an dem Tag in Kraft, an dem das viele Phrasen!) Abkommen über den Austritt des Vereinigten Kö- nigreichs Großbritannien und Nordirland aus der Dafür werden wir als CDU/CSU-Fraktion mit unserem Europäischen Union … in Kraft tritt. Spitzenkandidaten Manfred Weber kämpfen. Die an- deren proeuropäischen Parteien werden das mit ihren Das heißt, im Gesetzentwurf wird so getan, als ob das Spitzenkandidatinnen und -kandidaten tun. Wir werden Unterhaus am Dienstag zugestimmt hätte. Damit ist er für unser Europa und für eine gute Zukunft streiten. Mit völlig obsolet. Wir stimmen über einen Gesetzentwurf Blick auf unsere britischen Freunde hoffen wir auf ein ab, der nie in Kraft treten wird. gutes Ende in diesem Drama. (Beifall bei der FDP und der AfD) Herzlichen Dank. Genau das ist der Modus Operandi der Bundesregierung, (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Braun und er wird der Lage einfach nicht gerecht. Dann hören [AfD]: Die CDU ist untergegangen!) wir, es gebe andere Vorbereitungen. Richtig, eine Limi- ted kann jetzt zu einer GmbH werden. Super! Das löst Vizepräsident Thomas Oppermann: alle Probleme. Vielen Dank. – Als Nächster spricht für die Fraktion (Andrea Nahles [SPD]: Nee, das hat er nicht (B) der FDP der Kollege Alexander Graf Lambsdorff. behauptet!) (D) (Beifall bei der FDP) Meine Damen und Herren, wir haben in den Berei- chen Arbeit, Bildung, Gesundheit, Soziales und Staats- Alexander Graf Lambsdorff (FDP): angehörigkeit nichts geregelt. Wir wissen, dass bei uns in Deutschland schon lange viele Menschen aus Groß- Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und britannien und Nordirland wohnen. Nun soll es, so infor- Herren! Ich habe es an dieser Stelle schon einmal gesagt: miert uns das Auswärtige Amt, eine Ministerverordnung Als Liberale bedauern wir den Brexit außerordentlich. geben, wonach die Britinnen und Briten, die in Deutsch- Großbritannien ist das Mutterland des Liberalismus. Uns land wohnen, binnen drei Monaten zur Ausländerbe- wäre es am liebsten, man käme auf der Insel wieder zur hörde und zur Meldebehörde gehen sollen, um einen Vernunft, würde den Antrag auf Austritt zurücknehmen Aufenthaltstitel zu beantragen. Haben Sie in Berlin mal und die Briten würden gemeinsam mit uns Europäern die versucht, einen Termin bei einer Meldebehörde innerhalb Zukunft gestalten. von drei Monaten zu bekommen? Das ist völlig unrea- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) listisch. Nur leider sieht es nicht danach aus. (Florian Hahn [CDU/CSU]: In Bayern geht das!) Der Außenminister hat es gesagt: Dienstag war ein schlechter Tag. Er sagte auch, man wolle einen Brexit, Das, was die Bundesregierung hier vorschlägt, geht an wenn es irgend möglich ist, nur mit Abkommen. Gleich- der Wirklichkeit vorbei. zeitig sagte er richtigerweise: Das Abkommen, über das im Unterhaus abgestimmt worden ist, ist ein gutes Ab- Zu der Situation der Unternehmen. Laut Prognose des kommen, es werde nicht wieder aufgeschnürt. Wenn aber Deutschen Industrie- und Handelskammertages wird es das Abkommen nicht wieder aufgeschnürt wird, dann ab dem harten Brexit pro Jahr vermutlich 10 Millionen frage ich die Bundesregierung: Wie wollen wir denn bit- neue Zollanmeldungen geben. Die Bundesregierung in- te schön noch zu einem Abkommen kommen? Haben Sie formiert uns, man werde 2018 und 2019 900 neue Be- das Ergebnis der Abstimmung im Unterhaus mitbekom- schäftigte beim Zoll einstellen. Das finden wir im Prinzip men? 432 zu 202! Wo soll die Mehrheit denn bitte schön auch richtig. Nur: Glauben Sie, dass die 900 neu einge- herkommen? stellten Beschäftigten schon ab dem 30. März in der Lage sind, die Arbeit zu verrichten, auf die unsere Unterneh- Meine Damen und Herren, jetzt ist ein anderer Modus men angewiesen sind? Wir glauben das nicht. Dazu wird Operandi notwendig. Wir müssen gemeinsam mit den es nicht kommen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8603

Alexander Graf Lambsdorff (A) Die Bundesregierung muss ihre Vogel-Strauß-Politik und die Stimmengewinne rechter Demagogieparteien, (C) beenden. wie UKIP, sind zwei Seiten einer Medaille. Die stram- men deutschen Kameraden von UKIP sitzen hier rechts (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vom Pult. der AfD) (Beifall bei der LINKEN – Dr. Alexander Wir müssen uns leider auf den harten Brexit einstellen. Gauland [AfD]: Sie Scherzvogel!) Dazu muss jetzt eine völlig andere Arbeitsweise gewählt werden: Es muss schneller gehen, es muss präziser ge- Herr Hebner, Sie sprachen eben gegen Fremdbestim- hen, und das Vorgehen muss an der Lebenswirklichkeit mung. Ich will Ihnen einmal sagen, was Fremdbestim- der Menschen und Unternehmen in unserem Land und mung ist: Als enthüllt wurde, wie britische Superreiche, auch in anderen Ländern Europas orientiert sein. inklusive Staatschef Cameron, mit Briefkastenfirmen in Panama die Briten um Steuermilliarden beraubt hatten, Herzlichen Dank. stand am 13. Dezember 2017 Ihr Abgeordneter Holm hier (Beifall bei der FDP) am Mikrofon mit einem Loblied der AfD auf die Panama Papers als Modell für superreiche Steuerhinterzieher. – Vizepräsident Thomas Oppermann: Eine schöne Alternative für Deutschland sind Sie, eine, die gegen deutschen Unterrichtsausfall und gegen das Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte ist Vordringen von deutschen multiresistenten Keimen in für die Fraktion Die Linke der Abgeordnete Dr. Diether deutschen Krankenhäusern mit jährlich 40 000 deutschen Dehm. Toten den Steuerbetrug via Panama Papers empfiehlt. (Beifall bei der LINKEN) (Martin Hebner [AfD]: Unsinn! Hören Sie doch auf!) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Gehen Sie nach Panama zu Ihren Steuerhinterziehern, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Tony gehen Sie zu Ihrem rechten Kumpanen Bolsonaro nach Blair den Sozialstaat der Londoner Börse unterwarf, als Brasilien! Eine Alternative für Deutschland sind Sie die Tories Hunderttausende von Industriearbeitsplätzen nicht! in Billiglohnländer verschoben, trieben sie der UKIP die Hasen in die Küche. Als Cameron die Null-Stunden-Ar- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- beitsverträge ohne jede Einkommenssicherheit einführte, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zimmerte er damit die Mehrheit für den Brexit. Zwischen GRÜNEN) 2010 und 2013 waren die Löhne der Briten um 5,5 Pro- Wenn jetzt auf dem AfD-Parteitag für einen deutschen (B) zent gesunken, so stark wie nach Portugal und Griechen- (D) land nirgends sonst in der EU. Wo immer in der Welt Brexit geworben wurde, kann man Ihren Wählern nur ra- an Sozialem und an Gesundheit gekürzt wird, sinkt die ten: Schaut nach England; nur die allerdümmsten Kälber Lebenserwartung. Die Todesrate in Großbritannien stieg wählen ihre Schlächter selber. um 5 Prozent, in absoluter Zahl um 120 000 Menschen, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- laut Oxford-Studie mit einem erheblichen Anstieg der neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Zahl der Selbstmorde. GRÜNEN) Im Winter 2018 stauten sich vor den Notaufnahmen Das Geschäftsmodell von UKIP, Lega Nord, AfD und die Krankenwagen. In den Kliniken selbst starben Pati- den Großaktionären hinter diesen Rechtsparteien – Herrn enten auf den Gängen. 55 000 Operationen wurden abge- Finck zum Beispiel – sagt. Die Hölle, und das, obwohl in London, einem Pa- radies für Finanzhaie, Tag für Tag Milliarden gehandelt (Lachen bei Abgeordneten der AfD) werden! Aber die Großspekulanten bleiben unversteuert. heißt: Erst die Menschen durch Verarmung zornig ma- Das stinkt zum Himmel. chen, und dann den Zorn auf die Allerärmsten umlenken. Und „Bild“ und die britischen Hetzer von der Zeitung (Beifall bei der LINKEN) „The Sun“ hetzen dabei kräftig an ihrer Seite mit. Grassierende EU-Feindlichkeit wird auch durch Angs- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- trenten geschürt. So liegt trotz der steigenden Altersar- neten der SPD) mut bei uns in Großbritannien die maximale staatliche Rente noch um 65 Prozent unter der deutschen. Gleich- Wer aber Migration sozial und human neu regeln zeitig wurde London zum Mekka für Börsenschmarotzer möchte, darf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht zu ei- und Immobilienspekulanten, etwa für griechische Steu- nem transnationalen Ausplünderungsmodell machen, erflüchtlinge, deren Steuermilliarden jetzt in ihrer Hei- sondern muss die Angstursachen durch höhere Löhne mat fehlen. und Renten bekämpfen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Von der Million polnischer Arbeitskräfte wurden die Entgegen Frau Baerbock und deren Original, Herrn meisten angeworben, um Schuftereien zu Dreckslöhnen Lambsdorff, und dem Antrag der FDP warnen wir, wie zu leisten, die viele Briten zu Recht für unzumutbar hiel- übrigens auch Peter Gauweiler von der CSU, jetzt vor ten. Auf dem Rücken dieser Polen haben sich nicht nur einer Strafexpedition mit knallhartem Brexit, um ande- britische Finanzhaie bereichert. Deren Supergewinne re Völker abzuschrecken und auf EU-Linie zu zwingen. 8604 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Diether Dehm (A) Deutsche Konzernherrenmanier fährt diese undemokra- Wenn Sie mir sagen: „Das ist die Rücknahme nationa- (C) tische, kapitalliberale EU noch restlos gegen die Wand. ler Kontrolle“, dann kann ich nur sagen: Diese Kontrolle Neu verhandeln heißt die Devise, auch die EU-Verträge, möchten wir nicht. damit Sozialstaatlichkeit dort endlich so festgeschrieben wird wie in den antifaschistischen Nationalverfassungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Europa. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der LINKEN – Lachen bei Abge- ordneten der AfD) Herr Hebner, wenn Sie hier behaupten, Sie seien ein überzeugter Europäer, dann kann ich nur sagen: Ein – Ja, diese Verfassungen sind einmal erkämpft worden. überzeugter Europäer spricht nicht so schlecht von Euro- Da steht eine Sozialstaatsbindung des Eigentums drin, im pa und dem politischen Europa. Das, was Sie hier liefern, Unterschied zum Lissabon-Vertrag. ist einfach unglaubwürdig. Nicht die Briten, sondern die Eliten haben die EU in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Krise gestürzt. Die Rechten können weder europä- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ische Integration noch Großbritannien regieren – oder SPD und der FDP – Lachen bei Abgeordneten anderswo. der AfD) (Beifall bei der LINKEN) Man sieht bei dem Brexit wie unter einem Brennglas, wohin uns Chauvinismus, Populismus und Nationalis- Die May mag weitermerkeln, sie hat es versiebt, und mus führen. Ich kann nur sagen: Wer sein Land liebt, der May sollte gehen. Labour liegt endlich in den Umfragen zerstört es nicht so. deutlich vor den Tories. Jeremy Corbyn könnte es bes- ser . Herr Außenminister, bei Ihrem Faible für schwarzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN britischen Humor: Wir können es auch einmal mit einer sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und roten Regierung versuchen. der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Wir brauchen jetzt verantwortliches Handeln. Deswe- gen erwarte ich von Premierministerin May, einer kon- servativen Regierungschefin, dass sie den hard Brexit Vizepräsident Thomas Oppermann: vom Tisch nimmt. Es ist jetzt keine Zeit mehr für Spiel- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist für die Frakti- chen, für Zockereien. Dafür ist das alles viel zu ernst. (B) on Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Dr. Franziska (D) Brantner. (Jürgen Braun [AfD]: Die Briten fürchten sich vor Ihnen, Frau Brantner!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie kann den Antrag nach Artikel 50 zurücknehmen oder zumindest Zeit gewinnen, indem sie einen Plan vorlegt. Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dieses Damoklesschwert muss heruntergeholt werden. NEN): Ich möchte gerne sagen: Auch Herr Corbyn muss jetzt Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen endlich verantwortlich handeln. Er hat in den letzten Mo- und Herren! Ja, das ist ein tragischer Moment, den wir naten und Jahren in diesem Brexit-Drama überhaupt kei- da erleben, und es schmerzt, zu sehen, wie dieses Land ne verantwortliche Rolle gespielt. Da ist er keinen Deut Großbritannien gespalten ist – quer durch Politik, durch besser als die anderen. Freundschaften, durch Familien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Hebner, Sie sprachen von „take back control“. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: (Martin Hebner [AfD]: Ja!) Ach!) Man sieht ja gerade, wie viel Kontrolle in Großbritannien Frau Wagenknecht hat wie Sie hier reagiert, Herr herrscht. Ganz ehrlich: Wo ist denn da die Kontrolle? Dehm. Sie hat gesagt: Jetzt muss es zu Neuwahlen kom- men, und wir müssen den Brexit-Deal neu verhandeln, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, damit er den Interessen der Bevölkerung Rechnung trägt. bei der FDP und der LINKEN) Wie stellen Sie sich das denn vor? Was soll denn das für ein toller Brexit werden, von dem Sie da fabulieren? Wenn Sie von Kontrolle sprechen, möchte ich noch ein- mal daran erinnern, wer der größte Geldgeber der Bre- (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Sie können ja xit-Kampagne war. Das war ein Unternehmer, der sein sagen, wie die Briten wählen sollen!) Geld in Russland gemacht hat und der seinen letzten gro- ßen Auftrag vermittelt durch die russische Botschaft in Das ist doch Augenwischerei à la Corbyn. Das hat mit London bekommen hat. der Realität doch überhaupt nichts zu tun. (Jürgen Braun [AfD]: Es lebe die Verschwö- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Meinen rungstheorie!) Sie gerade mich?) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8605

Dr. Franziska Brantner (A) – Sie haben das auch gerade gesagt. Herr Corbyn hat bis jetzt noch keine Vorlage für die (C) Zollunion gemacht. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich habe für Brexit gesprochen!) (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Doch, die hat er gemacht, gerade zur Zollunion!) – Nein, Sie haben gesagt, man soll das neu verhandeln und neue Verträge machen. Wir haben jetzt nicht mehr so viel Zeit. Am Montag kom- men die nächsten Sachen. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Natürlich muss man neu verhandeln!) Ich möchte darauf hinweisen, dass keiner gesagt hat, dass wir, wenn die Briten mit einem neuen Vorschlag Wissen Sie, das ist doch so etwas von unrealistisch. kommen – sei es Zollunion oder ein Norwegen-Modell –, Was da macht, ist nichts anderes als nicht bereit sind, das zu nehmen. Querfront in Reinform, meine Damen und Herren. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das kriegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie aber nicht von den Tories!) sowie bei Abgeordneten der FDP) Aber was nicht möglich ist, ist, dieses Austrittsabkom- men, das wir jetzt haben, weiter aufzuschnüren, um mehr Vizepräsident Thomas Oppermann: Rechte für Briten, weniger Pflichten für Briten und weni- Frau Brantner, gestatten Sie eine Zwischenfrage oder ger Rechte für europäische Bürgerinnen und Bürger und Zwischenbemerkung des Kollegen Stefan Liebich? Unternehmen als heute zu bekommen. Das geht nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der CDU/CSU) NEN): Wir haben alle klar gesagt: In diese Richtung kann nicht Ja. nachverhandelt werden. – Aber natürlich, wenn im Bri- tischen Unterhaus am Montag eine Mehrheit für eine Stefan Liebich (DIE LINKE): Zollunion oder für Norwegen Plus steht, dann wären wir Vielen Dank, Frau Brantner, dass Sie die Zwischenfra- doch die Letzten, die das ablehnen würden. ge zulassen. – Sie setzen sich ja jetzt gerade mit unserer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Position und mit dem Beitrag von Diether Dehm ausei- sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. nander. Ich will noch einmal darstellen, warum ich diese Andrea Nahles [SPD]) Variante tatsächlich für sinnvoller halte als das, was die (B) Regierung jetzt versucht. Das ist aber etwas ganz anderes als das, was Frau (D) Wagenknecht gesagt hat. Man kann natürlich die Position von Labour kritisie- (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das heißt ren. Ja, klar, die ist nicht konsistent, weil die Wählerschaft aber verhandeln! – Weiterer Zuruf von der von Labour in sehr unterschiedliche Richtungen gehen LINKEN: Das heißt Nachverhandlung!) möchte. Was Sie bei Labour aber nicht finden, sind die- se Hardcore-Fundies, die auf jeden Fall, um jeden Preis – Es geht hier nicht um eine Nachverhandlung. Das ist rauswollen. Jeremy Corbyn hat eines ganz klar gesagt: Er ein wirklicher Unterschied. möchte keinen No-Deal-Brexit. Labour sagt noch etwas Ich habe gerade noch einmal darauf hingewiesen, anderes. Labour sagt, sie können sich eine Variante, dass dass es auch in den Reihen der Labour-Abgeordneten, Großbritannien in der Zollunion bleibt, sehr gut vorstel- der Konservativen und der Liberalen im Britischen Un- len. Natürlich wäre es mir lieber, es gebe gar keinen Bre- terhaus Initiativen gibt für ein Referendum über den xit, und man kann aus anderen politischen Perspektiven Ausstiegsvertrag, über den Verbleib in der Europäischen sicher auch viele Punkte an der Labour-Meinung kriti- Union. Wir glauben, dass es ein richtiger Weg ist, dass sieren; aber in der Frage, wie Großbritannien künftig mit jetzt die britische Bevölkerung die Chance hat, über einen der Europäischen Union umgeht, ist Labour tausendmal konkreten Brexit abzustimmen. Bei dem letzten Referen- besser als die Chaostruppe von Theresa May. dum wurde das Blaue vom Himmel erzählt: 300 Millio- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nen Pfund oder mehr könne man sparen – jede Woche. neten der SPD – Alexander Graf Lambsdorff Jetzt etwas Konkretes vorliegen zu haben, das könnte zur [FDP]: Ist das eine Frage?) Heilung der Debatte beitragen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Franziska Brantner Es ist eine schwierige Situation, auch für die Europä- NEN): ische Union. Wir können nur dafür sorgen, dass wir als Das muss ja keine Frage sein; das ist alles okay. – Ich EU zusammenbleiben und uns nicht auseinanderdividie- habe explizit von Herrn Corbyn gesprochen. ren lassen. Ich glaube, das ist die große Herausforderung, (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!) die wir haben. Ich hoffe sehr, dass der Druck auf Irland – er ist dort am größten, weil es vom Brexit am meisten – Nein, das ist ein Unterschied. – Es gibt in der La- betroffen ist – nicht noch größer wird. Wir dürfen die Iren bour-Partei – das stimmt – auch einige, die seit Wochen da auf keinen Fall alleine lassen, dürfen nicht nachgeben und Monaten für ein zweites Referendum arbeiten. Aber und sie im Stich lassen. Wenn wir ein Land im Stich las- 8606 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Franziska Brantner (A) sen, werden am Ende alle im Stich gelassen. Das trifft nicht verlieren, dass sie auch britische Staatsbürger wer- (C) uns, die Bürgerinnen und Bürger der EU, am Ende alle den können. gemeinsam. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der CDU/CSU) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ich will an dieser Stelle einmal auf den Antrag der der FDP) AfD zu sprechen kommen. Er ist erstens kaltherzig, zweitens inkompetent und drittens rückwärtsgewandt. Er Ich habe ein Jahr meines Lebens auch in Großbritan- ist kaltherzig, weil er diejenigen, die ihr Leben in einem nien verbracht. Ich hatte dort eine super Zeit, es sind tolle gemeinsamen Europa geplant haben, jetzt im Regen ste- Menschen. Wenn jetzt Zeit zum Nachdenken ist und viel- hen lässt, indem er ihnen Hilfe verweigert. Er ist inkom- leicht die Chance, die Realität zurückzunehmen, möchte petent unter anderem deshalb, weil er die Deutschen in ich von hier aus klar sagen: Ihr seid immer herzlich will- Großbritannien, die zu Briten werden wollen, im Regen kommen. We want you to stay. stehen lässt. Drittens ist er rückwärtsgewandt, weil die im Hinblick auf eine doppelte Staatsbürgerschaft vorge- Ich danke Ihnen. brachten Loyalitätskonflikte schlichtweg falsch sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie des Abg. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]) SPD und der FDP) Vizepräsident Thomas Oppermann: Vizepräsident Thomas Oppermann: Herr Kollege Töns, gestatten Sie eine Zwischenfrage der AfD? Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der SPD ist der Kollege Markus Töns. Markus Töns (SPD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ja. der CDU/CSU) Norbert Kleinwächter (AfD): Markus Töns (SPD): Vielen Dank. – Vielen Dank, Herr Vorsitzender. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Un- ( [CDU/CSU]: „Herr (B) terhaus hat das Austrittsabkommen leider abgelehnt. Wir Präsident“!) (D) hoffen zwar immer noch, dass sie es in den nächsten Wo- Sehr geehrter Herr Töns, das Brexit-Übergangsge- chen schaffen, das Abkommen anzunehmen. Aber ich setz, über das wir heute beraten – Herr Lambsdorff hat muss ganz offen sagen: Mir fehlt im Moment ein biss- es angesprochen –, bezieht sich erstens auf den Über- chen die Fantasie, wie man eine Zweidrittelgegnerschaft gangszeitraum im Austrittsabkommen. Zweitens hat das in ein positives Votum wenden kann. Gesetz genau vier Paragrafen. In dem dritten Paragra- Aber wir müssen auch sagen: Wir müssen vorbereitet fen dreht es sich ausschließlich um die doppelte Staats- sein. Wir haben mit dem Brexit-Übergangsgesetz ein Ge- bürgerschaft, die Sie ohne Verlust der jeweils anderen setz für den Fall geschaffen, dass dieses Abkommen doch Staatsbürgerschaft auch noch im Übergangszeitraum noch angenommen wird. Wir bereiten uns im Gegensatz nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen zu Ihnen, Herr Lambsdorff, auf einen No-Deal vor, auch Union ermöglichen wollen. mit Gesetzen. Sie werden es in der nächsten Sitzungswo- Es ist so, dass das Brexit-Referendum bereits 2016 che erleben, dass wir uns damit intensiv werden beschäf- stattfand. Glauben Sie nicht, dass die Briten, die wirklich tigen müssen, wenn es denn nicht doch noch zu diesem ein Interesse hatten, die deutsche Staatsbürgerschaft zu Deal kommt. erhalten, oder die Deutschen daran, die britische Staats- bürgerschaft zu erhalten, nicht schon genügend Zeit (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Wird hatten, diese zu beantragen? Glauben Sie, dass gewisse auch langsam Zeit! Das gibt dann das Hau- Konflikte bezüglich des Wohnsitzes oder des Aufent- ruckverfahren!) haltsrechts über das Verschenken einer Staatsbürger- schaft gelöst werden können? Finden Sie das kompetent? Die Anhörung im Europaausschuss zum Brexit-Über- gangsgesetz am Montag – darauf will ich zurückkom- (Christian Petry [SPD]: Er hat ja überhaupt men – hat deutlich gemacht: Das Gesetz hat zwar einen keine Ahnung, der Kleinwächter! Das ist ja deklaratorischen Charakter, schafft aber Rechtssicher- ganz schlimm!) heit, und zwar in Großbritannien. Großbritannien wird damit in der Übergangszeit den EU-Mitgliedstaaten Markus Töns (SPD): gleichgestellt. Das ist fair. Die Menschen hatten vor dem Also, um das noch mal klarzustellen: Ich glaube, dass Brexit eine andere Lebensplanung. Das bedeutet aus das richtig ist. unserer Sicht auch Rechtssicherheit; das müssen wir zu- nächst einmal garantieren. Dieses Gesetz garantiert auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der den Deutschen in Großbritannien, dass sie ihren Pass CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8607

Markus Töns (A) Ich bin auch tief davon überzeugt, dass eine doppelte viele, viele Regelungen. Aber er umfasst unter anderem (C) Staatsbürgerschaft nicht falsch ist, nicht einmal ange- auch – das ist wichtig – die Charta der Menschenrechte, sichts der ideologisch verbrämten Äußerungen, die Sie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Ich immer vorbringen. will mit Erlaubnis daraus einen Satz zitieren. In der Prä- ambel dieser Charta steht: (Beifall bei der SPD) Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Sie leben nicht im 21. Jahrhundert, sondern höchstens im Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zu- 19. Jahrhundert. Auch im 20. Jahrhundert sind Sie nicht kunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer enge- angekommen. ren Union verbinden. Ich will Ihnen etwas sagen: Die Hetze gegen diese Genau das ist der Punkt, meine Damen und Herren, doppelte Staatsbürgerschaft entspricht überhaupt nicht um den es geht. Auch wenn die Briten uns verlassen: Wir mehr der Lebenswirklichkeit der Menschen in diesem werden weiter dafür stehen, dieses Europa demokrati- Jahrhundert. Was Sie tun, ist: Sie streuen den Menschen scher, sozialer und gerechter zu machen. Das ist unsere mit diesen Äußerungen Sand in die Augen. Aufgabe für die nächsten Jahre und Jahrzehnte. (Beifall bei der SPD) Herzlichen Dank. Es ist durch die Abstimmung im britischen Unterhaus ungewiss geworden, ob wir das Gesetz wirklich benöti- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gen; das ist heute schon bemerkt worden. Dennoch sollte bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE man auf alles vorbereitet sein. Es geht jetzt darum, mit GRÜNEN) unseren Freunden in Großbritannien zu klären, wie es weitergeht. Der Ball liegt in ihrem Spielfeld. Die Briten Vizepräsident Thomas Oppermann: müssen uns jetzt endlich mal sagen, was sie wollen. Wir Vielen Dank. – Nächster Redner für die Fraktion der stehen weiterhin zu diesem europäischen Vertrag. Wir AfD ist der Abgeordnete Dr. Harald Weyel. stehen weiterhin dazu, dass nicht nachverhandelt wird. Dafür gibt es keinen Spielraum. Es gibt keine Rosinen- (Beifall bei der AfD) pickerei. (AfD): (Beifall des Abg. Christian Petry [SPD]) Dr. Harald Weyel Herr Präsident! Geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer! Die Situation in Großbritannien sollte uns eine Leh- Bei unbedarften Zeitgenossen muss der Eindruck entste- re sein. Aber was lernen wir daraus? Eine Volksabstim- hen, dass ohne EU und Übergangsgesetz ein unmittel- (B) mung basierte auf falschen Argumenten. bares Chaos ausbricht, wo doch alles so schön geregelt (D) (Norbert Kleinwächter [AfD]: Oh!) ist, und das Ganze einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommt. Erstens. Das Versprochene kann niemals eingehalten werden. Zweitens. Der Wert der europäischen Mitglied- Bereits der jetzige Stand der Dinge um Staatsbürger- schaft wurde komplett ignoriert. Das führte dann dazu, schaft etc. bedeutet eben nicht, dass alles geregelt ist. dass die Menschen eine Abstimmung durchführten und Deswegen möchte ich auf eine Implikation aufmerksam einem Brexit zustimmten, ohne wirklich zu wissen, wo- machen, zum Beispiel Familienstand, Eherecht und auch rüber sie abgestimmt haben. das Immobilienrecht. Das ist schon innerhalb der EU mit Schwierigkeiten verbunden. Wenn beide Ehegatten aus Großbritannien ist tief gespalten und befindet sich in EU-Ländern stammen und es zu einer Scheidung kommt, seiner schwersten Regierungskrise. Das kommt davon, dann ist es eben so, egal ob Kinder da sind oder nicht, wenn Rechtspopulisten und Nationalisten Lügen verbrei- dass man sich ganz schnell bei ein, zwei, drei oder noch ten. Meine Damen und Herren, es scheint ja so zu sein, mehr Anwälten wiederfindet, weil dann entweder das dass die AfD für Deutschland Gleiches plant. Sie wollen Recht des Landes, in dem die Ehe geschlossen wurde, erstens den Euro abschaffen gilt oder das Recht des Landes, in dem beide gemeinsam (Beifall bei der AfD) wohnen, oder dann, wenn sie getrennt wohnen, das Recht des Landes, in dem derjenige, der zuerst den Scheidungs- und zweitens das Europaparlament abschaffen. Aber den antrag einreicht, verweilt. Da macht es auch keinen gro- Bürgern erzählen Sie, es ginge ihnen hinterher besser. ßen Unterschied, ob man sich in der EU befindet oder in (Zurufe von der AfD: Ja!) irgendeinem Drittland. Komplizierter wird es allerdings, wenn noch islamisches Recht dazukommt, dann ist es Das ist schlichtweg gelogen. nämlich einigermaßen egal, was sich die Europäer bei ihren Verträgen gedacht haben. – So weit, so schlecht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der LIN- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) So wie Sie das Rosinenpicken im Zusammenhang mit den Austrittsverhandlungen mit den Briten abgelehnt ha- Sie bezeichnen sich als Demokraten und wollen ein Par- ben, so lehnen wir die Rosinenpickerei mit Blick auf die lament abschaffen? Sie sind es mitnichten, meine Damen Doppelstaatsbürgerschaft ab. Mit Loyalitätskonflikten und Herren. und vor allen Dingen mit Discountpassportmentalität ist Der Vertrag von Lissabon – ich habe ihn hier in der wirklich kein Staat zu machen. Damit ist keine kulturelle Hand – ist unsere Verfassung für Europa. Er umfasst Prägung verbunden, auf die Staatsbürgerschaft eigent- 8608 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Harald Weyel (A) lich abhebt. Es ist keine Lösung, wenn wir uns in einer Danke schön. (C) Multistaatsbürgerschaft auflösen, die unter EU zusam- mengefasst wird. Das aber ist offenbar das Endziel der (Beifall bei der AfD) SPD und allen anderen – das sind eigentlich alle außer uns –, die die Totalverschmelzung in der EU – alles mit Vizepräsident Thomas Oppermann: allem – eingehen wollen, dies anstreben und endlich die Als Nächster redet der Kollege Florian Hahn für die nationale Frage geklärt haben wollen, indem die Nation CDU/CSU. abgeschafft wird. Das ist offenbar die Strategie. (Beifall bei der CDU/CSU) Es kommt hinzu – das ist das eigentliche Problem –: Wenn die Briten weg sind, dann ist auch die qualifizierte Mehrheit im Rat weg, also die Mehrheit der Hartwäh- Florian Hahn (CDU/CSU): rungsländer, die mit 38 Prozent Bevölkerungsanteil in Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das der EU ein gewisses Vetorecht haben. Der Club Med Austrittsabkommen hat am Dienstag im britischen Un- kann dann erst recht machen, was er will und was er oh- terhaus bekanntlich nicht die erforderliche Mehrheit ge- nehin schon weitgehend tut. funden. Damit rückt der ungeregelte Brexit in greifbare (Beifall bei der AfD) Nähe. Aber es bleibt noch bis zum 29. März Zeit, das Ruder herumzureißen. Die Bundesregierung hat dann eigentlich noch eine Aus- rede mehr, warum sie deutsches Geld und deutsches Gut (Thomas Hacker [FDP]: Zeit?) im Rahmen der EU nicht schützt. Darauf hoffen wir. Vor diesem Hintergrund ist zu sagen: Es wurde noch Klar ist: Der ungeregelte Brexit ist die schlechteste al- nicht einmal versucht, auf Cameron oder auf May ein- ler denkbaren Varianten; denn damit würde all das, was zugehen und mit den Briten zusammen eine Reform zu wir in einer Übergangsphase bis 2020, eventuell auch bis erwirken, die die Briten in der EU gehalten und auch 2022 regeln wollen, was wir verschieben wollen, um für für alle verbleibenden Länder eine bessere Perspekti- beide Seiten positive Regelungen zu finden, unmittelbar ve dargestellt hätte. Im Gegenteil, es werden den Briten und sofort Ende März 2019 unkonditioniert eintreten – im Nachhinein – jetzt kommt eine andere Verwendung zum Schaden der Menschen, der Menschen in Irland, in des Wortes – noch weitere Fluchtgründe geliefert, und Großbritannien und in der ganzen EU, zum Schaden un- zwar dadurch, dass man die EU umbaut, die ohnehin serer Wirtschaften. Wir brauchen jetzt endlich Klarheit. dem Großteil ihrer Kinderkrankheiten nie so wirklich Die britische Seite muss zunächst klarmachen, unter wel- (B) entwachsen ist, indem man noch ein Macron’sches Eu- chen Voraussetzungen das Unterhaus bereit wäre, dem (D) ro-Zonenbudget, eine Bankenunion, eine EU-Arbeitslo- Austrittsabkommen doch noch zuzustimmen. Es wäre senversicherung usw. hinzufügt, und das alles bei perma- mehr als erfreulich, wenn London doch noch einen Aus- nentem Vertragsbruch von Schengen, Dublin und mehr. weg aus der gegenwärtigen Sackgasse finden würde. Die (Beifall bei der AfD) Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Das sind alles in allem nur unlegitimierte Wettbewerbs- Allerdings warne ich vor der Illusion, dass es möglich verzerrungen. Weder Keynes noch Adam Smith sind da ist, den Austrittsdeal substanziell nachzuverhandeln. Da- die Paten. Die Frage wird sein, wann auch Isaac Newton bei geht es nicht nur um den Zusammenhalt der EU‑27, in den EU-Schulbüchern als Schwerkrafthetzer verleum- sondern auch darum, kein attraktives Austrittsmodell zu det werden wird. schaffen, das seine Nachahmer finden kann. Wir wollen eine Neugründung der Europäischen Wirt- Bliebe noch die Frage einer Verschiebung des Aus- schaftsgemeinschaft. Wir wollen eine Rückbesinnung trittsdatums. Ich bin da skeptisch. Ohne einen Plan B aus auf die Teile des Anfangs, die kein Missbrauch waren, London macht eine Verschiebung aus meiner Sicht kei- die kein Übergriff waren, die keine Umverteilungsstrate- nen Sinn. Eine Verschiebung um mehr als drei Monate gie waren. Ein Parlament, das keines ist, das sozusagen wäre mit Blick auf die konstituierende Sitzung des dann kontrademokratisch agiert und repräsentiert – es reprä- neu gewählten Europäischen Parlamentes auch proble- sentiert eben nicht gleichermaßen –, ist zu reformieren matisch. oder abzuschaffen. Das Gleiche gilt für alle Umvertei- lungsmechanismen, die über Jahrzehnte nicht abge- Wenn ich mir die aktuelle Entwicklung in London an- schafft wurden, die neu hinzugefügt wurden. Wir bitten schaue, befällt mich ein Gedanke: Ein solches Chaos darf also, zu berücksichtigen: Weder ein Brexit noch ein De- es bei uns niemals geben. xit sind ein Selbstzweck. Wir wollen eine Europäische (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Wirtschaftsgemeinschaft mit den kulturellen Implikati- GRÜNEN]: Da hat er recht!) onen, die dazugehören. Dazu laden wir alle Mitstreiter ein, und zwar die in Deutschland und die im Ausland. Aber wer glaubt, wir seien dagegen immun, dem sei ge- Bitte denken Sie in Alternativen! Denken Sie nicht nur, sagt: Auch in Großbritannien hätte dieses Chaos vor drei sondern handeln Sie auch so: für eine neue Europäische Jahren niemand für möglich gehalten. Wenn sich Popu- Wirtschaftsgemeinschaft, für eine neue Union der ge- lismus und Verantwortungslosigkeit Bahn brechen, wird meinsamen Werte und der Realitäten, die dem nicht wi- vieles bis dato Undenkbare leider Realität. Und Deutsch- dersprechen. land hat eine Brexit-Partei, die AfD. Was die AfD auf ih- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8609

Florian Hahn (A) rem sogenannten Europaparteitag – sie hätte ihn lieber Meine Damen und Herren, das Brexit-Übergangsge- (C) Antieuropaparteitag nennen sollen – setz, über das wir heute in der zweiten und dritten Lesung entscheiden, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ ( [AfD]: Sprechen Sie endlich DIE GRÜNEN – Stephan Protschka [AfD]: darüber!) Sie verwechseln EU und Europa!) gilt nur für den geregelten Brexit. Es tritt deshalb nur dann in Kraft, wenn auch das Austrittsabkommen in Kraft tritt. als europapolitische Marschrichtung vorgegeben hat, ist Auch wenn aus heutiger Sicht das Inkrafttreten unwahr- an Verantwortungslosigkeit kaum noch zu überbieten: scheinlicher geworden ist, sollten wir an dem Gesetzes- vorhaben festhalten; denn wir wollen uns weiterhin auf Erstens. Um Demokratie in der EU zu stärken, will die alle Eventualitäten vorbereiten. Es ist im Übrigen auch AfD ausgerechnet das Europäische Parlament abschaf- ein Signal dafür, dass unser Weg über dieses Abkommen fen. der Weg ist, den wir weiter beschreiten wollen. (Zuruf von der AfD: Welche Rechte hat das (Martin Hebner [AfD]: Das ist doch Schmar- Parlament denn?) ren! Das ist doch für die Tonne!)

Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las- Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung. sen. Warum treten Sie denn überhaupt bei der Europa- Herzlichen Dank. wahl an? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Vizepräsidentin : geordneten der LINKEN – Dr. Marie-Agnes Vielen Dank, Kollege Hahn. Strack-Zimmermann [FDP]: Aber vorher noch Geld abgreifen!) Einen schönen Tag, Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch von mir. – Der nächste Redner: Thomas Wollen Sie sich selbst abschaffen, oder wollen Sie Herrn Hacker für die FDP-Fraktion. Jörg Meuthen sozusagen auf diesem Weg entsorgen? Das (Beifall bei der FDP) muss man sich einmal fragen.

(B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Thomas Hacker (FDP): (D) neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Dienstag hat sich das britische Unterhaus entschieden. Mit Pauken Zweitens. Sie fordern allen Ernstes den EU-Austritt und Trompeten fiel das seit langer Zeit zwischen Groß- Deutschlands, und zwar nicht mit einem fixen Datum. britannien und der EU ausgehandelte Abkommen durch. Das konnten Sie aus taktischen Gründen gerade noch Wenn kaum 24 Stunden später das britische Unterhaus verhindern; ich verstehe das schon. Aber schon 2016 hat Theresa May das Vertrauen ausspricht, klingt das fast wie Ihr heimlicher Parteichef Björn Höcke gesagt, auch das Hohn. deutsche Volk wolle sich von der EU-Sklaverei befreien. Was ist das für eine Sprache? Was ist das für eine ge- Mit der Entscheidung vom Dienstag droht – und das schichtsvergessene Verdrehung der Realität? muss uns doch allen klar sein – der harte Brexit, der ungeregelte Austritt Großbritanniens aus der EU. Die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- Bremsspuren in der Wirtschaft im Vereinigten König- KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reich, aber auch bei uns in Deutschland können wir doch schon spüren. Die Verunsicherung der Bürgerinnen und Sie wollen den Dexit, wenn die EU nicht auf Ihre Re- Bürger wächst, die Emotionen kochen hoch. Viel steht formvorschläge eingeht. Das ist eine anmaßende und auf dem Spiel. rücksichtslose Vorgehensweise; denn damit wollen Sie (Zurufe von der AfD) Ihre kruden Vorstellungen von Europa anderen Mitglied- staaten einseitig aufdrücken. Die fatale Sprengkraft, die Die Europäische Union, die enge Zusammenarbeit in ein deutscher Austritt auf uns und den gesamten Konti- Europa, ist seit Jahrzehnten das große Friedensprojekt nent hätte, nehmen Sie billigend in Kauf. AfD steht für unserer Zeit, Garant für Wohlstand, Zusammenhalt und mich nicht für „Alternative für Deutschland“, sondern vor allem Chance gerade für die Jugend Europas. Wer für „Aus für Deutschland“, Aus für Europa, Aus für diese Errungenschaften nach 45 Jahren Mitgliedschaft Frieden, Freiheit, Wohlstand auf unserem Kontinent. Sie aufgibt, sollte zumindest einen eigenen Plan für die Zu- sind keine Alternative, Sie sind vielmehr eine Gefahr für kunft haben. Deutschland und Europa. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Einen solchen Plan – das spüren wir deutlich – gibt es in NEN – Lachen bei der AfD) Großbritannien offensichtlich nicht. Seit dem schicksal- 8610 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Thomas Hacker (A) haften Referendum können wir live verfolgen, wie ein Das ist eine Situation, mit der wir professionell um- (C) Land wie das Vereinigte Königreich mit sich ringt, wie gehen müssen, und da muss es doch auch möglich sein, die Spaltung in der Gesellschaft zunimmt. einen hard Brexit by Accident, also einen harten Brexit aus Versehen, zu verhindern. Das monatelange Ringen um ein Abkommen, um für beide Seiten einen tragbaren Kompromiss zu finden, die (Beifall bei der CDU/CSU) gemeinsam gefundene Aussicht auf die zukünftige Zu- sammenarbeit – ist das alles obsolet? Beim Abkommen Die Nachrichtenlage ist sehr diffus; an Dokumenten gab es doch tatsächlich Zugeständnisse von beiden Sei- liegt sehr viel auf dem Tisch. Dabei entsteht der Ein- ten, vom Vereinigten Königreich und von der EU. Die druck, dass wir weit auseinander sind; das kam auch in Politische Erklärung wäre eine erste, aber tragfähige einigen Beiträgen heute. Tatsächlich liegen die EU‑27 Grundlage für eine enge Kooperation in Zukunft im Be- und Großbritannien eng beieinander. Wir haben nämlich reich der Wirtschaft, der Sicherheit und der Wissenschaft. einen Entwurf für ein Austrittsabkommen, der in folgen- den Punkten konsentiert ist: Die Übergangsfrist beträgt Meine Damen und Herren, der ungeregelte Ausstieg bis zu vier Jahre. Darüber gibt es überhaupt keinen Streit. droht, und wir müssen darauf vorbereitet sein. Wir müs- Großbritannien soll während dieser Frist wie ein EU-Mit- sen schnell pragmatische Lösungen für die Menschen in gliedstaat behandelt werden; darin besteht Einigkeit. Es unserem Land finden. Hier, meine Damen und Herren soll zwar nicht mehr den Institutionen zugehören, aber von der Bundesregierung, sind Sie gefordert: Sie haben unterhalb dieses Levels mitwirken. zehn Wochen Zeit. Die Uhr tickt. Wir sind uns auch bezüglich der finanziellen und sons- (Beifall bei der FDP) tigen Verpflichtungen einig, und auch Großbritannien übt Auch wenn wir uns mit ganzer Kraft auf dieses Sze- keine Kritik mehr an diesem Punkt. nario nun vorbereiten müssen – das Übergangsgesetz regelt, Herr Töns, genau den Fall, dass wir zu dem Ab- Letztlich streben wir eine sehr freundschaftliche Zu- kommen kommen; den Weg dorthin sehe ich momentan sammenarbeit an. Die gestrige Berichterstattung über leider noch nicht –, wenn wir uns also für den Fall des CETA+ und Norwegen und was weiß ich, was sonst ungeregelten Austritts vorbereiten, noch auf den Tisch gebracht wurde, verdeckt doch den Blick darauf, was die Politische Erklärung im Blick hat: (Markus Töns [SPD]: Das tun wir ja!) ein Freihandelsabkommen, maßgeschneidert, großzügig, freundschaftlich, Zusammenarbeit in allen Bereichen. sollte Großbritannien klar sein: Jeder konstruktive Lö- Das hat es mit einem Drittstaat in dieser Form in der Eu- sungsvorschlag, jedes Verlassen gesetzter roter Linien ropäischen Union noch nicht gegeben. (B) aus London ist uns willkommen und wird offen disku- (D) tiert. Wo ist das Problem? Der gordische Knoten, den wir Eine kurzfristige Verlängerung der Frist nach Arti- lösen müssen, ist natürlich die Frage Nordirland. Aber kel 50 sollte genau dann kein Problem sein, wenn wir auch hier besteht völlige Einigkeit: Wir müssen eine har- Zeit für eine stabile Mehrheit oder ein zweites Referen- te Grenze vermeiden. Wir müssen vermeiden, dass hier dum brauchen. Aber bei allem Ärger Großbritanniens ein Spiel mit dem Feuer entsteht und ein Konflikt wieder sollte klar sein: Wir Freie Demokraten wollen es, eine erweckt wird. Denn eigentlich ist es ein frozen Conflict. gemeinsame Zukunft, eine gute Zusammenarbeit. Euro- Der ist nicht gelöst. pas Tür ist offen. Meine Damen und Herren, schauen wir uns Nordir- Vielen Dank. land an: Die einstigen Konfliktparteien sind eigentlich immer noch völlig unterschiedlich in ihrer Lebensper- (Beifall bei der FDP) spektive, in dem, was sie zu erwarten haben. Das hat man vor Ort versäumt. Das ist Konfliktpotenzial, das Vizepräsidentin Claudia Roth: man nicht unterschätzen darf. Vielen Dank, Thomas Hacker. – Nächster Redner ist Wir können doch froh sein, dass es Frieden in Nord- Detlef Seif für die CDU/CSU-Fraktion. irland gibt. Der letzte große Anschlag – sogar nach Ab- (Beifall bei der CDU/CSU) schluss des Karfreitagsabkommens – forderte 29 tote Zi- vilisten und 300 verletzte Menschen, und das ist noch gar nicht so lange her. Detlef Seif (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war erschrocken, als ich vor drei Jahren in Belfast Meine Damen und Herren! Eine gute Politik zeichnet war. Nachts schließt man Übergangswege, weil immer sich dadurch aus, dass sie auch mit schier ausweglosen noch Konfliktpotenzial da ist. Polizeifahrzeuge, die ich Situationen, Krisen umgehen kann und das Ganze auch aus der Berichterstattung der 80er- und 90er-Jahre kenne, noch in eine positive Richtung steuert. Ich meine, wir fahren dort immer noch in dieser Form herum: gepanzert, haben auch jetzt noch Grund für Optimismus. Die Ab- vergittert. Ich dachte, das gehöre der Vergangenheit an. stimmung von vorgestern verdeckt nämlich den Blick Die Polizei vor Ort macht sich auch schon große Sorgen auf folgende Tatsache: Weder in der Europäischen Union über die weitere Entwicklung. Das gilt es zu vermeiden, noch in Großbritannien gibt es eine Mehrheit für einen und deshalb ist auch die Notfalllösung, die Bestandteil hard Brexit. der beabsichtigten Vereinbarung ist, so wichtig. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8611

Detlef Seif (A) Man sollte aber auch kein Bashing der Briten be- nau das machen wir für die Bürger, für die Unternehmen (C) treiben. Natürlich haben die Befürchtungen. Wenn die und für diejenigen, die auf beiden Seiten des Kanals ei- Notfalllösung verbindlich dauerhaft ist, wozu führt das? gentlich darauf gehofft haben, dass es niemals zu einem Zollunion. Irland bleibt in Teilen im Binnenmarkt. Das Brexit kommen werde. heißt, alles, was Freihandel und Abschluss von Freihan- delsabkommen mit Drittstaaten angeht, wäre vom Tisch. Sachlich geht es dabei um zwei Punkte – in der Tat, es Allerdings war gerade das mit ein Grund, warum die Bri- sind nur wenige Paragrafen –: ten aus der Europäischen Union austreten wollen, und Es wird einmal klargestellt, dass Bezugnahmen in un- das müssen wir berücksichtigen. Wir müssen überlegen: serem eigenen Recht auf britisches Recht auch für den Wie können wir das? Übergangszeitraum gelten sollen. Wir haben zu diesen Es liegt ein Abkommen auf dem Tisch. Eine Notfalllö- ganzen technischen Fragen am Montag eine lange An- sung muss sein, aber die ist nicht in Stein gemeißelt. hörung im Europaausschuss gehabt, und in der Tat wurde Vielleicht gibt es eine andere Notfalllösung, die in genau die Frage gestellt, ob das nicht nur sozusagen deklarato- derselben Form geeignet ist. risch ist. Nein, selbst wenn es nur deklaratorisch wäre: Es ist nicht nur deklaratorisch. Denn wir haben – auch das Die EU hat geliefert. Jetzt müssen die Briten mit- ist technisch gesagt – Bestimmungen im Bundesrecht, teilen, was sie denn überhaupt wollen. Ich persönlich die nicht direkt auf europäisches Recht zurückgehen, wo bin der Meinung: Bei der Fristverlängerung nach Arti- das Abkommen als solches die entsprechenden Fragen kel 50 EU-Vertrag, wenn sie erforderlich ist, sollten wir nicht regeln würde. Also, wir brauchen das Gesetz. großzügig sein. Aber eines ist klar – das wurde auch angesprochen –: Weder in Großbritannien noch in der Es geht zweitens um Einbürgerungserleichterungen Europäischen Union hat jemand Appetit darauf, dass auf beiden Seiten des Kanals, also für die Deutschen, die Großbritannien Kandidaten für die Europawahl aufstellt nach England wollen oder dort schon seit einiger Zeit oder entsendet. Ich bin aber sehr zuversichtlich, wenn ich leben, und umgekehrt für die Briten. Ich muss wirklich die Flexibilität auf europäischer Ebene in anderen Punk- sagen – dem Kollegen Markus Töns stimme ich da aus- ten sehe, dass man diesbezüglich eine Regelung finden drücklich zu –: Das, was Sie von der AfD im Ausschuss kann. als Änderungsantrag in den Raum gestellt haben, ist in der Tat inkompetent, und es ist eine Ohrfeige für die Meine Damen und Herren, die Gesprächskanäle sind deutschen Staatsbürger, die in England leben und darauf offen. Die Briten sind und bleiben Freunde. Aber eines ist vertrauen, dass wir ihnen in diesem Hause helfen. klar: Großbritannien muss jetzt liefern und sagen, wofür es denn überhaupt eine parlamentarische Mehrheit geben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- (B) kann. wie bei Abgeordneten der LINKEN und des (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Viel wichtiger als die Einzelheiten dieses Gesetzes (Beifall bei der CDU/CSU) ist – der Außenminister hat das zu Recht gesagt –: Es fügt sich in einen großen Rahmen ein, in ein ganzes Ge- Vizepräsidentin Claudia Roth: setzes- und Verordnungspaket, das die Bundesregierung Vielen Dank, Detlef Seif. – Nächster und letzter Red- in den letzten Wochen geschaffen hat, als sich abzeich- ner in dieser Debatte: Dr. Heribert Hirte für die CDU/ nete, dass die Entwicklung in die Richtung geht, in die CSU- Fraktion. sie jetzt leider geht. Es ist Teil eines Gesamtplans, und dieser Gesamtplan bringt etwas zum Ausdruck – auch (Beifall bei der CDU/CSU) wenn das Gesetz nicht sofort in Kraft tritt; das ist ganz wichtig –, was auch im Falle des No-Deal-Szenarios von Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): Bedeutung ist. Es geht um den Bestandsschutz für Akte, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! für Verträge, für alle die wohlerhobenen Rechte, auf die Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir reden jetzt – das die Bürger auf beiden Seiten des Kanals vertraut haben. möchte ich zum Abschluss der Debatte in Erinnerung Das ist die Aussage, die wir hier als Parlament treffen: bringen – über das Brexit-Übergangsgesetz, über einen Wir wollen denen helfen, die durch den Brexit geschä- Gesetzentwurf. Dieser Gesetzentwurf soll nur wirksam digt sind. werden, soll nur in Kraft treten – Graf Lambsdorff hat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- eben darauf hingewiesen –, wenn auch das Austrittsab- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ kommen als solches in Kraft tritt. Sie haben die Frage DIE GRÜNEN) gestellt, ob das Gesetz, das wir jetzt hier beraten und hof- fentlich beschließen werden, nicht vielleicht überflüssig Deshalb wirkt das Gesetz auch durch seinen Wortlaut sein könnte. Ich sage ganz deutlich: Nein! Denn es geht über den Austritt hinaus. Die Dinge, die hier festgeschrie- darum, Vorsorge zu treffen für alle Eventualitäten. ben sind, sind Ausdruck eines nationalen Verfassungs- grundsatzes. Ich bin zuversichtlich, dass die Engländer (Beifall bei der CDU/CSU) auf der Grundlage des Common Law ähnliche Regelun- Ich möchte außerdem sagen, gerade als Jurist: Das gen auch für die Resteuropäer anwenden würden, die wir ist etwas, was wir an vielen anderen Stellen auch tun, hier sind. Jedenfalls ist das mein eigenes Rechercheer- rechtstechnisch gedacht: Wir schaffen Regelungen für gebnis. Damit kommt hier das gemeinsame Recht, die Fälle, von denen wir hoffen, dass sie nie eintreten. Ge- europäische Rechtsfamilie zum Ausdruck. 8612 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Heribert Hirte (A) Im einzigen Punkt, wo etwas zweifelhaft war – Sie ha- Dritte Beratung (C) ben das, Herr Minister, eben schon angesprochen –, näm- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem lich bei der Behandlung der englischen Gesellschaften in Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Deutschland, haben wir hier im Bundestag mit einem Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Entschließungsantrag noch mal klargestellt: Auch da gilt entwurf ist angenommen bei Zustimmung der AfD – – der Grundsatz des Vertrauensschutzes. Er gilt eben auch für den Fall des No-Deal-Szenarios, für den Fall des hard (Widerspruch bei der AfD) Brexit, und das ist gut und richtig so. – Habe ich „AfD“ gesagt? Ich meinte „FDP“. Oh, das Aber am Ende vielleicht noch ein Wort zu den ak- war das Prinzip Hoffnung. Es tut mir leid; entschuldi- tuellen Entwicklungen. Eines ist klar – es wurde schon gen Sie. Ich habe mich gewundert, weil jemand da hinten mehrfach gesagt –: Das Vereinigte Königreich ist jetzt sitzt, der überhaupt nicht abgestimmt hat; aber er hätte am Zuge. Es ist Ende mit Spielchen. Ebenso klar ist: sich ja gemeldet. Wenn sich die Rahmenbedingungen nicht signifikant Also, noch einmal: Der Gesetzentwurf ist angenom- ändern, können und sollten wir am Austrittsabkommen men mit Zustimmung der Fraktionen der FDP, der CDU/ nichts mehr tun. Die Verantwortung für Nordirland und CSU, des Bündnisses 90/Die Grünen, der SPD und der die Verantwortung für Ruhe und Frieden in der Republik Linken bei Ablehnung der Fraktion der AfD. Irland liegen in London, und ich hoffe, dass man diese Verantwortung dort auch sieht. Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- tion der FDP auf Drucksache 19/7090. Wer stimmt für Zum Schluss. Rita Süssmuth hat heute Morgen in der diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Feierstunde zu 100 Jahren Frauenwahlrecht zwei wichti- Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist abge- ge Zitate gebracht. Sie hat gesagt – das lässt sich auf die lehnt. Zugestimmt haben die Fraktionen der FDP und des Situation hier sehr schön übertragen –: Bündnisses 90/Die Grünen. Dagegengestimmt haben die Wir schaffen es gemeinsam, wenn auch im letzten Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der Linken, und Augenblick. enthalten hat sich die Fraktion der AfD. – Vielen herzli- chen Dank. Sie hat andererseits gesagt: Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf: Aus dem Scheitern lernt man. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate Deshalb bin ich zuversichtlich, dass es, erstens, noch Künast, Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Harald zu einer vernünftigen Regelung kommt und dass es, Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion wenn es am letzten Tag wirklich nicht dazu kommt, dann, (B) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) zweitens, binnen weniger Stunden zu einer vernünftigen Regelung kommt. Wir kennen aus Europa, dass die Uhr Gesunde Ernährung im Alltag einfach ma- dann noch für einige Minuten angehalten wird und dass chen – Ernährungswende umsetzen man dann zu einer vernünftigen Regelung kommt. Die Drucksache 19/6441 Kapitalmärkte gehen genau in diese Richtung: Keine Aufregung. – Deshalb erhoffe ich von Ihnen Zustim- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) mung zu unserem Gesetz. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Herzlichen Dank. Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schätzung ordneten der SPD) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- munen

Vizepräsidentin Claudia Roth: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan Protschka, Dr. Axel Gehrke, Kay Gottschalk, Vielen Dank, Dr. Hirte. – Ich schließe die Aussprache. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Förderung einer gesundheitsbewussten Er- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes für nährung – Bessere Kennzeichnungspflichten, den Übergangszeitraum nach dem Austritt des Vereinig- hochwertigeres Schulessen, keine EU-Aus- ten Königsreichs Großbritannien und Nordirland aus der schreibungspflicht Europäischen Union. Der Ausschuss für die Angelegen- heiten der Europäischen Union empfiehlt in seiner Be- Drucksache 19/7033 schlussempfehlung auf Drucksache 19/7087, den Gesetz- Überweisungsvorschlag: entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/5313 in Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Ausschuss für Gesundheit die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten ­Amira men wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dage- Mohamed Ali, Heidrun Bluhm, Dr. Kirsten gen? – Enthaltungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist Tackmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- damit in zweiter Beratung mit breiter Mehrheit angenom- tion DIE LINKE men. Zugestimmt haben die Fraktionen der Linken, der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen, der CDU/CSU und Für eine zukunftsweisende und soziale Ernäh- der FDP. Dagegengestimmt hat die Fraktion der AfD. rungspolitik – Besonders für Kinder Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8613

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Drucksache 19/7025 und unsere Gesundheit verändert, sondern sie haben auch (C) Überweisungsvorschlag: die Rolle der Landwirtschaft verändert, die nur noch als Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Rohstofflieferant für Billigbilligprodukte da ist. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Der massenhafte Einsatz von Pestiziden, von Gly- Ausschuss für Gesundheit phosat führt dazu, dass Böden degradiert werden, dass Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- bestäubende Insekten und Bienen aussterben. Genau schätzung deshalb sage ich: Unser jetziges Ernährungssystem ist Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- munen gescheitert, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Dazu gibt es weil es nicht Bestandteil einer regenerativen Produktion keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. – Ich ist, meine Damen und Herren. bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen und Gespräche vielleicht woanders zu führen, jedenfalls nicht ( [CDU/CSU]: Sie sind hier im Plenum. undankbar!) Dann eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort an Wir wissen: Alle leiden darunter. Während sich die Renate Künast für Bündnis 90/Die Grünen. großen Agrarchemiekonzerne und Lebensmittelkonzer- ne eine goldene Nase verdienen, sind die Bauern, die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) am Anfang der Produktion stehen, diejenigen, die am dümmsten dran sind, meine Damen und Herren. Wir er- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): leben einen Raubbau. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben, dass am Ende der Einzelne, also der, der Um es mal gleich am Anfang zu sagen: Unser Ernäh- wegen der hochverarbeiteten Lebensmittel übergewich- rungssystem ist gescheitert. tig ist, schlechtere Chancen im Leben hat, meine Damen und Herren. Es geht nicht nur um die einzelne Person (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – mit einer Vielzahl von Erkrankungen, angefangen bei Frank Sitta [FDP]: Ihres!) Diabetes, über Gelenkprobleme, Herz-Kreislauf-Pro­ Es macht gar keinen Sinn, an der Stelle nur in Klein- bleme bis hin zur Demenz – das sind Probleme, die der Klein rumzureden. Dieses System ist gescheitert. Es ist Einzelne hat –; die Gemeinschaft hat 30 Milliarden Euro so, dass die sogenannte industrielle Revolution im Er- jedes Jahr zu zahlen, 30 Milliarden Euro jedes Jahr für die Sozial- und Gesundheitskosten aufgrund dieser, ich (B) nährungsbereich unsere Ernährung radikal verändert hat, (D) und zwar definitiv nicht zum Besseren. Das Essen in den nenne es mal, Überernährung. Deshalb sage ich noch Regalen ist der beste Beweis dafür. mal: Unser Ernährungssystem ist gescheitert! Wenn das das Ergebnis ist, kann man es nicht anders sagen. Eigentlich müsste die CDU jetzt klatschen, also die, die immer sagen: Wir vertreten die Bauern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Gero Clemens Hocker (Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Schon [FDP]) lange nicht mehr!) Es ist also allerhöchste Zeit, endlich zu handeln, mei- Denn: Sie haben eigentlich auch kein Interesse daran, ne Damen und Herren. Wir wissen, dass die Ernährungs- dass die Regale überfüllt sind mit süßen, salzigen, fetti- frage im 21. Jahrhundert eine der zentralen sozialen, ge- gen Fertigprodukten, Schokoriegeln, sogenannten Früh- sundheitlichen und Umweltfragen ist, die auch mit den stückszerealien, wo immer Sie hingehen können. Lebensgrundlagen zu tun hat – von jedem Individuum, (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP) aber auch von der Gesellschaft insgesamt. Wir können doch nicht einfach sagen: Die einen zahlen die Kosten, Das klare landwirtschaftliche Produkt sehen Sie an der die anderen machen die großen Profite, auch an den Bör- Stelle gar nicht mehr, meine Damen und Herren. Die sen. Hälfte aller in Deutschland verkauften Lebensmittel sind Fertigprodukte. Und weil die meisten so viel Zucker, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Salz und Fett enthalten, schaden sie bei regelmäßigem, umfassenden Verzehr der Gesundheit. Vizepräsidentin Claudia Roth: Meine Damen und Herren, immer mehr Menschen Frau Kollegin Künast, erlauben Sie eine Zwischenfra- sind, während wir über Hunger auf der Welt reden, durch ge oder -bemerkung des Kollegen von der FDP? Fehlernährung übergewichtig und krank. In Deutschland ist jeder vierte Erwachsene und sind 15 Prozent der Kin- Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der und Jugendlichen übergewichtig. Bitte. Das ist nicht irgendein triviales Thema, meine Damen und Herren, sondern diese veränderte Lebensmittelpro- Dr. Gero Clemens Hocker (FDP): duktion und die hochverarbeiteten Lebensmittel, die uns Vielen Dank, Frau Kollegin Künast, dass ich diese überall entgegenkommen, haben die Art, wie wir uns Zwischenfrage stellen kann. – Nachdem Sie eben erklärt ernähren, komplett verändert. Sie haben nicht nur dies haben, dass Ihrer Meinung nach das Ernährungskonzept 8614 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Gero Clemens Hocker (A) für Deutschland gescheitert ist, möchte ich Sie fragen, Wir brauchen eine ehrgeizige Reduktionsstrategie, (C) ob Sie bereit sind, mit mir zur Kenntnis zu nehmen, dass nicht eine, die quasi ein Geschenk an die Lebensmittelin- die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die in Deutschland dustrie ist, bei der sie selbst die Ziele festlegen soll. Am hergestellt werden, zu den qualitativ hochwertigsten zäh- Ende kommt bei den Zielen vielleicht nicht mehr oder len und zu den strengsten Umweltauflagen produziert weniger heraus als das, was Ernährungsräte, Ernährungs- werden. Oder möchten Sie tatsächlich bei Ihrem Urteil bewegung und Hunderte von Kinderärzten in dieser Ge- bleiben? sellschaft doch längst gefordert haben und die Konzerne längst zwingt, etwas zu tun, meine Damen und Herren. Vielen Dank. Ich habe hier zwei gleiche Limonadenflaschen. Eine (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) habe ich mir aus Paris mitbringen lassen, die andere habe ich in Deutschland gekauft. Wenn ich die Inhaltsstoffe Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dieser Flaschen vergleiche, stelle ich was fest? In Frank- reich sind 6,5 Gramm Zucker enthalten, in Deutschland Lieber Herr Kollege, es ist schön, dass Sie das anspre- 9,1 Gramm Zucker, meine Damen und Herren. chen, weil mir das die Gelegenheit gibt, noch mal auf- zuzeigen, dass Ernährung und Landwirtschaft eigentlich (Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Was kann zusammengehören. Ich habe hier von hochverarbeiteten der Landwirt dafür?) Lebensmitteln geredet. Sie reden jetzt von den Rohstof- fen, die die Landwirte liefern. Sie sehen also: Man muss Maßnahmen treffen und konkrete Reduktionsziele vorgeben, dann passiert etwas. (Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Von „Kon- So etwas fordere ich auch von Ihnen. zept“ haben Sie gesprochen! Von „Ernährung“ haben Sie gesprochen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Das ist, meine Damen und Herren, auf der einen Seite zu der SPD) trennen; auf der anderen Seite gehört es zusammen. Stichwort „Ampelkennzeichnung“: Der Nutri-Score (Zuruf von der CDU/CSU: Ausrede!) wird, wenn auch abgeschwächt, längst von einigen Un- ternehmen – Tchibo, Danone und anderen – verwendet. Wenn ich mir die Rohstoffe angucke, stelle ich fest: Lassen Sie uns das jetzt auch rechtlich vorgeben, meine Wir haben natürlich jede Menge guter und brillanter Damen und Herren. Rohstoffe, die die Landwirtschaft herstellt. Wir haben allerdings auch – dafür kann die Landwirtschaft alleine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (D) nichts – Pestizidrückstände im Essen, die am Ende ernäh- Ich meine: Die Zeit der Freiwilligkeit ist vorbei. Wir rungsbedingte Erkrankungen hervorrufen. brauchen einen ganzheitlichen Ansatz. Selbst Chile hat Aber wenn Sie mir eine Sekunde zugehört hätten, es geschafft. Man hat eine strenge Kennzeichnung für hätten Sie gemerkt, dass ich über etwas anderes geredet Lebensmittel, die auf den ersten Blick Aufschluss gibt. habe, nämlich nicht über die landwirtschaftlichen Roh- Werbung bei Kindern für bestimmte Süßigkeiten ist nicht stoffe, sondern über das Fertigprodukt im Regal. Da steht erlaubt. Süßigkeiten und Limos werden an Schulen nicht zwar „Frühstücksriegel“ oder „Frühstückszerealien“, mehr verkauft, sondern Wasser. Und das Schulessen ist wenn Sie aber auf das Produkt gucken, sehen Sie, dass grundsätzlich umgestellt worden. Genau das brauchen es bei diesen Frühstückszerealien im Kern nicht um die wir auch, meine Damen und Herren. Haferflocken geht, die die Bauernfamilie hergestellt hat, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern es geht um Zucker, um Palmfett und um jede sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Menge künstlicher Aromen. Darüber rede ich. Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das versuchen wir mit unserem Antrag zu erreichen. und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Es geht nicht darum, nur individuelle Verhaltensände- rungen zu verlangen, während einem im ganzen Umfeld Vielleicht haben wir an dieser Stelle gar nicht so einen Süßigkeiten, hochkalorische Lebensmittel, hochver- großen Dissens. – Deshalb sage ich: ist gescheitert. arbeitete Lebensmittel entgegenkommen. Stattdessen müssen wir eine Ernährungswende zusammen mit einer Die Ernährungs- und Agrarministerin nennt ihr Mi- Agrarwende – das noch mal in Richtung der FDP – orga- nisterium so schön „Lebensministerium“. Das kenne nisieren, bei der es nicht darum geht, Frau Klöckner, die ich von vor 15 Jahren; so nannte sich das entsprechende Wahl und Auswahl leichter zu machen. Nein, wir müssen österreichische Ministerium, aber das war der offizielle die Verhältnisse so gestalten, dass der Alltag einfach ist. Titel. Ich kann nur sagen: Was Sie draufschreiben, muss auch drin sein. Dann müssen es auch Mittel zum Leben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein, die dabei rauskommen, dann müssen Sie sich auch sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der um das Leben der Menschen und ihre Gesundheit und Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) die Gesundheit der Kinder kümmern, meine Damen und Herren. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Darf ich an die Redezeit erinnern? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8615

(A) Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber – Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen und zu kon- (C) Ja, ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. – Das trollieren, dass unsere Lebensmittel sicher sind. heißt: Ernährung muss Teil der Stadtentwicklung sein. Meine Damen, meine Herren, mir ist klar: Wir leben Die Gemeinschaftsverpflegung von Kindergärten über in einer Zeit, in der gute Nachrichten schlechte Nachrich- Krankenhäuser bis zu Seniorenheimen muss komplett ten sind und in der schlechte Nachrichten gute Nachrich- umgestellt werden. Wir brauchen eine nationale Stra- ten sind. Aber wir kommen nicht um die Fakten herum. tegie, die Reduktionsziele vorgibt. Wir brauchen eine Nährwertkennzeichnung, und wir müssen die Kinder Die gute Nachricht ist für mich – das ist mein erster schützen, was das Thema Lebensmittelwerbung angeht. Punkt –, dass staatliche, neutrale Proben 2017 ergeben haben, dass nur 1,1 Prozent unserer Lebensmittel Rück- Die Prämisse, meine Damen und Herren, muss sein: stände über dem zulässigen Höchststand enthalten ha- Wir schützen die Gesundheit der Menschen, wir schützen ben – diese Rückstände waren aber bei weitem nicht ge- die Kinder und nicht die Profitinteressen der Konzerne. sundheitsgefährdend –, dass gleichzeitig 1,9 Prozent der So geht Ernährungswende! Lebensmittel aus anderen EU-Mitgliedstaaten belastet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN waren und dass 6,3 Prozent der Lebensmittelproben aus sowie bei Abgeordneten der SPD und der Drittstaaten entsprechend belastet waren. Das freut uns LINKEN) erst mal, weil die Zahlen aus deutscher Sicht nahezu um 1 Prozentpunkt zurückgegangen sind. Vizepräsidentin Claudia Roth: Zweitens: Das Nahrungsmittelangebot in unserem Vielen Dank, Renate Künast. – Nächste Rednerin: Land war noch nie so vielfältig wie heute; die Internati- Marlene Mortler für die CDU/CSU-Fraktion. onale Grüne Woche lässt grüßen. Auch hier erleben wir eine weltweite Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Darüber (Beifall bei der CDU/CSU) freue ich mich. Das heißt, die Basis für eine ausgewo- gene Ernährung wird uns Verbrauchern täglich auf dem Marlene Mortler (CDU/CSU): Silbertablett serviert. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kollegen! Frau Künast, niemand muss Fertigprodukte ordneten der FDP) essen, jeder kann. Unabhängig davon gilt für mich nach wie vor: Die (Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: So ist es!) beste Medizin ist und bleibt eine abwechslungsreiche, eine bedarfsgerechte Ernährung, am liebsten auch noch (B) Wie Sie es fertigbringen, unsere Bauern und Bäuerinnen (D) im Land zu bedauern und gleichzeitig massiv in die Pfan- saisonal und regional. Gerade die neuen Ernährungssti- ne zu hauen, das bleibt Ihr Geheimnis. le – ob pegan, vegan, Paleo und wie auch immer sie hei- ßen – entbinden uns als Verbraucher nicht davon, unser (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- eigenes Ernährungsverhalten immer wieder zu hinterfra- neten der FDP – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/ gen. Essen findet eben nicht nur in der Gemeinschafts- DIE GRÜNEN]: Sie hören, was Sie wollen!) verpflegung, sondern auch zu Hause statt. Essen ist für mich nicht nur bloße Nahrungsaufnahme. Essen hat für Die Menschen in unserem Land werden immer älter mich mit Ritualen zu tun, mit Werten, mit Wertschät- und bleiben immer länger gesund; auch das gehört zur zung. Wie emotional das Thema „Ernährung und Essen“ Wahrheit dazu. Ob Mangel-, Fehl-, Unter- oder Über- sein kann, haben wir gerade bei der Vorrednerin erlebt. ernährung – meine Damen, meine Herren, das Thema Und dass Ernährung in hohem Maße politisch ist, wissen Welternährung wird neben der Digitalisierung ein zen- wir seit längerem. trales Zukunftsthema sein. Insofern sind wir uns mit der Vorrednerin einig. Vizepräsidentin Claudia Roth: Es gibt aus meiner Sicht aber keine gesunden oder Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ungesunden Lebensmittel, sondern es gibt gesunde oder -bemerkung der Kollegin Christmann von den Grünen? ungesunde Ernährungsweisen. Und, ehrlich gesagt: Ich möchte jetzt und in Zukunft nicht auf meinen geliebten „Bavaria blu“, auf mein Schäufele mit Kloß und auf ei- Marlene Mortler (CDU/CSU): nen mehrfach panierten und in Fett gebackenen fränki- Das machen wir am Schluss, Frau Präsidentin. – Und schen Karpfen verzichten. Das hat etwas mit Genuss, mit wenn Foodwatch vor kurzem in einer Pressemitteilung Lebensqualität und mit Regionalität zu tun. Folgendes sagte – ich zitiere –: „Jetzt ist es also amtlich: Diese Ministerin“ – gemeint ist Julia Klöckner, unsere (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ministerin – „ist gesundheitsgefährdend“, dann finde ich bei Abgeordneten der AfD – Johann Saathoff das in hohem Maße unanständig. [SPD]: Was ist mit Matjes?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Natürlich muss uns allen klar sein, dass genießen heißt, ordneten der FDP) nicht jeden Tag davon zu essen, sondern ab und zu. Auf der anderen Seite kann es nicht die Aufgabe des Staates Wir sind uns einig: Wir brauchen keine an Kinder ge- alleine sein, uns jeden Tag unser Essen mundgerecht und richtete Werbung. Und wir brauchen somit auch keine bedarfsgerecht zu servieren. Es ist aber – ohne Wenn und Kinderlebensmittel; denn wir wissen, dass diese in der 8616 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Marlene Mortler (A) Regel teurer sind und oft auch gehaltvoller – alles Dinge, dukte eben oft viel günstiger sind als das, was ich mir (C) die Kinder nicht brauchen. Wir brauchen aber Initiativen selber koche. und Lösungen wie zum Beispiel die von Frau Professor Ensenauer vom Haunerschen Kinderspital in München. Ich frage Sie vor allen Dingen danach, worin Sie denn Sie hat eine Studie durchgeführt mit adipösen Schwan- den Genussverlust sehen, wenn wir zum Beispiel damit geren und es mithilfe gezielter Aufklärung geschafft – da anfangen, den Zuckergehalt in der Fanta – das war das gehört bewusst das Stillen dazu –, dass deren Kinder und Beispiel der Kollegin Künast – zu reduzieren, und ob Sie Babies in späteren Jahren seltener an Übergewicht leiden nicht durchaus ein Problem darin erkennen, dass gerade bzw. erkranken. Das ist aus meiner Sicht wirklich eine Kinder in ärmeren Familien eine sehr schlechte Ernäh- effektive Maßnahme. rungsweise haben, und ob das nicht ein konkreter Beitrag wäre, diese Ernährungsweise zu verbessern? Meine Damen, meine Herren, eine Ampelkennzeich- nung kann und wird dem Verbraucher nicht abnehmen, Vizepräsidentin Claudia Roth: Lebensmittel kritisch zu prüfen. Wer sich zum Beispiel ein Auto kauft, fällt ja seine Entscheidung auch nicht Frau Mortler. allein nach dem Aussehen oder irgendeinem Prüfsiegel, sondern informiert sich zumindest über Leistung, Ver- Marlene Mortler (CDU/CSU): brauch oder Ausstattung. Und deshalb finde ich es wich- Liebe Frau Kollegin, da sind Sie bei mir genau an der tig und richtig, dass unsere Ministerin Julia Klöckner richtigen Adresse. mit ihrer Reduktionsstrategie – reduzieren heißt, Zucker, Fett und Salze im Blick zu haben – einen guten Einstieg Erstens. Als gelernte Hauswirtschafterin bzw. Haus- geschafft hat, weil diese Strategie einerseits auf Innova- wirtschaftsmeisterin weiß ich sehr wohl, dass man sich tionen bei der Ernährungsindustrie und beim Handwerk mit wenig Geld sehr gut und auch sehr ausgewogen er- setzt, aber andererseits auch auf Bewusstseinsbildung nähren kann. beim Verbraucher. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das heißt: Unser gemeinsames Ziel muss es sein, das Ich weiß, dass viele das nicht hören wollen. Ich könnte Bewusstsein bei unseren Bürgerinnen und Bürgern für jetzt rauf und runter aufzählen, was alles möglich ist, was eine gesunde Lebensweise und für einen wertschätzen- Sie vielleicht für unmöglich halten. den Umgang mit Lebensmitteln zu stärken. Leider hat die Einführung von Nährwertangaben zuletzt noch nicht zu Zweitens: zum Thema Zuckerreduktion. Ich halte es einem veränderten Konsumverhalten geführt; auch das schlichtweg für nicht ausreichend, alleine den Zucker zu (B) gehört zur Wahrheit. reduzieren und dann mit dieser Reduzierung zu werben. (D) Das hat vielleicht zur Folge, dass angenommen wird: Oh, Abschließend sage ich – das ist eine ganz persönliche dann kann ich ja mehr davon essen oder trinken. Meinung, von der ich aber fest überzeugt bin –: Wenn wir wirklich mehr in Sachen Aufklärung und Verbraucher- (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) verhalten verändern wollen, dann müssen wir jetzt und in Zukunft ernsthaft über eine staatliche und vor allem neu- Das heißt, auch hier fängt das Ganze wieder mit einem trale Ernährungsberatung nachdenken. In diesem Sinne: Bewusstseinswandel an. Ich kann es dem Verbraucher Wir lehnen die Anträge der Opposition ab. und ich kann es mir selber nicht ersparen, Eigenverant- wortung zu übernehmen und einen persönlichen Beitrag Damit herzlichen Dank fürs Zuhören. dazu zu leisten. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich komme deshalb auf das zurück, was ich am An- fang gesagt habe: Es gibt keine gesunden und ungesun- Vizepräsidentin Claudia Roth: den Lebensmittel per se, Herzlichen Dank, Marlene Mortler. – Das Wort zu ei- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ner Kurzintervention hat Dr. Anna Christmann. NEN]: Doch!) aber es gibt eine ungesunde Ernährungsweise, einen un- Dr. Anna Christmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gesunden Lebensstil. Hier kann der Staat sicherlich – das NEN): ist mein abschließender Appell – mit einer neutralen, mit Vielen Dank für die Möglichkeit zu einer Kurzinter- einer guten Ernährungsberatung, die sich an alle Ziel- vention. – Sie haben gesagt, jeder in diesem Land könne gruppen in unserem Land richtet, helfen und unterstüt- sich völlig frei entscheiden, wie er sich ernähren möchte. zen. Ich freue mich auch darüber, dass Sie Lieblingsgerich- te haben, die Sie gerne essen – die haben wir alle –; da (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- möchte Ihnen, glaube ich, niemand reinreden. Die Rea- ordneten der FDP) lität ist doch, dass es auch in unserem Land ganz viele Menschen gibt, die vor allem nicht die finanziellen Mit- Vizepräsidentin Claudia Roth: tel haben, sich so ausgewogen und saisonal zu ernähren, Vielen Dank. – Nächste Rednerin: Verena Hartmann wie wir alle hier das vielleicht für am gesündesten halten, für die AfD-Fraktion. sondern gerade armutsbedingt oft eine Ernährungsweise vorherrscht, die nicht so ausgewogen ist, weil Fertigpro- (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8617

(A) Verena Hartmann (AfD): Kassenbereich und in den Apotheken will ich gar nicht (C) erst anfangen. All das muss unterbunden werden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Zuschauer! Hier und heute geht es um gesunde (Lachen bei Abgeordneten der FDP – Dr. Gero Ernährung. Pünktlich zur Jahreswende hat sich sicher- Clemens Hocker [FDP]: Das ist grün, was Sie lich jeder wieder vorgenommen, weniger von allem zu sagen! Das ist grüne Politik – eins zu eins! essen: weniger Zucker, weniger Salz, weniger Fette und Wissen Ihre Wähler das eigentlich? – Johann natürlich mehr Obst und Gemüse, wie sich das gehört. Saathoff [SPD]: Steht das im AfD-Pro- Auch die Regierung hat den Standpunkt: Jeder ist für gramm?) sich selbst verantwortlich. Man solle Sport treiben, mehr Unsere Regierung verlässt sich auf eine freiwillige Sport treiben, besser darauf achten, was man isst. Aber Selbstverpflichtung. Die Lebensmittelindustrie nutzt dies was essen wir denn eigentlich? 50 Prozent, wie schon schamlos aus. Verbraucherschützer, die WHO, der Ärz- Frau Künast gesagt hat, aller gekauften Lebensmittel teverband, Gesundheitsverbände kämpfen für eine bes- sind bereits verarbeitet. Und in diesen Lebensmitteln sere Kennzeichnung. Wir, die AfD, haben eine Lösung. sind massig versteckte Salze, Fette und Zucker enthalten. Wir favorisieren eine Positivkennzeichnung nach schwe- Die Verantwortung dafür trägt die Lebensmittelindustrie. dischem Vorbild durch das Keyhole-Modell für mehr 2016 wurde zwar die Nährwerttabelle als Pflichtan- Transparenz. Lebensmittel werden farbig gekennzeich- gabe auf den Produkten eingeführt. Ist es aber dadurch net, die fett-, zucker- und salzarm, aber ballaststoffreich besser geworden? Nein. Das Robert-Koch-Institut stellte sind und vom Verbraucherschutzministerium als gesund 2017 fest: Über 50 Prozent der Bevölkerung leiden an bewertet werden. Dadurch herrscht Klarheit über die Le- Übergewicht. 25 Prozent sind sogar adipös. Und bereits bensmittel beim Verbraucher. Durch die Sensibilisierung 15 Prozent unserer Kinder sind übergewichtig. – Doch der Verbraucher durch diese Kennzeichnung werden die warum funktioniert das mit den Nährwerttabellen nicht Hersteller die Zucker-, Salz- und Fettschraube in ihren wirklich? Ganz einfach: Es gibt viel zu viele verschiede- Produkten zurückdrehen müssen, um langfristig Verluste ne Salze, Fette und Zuckerarten. Allein für Zucker gibt es zu vermeiden. 70 verschiedene Namen. Um Nährwerttabellen richtig le- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen und Schädliches richtig erkennen zu können, bräuch- NEN]: Die AfD klatscht gar nicht! – Gegenruf te man ein Diplom in Chemie. Und für die kleine Schrift des Abg. Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: müsste man Adleraugen haben. Das ist zu grün!) Die Tricks der Lebensmittelindustrie sind unerschöpf- Die Gemeinschaftsverpflegung, vor allem in Kitas und Schulen, muss besser werden. Ein Mittagessen muss es (B) lich. So werden verschiedene Salze, Fette und Zucker (D) in einem Produkt verwendet, damit die Menge des ein- für alle Kinder geben! Egal wie die Versorgung zu Hause zelnen Inhaltsstoffs nicht zu groß erscheint und er eben ist, mit dem Schulessen wäre für eine warme Mahlzeit nicht auf Platz eins, zwei oder drei der Rangliste in der am Tag für jedes Kind gesorgt. Es wäre gut investiertes Nährwerttabelle landet. Zusammengefasst bekommt Geld. Die AfD fordert, die EU-weite Ausschreibung des man nicht nur einen Zuckerschock. Allein in einem Schulessens abzuschaffen. Sie ist nicht zielführend. Wir 150‑Gramm-Becher Erdbeerjoghurt für Kinder sind im brauchen eine regionale Ausschreibung. Wir brauchen Durchschnitt sieben Stück Zucker enthalten. Stellen Sie verbindliche Qualitätsstandards für hochwertiges Schul­ sich diese Menge einmal in Ihrem Kaffee vor! Da würde essen – bundesweit. Die Versorgung mit regionalen und der Löffel stehen bleiben. Und so etwas bieten wir nichts saisonalen Produkten muss an erster Stelle stehen. ahnend unseren Kindern an. Wir fordern die Einführung eines praktischen Un- terrichtsfachs für Ernährung. Schüler sollen gesunde Die Süßwarenregale im Discounter sind im Grunde Lebensmittel kennenlernen, sie zubereiten und selber die ehrlichste Geschäftsbeziehung, die man mit der Le- kochen. Anders als es die Grünen vorschlagen, wollen bensmittelindustrie haben kann. Wenn ich mich da für wir kein weiteres Theoriefach. Die Kinder haben genug Fett, Zucker und Salz entscheide, weiß ich es: Es liegt Stress in der Schule. in meiner Verantwortung. Ich entscheide mich bewusst und weiß, es geht auf die Hüften und ist auch sonst nicht Die Aufgabe der Bundesregierung ist es, Rahmenbe- gesund. Auf unsere Kinder haben es besonders Coca-Co- dingungen zu schaffen. Ich appelliere an Frau Klöckner: la, Ferrero, McDonald’s und Co abgesehen. Die Ernäh- Haben Sie den Mut! Trauen Sie sich – für die Gesundheit rungsgewohnheiten werden ja in der Kindheit und Ju- der Menschen in unserem Land! Wir brauchen eine gute gend geprägt. Genau da setzen sie an. Ihr oberstes Ziel ist Ernährung als den zentralen Baustein der Gesundheits- es, Kinder und Jugendliche so zeitig wie möglich an ihre vorsorge. Produkte zu binden. Vielen Dank. 90 Prozent der sogenannten Kinderlebensmittel sind (Beifall bei der AfD) noch zuckerhaltiger, noch salziger und noch fettiger, sind also noch ungesünder als das, was wir normaler- Vizepräsidentin Claudia Roth: weise zu uns nehmen. Kinder werden mit Werbung und Vielen Dank, Verena Hartmann. – Nächste Rednerin: Marketingkampagnen bombardiert. Trickfilmfiguren auf Ursula Schulte für die SPD-Fraktion. Joghurtdeckeln und Plastikspielzeug bei McDonald’s führen zum gewünschten Ziel. Von den Süßigkeiten im (Beifall bei der SPD) 8618 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Ursula Schulte (SPD): leider kaum gerecht wird, die wir aber immer wieder an- (C) mahnen müssen. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Mi- nisterin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geehrten Damen und Herren! Manchmal ist es ja tröst- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ lich, wenn man mit seinen Problemen nicht alleine ist. DIE GRÜNEN) Geteiltes Leid ist halt halbes Leid. Aber hilfreich und Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Beschäf- zielführend ist es nicht, wenn in allen europäischen Län- tigung mit den Anträgen der Opposition habe ich fest- dern die Gesundheit von Menschen durch ungesunde Er- gestellt, dass es darin durchaus Gemeinsamkeiten mit nährung beeinträchtigt wird. Vor allen Dingen darf uns unseren Forderungen gibt. Alle wollen das Ernährungs- diese Tatsache nicht dazu bringen, dass wir die Hände wissen verbessern. Alle wollen die Reduktionsstrategie. in den Schoß legen. Das tut die Koalition auch nicht. Alle nehmen Kinder und Jugendliche in den Blick. Alle Nach Jahren des freundlichen Stillstands unter Minister wollen gesunde und schmackhafte Mahlzeiten in den Schmidt – so will ich es einmal nennen – nimmt das The- Kitas und Schulen. Der Unterschied zur Opposition ist, ma „gesunde Ernährung“ Fahrt auf. Und das ist gut so. dass wir als Regierung handeln können und das auch tun. (Beifall bei der SPD) Und – ehrlich – das gefällt mir nach 30 Jahren Oppositi- onspolitik in kommunalen Parlamenten total gut. Liebe Kolleginnen und Kollegen, besonders besorg- Auch wenn wir viele Kompromisse eingehen müssen: niserregend ist vor allem der Anstieg von Adipositas mit Kleine Schritte in die richtige Richtung sind eben auch den entsprechenden Folgeerkrankungen bei Kindern und Bewegung. Ob wir gleich eine Ernährungswende brau- Jugendlichen. Erschwerend kommt hinzu, dass das in der chen, wie sie Bündnis 90/Die Grünen fordern, bezweifle Kindheit erlernte Ernährungsverhalten oft ein Leben lang ich allerdings ein bisschen. Mir wäre eine Agrarwende beibehalten wird. Genau hier müssen wir ansetzen; denn lieber: Klasse statt Masse. Kinder und Jugendliche sind eine besonders verletzliche Personengruppe. Wenn man sie schützen will, dann muss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten man konsequent handeln. Das geplante Verbot von Zu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) cker in Säuglings- und Kindertees ist zwar lobenswert, Das gilt gerade bei der Fleischproduktion. Wir produzie- greift aber viel zu kurz. Die SPD will hier eindeutig ren nicht nur zu viel Fleisch, sondern wir essen auch zu mehr; das weiß die Ministerin auch. Uns ist vor allen viel davon. Fleisch – das muss man sich immer wieder Dingen die Zuckerreduzierung in gesüßten Getränken vergegenwärtigen – war vorher einmal ein Lebewesen. wichtig. 5 Gramm pro 100 Milliliter Flüssigkeit reichen Fleisch ist zur Ramschware verkommen. Das spüren (B) vollkommen aus. auch die Landwirte. Sie müssen immer mehr produzie- (D) ren, um über die Runden zu kommen. Am Ende landen (Beifall bei der SPD) dann Rinder, Schweine und Hühner auf dem Müll. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es einen Zu- (Dr. Gero Clemens Hocker [FDP]: Was heißt sammenhang zwischen Lebensmittelwerbung und unge- denn „auf dem Müll“? Das wird alles geges- sunder Ernährung gibt, kann niemand mehr leugnen. sen!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Dazu darf man nicht länger schweigen. So können und SES 90/DIE GRÜNEN) dürfen wir auch nicht weitermachen. Wenn wir Verän- derung wollen, sollten wir jetzt die GAP-Verhandlungen Deshalb wäre ein Verbot der Werbung für Kinderlebens- dazu nutzen. Die SPD hat sich eindeutig positioniert, mittel, die dem Nährstoffprofil der WHO nicht entspre- nämlich: Wir wollen öffentliches Geld für öffentliche chen, folgerichtig. Auch hier hätte ich mir ein stärkeres Leistungen. Signal im Zuge der Reduktionsstrategie gewünscht. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir finden in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschland – da bin ich ganz anderer Meinung als Frau Künast – alle Voraussetzungen für eine gesunde und re- Übergewichtige Kinder leiden körperlich und seelisch; gionale Ernährung vor. Wenn man dem Ernährungsre- denn sie werden von ihren Altersgenossen oft gehänselt. port 2019 Glauben schenken darf, dann ernähren sich Genauso mitleidig werden im Übrigen übergewichtige die Deutschen sogar ziemlich gesund. Immerhin essen Erwachsene betrachtet. 71 Prozent der Bevölkerung täglich Obst und Gemüse, und 64 Prozent nehmen täglich Milchprodukte zu sich. Sorgen bereiten mir aber auch die jungen Menschen, Ich bin mir aber fast sicher, dass die Ernährungsgewohn- die aufgrund von falschen Schönheitsidealen Angst ha- heiten in Wirklichkeit ganz anders aussehen. ben, zu dick zu werden, und deshalb zu wenig oder gar nichts mehr essen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Angebot an Nahrungsmitteln ist schier unerschöpflich. Wir können (Beifall bei Abgeordneten der SPD) entscheiden, ob wir uns mit Bioprodukten ernähren wol- len oder zu vegetarischen oder veganen Lebensmitteln Magersucht trifft vor allen Dingen die Mädchen. Hier greifen möchten. Fakt ist aber auch, dass die wenigsten hat die Modebranche eine große Verantwortung, der sie Menschen überhaupt noch Zeit und Lust haben, sich mit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8619

Ursula Schulte (A) den neuesten Ernährungstipps und Kaufempfehlungen die farbliche Kennzeichnung in Angriff nehmen will. Das (C) auseinanderzusetzen; sie haben auch keine Zeit mehr, wird aber auch höchste Zeit; denn im Moment erleben täglich frisch zu kochen. Das zeigt noch einmal, wie wir, dass die Unternehmen kennzeichnen, wie sie wollen. wichtig es ist, gute Fertigprodukte mit einer verständli- Das ist überhaupt nicht zielführend; das führt nicht zu chen Kennzeichnung auf den Weg zu bringen. mehr Klarheit für die Verbraucherinnen und Verbraucher, sondern zu Verwirrung und Irritation. Deshalb sage ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Thema liegt mir ganz deutlich: Wir brauchen eine staatliche Kennzeich- besonders am Herzen: der Zusammenhang zwischen ei- nung, eine Kennzeichnung, auf die sich die Menschen ner ungesunden Ernährung auf der einen Seite und sozi- verlassen können. Gesunde Produkte müssen leicht und aler Ungleichheit auf der anderen Seite. Dieser Zusam- auf den ersten Blick erkennbar sein. menhang ist inzwischen wissenschaftlich bewiesen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie der Abg. DIE GRÜNEN) Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) Leider wird die soziale Ungleichheit auch noch mal Die Ampel oder, wie ich mittlerweile finde, auch ein beim Thema Ernährungswissen deutlich. Da sind die Nutri-Score machen das möglich. Die SPD möchte, dass gutgebildeten, gutsituierten Familien, die ganz genau die farbliche Kennzeichnung schnell kommt. Deswegen, wissen, wie gesunde Ernährung auszusehen hat, die die- Frau Klöckner, war ich heute Morgen umso enttäusch- ses Wissen auch im Alltag anwenden und an ihre Kin- ter von Ihren Aussagen im „Morgenmagazin“; das hör- der weitergeben. Und dann gibt es halt die überforderten te sich doch alles wenig konkret und mehr als verhalten Familien. „Überfordert“ heißt hier, dass man den Kopf an. Schade, schade, kann ich da nur sagen. Aber die SPD voller Sorgen hat und das Thema Ernährung ganz unten lässt nicht locker; denn die Mehrheit der Verbraucher auf der Skala der Probleme steht. wünscht sich eine farbliche Kennzeichnung, und der Nu- tri-Score bietet alle Voraussetzungen dafür. Beim Thema Ernährung müssen wir auch über Geld reden. Wer wenig Geld hat, ernährt sich ungesund, auch (Beifall bei der SPD sowie der Abg. weil Weißmehlprodukte immer noch günstiger sind als Dr . Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) Obst und Gemüse. Deswegen ist es so wichtig – das muss man an dieser Stelle auch sagen –, dass der Mindestlohn Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen gute Po- angehoben wird, dass prekäre Beschäftigung abgeschafft litik für die Menschen machen. Das heißt für mich, dass und gute Arbeit mit fairen Löhnen bezahlt wird. wir die Menschen in die Lage versetzen müssen, schnell und zielgerichtet auf gesunde Produkte zurückgreifen zu (Beifall bei der SPD – können. Wir müssen aber auch sagen, dass neben guter (B) [SPD]: Sehr schön gesagt!) und ausgewogener Ernährung Bewegung wichtig ist. (D) Und ganz wichtig: Wir müssen unser Augenmerk auf Wenn die Menschen ein ausreichendes Familieneinkom- die Kinder und Jugendlichen richten. Sie müssen gesund men haben, geben sie das Geld nicht etwa für Flachbild- aufwachsen können, und zwar unabhängig vom Status schirme aus, sondern sie investieren es in ihre Kinder und der Familie. Ausgewogene Ernährung ist eine Kernfrage eben auch in gesunde und bessere Ernährung. sozialer Gerechtigkeit. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin froh, dass es die Tafeln gibt. Sie versuchen mit ihrer Arbeit, sozi- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ale Ungleichheit ein bisschen abzumildern. Die Tafeln (Beifall bei der SPD) helfen bereits jetzt mit verschiedenen Projekten. Diese Arbeit müssen wir unterstützen. Ein entsprechender Be- schluss liegt auch vor, Haushaltsmittel sind vorhanden. Vizepräsidentin Claudia Roth: Niedrigschwelliger können wir Ernährungswissen über- Vielen Dank, Ursula Schulte. – Nächster Redner für haupt nicht vermitteln. Ich warte jetzt darauf, dass das die FDP-Fraktion: Frank Sitta. Ministerium konkret wird. (Beifall bei der FDP) Ich muss jetzt ein bisschen weiterblättern, weil mir die Zeit wegläuft. Ich will aber noch sagen, dass ich bei meinen Besuchen in den Schulen die Kinder immer Frank Sitta (FDP): auch frage: Wie schmeckt euch denn eigentlich das Es- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sen? – Und dann sagt die überwiegende Mehrheit: „Geht Kollegen! Nach Energiewende, Agrarwende, Wärme- so“ oder „Überhaupt nicht“. Die älteren Schüler gehen wende, Verkehrswende nun also die Ernährungswende. dann auch gleich zum Kiosk oder in den nächsten Su- Bei so vielen Drehungen kann einem richtig schwindlig permarkt. Deshalb, finde ich, ist es ganz wichtig, dass werden, meine sehr verehrten Damen und Herren. wir die Kommunalpolitiker für das Thema „gesunde Er- nährung“ gewinnen; denn sie müssen bei Ausschreibun- (Beifall bei der FDP) gen dafür Sorge tragen, dass Kinder ausgewogene und schmackhafte Mahlzeiten in angenehmer Atmosphäre zu Falls Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen der Grü- sich nehmen können. nen, dabei die Orientierung verloren haben sollten, Liebe Kolleginnen und Kollegen, kurz vor Weihnach- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten konnte ich lesen, dass Frau Ministerin Klöckner nun NEN]: Nö!) 8620 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Frank Sitta (A) kurz der Hinweis: Die Richtung, in der Sie mal wieder Ich kann Ihnen aber auch versprechen, dass Sie hier von (C) unterwegs sind, führt jedenfalls nicht zu einem freiheit- diesem Pult aus stets eine Stimme der Freiheit daran er- lichen Staat. innern wird Sicherlich: Zugegebenermaßen ist es häufig schwie- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rig, außer Haus auf die Schnelle ein Angebot an Mahl- sowie bei Abgeordneten der SPD und der zeiten zu finden, das zur selbstgewählten Diät oder zum LINKEN – Dr. [BÜND- selbstgewählten Ernährungstrend passt. Aber diese An- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja echt tapfer gebote wird es geben, wenn die Nachfrage danach steigt. von Ihnen!) Und nun sollen es staatliche Preiskontrollen für die Mie- te von Gewerbeimmobilien richten, mutmaßlich damit – ja, lachen Sie ruhig –, dass die freiheitliche Demokra- dann ideologisch genehme und moralisch korrekte Gast- tie eben von der Auffassung lebt, dass erwachsene Men- stätten einziehen können. Dieser Ansatz ist doch mehr als schen selbst am besten wissen, was für sie gut ist, fragwürdig. (Zurufe der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE (Beifall bei der FDP sowie des Abg. LINKE] und [BÜNDNIS 90/ Dr. Alexander Gauland [AfD]) DIE GRÜNEN]) Tatsächlich kümmern sich immer mehr Menschen und dass der Staat ihren Meinungen, Interessen und Nei- um die Verbesserung ihrer Ernährung; darüber freue ich gungen gegenüber Respekt zu zeigen hat. mich auch. Die soziale Marktwirtschaft ermöglicht das, und der Sozialstaat hat daran durchaus Interesse. Ihr An- (Christian Dürr [FDP]: Sehr richtig!) satz hat aber, wie so häufig, einen autoritären und elitä- Vielen Dank. ren Charakter. Ihnen geht es um die Umerziehung von Menschen, die Sie von ihren Ernährungsgewohnheiten (Beifall bei der FDP) derzeit nicht abbringen können, und das ärgert Sie. Übergewicht entsteht im Übrigen nicht durch be- Vizepräsidentin Claudia Roth: stimmte Lebensmittel per se und auch nicht durch verar- Vielen Dank, Kollege Sitta. – Nächste Rednerin: beitete Lebensmittel, wie Sie das in Ihrem Antrag unter- ­Amira Mohamed Ali für die Fraktion Die Linke. stellen, sondern durch den ungesunden Umgang damit. (Beifall bei der LINKEN) (Christian Dürr [FDP]: So ist es!)

Auch körperliche Bewegung und Aktivität spielen hier Amira Mohamed Ali (DIE LINKE): (B) eine nicht zu unterschätzende Rolle. Als Liberaler liegt (D) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- es mir fern, anderen Menschen vorzuschreiben, ihren Le- legen! Liebe Gäste! Wir diskutieren heute wieder über benswandel zu ändern, auch wenn ich persönlich ihn für gesunde Ernährung. Dabei sollte es eine Selbstverständ- völlig falsch halte. Der Schlüssel liegt in einer möglichst lichkeit sein, dass alle Menschen sich gesund ernähren umfassenden und unvoreingenommenen Information der können. Stattdessen leiden immer mehr Menschen unter Verbraucher. Aber: Es lohnt sich eben auch, in einer frei- ernährungsbedingten Krankheiten. Kinder bekommen en Gesellschaft Freiräume für selbstbestimmten Genuss Diabetes Typ 2, sogenannten Altersdiabetes; das ist doch zu verteidigen und regelmäßig zu fragen, wie diese Frei- Wahnsinn. räume auch mal wieder erweitert werden können. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) Kommen wir zu Ihrem Vorschlag einer Lebensmittel- Und was macht die Bundesregierung? Sie hält uns hin, ampel. Diese dient eben nicht einer transparenten Infor- und das seit Jahren. Sie betreibt Lobbypolitik für die Le- mation der Verbraucher, sondern genau dem Gegenteil. bensmittel- und die Agrarindustrie. Aber da machen wir Sie reduziert den Informationsgehalt auf ein Minimum, nicht mit. (Johann Saathoff [SPD]: Ich würde sagen: auf (Beifall bei der LINKEN) das Wesentliche!) Die Linke hat erneut einen Antrag zum Thema „ge- und das zwangsläufig willkürlich. Aber Ihnen geht es ja sunde Ernährung“ gestellt. Lassen Sie mich auf zwei nicht um die Information der Verbraucher, sondern um Punkte eingehen. deren Steuerung. Insofern ist das Bild einer Ampel da durchaus ganz passend gewählt. Erstens. Verarbeitete Lebensmittel müssen endlich ge- sünder werden. Fett, Salz und vor allem Zucker müssen Meine sehr verehrten Damen und Herren, man darf reduziert werden, und die Verbraucherinnen und Ver- gespannt sein, mit welcher Wende Sie demnächst um die braucher müssen klar und eindeutig durch eine verständ- Ecke kommen. Ich bin mir aber recht sicher, dass sich die liche Lebensmittelkennzeichnung über Inhaltsstoffe der Mühle des grünen Paternalismus auch in Zukunft fröh- Produkte informiert werden, lich weiterdrehen wird. (Beifall bei der LINKEN) (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen bei uns alles Frau- damit man eben weiß, was man kauft, und das, ohne mit en!) Lupe und Lexikon die Zutatenliste studieren zu müssen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8621

Amira Mohamed Ali (A) Zweitens. Jede und jeder muss sich gesundes Essen verblüffend; denn ich hätte gedacht, das wären 100 Pro- (C) leisten können. zent der Menschen. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Gesine (Beifall bei der LINKEN) Lötzsch [DIE LINKE]: Ja, genau!) Daraus schlussfolgern Sie, dass es nicht gut wäre, die Verarbeitete Lebensmittel enthalten vielfach zu viel Rezepturen der Lebensmittel jetzt zu schnell zu stark zu Fett, Salz und vor allem Zucker. In vielen Produkten verändern; denn dann würden die Produkte nicht mehr steckt viel mehr Zucker, als man vernünftigerweise er- gut schmecken. Was Sie in Wirklichkeit meinen, ist, dass warten würde. Außerdem ist vielen Produkten Zucker die Produkte dann nicht mehr den Süßegrad, auf den uns zugesetzt, bei denen man es überhaupt nicht vermutet. die Lebensmittelindustrie konditioniert hat, besitzen. Wer rechnet schon damit, dass zum Beispiel Vollkornbrot (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Renate Zuckerrübensirup enthält? Das macht das Brot schön Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) dunkel, und es wirkt dadurch vollwertiger. Verbraucher- täuschung ist das. Man muss lange suchen, um ein unge- Mit gutem Geschmack hat das nichts zu tun; denn der zuckertes Brot zu finden, und das ist dann in der Regel resultiert vor allem aus guten, hochwertigen Zutaten. Die ein teureres Biobrot. zu verwenden, schmälert aber die Gewinnspanne der In- dustrie. Wieder einmal knicken Sie vor der Lobby ein. Die Industrie liebt Zucker, weil er eine billige Art Das ist inakzeptabel. ist, das Volumen der Produkte zu erhöhen und den Ge- schmack zu intensivieren oder minderwertige Zutaten zu (Beifall bei der LINKEN) verschleiern. Bei unreifen Tomaten in der Tomatensoße Wir sprechen heute auch über einen Antrag der Grü- wird einfach nachgezuckert, um fehlendes natürliches nen zur gesunden Ernährung. Auch die Grünen fordern Aroma auszugleichen. Aber das geht so nicht! Die Linke unter anderem, dass Fertigprodukte gesünder werden, fordert eine leicht verständliche Nährwertkennzeichnung dass es gutes Essen an Kitas gibt, dass eine klare Nähr- auf der Vorderseite der Packung, damit man Produkte wertkennzeichnung erfolgt. Das ist alles richtig. Aber in mühelos miteinander vergleichen kann. Ihrem Antrag vergessen Sie völlig, dass sich nicht alle (Beifall bei der LINKEN) Menschen alles leisten können. In Ihrer Zwischenbemer- kung, Frau Kollegin, haben Sie es gerade gesagt; in Ih- Von der Lobby wird gern behauptet, dass es der Ver- rem Antrag findet man davon allerdings nichts. braucher sei, der mit seiner Kaufentscheidung diktiere, Ernährungsarmut ist bittere Realität in unserem Land, was im Supermarktregal steht. Wenn die Lebensmittel- und sie hängt mit finanzieller Armut zusammen. Im west- konzerne aber – mit Genehmigung der Bundesregie- (B) europäischen Vergleich ist die Lebenserwartung der Men- (D) rung – die Inhaltsstoffe kleingedruckt auf der Rückseite schen in Deutschland am niedrigsten. Das liegt daran, der Verpackung verstecken und sogar mit irrealen Porti- dass Menschen mit niedrigem Einkommen den Schnitt onsgrößen den echten Kaloriengehalt verschleiern dür- dramatisch nach unten reißen. Männer mit geringem Ein- fen, dann wird die Kaufentscheidung durch schöne Fotos kommen sterben im Schnitt elf Jahre früher, Frauen acht und Marketingsprüche manipuliert. Jahre früher. Das hat natürlich mehrere Gründe: Stress (Beifall bei der LINKEN) aufgrund der unsicheren Lebenssituation zum Beispiel, aber eben auch die ungesündere Ernährung. Die Branche hat den Wunsch der Verbraucher nach Transparenz inzwischen erkannt. Einige Firmen – Dano- Wer von Hartz IV betroffen ist oder ein Einkommen ne zum Beispiel – führen jetzt selbst eine farbliche auf diesem Niveau hat, hat nur wenige Euro am Tag für Kennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite ein. Da Essen und Trinken zur Verfügung. Schon vor mehr als könnte man sagen: Na, das ist ja prima! – Aber Vorsicht: zehn Jahren stellte das Forschungsinstitut für Kinderer- Ohne gesetzliche Regelung ist nicht sichergestellt, dass nährung klar, dass die Hartz‑IV-Regelsätze für eine ge- zum Beispiel Zucker nicht einfach durch ungesunde Süß- sunde Ernährung vor allem für Kinder und Jugendliche stoffe ersetzt wird oder eine Flut brancheneigener Label einfach nicht reichen. für noch mehr Verwirrung sorgt. Hier ist der Gesetzgeber (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!) gefordert. Auch darum fordert Die Linke unter anderem endlich (Beifall bei der LINKEN) Sozialleistungen, die ein menschenwürdiges Leben er- möglichen. Frau Ministerin Klöckner, Sie setzen auf eine freiwil- lige Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie. Das (Beifall bei der LINKEN) finden wir falsch. Erwarten Sie ernsthaft, dass Unterneh- men wie Nestlé und Co freiwillig etwas tun, was ihre Ge- Wir brauchen einen guten Mindestlohn. Der Niedrig- winne schmälert? Ich bitte Sie! lohnsektor muss zurückgedrängt werden. Wir brauchen eine Kindergrundsicherung. Ihre Rücksicht den Konzernen gegenüber begründen (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sie unter anderem mit dem Ergebnis einer Studie, die das Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) Ministerium in Auftrag gegeben hat. Nach dieser Studie ist es 99 Prozent der Menschen beim Kauf von Lebens- Es muss für alle Menschen leicht sein, sich gesund zu mitteln wichtig, dass sie gut schmecken. Das finde ich ernähren. Dazu gehört auch, dass gesunde, von Pestizi- 8622 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Amira Mohamed Ali (A) den und Co unbelastete Bioprodukte günstiger werden. fenden Nationalen Aktionsplan IN FORM, also Deutsch- (C) Das erreicht man, indem man die Agrarsubventionen lands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewe- konsequent den ökologisch nachhaltig wirtschaftenden gung, stärker auf Ernährungsbildung ausrichten. Durch Betrieben zugutekommen lässt und nicht – wie jetzt – die Präsenz dieser „IN FORM“-Aktivitäten in sämtlichen vor allem der Agrarindustrie. Gegen diese Agrarindustrie Medien, und zwar auch in solchen, die die Leute sehen – werden an diesem Samstag wieder viele Tausend Men- ich meine da zum Beispiel das Regionalfernsehen –, und schen auf die Straße gehen. Hier in Berlin um 12 Uhr am damit durch die Weitergabe der entsprechenden Infor- Brandenburger Tor heißt es wieder: Wir haben es satt! – mationen erhoffe ich mir auch etwas mehr Einsicht, was Meine Fraktion und ich werden dabei sein. Kochen und Ernährung angeht. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Nachhaltig lässt sich das Ernährungsverhalten nur durch verständliche Informationen verbessern – das ha- (Beifall bei der LINKEN ) ben schon viele Redner vor mir gesagt –; denn unsere Bürger – das ist meine Meinung – sollen selbstbestimmt Vizepräsidentin Claudia Roth: und selbstverantwortlich mit ihrer Gesundheit umgehen. Vielen Dank, Kollegin Mohamed Ali. – Nächste Red- Hilfreich sind Angebote, die besonders im hektischen nerin: Katharina Landgraf für die CDU/CSU-Fraktion. Alltag die gesunde Wahl erleichtern. (Beifall bei der CDU/CSU) Der moderne Mensch – das wissen wir – nimmt sich meist wenig Zeit für das Essen und greift immer häu- Katharina Landgraf (CDU/CSU): figer zu Fertigprodukten. Deshalb, denke ich, ist die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kom- Nationale Reduktionsstrategie unserer Ministerin genau me noch einmal auf die guten Vorsätze zurück; Kollegin das Richtige; denn hier haben die teilnehmenden Wirt- Hartmann hatte das auch erwähnt. Jetzt, nach den Fei- schaftsverbände im letzten Jahr eine Grundsatzverein- ertagen, haben wir ja alle gute Vorsätze: Wir wollen ge- barung unterschrieben und eine klare Zusage gegeben. sünder leben, uns mehr bewegen usw., und stellen dann Konkret bedeutet das, dass sich die Ernährungswirtschaft fest – auch heute haben wir das immer wieder gehört –: freiwillig verpflichtet, in einem mehrjährigen Prozess Das Übergewicht nimmt zu, die Menschen bewegen sich ab diesem Jahr den Gehalt an Zucker, Fett und Salz in zu wenig und essen wahrscheinlich zu viel. Das sind zum Nahrungsmitteln zu reduzieren. Außerdem ist geplant, großen Teil auch die Ursachen vieler Krankheiten, zum den Zusatz von Zucker und anderen süßenden Zutaten in Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Deshalb müssen Säuglings- und Kleinkindtees rechtlich zu verbieten. Das wir die gesundheitliche Aufklärung unbedingt stärker mit ist wirklich sehr gut – und noch besser wäre es, wenn die (B) den Themen „gesunde Ernährung“ und „Bewegung“ ver- Mütter den Tee selbst kochten, finde ich. (D) binden. (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast Marlene Mortler sagte schon, es wäre darum gut, [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Väter wenn wir eine solide und dem Alter entsprechende Er- auch!) nährungsberatung regional und auch vor Ort organisieren – Die Väter auch, Entschuldigung, ja, gerade heute muss könnten. Da müssen wir noch einmal mit den Ländern man das sagen. verhandeln. Auf jeden Fall beginnt das in den Kinder- gärten, geht mit dem gesunden Schulessen weiter und Bis Ende des Jahres sollen die entsprechenden recht- begleitet uns das ganze Leben. Ich persönlich setze mich lichen Regelungen getroffen werden. Bis zum Jahr 2025 für eine Mehrwertsteuersenkung für gesundes und zerti- werden die Zielmarken erreicht sein, hoffe ich. Ein wei- fiziertes Schulessen ein. Ob ich das noch erreiche, weiß terer Schritt: Die gesunde Wahl ist durch eine einfache ich nicht, aber ich sage es ganz offen: Das wäre was! und deutliche Kennzeichnung der Lebensmittel zu er- leichtern; das finden auch wir richtig. Ich denke, Kollege (Zuruf von der SPD: Kostenloses Essen!) Kees de Vries wird das noch erklären. Und ich will mehr für Ernährungsbildung tun; das ist Meine Damen und Herren, Erwachsene verbringen nämlich entscheidend für die Entwicklung und Festigung den größten Teil ihrer Lebenszeit am Arbeitsplatz. Das der Ernährungskompetenz eines jeden Menschen. Das beeinflusst auch ihre Gesundheit. Daher sind eine gesun- sollte stärker als bisher auch von den Gesundheitspoliti- de Ernährung und ausreichende Bewegung vor, während kern betrachtet werden und dauerhaft in alle Präventions- und nach der Arbeit zur Verbesserung des Wohlbefindens maßnahmen einfließen. wichtiger denn je. Im Alter wird es immer wichtiger, die (Beifall des Abg. [SPD]) eigene Fitness durch ein gesundheitsbewusstes Verhal- ten zu erhalten. Der Körper, aber auch die täglichen Ge- Denn Ernährungsbildung ist ein zentraler Punkt im le- wohnheiten und Fähigkeiten ändern sich. Hinzu kommt, benslangen Lernen für jedermann, der wirklich weit über dass mit den Jahren das natürliche Hunger- und Durstge- die Kindergarten- und Schulzeit hinausgeht – auch für fühl abnimmt und das Essen weniger intensiv schmeckt. uns. Ich komme noch einmal auf die Gruppe der Älteren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zurück. Wir müssen diese Menschen unterstützen, dass Wir wollen Menschen für einen gesunden Lebensstil sie sich ausgewogen und ihren Lebensumständen ent- begeistern und sie auf dem Weg dorthin unterstützen. sprechend angemessen ernähren können. Mangel- und Meiner Ansicht nach sollten wir den seit zehn Jahren lau- Fehlernährung in dieser Gruppe wurden schon festge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8623

Katharina Landgraf (A) stellt, auch bei uns im reichen Deutschland, weil sie eine grün, trinken Sie grün, aber bitte nicht unsere geschätzten (C) andere Form der Ernährung brauchen. Kollegen von der grünen Partei. Chlorophyll ist nämlich grünes Sonnenlicht und eines der wirksamsten lebens- Deutschland insgesamt soll ein Land der gesunden spendenden Substanzen auf unserem Planeten. Je mehr Ernährung und Wertschätzung von Lebensmitteln sein. Chlorophyll ein Lebensmittel enthält, umso höher ist sein Das ist meine Botschaft. Sie klingt doch viel positiver als gesundheitlicher Nutzen. das, was meine Vorrednerin sagte. Ich denke, das schaf- fen wir auch. Das wollen wir nicht durch Vorschriften Gesunde Ernährung ist ein sehr wichtiges Thema. zu Ernährungsweisen oder durch Verbote erreichen; denn Viele Kinder, aber auch Erwachsene wissen nicht genau, wir können den Menschen nicht vorschreiben, was sie was es bedeutet, und schaffen es auch nicht, sich im All- essen oder trinken sollen. Essen und Trinken sind eine tag gesund zu ernähren. Darin liegt aber das Fundament höchst persönliche Angelegenheit, weil jeder Mensch unserer Gesundheit. Wir hungern mit Übergewicht, weil und dessen Organismus auf Nahrungsmittel unterschied- unsere Lebensmittel nicht mehr die Nährstoffe, die wir lich reagieren. brauchen, enthalten. Viele Lebensmittel sind industriell so verarbeitet und mit Zusatzstoffen versetzt, dass sie den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Namen „Lebensmittel“ nur bedingt verdienen. der FDP) Ich schließe mit dem Zitat des Urvaters der Medizin, Allerdings sollte ein jeder spüren, welche Menge für ihn Hippokrates: Eure Nahrung soll eure Medizin sein, und ideal ist. Dabei muss man nicht immer an Kalorien den- eure Medizin soll eure Nahrung sein. ken, oft hilft auch ein kleinerer Teller. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) Wir dürfen nicht so verkrampft an das Thema heran- gehen. Letztens hörte ich den schönen Satz: Früher haben wir gegessen, heute ernähren wir uns. – Meine Damen Vizepräsidentin Claudia Roth: und Herren, bei aller Wichtigkeit der Ernährungsbildung Vielen Dank, Kollege Podolay. – Nächste Rednerin: müssen wir aufpassen, dass der Genuss und das gute Ge- Dr. Frauke Petry. fühl nicht auf der Strecke bleiben. Vielleicht sollten wir (Beifall des Abg. Mario Mieruch [fraktions- wieder lernen, mehr auf unseren Körper zu hören, und los]) essen, was uns gut tut. Dann klappt es auch mit der ge- sunden Ernährung und mit den guten Vorsätzen. Dr. Frauke Petry (fraktionslos): (B) Vielen Dank. Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Herren! Erst die Energiewende, dann die Verkehrswende und nun also, liebe Grüne, die Ernährungswende.

Vizepräsidentin Claudia Roth: (Johann Saathoff [SPD]: Das haben wir schon Vielen Dank, Katharina Landgraf. – Nächster Redner: mal gehört!) Paul Viktor Podolay für die AfD-Fraktion. Die Frage bleibt nur: Wohin wollen Sie uns diesmal wen- den? Mal ist es Fett, dann Zucker, dann Kohlenhydra- (Beifall bei der AfD) te, die von Wissenschaftlern als Übeltäter gebrandmarkt werden. Die Wellen der medialen Aufregung, der Markt Paul Viktor Podolay (AfD): der vermeintlichen Wellnessprodukte kommen und ge- Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Her- hen, aber eines bleibt konstant: Vieles, was vor allem ren! Die Bedeutung gesunder Ernährung für unsere Ge- Kindern schmeckt – Süßes und Fettes –, ist lecker, aber sundheit wird eigentlich von niemandem bestritten. Sie nicht gesund. Gesund und lecker zu kochen, muss gelernt ist ein wesentliches Mittel zur medizinischen Präventi- werden. on von Erkrankungen. Daher sollte sie auch einen ho- Ihre Ampel soll die Probleme lösen, ist aber, wie ich hen Stellenwert in der Gesundheitspolitik haben, damit denke, eine Kopfgeburt; denn im Ernstfall schmecken Krankheiten gar nicht erst entstehen. Um das Wissen ein bis zwei Tiefkühlpizzen nach der Schule nun einmal über gesunde Ernährung in der Bevölkerung zu veran- besser als eine Gemüsepfanne mit Reis. Das höre ich zu- kern, ist und bleibt Ernährung natürlich eine Bildungs- mindest ständig von meinem 14-jährigen und stets hung- frage, aber nicht nur. rigen Sohn. Ernährung als medizinische Präventivmaßnahme (Dr. [AfD]: Das geht ja gar muss auch in den praktischen Alltag der Bevölkerung nicht! – Dr. Franziska Brantner [BÜND- integrierbar sein. Selbst zu kochen, ist bei weitem nicht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie kochen nur ein Genuss. Auch das Einkaufen gestaltet sich häu- vielleicht! Bei uns schmeckt es!) fig schwierig. Die erforderliche Zeit und Kraft fehlen im Alltag vieler Menschen. Die Anforderungen im Beruf Anstatt den Bürgern nun auch noch vorzuschreiben, wachsen, und man schlägt sich mit Fastfood durch. Da- wie sie sich zu ernähren haben, brauchen wir Vorschläge, bei kann man die schnelle Mahlzeit auch gesundheitsför- wie den Bürgern mehr Geld im Portemonnaie für gutes dernd zu sich nehmen, zum Beispiel mit grünen Smoo- Essen und mehr Zeit für die eigene Zubereitung zu Hause thies, die ich persönlich sehr empfehlen kann. Essen Sie bleibt. Ein Großteil der Menschen hat verlernt, für sich 8624 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Frauke Petry (A) selbst zu sorgen und zu kochen. Um diese Unmündigkeit Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) zu beheben, schlagen Sie vor, das Produkt auszuwech- Vielen Dank, Frau Petry. – Nächster Kollege: Johann seln: Quinoasalat statt Currywurst. Saathoff für die SPD-Fraktion. ( [SPD]: Ist auch gesün- (Beifall bei der SPD) der!)

Statt Hilfe zur Selbsthilfe nehmen Sie den Bürger wieder Johann Saathoff (SPD): einmal an die Leine und verstärken so seine Unmündig- keit. Dass es viel wichtiger wäre, wieder zu lernen, den Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Wert des Kochens und des gemeinsamen Familienessens Kollegen! Die Grüne Woche eröffnet heute, eine Leis- kennenzulernen, dass der Gegensatz zu Fast Food nicht tungsschau für die Landwirtschaft, eine Verbrauchermes- Green Food, sondern Slow Food lautet, habe ich dem Pa- se auch für Essen und Trinken. Das wissen die Menschen pier leider nicht entnehmen können. in Berlin und der ganzen Bundesrepublik Deutschland.

Kantinenessen kann natürlich besser werden. Auch Essen ist mehr als die Aufnahme von Nahrungsmit- gegen eine lebendige Restaurantszene ist nichts einzu- teln. Essen kann und muss auch Genuss sein. Essen kann wenden. Aber anstatt komplizierter Papiertiger zur wei- und sollte Erlebnis sein. Und Essen kann und muss man teren staatlichen Mietpreis- und Mietrechtsregelung geht auch lernen. Deswegen würde ich uns raten, noch einmal es auch viel einfacher: Helfen Sie uns, zum Beispiel den einen besonderen Blick auf die Mensen in den Kinder- Mehrwertsteuersatz auf Kantinen- und Restaurantessen tagesstätten und Schulen zu werfen. Dazu gehört auch, auf 7 Prozent zu senken. Das müssen Sie den Bürgern dass Kinder in den Mensen der Schulen nicht abgewie- auch gar nicht kompliziert erklären. sen werden, wenn die Eltern zum Beispiel das Geld nicht überwiesen haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Esskultur erhält sich über gelebte Tradition, über das (Beifall bei der SPD) gemeinsame Kochen und über die Freude am gemein- samen Essen. Wie man aus selbst gepflückten Kirschen Aus meiner Sicht darf gute Ernährung generell, aber Marmelade macht, ein ganzes Huhn kocht, anstatt nur besonders bei Schülerinnen und Schülern nicht vom Hühnerbrust zu grillen, Fisch entgrätet oder Blumenkohl Geldbeutel abhängig sein. Deswegen sollten wir alle mit- zubereitet, lernt man am besten von Großeltern und El- einander nicht nur darüber nachdenken, ob Verpflegung tern – mit den schokoladenverschmierten Fingern in der in Schulen und Kitas mehrwertsteuerfrei oder weitestge- Teigschüssel oder beim Kosten aus dem Soßentopf. Die (B) hend mehrwertsteuerbefreit sein sollte, sondern darüber, (D) Kantinenkultur ist nicht das Allheilmittel für besseres Es- ob sie kostenlos sein sollte, meine Damen und Herren. sen, sie hat leider auch einen Anteil an dem Verlust von Wissen und Tradition in der familiären Kochkultur, auch (Beifall bei der SPD) wenn ich über jede gute Schulkantine froh bin. Generell ist es nicht einfach, sich gesund zu ernäh- Ihr pessimistischer grüner Blickwinkel prophezeit ren. Selbst wenn einem bewusst ist, dass zu viel Zucker, uns, dass wir unser Essen am liebsten nur im Laufen oder Salz oder Fett ungesund sind, kann man sich noch lange höchstens in ökologischen Cafés und Food Start-ups nicht einfach gesund ernähren, weil es keine transparente einnehmen, die Sie am liebsten mit diesem Programm Kennzeichnung der Lebensmittel gibt. Deshalb, glaube fördern wollen. Eine Politik, die eine Gemeinschaftsver- ich, kommen wir um die Lebensmittelampel nicht herum. pflegung – was für ein Wortmonster – von Kindern zur Schauen Sie sich in der Welt um: Ganz viele Länder ha- Hauptmahlzeit erhebt, hat resigniert und zeichnet eine ben eine transparente Ampelkennzeichnung, und der Un- düstere gesellschaftliche Prognose. Solche Politik traut tergang des Abendlandes ist dadurch nicht eingeläutet. Eltern nicht zu, dass sie ihre Kinder richtig ernähren, Mir will einfach nicht einleuchten, welches Argument bekochen und erziehen. Wer von Gemeinschaftsverpfle- dagegen spricht, die Menschen auf einen Blick darüber gung spricht, erniedrigt das gemeinsame Essen zudem zu informieren, ob ein Lebensmittel zu viel oder zu we- zur funktionellen Nahrungsaufnahme. nig Zucker enthält.

Wir brauchen keine Ernährungswende, liebe Grüne, (Beifall bei der SPD) und keine vom Steuerzahler finanzierten Verbote, Regle- mentierungen oder Förderprogramme für vermeintlich Zucker, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen gesunde Nahrungsanbieter. Wir brauchen eine vernünf- und Kollegen, hat übrigens viele Namen: Saccharose, tige Familien-, Steuer- und Bildungspolitik und ausrei- Dextrose, Dicksaft, Glukose, Maltose, Fruktose, Lakto- chend Zeit zum gemeinsamen Kochen und Essen. se – das sind nur ein paar ausgewählte Namen. Man muss sich das mal vorstellen: Man kann Zucker nicht nur in Guten Appetit! Lebensmitteln verstecken, sondern man kann auch den Begriff verstecken. Man ahnt einfach nicht, was man (Beifall des Abg. Mario Mieruch [fraktions- mit einem vermeintlich gesunden Frühstück mit Müsli, los] – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE Frühstücksflocken, Smoothie und Joghurt zu sich nimmt. GRÜNEN]: Jetzt könnte ich sagen: Wer zwei Damit hat man letzten Endes schon das empfohlene Ta- Mandate hat, hat auch noch Zeit dafür!) gesvolumen an Zucker aufgenommen. Das Problem ist Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8625

Johann Saathoff (A) nicht, dass man sich ungesund ernähren möchte, sondern rige Lebensmittel für karitative Zwecke abzugeben. Ich (C) dass man nicht erkennen kann, dass man es tut. halte das für eine gute Idee.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Kirsten der LINKEN und der Abg. [BÜND- Tackmann [DIE LINKE] und Renate Künast NIS 90/DIE GRÜNEN]) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Liebe Kolleginnen und Kollegen, in einem Antrag, Es kann auch nicht im Interesse der Landwirtschaft der uns vorliegt, macht man sich Sorgen, dass nur die sein, dass die hochwertigen Produkte, die die Bäuerinnen Deutschen zu dick werden. Die anderen vorliegenden und Bauern jeden Tag anbauen und erzeugen, mit Zucker Anträge sind in großen Teilen deckungsgleich. Vielleicht zugekleistert werden. In Deutschland verbrauchen die ist das auch eine gute Grundlage, politische Scharmüt- Menschen – das ist Fakt – nun mal doppelt so viel Zu- zel zur Seite zu legen und mal zu gucken, ob wir nicht cker, wie die Weltgesundheitsorganisation uns empfiehlt, alle miteinander das Gleiche wollen. Mit gutem Willen und von Fett und Salz will ich da gar nicht erst reden. bekommen die demokratischen Parteien im Hause einen Die Undurchsichtigkeit bei den Lebensmitteln muss interfraktionellen Kompromiss hin. Oder, wie man in jetzt endlich ein Ende haben. Fehlernährung macht näm- Ostfriesland sagt: De Brügg för’t Tosamenkomen heet lich nicht nur keinen Spaß, sie reduziert auch die Le- Tomöötkomen. – Mit anderen Worten: Die Brücke der benserwartung. Fehlernährung ist für die Gesellschaft Begegnung heißt Entgegenkommen. – In dieser Sache ist sehr, sehr teuer. Mehr als das Doppelte der EEG-Umlage es unsere Mühe allemal wert. kostet Fehlernährung im Jahr – das muss man an dieser Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Stelle auch mal sagen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Meine Mutter sagte früher, als ich noch Kind war, zu mir: An Zucker sparen, grundverkehrt, weil Zucker doch

den Körper nährt. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Herr Saathoff. Ich habe schon auf Ihren (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- plattdeutschen Satz gewartet, aber er ist ja gekommen. NEN]: Ach!) Ich habe gedacht, Sie sagen das, was Ihre Mama gesagt hat, in Ihrer eigenen Sprache. – Nächste Rednerin: Nicole Heute müsste es eigentlich anders heißen: Zucker essen, Bauer für die FDP-Fraktion. (B) grundverkehrt, weil zu viel Zucker fehlernährt. (D) (Beifall bei der FDP) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Nicole Bauer (FDP): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Heute, in dieser Debatte, wollen wir auch eine Diskus- und Kollegen! Heute Abend beginnt die Grüne Woche, sion über den Wert der Lebensmittel miteinander führen, die ihresgleichen sucht. In den verschiedenen Hallen also über den Wert der Mittel, die zum Leben notwendig gibt es Leckereien aus unterschiedlichen Regionen der und wertzuschätzen sind. Die Lebensmittelverschwen- Welt, und wir können die neuesten Food-Trends auspro- dung in Deutschland ist aus meiner Sicht unverantwort- bieren. Aber im Gegensatz zu Craft Beer, Superfood und lich. Fake-Fleisch gar nicht en vogue sind die alarmierenden (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zahlen zu Fehlernährung, Adipositas und Herz-Kreis- lauf-Erkrankungen, die allesamt auf eine ungesunde Le- Ein Drittel der Lebensmittel, die produziert werden, bensweise zurückzuführen sind. werden nicht verbraucht, sondern vernichtet. Ich glaube, Liebe Fraktion der Grünen, Sie haben es richtig er- dass das kein angemessener Umgang mit den Produkten kannt und haben auch einige Probleme aufgeführt. Nur: der Bäuerinnen und Bauern in Deutschland ist, Was Sie vorschlagen, ist mal wieder regulatorisch und lenkend. Wir kennen das von Ihnen. Ich sage dazu nur: (Beifall der Abg. Marlene Mortler [CDU/ Veggieday. Gestalten statt Verbieten – das sollte die De- CSU]) vise sein; denn wir sind die Vertreter unseres Volkes und ganz zu schweigen vom Wasserverbrauch und vom nicht dessen Erzieher. CO2-Ausstoß, der damit verbunden ist. (Beifall bei der FDP) Wir haben im Koalitionsvertrag dazu was geschrieben, Wir müssen anfangen, Wissen über eine gesündere Frau Ministerin, nämlich: „Wir wollen dazu beitragen, Lebensweise in unserer Gesellschaft zu verankern; aber … die Lebensmittelverschwendung einzudämmen.“ Ich das schaffen wir nur über Kitas und Schulen. Gemeinsam glaube, dass wir das noch engagierter angehen können. mit den Bundesländern sollten wir eine Strategie erar- Vielleicht sollten wir auch den Mut haben, alle miteinan- beiten, wie wir das Thema „Gesundheit und Ernährung“ der mal darüber nachzudenken, ob der Lebensmittelein- besser bespielen können; denn Kinder übernehmen nun zelhandel nicht auch verpflichtet werden sollte, überjäh- mal die meisten Verhaltensweisen ihrer Eltern – ob sie 8626 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Nicole Bauer (A) Wasser oder Spezi trinken, ob sie Fertigprodukte oder Ich will mit einem großen Dankeschön an alle Bäue- (C) doch Frischgekochtes auf den Tisch bekommen. Genau rinnen und Bauern anfangen, die es uns überhaupt mög- deshalb sollten wir bei den Erwachsenen ansetzen und lich machen, dass wir uns heute so kritisch mit unserer dafür Bewusstsein schaffen. Ernährung auseinandersetzen. Das kann sich nämlich nur eine Gesellschaft leisten, die sich sicher ist, sich jeden Wir sehen doch alle, dass Handlungsbedarf herrscht, Tag mit allem, was man begehren kann – und dies bei entweder im näheren Umfeld oder in der gesamten Ge- einer überschaubaren finanziellen Belastung –, versorgen sellschaft. Der Verbraucher möchte beim Einkaufen ger- zu können. ne eine Kennzeichnung von Lebensmitteln haben. Aber aus unserer Sicht ist die Ampel der falsche Weg. Was (Beifall bei der CDU/CSU) wir uns stattdessen vorstellen können, sind Nährwert- Dass das noch nicht so lange selbstverständlich ist, tabellen, die optisch ansprechend, intuitiv verständlich kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung bestätigen. In mei- und alltagstauglich in Diagramme übergeführt werden. ner Jugend hatten meine Eltern mit ihrem kleinen Bau- Sinnvolle Initiativen der Wirtschaft sollten wir auch nicht ernhof und zwölf Kindern nicht die Möglichkeit, uns kleinreden, sondern eigentlich unterstützen. das vorzusetzen, was wir gerne hätten. Wir haben das (Beifall bei der FDP) gegessen, was vorhanden war – manchmal auch das, was Gemüsebauern uns wegen Überproduktion als Kuhfutter Wichtig ist mir dabei die Wertschätzung unserer Le- zur Verfügung gestellt haben. bensmittel im Allgemeinen, vor allem aber die Regio- nalität. Denn nein, unser Obst wächst nun mal nicht im Zum Glück ist das heute dank moderner Landwirt- Regal des Supermarktes. Daher sollten wir auch nicht schaft alles anders. Wir haben in Deutschland eine enor- immer unsere Landwirte an den Pranger stellen, die uns me Vielfalt an hochwertigen Lebensmitteln. Und das tagtäglich hochwertige Lebensmittel zur Verfügung stel- führt zu unserem Problem. Dieser Wohlstand verführt len. Es wird – da muss ich Ihnen recht geben – noch viel zu einer zu guten Ernährung – der aufmerksame Zuhörer zu viel weggeworfen. Deshalb ist es auch wichtig, dazu kann es gerade am Redner feststellen –, was in Kombina- sinnvollere Initiativen auf Bundesebene zu finden. tion mit zu wenig Bewegung und dem Essen verkehrter Produkte gesundheitliche Störungen hervorrufen kann. Die Nationale Reduktionstrategie der Bundesregie- rung für Zucker, Fett und Salz ist gut und recht, aber sie Da gleichzeitig viele Menschen kaum noch selber Ba- ist kein ganzheitlicher Ansatz. Es wird auch immer mehr sisprodukte verarbeiten, ist auch viel Wissen über ausge- Müll dadurch erzeugt, dass weniger Inhalt in den Verpa- wogene Ernährung verloren gegangen. Wir sind schon so ckungen ist, und es fehlt nun mal ein dezidierter Zeitplan. weit gekommen, dass für viele das Mindesthaltbarkeits- datum das Kriterium ist, ob ein Produkt noch konsumiert (B) Denn wenn wir tatsächlich Zucker und Fette reduzieren (D) wollen, brauchen wir Zeit für den Umstellungsprozess. werden kann. (Marianne Schieder [SPD]: Ja, leider!) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Was?) Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir Methoden finden wollen, um dem Verbraucher zu helfen, sich ge- Stattdessen ist es ein guter Weg, unsere Lebensweise sund zu ernähren, umzustellen. Dazu gehören eine ausgewogene Ernäh- rung, mehr Bewegung, mehr Schlaf und weniger Stress. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. So kann der Kampf gegen die Zivilisationskrankheiten Marianne Schieder [SPD]) gewonnen werden. Deshalb: Lassen Sie uns bei uns wobei ich schon der Meinung bin, dass der Mensch auch anfangen. Lassen Sie uns gemeinsam unseren eigenen eine eigene Verantwortung hat. Das heißt: Wir wollen Schweinehund überwinden. Packen wir es also an: Ge- keine Ge- oder Verbotsregelungen, nur eine Hilfestel- stalten statt Regulieren. lung. (Beifall bei der FDP) Wir haben im Koalitionsvertrag festgeschrieben: Transparenz und Information für Verbraucherinnen Vizepräsidentin Claudia Roth: und Verbraucher soll durch eine verständliche und Vielen Dank, Nicole Bauer. – Nächster und letzter vergleichbare Lebensmittelkennzeichnung gewähr- Redner in dieser Debatte: Kees de Vries für die CDU/ leistet werden, um eine ausgewogene Ernährung zu CSU-Fraktion. erleichtern. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf des Abg. Rainer Spiering [SPD]) – Mehrere wahrscheinlich, aber unter anderem das steht Kees de Vries (CDU/CSU): darin. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- (Rainer Spiering [SPD]: Die farbliche Kenn- ginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und zeichnung ist mit drin!) Herren! Als Milchbauer und damit als Erzeuger auch Ih- rer Nahrungsmittel freue ich mich sehr, dass ich gerade Dafür brauchen wir ein Nährwertkennzeichnungssys- heute, am Eröffnungstag der weltweit größten Leistungs- tem, dessen Informationen der Verbraucher leicht verste- schau der Land- und Ernährungswirtschaft, zu diesem hen kann. Nachbarländer wie Belgien oder Frankreich Thema hier im Deutschen Bundestag sprechen darf. machen es uns vor. Da kann auch der nicht gebildete Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8627

Kees de Vries (A) Verbraucher auf einen Blick, unterstützt durch eine ein- Ich hoffe, dass diese Debatte dazu beitragen wird, dass (C) fach zu lesende fünfstufige Farbskala, erkennen, wie die der Verbraucher sich dessen bewusst wird, und danke Ih- Nährwertelemente je 100 Gramm zu bewerten sind. nen für die Aufmerksamkeit.

(Beifall des Abg. Rainer Spiering [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und der FDP) Dass die Kennzeichnung von Lebensmitteln wichtig ist, ist wohl unumstritten. Noch wichtiger ist es meines Erachtens aber, unseren Kindern bei der Zubereitung Vizepräsidentin Claudia Roth: und der Einnahme von gemeinsamen Mahlzeiten Wissen Vielen Dank, Kees de Vries. – Damit schließe ich die über Herkunft und Bedeutung von Lebensmitteln zu ver- Aussprache. mitteln. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Natürlich ist das in erster Linie eine familiäre Ange- den Drucksachen 19/6441, 19/7033 und 19/7025 an die legenheit. Aber ich habe bei der Kindertafel in meinem in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Heimatort Zerbst erlebt, dass die Leitung dort versucht, schlagen. Sie sind sicher damit einverstanden. – Dann über das Vermitteln von Know-how an Kinder diese dazu sind die Überweisungen so beschlossen. zu bringen, ihre Eltern zu motivieren, mal wieder selber eine Mahlzeit zuzubereiten. Die Hoffnung ist, dass die Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 e sowie Kinder dann sozusagen ihre Eltern dabei anleiten. Das Zusatzpunkt 2 auf: Beispiel wird nicht pauschal auf bestimmte Gruppen in 25 a) Erste Beratung des von der Bundesregie- unserer Gesellschaft zutreffen. Aber gerade diese Men- rung eingebrachten Entwurfs eines Dritten schen gehören doch zu unserer Zielgruppe, über die wir Gesetzes zur Änderung des BDBOS-Ge- heute diskutieren. setzes Ich habe mich dann auch sehr über erste Kitas gefreut, Drucksache 19/6547 in denen kindgerechte Küchen eingebaut wurden, um den Kleinen so den Umgang mit Lebensmitteln bewuss- Überweisungsvorschlag: ter zu machen. Hier ist aber noch viel Luft nach oben. Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Verteidigungsausschuss Trotzdem: Nur ein solches Wissen kann langfristig Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss flächendeckend dazu beitragen, bewusst mit Lebensmit- (B) teln umzugehen. Mit „bewusst“ meine ich an dieser Stel- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung (D) le nicht nur bewusst mit Blick auf die eigene Gesundheit, eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur sondern auch bewusst mit Blick auf die Ressource Nah- Revision 3 des Übereinkommens vom rungsmittel. 20. März 1958 über die Annahme einheit- licher technischer Vorschriften für Rad- Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Rahmen fahrzeuge, Ausrüstungsgegenstände und unserer Debatte wurde heute viel über gesunde Produk- Teile, die in Radfahrzeuge(n) eingebaut te und eine sinnvolle Kennzeichnung von Lebensmitteln und/oder verwendet werden können, und gesprochen. Man könnte aber fast den Eindruck bekom- die Bedingungen für die gegenseitige An- men, dass die Probleme so groß sind, dass die meisten erkennung von Genehmigungen, die ge- Nahrungsmittel uns schneller ins Grab bringen, als uns mäß diesen Vorschriften erteilt wurden lieb ist. Deshalb ist es mir schon ein Bedürfnis, am heuti- gen Tag der Eröffnung der Grünen Woche einen Wurstfa- Drucksache 19/6548 brikanten zu zitieren, der folgenden Spruch geprägt hat: In den 50er-Jahren brauchte man 50 Jahre, um sich zu Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) vergiften, heute mindestens 80. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Kirsten c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tackmann [DIE LINKE]: Also rechtzeitig an- Markus Tressel, Renate Künast, Tabea fangen, oder wie?) Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Liebe Renate Künast, ich frage mich, ob man dann be- haupten kann, dass unser Ernährungssystem gescheitert Fluggastrechte besser durchsetzen, Ver- ist. braucherinnen und Verbraucher bei In- solvenzen schützen Was ich damit aber eigentlich sagen wollte, ist Fol- gendes: Die heute angebotenen Lebensmittel, egal ob aus Drucksache 19/6277 konventioneller Landwirtschaft, aus Biolandwirtschaft Überweisungsvorschlag: oder nicht GVO-frei, sind alle unbedenklich und meis- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) tens auch gesund, wenn man sich vernünftig ernährt und Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur alles in Maßen genießt. Ausschuss für Tourismus 8628 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten überweisen. – Sie sind damit einverstanden. Dann sind (C) Roman Johannes Reusch, Stephan Brandner, die Überweisungen so beschlossen. Jens Maier, weiterer Abgeordneter und der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 sowie die Zu- Fraktion der AfD satzpunkte 3 a und 3 b auf. Es handelt sich um die Be- Kundenschutz bei Insolvenzen von Flug- schlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- gesellschaften che vorgesehen ist. Drucksache 19/7035 Tagesordnungspunkt 26: Überweisungsvorschlag: Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur wurfs eines Ausschuss für Tourismus Gesetzes zu dem Abkommen vom 14. August 2017 zwischen der Bundesrepu- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten blik Deutschland und der Republik Mauritius Katharina Dröge, Dr. Frithjof Schmidt, Anja über den Luftverkehr Hajduk, weiterer Abgeordneter und der Drucksache 19/6289 Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- zu dem Vorschlag für einen Beschluss schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur des Rates zur Unterzeichnung des In- (15. Ausschuss) vestitionsschutzabkommens zwischen der Europäischen Union und ihren Mit- Drucksache 19/7049 gliedstaaten einerseits und der Sozialis- Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur tischen Republik Vietnam andererseits empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- im Namen der Europäischen Union che 19/7049, den Gesetzentwurf der Bundesregierung KOM(2018) 694 endg.; Ratsdok. 13314/18 auf Drucksache 19/6289 anzunehmen. und Zweite Beratung zu dem Vorschlag für einen Beschluss des und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Rates zur Unterzeichnung des Freihandels­ Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – abkommens zwischen der Europäischen Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Union und der Sozialistischen Republik Vi- entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/ (B) etnam im Namen der Europäischen Union CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen. Dagegen- (D) KOM(2018) 692 endg.; Ratsdok. 13312/18 gestimmt hat die Fraktion Die Linke, enthalten hat sich hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- die Fraktion der AfD. desregierung gemäß Artikel 23 Ab- Sie mussten sich sofort erheben, weil es nur eine zwei- satz 3 des Grundgesetzes te Lesung gibt, da es ein Vertragsgesetz ist. Es gab, glau- Freihandelsabkommen mit Vietnam fair be ich, gerade Rückfragen, warum Sie sich gleich erhe- nachverhandeln – Investitionsschutzab- ben mussten. Zu Vertragsgesetzen findet nur eine zweite kommen ablehnen Lesung statt. Drucksache 19/7060 Zusatzpunkt 3 a: Überweisungsvorschlag: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Auswärtiger Ausschuss Gesetzes zur Änderung des Tabakerzeugnis- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe gesetzes Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Drucksachen 19/4461, 19/4730, 19/4944 Nr. 7 Union Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate ses für Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- Künast, Harald Ebner, Friedrich Ostendorff, schuss) weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 19/7085 Wildtierhaltung im Zirkus jetzt beenden Der Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Drucksache 19/7057 che 19/7085, den Gesetzentwurf der Bundesregierung Überweisungsvorschlag: auf Drucksachen 19/4461 und 19/4730 anzunehmen. Ich Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- len, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter ten Verfahren ohne Debatte. Beratung angenommen. Zugestimmt haben die Fraktio- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an nen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu AfD. Dagegengestimmt haben die Fraktion der FDP und Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8629

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) die Fraktion der Linken. Enthaltungen gibt es keine. Der diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – (C) Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom- Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist ange- men. nommen. Zugestimmt haben die Fraktionen SPD, CDU/ CSU, FDP und AfD, dagegengestimmt hat die Fraktion Dritte Beratung Die Linke, enthalten hat sich die Fraktion Bündnis 90/ und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Die Grünen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe- Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- ben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. be c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/ sache 19/1795 mit dem Titel „Bildungsgerechtigkeit CSU und AfD. Ein fraktionsloser Kollege hat sich da- schafft Zukunftsfähigkeit – Aus- und Weiterbildung ga- gegen ausgesprochen, genauso wie die Fraktionen der rantieren, Fachkräfte sichern“. Wer stimmt für diese Be- Linken und der FDP. schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Zusatzpunkt 3 b: hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben die Fraktionen SPD, CDU/CSU, FDP Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und AfD, dagegengestimmt hat die Fraktion Bündnis 90/ richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Die Grünen, und enthalten hat sich die Fraktion Die Lin- und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) ke. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Jens Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: Brandenburg (Rhein-Neckar), Katja Suding, Nicola Beer, weiterer Abgeordneter und der Aktuelle Stunde Fraktion der FDP auf Verlangen der Fraktion der AfD Ein Update für die berufliche Bildung – Zustand der EU – Deutsch-Französische Son- Exzellenzinitiative, Digitalisierung und fle- derwege xible Ausbildungsstrukturen auf den Weg bringen Erster Redner: Dr. Alexander Gauland für die Fraktion der AfD. – zu dem Antrag der Abgeordneten ­Birke Bull-Bischoff, Dr. Petra Sitte, Doris (Beifall bei der AfD) Achelwilm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Dr. Alexander Gauland (AfD): (B) (D) Jungen Menschen eine gute Ausbildung Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am ermöglichen und die Ausbildungsqualität 22. Januar will die Bundeskanzlerin mit Frankreichs verbessern Staatschef Macron in Aachen – gewissermaßen unter den Augen Karls des Großen – einen neuen deutsch-franzö- – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate sischen Freundschaftsvertrag schließen. Eigentlich han- ­Walter-Rosenheimer, Kai Gehring, Dr. Anna delt es sich um zwei Verträge. Ein deutsch-französisches Christmann, weiterer Abgeordneter und der Parlamentsabkommen wurde bereits im November un- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN terzeichnet. Der zweite und eigentliche Vertrag zwischen Bildungsgerechtigkeit schafft Zukunftsfä- der Bundesrepublik und der Französischen Republik ist higkeit – Aus- und Weiterbildung garantie- vertraulich. Sein Inhalt wurde der Öffentlichkeit bis jetzt ren, Fachkräfte sichern vorenthalten. Erst gestern bekamen ihn die Bundestags- abgeordneten mit einem Vertraulichkeitsvermerk zu- Drucksachen 19/1835, 19/1830, 19/1795, geschickt. Über den Grund kann ich nur Vermutungen 19/7070 anstellen: Entweder die Sache ist so belanglos, dass man die Bürger nicht damit traktieren will, oder es gehört in- Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp- zwischen einfach zum Stil der Regierung, dem Volk ge- fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der genüber Diskretion zu wahren. Fraktion der FDP auf Drucksache 19/1835 mit dem Titel „Ein Update für die berufliche Bildung – Exzellenziniti- (Beifall bei der AfD – Florian Hahn [CDU/ ative, Digitalisierung und flexible Ausbildungsstrukturen CSU]: An den Haaren herbeigezogen!) auf den Weg bringen“. Wer stimmt für diese Beschluss- empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen Schauen wir nach Frankreich, meine Damen und Her- sehe ich keine. Die Beschlussempfehlung ist angenom- ren. Die Proteste der Gelbwesten gegen die Regierung men. Zugestimmt haben die Fraktionen Die Linke, SPD, hören nicht auf. Seit Wochen toben Straßenschlach- Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU und AfD, dagegen- ten – und dieses Wort ist wörtlich zu nehmen – zwischen gestimmt hat die FDP. den Demonstranten und der Polizei. Die Protestler sind durchschnittliche Franzosen, keine Feinde der Republik. Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- Die auf zahlreichen Videos bezeugte polizeiliche Gewalt fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der gegen sie ist maßlos. Es gibt inzwischen mindestens zehn Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/1830 mit dem Ti- Tote, die Zahl der Verletzten liegt im vierstelligen Be- tel „Jungen Menschen eine gute Ausbildung ermöglichen reich, ebenso die Zahl der Inhaftierten. Im Nachbarland und die Ausbildungsqualität verbessern“. Wer stimmt für herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. 8630 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Alexander Gauland (A) Liebe Kollegen, wollen wir uns doch einmal ausma- Ich sagte, dass wir uns nicht in die inneren Angelegen- (C) len, was hier los wäre, politisch und in unseren Medien, heiten anderer einmischen werden, aber das gilt natürlich wenn Präsident Orban auf diese Weise gegen Demons- auch für den umgekehrten Fall. Wir wollen uns nicht von tranten vorginge, Herrn Macron, der sein eigenes Land offensichtlich nicht in Ordnung bringen kann, Visionen über die Zukunft un- (Beifall bei der AfD) seres Landes aufdrängen lassen, wenn er mit Hartgummigeschossen auf sie schießen ließe (Beifall bei der AfD) und Demonstrationsverbote verhängte. die aus seiner Sicht bloß auf finanzielle Unterstützung Frau Merkel hat sich auf bemerkenswerte Weise zu hinauslaufen. den Straßenschlachten geäußert: Die Möglichkeit, zu protestieren, sei Teil der Demokratie, aber das Gewalt- (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Sie haben es monopol liege beim Staat. gar nicht gelesen!) (Florian Hahn [CDU/CSU]: Ist das nicht so?) Als Populisten bestehen wir darauf, dass sich jeder zu- erst um seinen eigenen Laden kümmert, aber wir wollen Die Solidarisierung der Linkspartei mit den Gelbwes- nicht, dass Macron ihn mit deutschem Geld renoviert. ten nannte die Kanzlerin skandalös, weil Die Linke sich nicht klar und deutlich von der Gewalt der Demonstran- (Beifall bei der AfD – Dr. Franziska Brantner ten distanziere. Da sie zu den Übergriffen der Staatsge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Noch plum- walt nichts gesagt hat, dürfen wir sie so verstehen, dass per geht’s nicht!) die Bundeskanzlerin diese Gewalt billigt, weil es Macron ist? Ich hoffe, nicht. Meine Damen und Herren, in Aachen verhandeln zwei Staatschefs, die ahnen, dass diese EU in dieser Form zer- Es war immer die Linie unserer Partei, dass wir uns fallen wird. Es kann sein, dass auf französischer Seite nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder ein- jemand unterzeichnet, dessen politische Karriere bald mischen wollen, Vergangenheit ist. (Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Ach!) (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE aber wir haben es hier mit einem Partner zu tun, mit dem GRÜNEN]: Sie wollen sich doch nicht einmi- die Regierung die Zusammenarbeit nicht bloß vertiefen, schen!) sondern mit dem sie praktisch eins werden will. Deutsch- Die Franzosen waren schon immer schneller als wir. land und Frankreich sollen mit dem Vertrag eine EU der (B) zwei Geschwindigkeiten eröffnen, eine Art Super-EU in- Ich bedanke mich. (D) nerhalb der EU bilden. (Beifall bei der AfD – Dr. Volker Ullrich (Zuruf von der FDP: Das ist doch Quatsch!) [CDU/CSU]: Was für eine peinliche Rede!) Eine deutsch-französische Sonderbeziehung wird uns al- lerdings von den anderen Europäern entfremden und ge- Vizepräsidentin Claudia Roth: nau jenen europäischen Gedanken torpedieren, den Frau Vielen Dank. – Nächster Redner für die CDU/ Merkel und Herr Macron und auch die Union immer so CSU-Fraktion: Jürgen Hardt. innig beschwören. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder [SPD]: Sind Sie jetzt für oder gegen Europa?) Jürgen Hardt (CDU/CSU): Wenn es nach den Enthusiasten dieser deutsch-franzö- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sischen Verbrüderung geht, wird bald nichts mehr unsere Herr Gauweiler – – Länder trennen. Aber wie vertieft man die Verbindungen (Heiterkeit – Dr. Alexander Gauland [AfD]: zu einem Land, das selber dermaßen uneins und gespal- Ist ein Ehrenname! – Hansjörg Müller [AfD]: ten ist, zu einem Land, das die Regeln der Demokratie Den nehmen wir auch!) außer Kraft setzen muss, um die Opposition zu bekämp- fen? Mehr als die Hälfte der Franzosen unterstützt laut – Ich glaube, es weiß jeder, wer gemeint ist. – Herr Umfragen die Gelbwesten. Mit welchem Teil Frank- Gauland, wenn diese erste Rede in der Aktuellen Stun- reichs verhandeln wir eigentlich? de eine Begründung dafür liefern sollte, dass wir diese Aktuelle Stunde brauchen, so hat mich das absolut nicht (Christian Petry [SPD]: Was für eine komi- überzeugt. sche Frage!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Herr Macron erinnert mich ein wenig an Michail der SPD) Gorbatschow Anfang 1991: im Ausland umschwärmt, und daheim bricht ihm seine Macht unter den Füßen weg. Ich glaube, Sie haben nach den breit gesäten Irrungen (Beifall bei der AfD) und Wirrungen des Parteitags der AfD zu Europa das Be- dürfnis, das alte Ressentiment gegen Europa auch hier Seine hochherzigen europapolitischen Visionen scheitern im Bundestag zu bedienen. Das ist Ihnen mit Ihrer Rede bereits vor den Türen des Élysée-Palastes. allerdings nicht gelungen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8631

Jürgen Hardt (A) Ich möchte mich gerne der deutsch-französischen Führung des Bataillons im Rahmen von Enhanced For- (C) Freundschaft widmen und meiner Freude Ausdruck ward Presence in Litauen übernommen –, sondern eben verleihen, dass wir am 22. Januar in Aachen die Unter- auch mit Blick auf die europapolitische Zusammenarbeit. zeichnung des Anschlussvertrages an den Élysée-Vertrag erleben und damit ein neues Kapitel in der deutsch-fran- Der neue deutsch-französische Freundschaftsvertrag, zösischen Freundschaft aufschlagen. der Aachener Vertrag, wie wir ihn wohl nennen werden, beinhaltet zum Beispiel eine ganze Reihe von Projekten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der im deutsch-französischen Grenzgebiet, etwa zur Zu- SPD und der FDP – Zuruf von der AfD: An- sammenarbeit im Bereich der Bildungseinrichtungen, schlussvertrag!) zur Zusammenarbeit bei der Kinderbetreuung und der Der Aachener Vertrag atmet ebenso wie sein Vorgän- Kinderbildung, zur Zusammenarbeit bei der Notfallver- gervertrag, der Élysée-Vertrag, die Einheit Europas und sorgung von Menschen, die im Grenzgebiet zwischen die Verpflichtung Frankreichs und Deutschlands zu die- Deutschland und Frankreich in Schwierigkeiten geraten. ser Einheit. Es wird in diesem Vertrag zum Beispiel aus- Hierzu soll es Modellprojekte geben, die von den beiden drücklich betont, Regierungen massiv gefördert werden. Es ist ausdrück- lich vorgesehen, dass diese Modellprojekte, in denen die (Martin Hebner [AfD]: Das ist Verschlusssa- grenzübergreifende deutsch-französische Zusammenar- che!) beit für die Menschen im Alltag erlebbar wird, als Vor- dass die Einheit, die Leistungsfähigkeit und der Zusam- bild für die Zusammenarbeit zwischen anderen EU-Staa- menhalt Europas durch Deutschland und Frankreich ge- ten innerhalb der Europäischen Union dienen sollen. fördert werden sollen und dass diese Zusammenarbeit Wenn Sie so wollen, ist die deutsch-französische zwischen Deutschland und Frankreich zugleich allen Freundschaft – so verstehe ich den Vertrag von Aachen – Mitgliedstaaten der Europäischen Union offensteht. sozusagen das Labor, in dem weitere Formen der euro- (Martin Hebner [AfD]: Darf man daraus zi- päischen Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten der tieren?) Europäischen Union erprobt und weiterentwickelt wer- den können. Ein Stück weit bringen wir auf diese Art und – Ich habe daraus zitiert. – Damit ist klargemacht, dass Weise die europäische Idee voran, im Kleinen, wenn es dieser Vertrag eben keinen deutsch-französischen Son- um die grenzüberschreitende Zusammenarbeit geht, wie derweg in Europa markiert, sondern im Gegenteil durch im Großen, wenn es um die Gemeinsame Außen- und ihn der deutsch-französische Motor der Europäischen Sicherheitspolitik geht. Die Gemeinsame Außen- und Union weiter am Laufen gehalten werden soll, als wich- Sicherheitspolitik ist ein weites Feld, über das wir hier tiger Impulsgeber für die Weiterentwicklung der Europä- (B) im Deutschen Bundestag noch viel mehr reden sollten; (D) ischen Union, denn wir werden die Sicherheit unserer Bürgerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Bürger im Inneren und nach außen nur sicherstellen kön- sowie des Abg. Michael Georg Link [FDP]) nen, wenn wir der Europäischen Union in den nächsten Jahren den Baustein hinzufügen, der zu einer Union wie genauso wie es beim Élysée-Vertrag war. Und auch in der Europäischen Union eigentlich von Anfang an dazu- den Sitzungen des Rates der Europäischen Union erleben gehört, nämlich die Zusammenarbeit in der Außen- und wir stets, dass, wenn ein Problem auf dem Tisch liegt, Sicherheitspolitik. der Blick vieler Staats- und Regierungschefs zuallererst zum französischen Staatspräsidenten und zur deutschen Ich danke Ihnen. Bundeskanzlerin geht, so nach dem Motto: Habt ihr eine (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Idee, wie wir das Problem in den Griff kriegen? ordneten der SPD und der FDP) Ich finde, es ist wichtig, dass Deutschland und Frank- reich in der europäischen Frage die gleiche Sprache spre- Vizepräsidentin Claudia Roth: chen und gemeinsam vorangehen. Es ist genauso wichtig, Vielen Dank, Jürgen Hardt. – Nächster Redner für die dass die Regierungen von Frankreich und Deutschland FDP-Fraktion: Michael Link. den engen und vertrauensvollen Zusammenhalt mit an- deren, insbesondere den kleineren EU-Mitgliedstaaten (Beifall bei der FDP) pflegen. Es ist ein Markenzeichen der deutschen Euro- papolitik, dass die deutsche Bundeskanzlerin und die Michael Georg Link (FDP): deutschen Minister insbesondere in außen- und euro- Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Sieht papolitischen Fragen den engen Schulterschluss mit den man mal vom polemischen Titel dieser Aktuellen Stunde anderen europäischen Nationen suchen. Was im Europäi- ab, sprechen wir heute über ein positives Thema, über schen Rat verhandelt wird, wird eben nicht nur zwischen ein Zukunftsthema: Deutschlands und Frankreichs Bei- den großen, sondern auch mit vielen kleinen Staaten vor- trag zur Europäischen Union. Das ist eine ganz aktuel- besprochen. le Frage; denn gerade erst haben der Bundestag und die Ich bin Mitte Dezember in Litauen gewesen. Die Assemblée nationale ein Abkommen verhandelt. Unsere Staatspräsidentin von Litauen, Frau Grybauskaite, hat Häuser werden bald so eng zusammenarbeiten wie nie sich ausdrücklich sehr lobend geäußert, nicht nur über zuvor, eine Zusammenarbeit, die europaweit und darü- das deutsche Engagement in Litauen mit Blick auf die ber hinaus neue Maßstäbe setzen wird. Austausch und Verteidigung des Landes – die Bundeswehr hat ja die Zusammenarbeit und vor allem das Sich-gegenseitig-Zu- 8632 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Michael Georg Link (A) hören, das brauchen wir gerade jetzt, wo die politischen zösischen Aussöhnung war ein Sonderweg des Friedens (C) Ränder simple Feindbilder, rhetorische Enthemmungen und der Chancen für Europa. Der große Staatsmann de und aggressiven Nationalismus vorantreiben. Gaulle wird ja leider viel zu oft von rechts außen verein- nahmt. Deshalb muss man das einmal klarstellen und sa- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gen, was er wirklich gesagt hat. 1964 zum Beispiel sag- Just in dieser Zeit wird in Aachen ein weiterer Vertrag te de Gaulle in einer großen Rede ausdrücklich, dass es unterzeichnet, der Aachener Vertrag, die Ergänzung des nicht verboten sei, sich vorzustellen und zu hoffen, dass Élysée-Vertrages, ein Vertrag, in dem Deutschland und eines Tages – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin – Frankreich sich verpflichten, ihre enge Freundschaft zum die Völker unseres alten Kontinents ein Einziges bilden Wohle, zur Weiterentwicklung der EU einzusetzen, nicht werden und es dann vielleicht eine Regierung Europas autistisch, nein, zur Weiterentwicklung der EU. Und das geben kann. tun sie immer ausdrücklich verbunden mit der Einladung (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Nils an alle anderen Mitgliedstaaten der EU. Dabei geht es Schmid [SPD]) um große Themen wie die Außen- und Sicherheitspolitik. Aber man sagt nicht umsonst, dass Großes im Kleinen Meine Damen und Herren, das ist Charles de Gaulle: ein entsteht. Deshalb stärkt auch jedes neue Glasfaserkabel, Vordenker für die deutsch-französische Zusammenar- das über die deutsch-französische Grenze gelegt wird, beit, für ein Europa in Frieden. das digitale, das fortschrittliche, das vernetzte Europa. Natürlich bedauern wir – das kann man in diesen Ta- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen nicht auslassen –, dass Großbritannien aus der Euro- der CDU/CSU) päischen Union aussteigen will. Das ist ein Sonderweg. Der Brexit ist ein Sonderweg, der übrigens beiden scha- Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und det. Er erinnert uns daran, dass wir im Haus Europa noch Kollegen, wenn das ein Sonderweg ist, dass zwei Staaten viel zu tun haben. Konstruktionsfehler eines Hauses löst andere zur engen Kooperation einladen und sich für eine man aber nicht, indem man auszieht, sondern indem man starke, eine geeinte EU einsetzen, dann wünsche ich mir zum Werkzeugkasten greift. Genau das tun Frankreich mehr von diesen Sonderwegen. und Deutschland mit diesen beiden neuen Verträgen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Oder ist es für die extreme Rechte hier im Haus ein Son- der CDU/CSU und der SPD) derweg, wenn zwei Staaten Meinungsverschiedenheiten (B) friedlich austragen, Energien bündeln, gemeinsam han- (D) deln? Ist der Alleingang für Sie etwa der neue Normal- Vizepräsidentin Claudia Roth: fall? Vielen Dank, Michael Link. – Nächste Rednerin: Angelika Glöckner für die SPD-Fraktion. (Martin Hebner [AfD]: Nein! Man muss aber darüber reden!) (Beifall bei der SPD) Offensichtlich ja. Damit fällt auch die letzte bildungsbür- gerliche Maske. Sichtbar wird der ebenso aggressive wie Angelika Glöckner (SPD): letztlich hilflose Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich komme aus dem Pfälzer Wald. Mein Wahl- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der kreis liegt direkt an der französischen Grenze. Ich kann Abg. Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]) mich sehr gut erinnern an viele Geschichten, die mir mei- Zurück zu Aachen. Man muss deutlich kritisieren, wie ne Großmutter erzählt hat, die von dem Umstand erzäh- die Planungen der Regierung zu diesem besonderen Tag len, als sie für die Soldaten tagtäglich Kartoffeln schälen verlaufen sind. Der Staatsminister im Kanzleramt und musste, jeden Tag von morgens bis abends. Sie können der Außenminister haben sich gestern in der Regierungs- sich sicher alle vorstellen, wie schwierig damals, direkt befragung nicht mit Ruhm bekleckert. Dass sie nun den nach dem Krieg, das Verhältnis zwischen den Deutschen Parlamentariern und der engagierten Arbeitsebene in den und den Franzosen war. Das Misstrauen war groß. Aber Ministerien den Schwarzen Peter dafür zuschieben wol- heute ist das anders. Aus Kriegsgegnern wurden be- len, dass es wegen der gleichzeitigen Terminierung nicht freundete Nachbarn. Man trifft sich regelmäßig beim möglich war, das Parlamentsabkommen gleichzeitig hier Dorffest, bei Kulturveranstaltungen, im Theater oder im im Parlament zu unterzeichnen, macht den Zwischenfall deutsch-französischen Kindergarten, um die Kinder ab- nicht besser. zuholen. Dass diese Menschen wieder zueinanderfanden, das ist natürlich ihrer Offenheit, ihrer Zugewandtheit zu Kolleginnen und Kollegen, 1963, als Deutschland und verdanken, aber auch einer Politik, die mit den richtigen Frankreich mit dem Élysée-Vertrag ein neues Kapitel Weichenstellungen das Fundament dafür schuf. der europäischen Einigung aufgeschlagen haben, wurde, wenn man den Mitgliedern der äußersten Rechten glau- So ist und war der Élysée-Vertrag vom 22. Januar ben möchte, ein Sonderweg beschritten. Ja, es stimmt. 1963 ein ganz entscheidender Schritt. Was folgte, war Konrad Adenauer und Charles de Gaulle waren die Ar- eine vertiefte Zusammenarbeit der Regierungen in der chitekten eines Sonderweges, den es so über Jahrhunder- Außen- und Sicherheitspolitik, in der Kultur- und Ju- te nicht gegeben hat. Der Weg hin zu einer deutsch-fran- gendpolitik. Dieses Abkommen war nie eine Konkurrenz Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8633

Angelika Glöckner (A) gegenüber den übrigen Mitgliedstaaten der EU. Ganz im verzichtbarer Weg. Wer dieses Abkommen ablehnt, spielt (C) Gegenteil: Es festigte die deutsch-französische Achse mit dem Wohl heutiger und künftiger Generationen. und machte sie zum Antriebsmotor für die gesamte Eu- ropäische Union. (Martin Hebner [AfD]: Warum wird das Ab- kommen nicht veröffentlicht? – Gegenruf von Nächsten Dienstag, erneut am 22. Januar, werden wir der SPD: Dummschwätzer!) ein weiteres Kapitel aufschlagen. Die Spitzen beider Re- Wir von der SPD-Fraktion sagen Ja. gierungen werden durch den Aachener Vertrag ihre Ar- beit erneut manifestieren und vertiefen. Ich sage auch: Herzlichen Dank. Im März werden wir noch einen weiteren Schritt gehen. Erstmals werden wir auch mit dem Parlamentsabkom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men dafür sorgen, dass Parlamente in Deutschland und der CDU/CSU) Frankreich künftig enger zusammenarbeiten können. Vizepräsidentin : Was bedeutet das genau für uns? Mindestens zweimal Das Wort hat der Kollege Alexander Ulrich für die im Jahr werden deutsche und französische Parlamentari- Fraktion Die Linke. er über wichtige politische Themenfelder sprechen, mit dem Ziel, gleichlautende Beschlüsse an ihre Parlamente (Beifall bei der LINKEN) zu geben. Unser Ziel ist es, voneinander zu lernen und gemein- Alexander Ulrich (DIE LINKE): sam besser voranzukommen. Das bedeutet aber auch, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Frau dass wir künftig in der Grenzregion noch enger und Vizepräsidentin! Es ist ein bisschen unklar, was die AfD wirksamer zusammenarbeiten können, und zwar mit mit der heutigen Aktuellen Stunde eigentlich will; denn Vertretern aller politischen Ebenen: Bund, Land, Kom- unter dem Titel kann man sich ja vieles vorstellen. munen – auf der französischen und der deutschen Seite. Herr Gauland, Sie hatten am Wochenende Ihren Eu- Als Abgeordnete der Südwestpfalz direkt an der franzö- ropaparteitag. Wenn man über den Zustand der Europä- sischen Grenze bin ich sehr froh über diesen Umstand, ischen Union diskutiert, dann sollte man klar zum Aus- weil ich spüre und weiß, was das für die Menschen vor druck bringen – Sie haben heute hier die Antwort leider Ort bedeuten wird. nicht gegeben –: Warum kandidiert denn eigentlich die (Beifall bei der SPD) AfD bei der Wahl des Europäischen Parlaments, wenn man gleichzeitig beschließt, das Europäische Parlament Kolleginnen und Kollegen von der AfD, wenn Sie abschaffen zu wollen? (B) diesem Abkommen nicht zustimmen mit der Behaup- (D) tung oder dem Vorwand, damit würden die Rechte des (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Bundestages beschnitten, dann will ich Ihnen sagen: Wir neten der CDU/CSU, der FDP und des BÜND- reden hier über Empfehlungen, die Parlamentarier für NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander ihre Parlamente erarbeiten und die sie zu Hause einbrin- Gauland [AfD]: Solange es da ist, müssen wir gen wollen. Selbstverständlich wird das letzte Entschei- dabei sein! Das ist doch ganz klar!) dungsrecht beim Deutschen Bundestag bleiben. Man Sie gehen doch auch nicht in ein Restaurant, in dem Ih- muss kein Jurist sein, um das zu verstehen. nen das Essen nicht schmeckt. Sie wollen nicht, wie Sie sagen, die Verfassung schüt- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem zen. Ihnen geht es um Abschottung. Da kann ich nur sa- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen: Gut, dass es die SPD gibt! Wollen Sie nur das Geld mitnehmen? Wollen Sie nur (Beifall bei der SPD – Lachen bei Abgeord- die Diäten mitnehmen? Wer das Europäische Parlament neten der AfD) abschaffen will, sollte aufhören, hier Aktuelle Stunden Wir stehen zu unseren französischen Freunden, und wir über Europa zu beantragen. stehen zu Europa. Uns ist im Gegensatz zu Ihnen klar, (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem dass wir die drängendsten Fragen unserer Zeit nicht al- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leine lösen können. Das Klima zu schützen, uns global wettbewerbsfähig zu halten, Sicherheit, Ja, die Europäische Union ist in einer tiefen Krise. Der Brexit hat das, glaube ich, noch einmal zum Ausdruck (Martin Hebner [AfD]: Ach was!) gebracht. Deshalb muss man sich schon Gedanken ma- den digitalen Wandel nach unseren Werten zu gestalten: chen, wie es mit dieser Europäischen Union weitergehen All das geht nur Seit’ an Seit’ mit unseren französischen soll. Ich sage aber auch in Richtung der CDU/CSU: Wer Freunden, eingebettet in eine starke Europäische Union. einen EU-Kommissionspräsidenten – er kann auch aus Deutschland sein – will, der mit Viktor Orban zusam- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten menarbeitet: So einen brauchen wir an der Spitze der der CDU/CSU) EU-Kommission nicht. Mit diesem Abkommen gehen wir keinen Sonderweg, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wie Sie ganz rechts außen sagen und uns vorwerfen. Es neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ist ein besonderer Weg, ein verantwortungsvoller und un- GRÜNEN) 8634 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Alexander Ulrich (A) Was ist denn nun eigentlich der nächste Schritt? Wer Wir sagen auch ganz deutlich: All diejenigen, die zwi- (C) mit Viktor Orban auf europäischer Ebene zusammen- schen den Zeilen immer wieder von einer deutsch-fran- arbeitet, der ist nicht mehr weit davon entfernt, auch in zösischen Sicherheitspartnerschaft tönen, auch für ge- Deutschland Koalitionen mit der AfD zu bilden. meinsame Einsätze zur Verteidigung, stellen damit den Parlamentsvorbehalt infrage. Wir Linke werden alles (Lachen des Abg. Dr. Alexander Gauland dafür tun, dass der Parlamentsvorbehalt in Deutschland [AfD] – Florian Hahn [CDU/CSU]: Ach Gott!) erhalten bleibt. Wir haben eine Parlamentsarmee. Wir Es besteht kein Unterschied zwischen dem, was Viktor werden alles tun, damit sie nicht infrage gestellt wird. Orban in Ungarn macht, und den Positionen, die wir hier aus dem Hause immer wieder hören. (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Das steht da gar nicht drin! – (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn Florian Hahn [CDU/CSU]: Das steht über- [CDU/CSU]: Sie stimmen öfters mit der AfD!) haupt nicht zur Debatte! Erzählen Sie doch Deshalb wäre es eigentlich notwendig, dass Sie vor der den Leuten nicht falsche Dinge!) Europawahl deutlich machen, dass dieser Viktor Orban mit seiner Partei aus Ihrer europäischen Parteifamilie Die von Bundeskanzlerin Merkel und Macron im austritt. Wer das nicht tut, wird den Rechten leider den Aachener Vertrag beanspruchte Führungsrolle für die Weg bereiten. weitere Entwicklung der EU zielt jedoch in die falsche Richtung und wird auch zu Spaltungen in anderen Län- (Beifall bei der LINKEN – Florian Hahn dern führen. Ich glaube, das, was wir brauchen, ist, dass [CDU/CSU]: Sie stimmen doch die ganze Zeit die Länder, die nach dem Austritt Großbritanniens noch zusammen!) Mitglied der Europäischen Union sind, zusammenarbei- Wir Linke im Bundestag begrüßen es, dass die Parla- ten. Ich weiß nicht, ob sich Deutschland und Frankreich mente von Deutschland und Frankreich ihre Partnerschaft Gedanken darüber gemacht haben, mit Ländern wie vertiefen. Ja, ich glaube, das könnte Impulse geben, wenn Malta oder Luxemburg oder Portugal oder Spanien zu es darum geht, wie man die europäischen Standards ver- reden und zu fragen, was diese Länder darüber denken, bessern kann, etwa bei Mindestlöhnen oder auch bei der dass man hier wieder einen Sonderweg gehen will, dass Mindestbesteuerung von Konzernen, bei der digitalen In- Frankreich und Deutschland vorschreiben wollen, wohin frastruktur, dem ökologischen Umbau der Wirtschaft, der sich die Europäische Union entwickeln sollte. Abrüstung oder Entspannungspolitik mit anderen Län- dern. Das wären alles schöne Themen, die man zwischen Bei aller Partnerschaft mit Frankreich wird die Linke unseren Parlamenten diskutieren kann. Wir werden uns dafür sorgen, dass wir keinen Deut weniger mit anderen (B) auch in den parlamentarischen Versammlungen über die Partnerländern der Europäischen Union zusammenar- (D) Kontakte in den Ausschüssen mit unseren französischen beiten; denn die EU wird nur gelingen, wenn jeder seine Kollegen auf genau solche Themen verständigen. Rechte und seine Möglichkeiten hat, nicht nur Deutsch- land und Frankreich. Das Problem ist aber – das sage ich auch ganz deut- lich –: Den Aachener Vertrag, den Nachfolgevertrag des (Beifall bei der LINKEN) Élysée-Vertrags, werden wir Linke ablehnen; Ich komme zum Schluss. Leider ist auch der Aachener (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Vertrag keine Antwort auf die soziale Krise. Wie gesagt – denn man hat überhaupt nicht verstanden, warum Europa ich habe es erwähnt –, wir werden Europa nur retten kön- in einer tiefen Krise ist. nen, wenn wir einen Neustart organisieren. Wir brauchen ein solidarisches Europa. Wir brauchen Impulse für den (Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie haben es nicht sozialen Zusammenhalt. Es ist ja nicht von ungefähr so, verstanden! Sie haben den Vertrag nicht ver- dass in Frankreich so viele Menschen auf die Straße ge- standen!) hen. Weil es auch Herr Gauland angesprochen hat: Ja, wir Da steht zum Beispiel in der Präambel etwas vom Bestre- solidarisieren uns mit dem sozialen Protest in Frankreich. ben in Richtung auf eine soziale und wirtschaftliche Auf- wärtskonvergenz. Aber wenn man sich dann den Vertrag (Beifall bei der LINKEN) anschaut, dann sieht man: Da steht über soziale Politik überhaupt nichts. Man hat überhaupt nicht verstanden, Wer gegen Lohnabbau und Sozialabbau ist, weil Hartz IV was notwendig wäre, um in Europa den sozialen Zusam- und die Agenda 2010 auch in Frankreich eingeführt wer- menhalt zu stärken. den sollen, der hat dann, wenn er auf die Straße geht, unsere Solidarität. Ein großes Kapitel aber ist das Thema „Aufrüstung, gemeinsame Verteidigung, Auslandseinsätze“ usw. Wer (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) das Friedensprojekt Europa immer wieder in Sonntags- reden betont, sollte aufhören, das Gegenteil in einen Ver- Aber natürlich distanzieren wir uns, wenn derjenige da- trag hineinzuschreiben. für Gewalt instrumentalisiert. (Beifall bei der LINKEN)

Alleine aus diesem Grund können wir diesen Vertrag Vizepräsidentin Petra Pau: nicht mittragen. Achten Sie bitte auf die Redezeit. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8635

(A) Alexander Ulrich (DIE LINKE): In diesen Tagen sehen wir an Großbritannien, in wel- (C) Aber grundsätzlich ist das, was die Gelbwesten an so- ches Chaos ein EU-Austritt ein Land führen kann. zialem Protest auf die Straße bringen, vollkommen rich- (Jürgen Braun [AfD]: Typische Angstmache tig. der Grünen! Immer Ihr Weltuntergangsszena- (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ge- rio!) walt auch, oder was?) In Großbritannien herrscht Angst, Chaos vor dem No-­ Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Deal. (Beifall bei der LINKEN) (Stefan Keuter [AfD]: Sie schüren diese Angst!) Vizepräsidentin Petra Pau: Und das schauen Sie, liebe AfD, sich an und sagen: Klas- Das Wort hat die Abgeordnete Dr. Franziska Brantner se, das wollen wir auch. – Anders kann man Ihre Forde- für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. rungen nach einem Austritt aus der EU ja nicht verstehen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Jürgen Braun [AfD]: Typische Angstmache der Grünen! Seit Jahrzehnten immer das Glei- che!) Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Übrigens: Ich wollte mir Ihr Europawahlprogramm Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen mal im Detail anschauen. Leider ist es nicht online ver- und Herren! Dass sich die AfD mit dieser Aktuellen fügbar. Schade, dass Sie der Bevölkerung überhaupt Stunde plötzlich um den Zustand der EU sorgt, ist schon nicht zur Verfügung stellen, wofür Sie in Europa eigent- wirklich zynisch: Seit Jahren macht die AfD nichts ande- lich konkret sind. res, als an der Zerstörung Europas zu arbeiten. Wenn wir jetzt über Deutschland und Frankreich re- (Zuruf von der AfD: Polemik!) den – Sie bezeichnen das als deutsch-französischen Son- derweg –, Gerade haben Sie das ja wieder auf Ihrem Parteitag be- schlossen: Sie wollen das Europaparlament abschaffen, (Dr . Harald Weyel [AfD]: Französisch-deut- raus aus der EU, aus dem Euro – so oder so. schen eigentlich!) Heute Morgen haben Sie wieder falsche Infos über dann kann ich nur sagen: Wer nicht versteht, dass die angeblich 60 000 europäische Beamte verbreitet, haben deutsch-französischen Beziehungen das Rückgrat des (B) (D) behauptet, einen Kommissar könnte man nicht abwählen, Friedens in Europa sind, (Zuruf von der AfD: Hat keiner gesagt!) (Jürgen Braun [AfD]: Der Welt! Des Univer- sums!) und wollen gleichzeitig das einzige Gremium, das den Kommissar abwählen kann, nämlich das Europäische der will eben Europa zerstören – wie Sie. Parlament, abschaffen. Da kann ich nur sagen: Mehr Ab- surdität und Zerstörungswut findet man in diesem Hause (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nirgends. SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der Die deutsch-französische Aussöhnung ist die Grundlage SPD und der FDP – Widerspruch bei der AfD) der europäischen Integration und unseres Friedens auf diesem Kontinent. Wenn wir das nicht weiter stärken und Und jetzt kommen Sie wieder mit Ihrem Unterschied, voranbringen, dann wird eben auch Europa geschwächt. den Sie immer machen, zwischen Europa und der Euro- päischen Union. Seien wir mal ganz ehrlich, Herr Ulrich: Wenn der deutsch-französische Motor nicht funktioniert, wenn (Beifall des Abg. Norbert Kleinwächter Deutschland und Frankreich gemeinsam blockieren, [AfD] – Martin Hebner [AfD]: Ja!) dann gibt es die Beschwerden der anderen europäischen Länder zu Recht. Aber die gleichen beschweren sich häu- Europa ist ein Kontinent, eine geografische Einheit – da fig auch dann, wenn Deutschland und Frankreich sich kann man nicht dafür oder dagegen sein, das ist eine geo- einigen und vorausgehen und sagen: Kommt mit! – Bis grafische Gegebenheit. Aber es gibt ein politisches euro- zu einem gewissen Grad können Deutschland und Frank- päisches Projekt der Integration. reich machen, was sie wollen – es wird immer kritisiert. (Dr . Harald Weyel [AfD]: Ein gescheitertes!) (Zurufe von der AfD: Oh! – Alexander Ulrich Gegen das kann man sein – oder dafür sein. Sie haben [DIE LINKE]: Es kommt darauf an, wohin sich eindeutig dagegen entschieden, und das ist es, wo- man geht!) rauf es ankommt. Von daher ist es notwendig, dass Deutschland und Frank- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des reich sich einigen. Ich würde eher sagen, das Absurde an Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE diesem Aachener Vertrag ist, dass er die Erwartung ei- GRÜNEN]) nes deutsch-französischen Motors schürt, diese aber gar 8636 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Franziska Brantner (A) nicht erfüllt. Das, was wir bis jetzt von dem Aachener deutsche Variante ins Chaos, ein Ad‑absurdum-Führen (C) Vertrag kennen, ist nämlich sehr enttäuschend. der Demokratie. Herr Gauland, Sie haben gesagt, Sie hätten es gestern (Zuruf von der AfD: Volksabstimmung! Ist bekommen. Ich habe nachgeschaut: Herr Kleinwächter demokratisch!) aus Ihrer Fraktion hat es am 9. Januar wie alle anderen Wir konnten uns diese Woche mit dem Blick nach Groß- erhalten. Also hören Sie auf, hier irgendwelche Lügen zu britannien von diesem auf Fake News gegründeten Cha- verbreiten, dass Sie das noch nicht rechtzeitig erhalten os überzeugen. Alle wissen, wogegen sie sind; aber alle hätten! haben vergessen, wofür sie eigentlich stehen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Und dass Sie, Herr Gauland, das Gewaltmonopol SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der des Staates in Ihrer Rede eben besorgniserregend infra- SPD und der FDP) ge gestellt haben, eint Sie auf sonderbare Weise mit den Der Aachener Vertrag, wie gesagt, macht leider nichts Linken, die plötzlich auch von einem Sonderweg gespro- aus den Mehrheiten, die wir hier im Januar letzten Jahres chen haben. geschaffen hatten. Wir hatten eine Resolution: zusam- Mit dem neuen Élysée-Vertrag oder Aachener Vertrag men – Bundestag, Assemblée nationale – ambitioniert für gehen wir in die entgegengesetzte Richtung. Europa. Ich sage nur: Harmonisierung der Unternehmen- steuer, gemeinsamer Vorschlag für eine CO2-Bepreisung, (Martin Hebner [AfD]: Sie machen die Augen soziale Standards. Nichts davon findet sich wieder in die- zu, richtig!) sem Aachener Vertrag. Es ist schade, dass die Regierung aus den Mehrheiten, die es ja gab, nichts gemacht hat. Wir betonen das, was uns in den kommenden Jahren wichtig ist, und entwickeln die guten Beziehungen zu (Michael Georg Link [FDP]: Absolut richtig!) Frankreich weiter. Das ist keine nette Geste zum Jahres- tag des Élysée-Vertrags, nein, damit reagieren wir auf Das ist wirklich ein Versagen – und das in Zeiten des die vielen Veränderungen in Politik und Gesellschaft der Brexits und von allem, was wir haben, und der AfD. Das letzten 56 Jahre. Das machen wir, weil wir die Proble- ist einfach unverantwortlich. Wir müssen handlungsfähig me von heute nicht mit Instrumenten von gestern oder werden. Wir müssen es sozialer machen, nachhaltiger vorgestern lösen wollen. Es ist nicht so, wie die AfD uns machen, demokratischer. Diese Chance haben Sie ver- weismachen will, dass früher alles besser, einfacher und passt. Das ist wirklich unverzeihlich. Schade, dass Sie harmonischer gewesen wäre. Das sage ich auch an dem nichts daraus gemacht haben. Tag, an dem wir hier im Deutschen Bundestag 100 Jahre (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frauenwahlrecht begehen. (D) sowie bei Abgeordneten der FDP) Nur wenige Parlamente auf der ganzen Welt arbeiten Zum Schluss. Wissen Sie, Herr Link hat es schon ge- so eng miteinander wie der Deutsche Bundestag und die sagt: Wir hatten den 22. Januar für die Parlamente vor- Assemblée nationale. Das ist vor dem Hintergrund der gesehen, das Parlamentsabkommen zu machen, Paris‒ sogenannten deutsch-französischen Erbfeindschaft etwas Berlin. Und dann kommt kurzfristig die Regierung und Besonderes, das es zu bewahren und weiterzuentwickeln sagt: Macht mal Platz, da kommen jetzt wir. – Ich fand gilt. das sehr schade. Ich hoffe und zähle darauf, dass wir die Mit dem vorliegenden Parlamentsabkommen und dem Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung, Aachener Vertrag nähern sich Deutschland und Frank- die wir schaffen, so verankern, dass die Regierung in reich auf wichtigen Politikfeldern weiter an – ein gutes Zukunft bei der deutsch-französischen Zusammenarbeit Signal in Zeiten der Spaltung und von Nationalismen; nicht mehr an uns vorbeikommt. (Zuruf von der AfD: Nur fatal!) Ich danke Ihnen. denn die Themenbereiche „Umwelt und Energie“ ma- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen vor Grenzen nicht halt und müssen genauso weiter- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und entwickelt werden wie die Herausforderungen, vor denen der FDP) wir in Fragen unserer Sicherheit im In- und Ausland ste- hen, und das große Feld der Bildung und Forschung. Vizepräsidentin Petra Pau: Unser besonderes Augenmerk gilt dem Herzens- Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun die Kollegin thema unserer deutsch-französischen Arbeitsgruppe: Ursula Groden-Kranich das Wort. der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Uns ist es (Beifall bei der CDU/CSU) wichtig, die deutsch-französischen Beziehungen auf der Grundlage von Parlamentsabkommen und Vertrag in den nächsten Jahren mit Leben zu erfüllen. Es geht darum, Ursula Groden-Kranich (CDU/CSU): voneinander zu lernen und nicht nur Höflichkeiten aus- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zutauschen. Wir haben aufeinander gehört, miteinander Wer heute von einem Sonderweg redet, der hat selbst ei- gerungen, länder- und parteiübergreifend, um unsere nen Sonderweg im Kopf; das hat die AfD mit ihrer De- deutsch-französische Zusammenarbeit zu verbessern und batte um den Dexit gezeigt, das ist der Sonderweg, mit beispielgebend auch für die Zusammenarbeit mit ande- dem sie droht: eine deutsche Variante des Brexit, eine ren Ländern zu sein. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8637

Ursula Groden-Kranich (A) Das vorliegende Vertragswerk hält die Zusammenar- Einschub. Meine Mutter feiert heute ihren 70. Geburts- (C) beit in alle Richtungen offen: zwischen Deutschland und tag. Alles, alles Gute zum Geburtstag, liebe Mama! Frankreich, zwischen den Parteien, zwischen Regierung und Parlament – weil alle gefordert sind, sich zu betei- (Beifall bei der AfD) ligen. Eine Art von Geburtstag erwartet uns am 22. Januar. Mehr noch, der Aachener Vertrag ist ausdrücklich da- Der Élysée-Vertrag, ein großes Werk des Friedens, der rauf ausgerichtet, die Zusammenarbeit mit allen anderen Freundschaft und der Nichteinmischung, wurde 1963, Staaten zu stärken. vor 56 Jahren, unterzeichnet. Doch das Geburtstagsge- schenk, das Merkel und Macron hier abliefern, ist ver- (Martin Hebner [AfD]: Warum ist es dann so giftet. eine Geheimniskrämerei?) Es soll ein Parlamentsabkommen geben und einen Re- Wenn sich ein Projekt in einer deutsch-französischen gierungsvertrag. Beide sollten ursprünglich am 22. Janu- Grenzregion bewährt hat, warum sollte es nicht auf an- ar in Berlin und Paris unterschrieben bzw. ratifiziert wer- dere Grenzregionen übertragen werden können? Das ist den. Doch Merkel und Macron beschlossen in völliger beispielgebend. Missachtung der Parlamente, den Regierungsvertrag mal eben so im Krönungssaal in Aachen zu unterzeichnen. Wer mit Vertretern anderer europäischer Staaten spricht, wie zum Beispiel Vertretern der nordischen Staa- (Beifall bei der AfD) ten, der weiß um das Interesse an genau dieser Zusam- menarbeit, an der trotz Brexit auch die Briten interessiert Die Ortswahl? Macrons Idee. Der Vertrag? Macrons sind. Und wer käme bei den nordischen Ländern, die in Idee. Die Zielsetzung? Macrons Idee. Seine Idee ei- Berlin mit den Nordischen Botschaften – alle Länder in ner vertieften Europäischen Union –Deutschland zahlt, einem Haus – vertreten sind, auf die Idee, von einem Frankreich schafft an – soll mit aller Vehemenz durchge- Sonderweg zu sprechen! Ganz im Gegenteil, wir freuen setzt werden. uns über die enge Zusammenarbeit dieser Länder. (Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Das ist Hetze!) Gestern im EU-Ausschuss wollte die AfD den Ein- Merkel macht natürlich mit. Da gibt es mal wieder druck erwecken, dass die Deutsch-Französische Parla- einen falschen Zug, und jeder falsche Zug, der kommt, mentarische Versammlung gegen die Verfassung ver- wird von der schwarz-roten Koalition genutzt, um aufzu- stößt, weil sie angeblich durch Beschlussfassung das springen und in die falsche Richtung zu fahren. Parlament umgeht. Mein Eindruck ist, dass Sie gar nicht (B) verstehen wollen, wie dieses parlamentarische Verfahren (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann (D) funktioniert. [FDP]: Sind wir jetzt bei der Augsburger Pup- penkiste?) (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Denn wahrlich: Diese Vorstellung einer Europäischen ten der SPD und der FDP) Union, die Macron hat, ist eine, von der sich mittlerweile alle abwenden und die die EU noch weiter spalten wird. Wenn man sich die Schlagzeilen ansieht, die Sie in den letzten Tagen produziert haben, bekommt man zusätz- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind diejeni- lich den Eindruck, dass das weder Zufall noch Interesse gen, die die Europäische Union spalten!) ist. Wir brauchen eine starke Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich, einen starken Multilatera- Die Franzosen wenden sich ab. Die anderen europäi- lismus, ein Regelwerk, das wir gemeinsam ausarbeiten schen Länder wenden sich ab. Deswegen ist dieser Re- und an dem wir gemeinsam weiterarbeiten. gierungsvertrag auch keine ehrliche Einladung. Wir bauen die europäische Zukunft und leben die Die Osteuropäer wollen Merkels Migranten nicht deutsch-französische Freundschaft. und dulden keine Einmischung in ihre nationalen Belan- ge. Dänemark kontrolliert die Grenze. Die Südeuropäer Vielen Dank. kämpfen mit ihren vom Euro verursachten wirtschaftli- chen Problemen. In Griechenland ist ein Drittel des Lan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- des dank Euro und Euro-Gruppeninterventionen arm. ordneten der SPD und der FDP) Zwischen 2008 und 2011 stieg dort die Selbstmordrate um 27 Prozent. Herzlichen Glückwunsch, EU! Vizepräsidentin Petra Pau: ( [SPD]: Meine Güte!) Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Kleinwächter für die AfD-Fraktion. Die Briten haben sich das eine Weile lang angeguckt und gesagt: That’s it. So wenig wie möglich wollen wir (Beifall bei der AfD) noch mit der EU zu tun haben. Wir wollen nicht mehr von diesem Brüssel kontrolliert werden. – Wir können Norbert Kleinwächter (AfD): sie verstehen. Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her- (Beifall bei der AfD – Alexander Ulrich [DIE ren! Erlauben Sie mir zu Beginn bitte einen persönlichen LINKE]: Also wollen Sie den Brexit?) 8638 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Norbert Kleinwächter (A) Doch seit die Briten aus dieser sogenannten Gemein- nen großen Dienst erweisen, wenn Sie im Krönungssaal (C) schaft austreten wollen, werden sie wie ein ehemaliges zu Aachen gemeinsam den Hut nehmen würden. Sektenmitglied behandelt, Vielen Dank. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wollen Sie austreten? Ja oder nein?) (Beifall bei der AfD) das man wahlweise schmäht, bekämpft oder zu unterdrü- Vizepräsidentin Petra Pau: cken versucht. Das Wort hat der Kollege Nils Schmid für die Den demokratischen Wünschen der Länder setzt man SPD-Fraktion. nun diesen deutsch-französischen Regierungsvertrag entgegen, der am 22. Januar unterzeichnet werden soll (Beifall bei der SPD) und am 17. Januar, heute, noch Verschlusssache ist. Dr. Nils Schmid (SPD): Ja, Frau Dr. Brantner, wir haben den bekommen, aber als Verschlusssache, über die wir nicht reden dürfen. Ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das – das frage ich die Bundesregierung – Demokratie? Das war jetzt eher ein Auftritt für die „heute-show“. Ist das eine vertiefte Argumentation? Steffen Seibert, der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Regierungssprecher, eierte in der Pressekonferenz der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marianne Bundesregierung herum, Schieder [SPD]: Nein, das war doch zu (Florian Hahn [CDU/CSU]: Wo ist denn Ihr schlecht dafür!) Programm?) Ich möchte erst einmal mit der neuesten Verschwö- weil er keine Argumente hat, weil er das Warum nicht rungstheorie der AfD aufräumen. Dass dieser Vertrags- beantworten kann. Den Topgrund plauderte Staatsminis- entwurf mit „Vertraulich“ gekennzeichnet ist, hat einen ter Roth gestern aus. Der Vertrag diene dazu, sagte er, ganz einfachen Grund: Es ist die Rücksichtnahme auf Nationalisten und Populisten ein für alle Mal die Stirn Formalien der französischen Seite. zu bieten. (Lachen bei der AfD) ( [SPD]: Guter Vertrag!) Solange ein Kabinettsbeschluss nicht vorliegt und solan- Genau, man entmachtet die nationale Willensbildung, ge der französische Präsident diesen nicht unterzeichnet (B) damit der Wille des ach so bösen Volkes nichts mehr hat, ist es vertraulich. Ich glaube, das sollten auch wir als (D) zählt. Ganz toll! Deutscher Bundestag respektieren. (Beifall bei der AfD) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es! Genau!) Der Populist ist ohnehin das Modefeindbild der politi- Sobald das geschehen ist, ist das nicht mehr vertraulich. schen Elite. Was Sie aber endlich mal verstehen sollten, So einfach ist die Welt. Da brauchen wir keine Verschwö- ist: Der Populist ist der hart arbeitende Mensch, die Mit- rungstheorien. Vielmehr müssen wir uns an die Verfahren telschicht, die sich nicht mehr vertreten fühlt. „Wir haben in Deutschland und Frankreich halten, und gerade dieje- wirklich gute Jobs, aber wir wissen nicht mehr, wie wir nigen, die die Verfassung und den Rechtsstaat hochhal- davon mit unseren zwei Kindern leben sollen.“ Das sagte ten, sollten auch das respektieren. eine Gelbwestenvertreterin der Zeitung „Le Monde“. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- Daher erheben sich die Menschen in ganz Europa. wie bei Abgeordneten der FDP) Ob es sich jetzt um Hartz-IV-Montagsdemos, Occupy, Das Zweite ist: Der Vertrag beschreibt keinen Pegida, Brexit-Befürworter, Gelbwesten oder „Zukunft deutsch-französischen Sonderweg. Heimat“ – Grüße an Christoph Berndt in diesem Zusam- menhang – handelt: Ihr Feindbild ist die tragende Säule (Zuruf von der AfD: Nein?) der Gesellschaft, die entkernt wird und merkt, dass es nicht mehr geht. Die EU hat durch ihre Umverteilungs- In dem Vertrag – Kollege Hardt hat darauf hingewie- politik, der Euro hat durch seine Nullzinsen- und Abwer- sen – ist ausdrücklich festgehalten, dass das Ziel einer tungspolitik Wohnen unbezahlbar, Arbeit billig, Löhne deutsch-französischen Zusammenarbeit eine starke Eu- wertlos, das Volk machtlos und die Mittelschicht mittel- ropäische Union ist und dass dieser Vertrag für alle Mit- los gemacht. In dieser Situation diese EU vertiefen zu gliedstaaten der Europäischen Union offen ist. wollen, ist genau das Falsche. Ich sage noch ein Weiteres dazu: Auch die Wahl der (Beifall bei der AfD) Stadt Aachen als Ort der Unterzeichnung dieses Vertrags unterstreicht die europäische Dimension. Denn Aachen Merkel und Macron schaden Deutschland, Frankreich ist nicht nur die Stadt der Krönung von Karl dem Großen. und der EU, wenn sie den Vertrag unterzeichnen. Kanzle- Vielmehr ist Aachen auch die Stadt, die seit 1950 den rin Merkel, Président Macron, Sie sind nicht die Könige Karlspreis verleiht, und zwar ausdrücklich für Verdienste von Europa. Sie beide haben keine Zukunft. Der Regie- um Europa und die europäische Einigung. Damit ist die rungsvertrag hat keine Zukunft. Sie würden uns allen ei- Wahl dieses Ortes zugleich ein Bekenntnis dafür, dass die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8639

Dr. Nils Schmid (A) deutsch-französische Zusammenarbeit die europäische Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Einigung stützt und stärkt, meine Damen und Herren. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Dr . Volker Ullrich das Wort. (Beifall bei Abgeordneten bei der SPD und der CDU/CSU – Armin-Paulus Hampel [AfD]: (Beifall bei der CDU/CSU) Dann kann man dem Viktor Orban ja den ­Karlspreis verleihen! Das wäre eine anständi- ge Sache!) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Wenn wir nach Deutschland und nach Frankreich Herren! Ich glaube, in dieser Debatte sollte betont wer- schauen, dann sehen wir auch, dass die deutsch-französi- den, dass die deutsch-französische Freundschaft und sche Zusammenarbeit inzwischen tief verankert ist, dass die deutsch-französische Aussöhnung ein großes histo- der europäische Geist in den letzten Jahrzehnten gewach- risches Glück sind. Es gehört zu den großen Errungen- sen ist und dass sie nicht als Widerspruch zur europäi- schaften unserer Geschichte, dass diese Aussöhnung ge- schen Einigung gesehen wird. lingen konnte.

In diesem Zusammenhang erwähne ich eine aktuelle (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Umfrage des französischen Instituts IFOP, im Rahmen Michael Georg Link [FDP]) derer die französische Bevölkerung im Dezember des letzten Jahres zu den deutsch-französischen Beziehungen Ich erinnere daran, dass sich bereits nach der großen repräsentativ befragt worden ist. Wesentliche Aussagen Katastrophe des Ersten Weltkriegs mutige und weitsich- dieser Umfrage waren: tige Männer und Frauen an diesem Aussöhnungswerk versucht haben. In den 1920er-Jahren sind dafür auch 84 Prozent der Franzosen haben ein gutes Bild von Friedensnobelpreise verliehen worden: an Buisson und Deutschland, sie attestieren Deutschland ein positives Quidde, an Briand und Stresemann. Doch konnte diese Image. Dieses ausgesprochen gute Bild von Deutsch- Aussöhnungsarbeit nicht durchdringen, und es kam zu land ist ein Ergebnis der europäischen Einigung und der einer noch bittereren Stunde für Europa und für unser deutsch-französischen Zusammenarbeit in den letzten Volk. Jahrzehnten. Heute wissen wir, was wir an der deutsch-französi- Eine Frage war – und jetzt wird es spannend –: Wel- schen Aussöhnung haben und welchen Wert sie auch für ches Land engagiert sich am meisten, um die europäische ein einiges und ein zukunftsträchtiges Europa darstellt. (B) Einigung voranzubringen: Frankreich, Deutschland oder Deswegen sagen wir: Die Fortschreibung des Élysée-Ver- (D) Frankreich und Deutschland zusammen? – Frankreich trags, der Vertrag von Aachen, ist eine gute Stunde nicht und Deutschland zusammen, haben 42 Prozent geant- nur für Deutschland und für Frankreich, sondern auch für wortet. Das heißt, die Mehrheit der Befragten sieht gera- Europa, weil wir enger zusammenrücken und das Signal de diese deutsch-französische Freundschaft als Schlüssel aussenden, dass weitere Themen in Europa nur gemein- für die Stärkung der europäischen Einigung. sam bewältigt werden können.

Was wollen wir denn mehr? Das zeigt doch: Das, was (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – wir, Deutsche und Franzosen, die letzten Jahrzehnte auf- Armin-Paulus Hampel [AfD]: Da klatscht gebaut haben, ist ein Beitrag zur europäischen Einigung, noch nicht einmal Ihre eigene Truppe kom- und der Aachener Vertrag wird das Ganze weiter stärken. plett!)

Eines will ich sagen, wenn wir über Sonderwege und Wenn man sich die Reden vergegenwärtigt, die von dieser Seite des Hauses gehalten worden sind, dann Sonderbeziehungen reden: Wir sind ausdrücklich offen bleibt hängen, dass Sie, Herr Kollege Kleinwächter, sa- dafür, dass wir ähnlich enge Formen der nachbarschaftli- gen: Deutschland zahlt, Frankreich schafft an. Dieser chen Zusammenarbeit auch mit den östlichen Nachbarn Vertrag entmachtet die nationale Willensbildung. – Das Deutschlands schaffen – mit Polen, mit der Tschechi- sind schlichtweg falsche Behauptungen. schen Republik. Auch das ist im Vertrag angelegt. Nichts wünsche ich mir mehr, als dass wir auch mit Polen und (Norbert Kleinwächter [AfD]: Das ist die Tschechen ähnlich enge Formen der Zusammenarbeit un- Tendenz!) ter dem Dach der Europäischen Union entwickeln. Ich sage Ihnen Folgendes: Es geht hier nicht um die Frage, Das Interessante ist, dass es übrigens auch auf der ob es deutsch-französische Sonderwege gibt, vielmehr anderen Seite des Rheins, in Frankreich, von den dor- geht es darum, ob nicht politische Kräfte von ganz rechts tigen Populisten ähnliche Behauptungen gibt. Ein Eu- oder ganz links wieder ganz andere deutsche Sonderwe- ropaabgeordneter namens Bernard Monot hat in einem ge beschreiten wollen, die in der Vergangenheit ins Un- mittlerweile gelöschten YouTube-Video behauptet – es glück geführt haben. Genau davor wird uns der Aachener ist ein Abgeordneter, der früher beim Front National war Vertrag bewahren. und jetzt bei der rechtsextremen Splittergruppe Debout La France ist –, dieser Vertrag sei ein Verrat an der fran- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zösischen Nation. Er nennt Macron einen Judas, und er der CDU/CSU) behauptet, dass durch den Aachener Vertrag Deutsch im 8640 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Volker Ullrich (A) Elsass und in Lothringen Amtssprache wird – völlig fal- lassen wir Ihnen nicht durchgehen. Wir werden deutlich (C) sche Behauptungen. machen, dass Ihr Weg ein Irrweg ist, der Deutschland und Europa in die Krise führen wird. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Sie müssen ja nicht jeden Trottel zitieren!) Herzlichen Dank. Aber daran sieht man einfach, wie Populisten arbei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ten, und das sollten wir einmal herausarbeiten: Sie stel- ordneten der SPD und der FDP) len gegen besseres Wissen falsche Behauptungen auf. Sie arbeiten mit der Lüge und machen den Menschen Angst. Ich sage Ihnen ehrlich: Wir werden Ihnen das nicht Vizepräsidentin Petra Pau: durchgehen lassen. Wir entlarven Ihre Lügen und Ihren Das Wort hat der Abgeordnete Christian Petry für die Populismus. SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (Beifall bei der SPD) bei Abgeordneten der FDP und der Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Christian Petry (SPD): Es geht darum, dass Europa enger zusammenrücken Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und kann. Die Eurodistrikte, grenzüberschreitende Räume Herren! Deutsch-Französischer Vertrag, Weiterentwick- der Zusammenarbeit, stehen für ein wichtiges Anliegen, lung des Élysée-Vertrages, Élysée 2.0, Vertrag von Aa- wenn es darum geht, Politik im Kleinen zu gestalten. chen – so heißt er jetzt –: Dieser Vertrag könnte genau- Wenn mittlerweile eine Straßenbahn von Straßburg nach so gut einen anderen Namen tragen, wie zum Beispiel Kehl fährt, dorthin, wo es vor 30 oder 40 Jahren noch Vertrag von Bergedorf. Damit wären die Hamburger in lange Grenzkontrollen gab, dann muss sich das doch den Titel aufgenommen. Es ist also ein Vertrag für alle auch in der gemeinsamen Verwaltung widerspiegeln, in Deutschen und für alle Franzosen, und ich glaube, es ist Regelungen, die ermöglichen, dass in diesen Grenzregio- gut so, dass wir heute und hier – obwohl die AfD diese nen Menschen stärker zusammenrücken Aktuelle Stunde beantragt hat – das Positive darstellen können. Es ist doch ein Tag der Freude, ein Glück. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Wie lange fährt die Straßenbahn schon?) Ich komme aus der Grenzregion Deutschland/Frank- und dass durch dieses Zusammenrücken auch ein Gefühl reich, aus dem Saarland. Ich bin unwahrscheinlich froh, der Gemeinsamkeit entsteht. dass Menschen in meinem Lebensalter ein Europa in Frieden und Sicherheit erlebt haben. Mein Vater und (B) Das ist übrigens auch die Blaupause für andere Regio- mein Großvater, meine Mutter und meine Großmutter (D) nen in Europa. Es gibt viele Grenzregionen, und wir wol- hatten dieses Glück nicht. Dieses Glück macht mich len, dass diese Grenzregionen in den Köpfen verschwin- stolz, und es macht mich stolz, in diesem Parlament den und dass sich die Menschen als geeint verstehen und daran mitarbeiten zu dürfen, dass wir diese Beziehung ihre Nachbarn, auch wenn es vielleicht Sprachdifferen- weiterentwickeln, dass wir sie stabilisieren, dass wir sie zen gibt, als gemeinsam zugehörig zu diesem Europa festigen. Das ist doch ein Tag der Freude. verstehen. Deswegen ist es wichtig, dass auch in dem neuen Vertrag, dem Aachener Vertrag, beispielsweise ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- regelt wird, dass wir sehr viel mehr Wert darauf legen, ten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Harald die Sprache des Nachbarn zu lernen. Nur wer die Sprache Weyel [AfD]: Apolitische Emotionen!) des Nachbarn kann und sich verständigen kann, der kann Den Rednern der AfD möchte ich nur sagen: Wir sind sich auch noch tiefer in ihn hineinversetzen. hier im Jahr 2019. Das hier ist Deutschland, und wir sind Ich sage Ihnen ehrlich: Wir setzen Ihrer Missachtung in Berlin. Der eine oder andere von Ihnen hat das irgend- von demokratischen Strukturen und Ihrer Missachtung wie verwechselt. Die Verträge, die wir hier haben, brin- von Europa die Dynamik für Europa entgegen. gen uns natürlich weiter. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Was hat denn (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das Saarland das mit Missachtung von demokratischen schon!) Strukturen zu tun?) Franziska Brantner, ich muss sagen: Natürlich ist die Wir wissen, dass in einem geeinten Europa die Ökologie mit drin im Vertrag – vorne. Man muss nur deutsch-französische Zusammenarbeit der Motor und nachlesen. Die Klimaschutzziele sind mit drin. Es sind das Rückgrat sein können. Die AfD ist die Partei, die das der faire Handel, die faire Steuerpolitik mit drin. Man Europaparlament, die einzig direkt gewählte demokrati- sollte nicht den Eindruck erwecken, all das sei nicht Be- sche Organisation der Europäischen Union, standteil des Vertrages. Man kann alles noch genauer er- klären; das ist ganz klar. Ich finde, dass es sich lohnt, (Dr . Harald Weyel [AfD]: Einfallstor für Lob- um soziale Aufwärtstrends beider Länder zu ringen, die byismus!) Infrastruktur zusammenzubringen, auch eine gemeinsa- abschaffen wollen. Sie diskutieren über den Austritt me Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, die Wirt- Deutschlands aus der Europäischen Union. Sie wollen schaftsräume stärker aneinander zu bringen, die Zusam- unser Land in ein Chaos führen, und Sie wollen weniger menarbeit der Polizei zu stärken und in den Bereichen Wohlstand, weniger Frieden und weniger Sicherheit. Das Medien und Kultur stärker zusammenzuarbeiten. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8641

Christian Petry (A) Dies wird mit einer Projektliste belegt, die sehr kon- die Europa stabil und friedlich halten und es weiterbrin- (C) kret ist. Darin können die Bürgerinnen und Bürger beider gen; das wünsche ich mir. Dafür treten wir alle gemein- Länder unmittelbar sehen, dass das nicht nur schöne Sät- sam als Demokraten ein. ze sind, sondern dass sie mit Projekten, Maßnahmen und tatsächlich mit einem deutlichen Mehrwert für alle, die in Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. einem der beiden Länder wohnen, versehen sind. Darauf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) können wir stolz sein. Das ist eine große Leistung, und das ist etwas, was für andere durchaus Vorbild sein kann. Vizepräsidentin Petra Pau: Das wünsche ich mir, liebe Kolleginnen und Kollegen. Letzter Redner in dieser Debatte ist Philipp Amthor (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die CDU/CSU-Fraktion. der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, dass wir über die Lebensdauer des Ver- trags von Aachen – der Vorgängervertrag ist jetzt 56 Jah- Philipp Amthor (CDU/CSU): re alt; es ist also ein wegweisender, sehr lang laufender Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vertrag – es schaffen werden, mit vielen positiven Im- Eine Aktuelle Stunde auf Verlangen der AfD zum Zu- pulsen die Zusammenarbeit und das Zusammenwachsen stand der Europäischen Union – da muss ich Ihnen sa- unserer Länder voranzubringen. gen: Wir waren alle relativ erwartungsfroh und uns über die Fraktionen hinweg eigentlich gar nicht so klar darü- Das Mitwirken am Parlamentsabkommen – ich möch- ber, was uns heute erwartet. te hier ausdrücklich allen Kolleginnen und Kollegen dan- ken, die das positiv betreut haben, auch dem Präsidenten, (Marianne Schieder [SPD]: Wie? Sie erwarten Wolfgang Schäuble, der uns beim Vorankommen dieses noch was? Wir erwarten schon lange nichts Abkommens sehr unterstützt hat – ist für mich persönlich mehr!) die interessante Arbeit in meinem bisherigen Parlaments- Liebe Kolleginnen und Kollegen, was haben wir bekom- leben gewesen. Wir haben sehr vertrauensvoll mit den men? Wir haben eine große Melange bekommen aus ei- Kollegen aus Frankreich unter dem Vorsitz von Herrn ner Solidarisierung mit dem Protest der Gelbwesten in Jung – das war sehr gut gemacht –, Frau Thillaye und Frankreich, aus einer Kritik am deutsch-französischen Herrn Arend aus Frankreich zusammengearbeitet. Wir Parlamentsabkommen und am Regierungsabkommen haben zusammen etwas geschaffen, an dem wir auch in und schließlich eine große Allgemeinkritik an der Euro- den nächsten Jahren weiterarbeiten können. Wir können päischen Union. (B) etwas Neues, und zwar etwas Wegweisendes, in einem (D) Konzil gemeinsam erarbeiten und Vorschläge für unsere (Zurufe von der AfD) Länder erarbeiten. Das wünsche ich mir geradezu auch Ich will Ihnen deutlich sagen: In allen drei Punkten mit anderen Staaten: Wir können miteinander arbeiten, haben Sie heute mächtig danebengegriffen. bis wir zusammen das Große und Ganze haben. Das ist doch etwas sehr Positives; so sollten wir dies auch be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nennen. Das bringt uns weiter, das bringt die Menschen in unserem Land weiter. Darauf können wir alle sehr Das fing schon mit den Ausführungen zum Thema Gelb- stolz sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. westen an. Herr Gauland, ich habe gedacht, Sie sind die tolle Partei des Rechtsstaates und des Gewaltmonopols. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Und dann kritisieren Sie die Bundeskanzlerin hier dafür, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) dass sie mit Blick auf die Ausschreitungen in Frankreich gesagt hat, dass es natürlich darum geht, das Gewaltmo- Wenn man jetzt – wie auf der rechten Seite unseres nopol des Staates zu sichern. Ich sage Ihnen eines: Wenn Hauses – das alles schlechtreden will, dann kann man das es um Demonstranten geht, die sich gegen geltendes machen. Das ist Wahltaktik. Auch die heutige Aktuelle Recht hinwegsetzen, dann sind die Gelbwestenproteste Stunde dient ja offensichtlich nur dazu, irgendwelche in Frankreich, wenn sie gewaltbereit sind, nicht besser Bilder von Angriffen der demokratischen Parteien zu be- als die Proteste von G‑20-Demonstranten in Hamburg. kommen. Das ist langweilig. Und das hätten Sie als Rechtsstaatspartei hier so auch be- nennen können. Aber man sollte klarstellen: Die Bürgerinnen und Bür- ger dieses Landes können in der Europawahl mit darüber (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- entscheiden – ein großes Gut –, ordneten der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die sind aber keine Rechtsstaatspar- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das stimmt! tei!) Jetzt sagen Sie was Richtiges!) Es geht weiter mit der Kritik, die Sie an dem dass nicht die Lautsprecher und die Vereinfacher, viel- deutsch-französischen Parlamentsabkommen üben. fach die Lügner, Europa künftig gestalten, sondern die Wir müssen hier vielleicht differenzieren und sehen: Es Demokraten, geht um zwei Abkommen. Zum einen geht es um das deutsch-französische Parlamentsabkommen, das hier (Dr . Harald Weyel [AfD]: Die Vertragsbre- ausgehandelt wurde, auch mit Vertretern der AfD. Herr cher!) Kleinwächter, Sie waren bei den Verhandlungen dabei. 8642 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Philipp Amthor (A) Ich habe gehört, Sie hätten sich heute mehr ereifert als sind Europa und die Europäische Union eben nicht un- (C) Sie sich in den Sitzungen eingebracht hätten. In jedem verbunden, sondern die Europäische Union ist für uns Fall muss man sehen: Das Parlamentsabkommen wäre auch im Hinblick auf das Staatsziel, wie es in der Ver- genau das Thema gewesen, mit dem Sie sich wirkungs- fassung steht, zentrale Triebfeder für den europäischen voll hätten auseinandersetzen können. Stattdessen kri- Integrationsprozess. Ich kann hier nur sagen: Ein Blick in tisieren Sie hier das Abkommen, das die Regierungen die Verfassung schadet nie. Artikel 23 des Grundgesetzes aushandeln, um das es zum anderen geht. Konzentrieren sollten Sie sich mal anschauen: Sie sich doch lieber auf die Aufgaben, die Sie als Parla- Zur Verwirklichung eines vereinten Europas mentarier auch wahrnehmen können. – da kommt Ihr Europa vor – (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Die Regie- rung zu kontrollieren, Herr Amthor! – Armin-­ wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Ent- Paulus Hampel [AfD]: Thema verfehlt! Set- wicklung der Europäischen Union mit ... zen! Sechs!) Das ist für uns der entscheidende Punkt. Hier ist Öffentlichkeit da. Hier haben Sie sich nicht ein- (Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD]) gebracht. Das wäre die Chance gewesen. Die Europäische Union dient der Verwirklichung des ver- Ein Aspekt kommt noch dazu: Sie kritisieren, dass einten Europas. Dabei geht es nicht darum, Hoheitsrech- das deutsch-französische Regierungsabkommen noch te abzutreten. Das, was Sie behaupten, stimmt schlicht Verschlusssache, nur für den Dienstgebrauch ist. Woran nicht. liegt das? Ich kann Ihnen eines sagen: Das sind übliche völkerrechtliche Usancen. Herr Gauland, Sie waren ein- (Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD]) mal Chef der Staatskanzlei in Hessen. Sie wissen: Die Jetzt wird dieser Tage viel darüber diskutiert, ob und deutschen Länder sind auch an der Aushandlung völ- inwieweit der Verfassungsschutz die AfD beobachtet. kerrechtlicher Verträge beteiligt. Ich glaube, Sie werden Das ist nicht Gegenstand. Ich sage Ihnen: Was Ihnen hel- sich nicht an einen Moment in Ihrer Amtszeit erinnern, fen würde, ist, ab und an die Entwicklung der Verfassung an dem es vorkam, dass ein völkerrechtlicher Vertrag vor zu beobachten. dem Prozess der Ratifikation in den Parlamenten öffent- lich war. Das ist gute völkerrechtliche parlamentarische (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU) Übung. Deswegen kann man nur sagen: Messen Sie hier Dann würden Sie sehen: Da spielt die Europäische Union nicht mit zweierlei Maß! heutzutage eine ganz andere Rolle – wir bekennen uns zu dieser. (B) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (D) Martin Hebner [AfD]: Unfug! Falsch! – Herzlichen Dank. ­Armin-Paulus Hampel [AfD]: Leider daneben!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wir werden uns hier im Parlament noch mit dem ordneten der FDP) Ratifikationsprozess des deutsch-französischen Regie- rungsabkommens beschäftigen. Wir werden es hier im Parlament diskutieren, so wie es üblich ist. Dann können Vizepräsidentin Petra Pau: Sie die Kritik auch anbringen. Das, was Sie hier machen, Die Aktuelle Stunde ist beendet. ist nur Teil einer allgemeinen Strategie, Stimmung ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: gen die Europäische Union zu verbreiten. Das lassen wir nicht zu. Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen- tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der AfD) Stellungnahme des Parlamentarischen Bei- rates für nachhaltige Entwicklung zum Peer Ich will Ihnen noch eines sagen: Wir haben dieser Review 2018 zur Deutschen Nachhaltigkeits- Tage von vielen AfD-Vertretern in allen Debatten, auch strategie in den Debatten zum Brexit, den besonders schlauen Satz gehört, den die AfD immer wieder wiederholt: „Die Eu- Drucksache 19/6475 ropäische Union – das ist nicht Europa; Europa ist mehr Überweisungsvorschlag: als die Europäische Union.“ Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsord- (Beifall bei der AfD – Armin-Paulus Hampel nung [AfD]: Richtig!) Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Ja, es ist gut, dass Sie klatschen, aber Sie müssen uns Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales nicht belehren; das wissen wir auch selbst. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Lachen von der AfD) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Das Verhältnis, das Sie zur Europäischen Union ha- schätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- ben, ist ein mächtig schiefes. Das ist dem Grunde nach lung auf einem Stand des Grundgesetzes, der 30 Jahre alt ist. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Denn völlig klar ist: Für den deutschen Verfassungsstaat Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8643

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schon jetzt erreicht. Mit der Entwicklung des IT-Tools (C) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- zur elektronischen Nachhaltigkeitsprüfung durch das nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. BMI gemeinsam mit den Ressorts wurde die Qualität der Gesetzesprüfungen auf Nachhaltigkeit verbessert. Und Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen in den bei der Verbesserung unserer Gesamtrohstoffproduktion Fraktionen zügig vorzunehmen. sind wir auch auf einem guten Weg, sodass wir nach allen Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parla- statistischen Trendberechnungen das Ziel bis 2030 auch mentarische Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter. erreichen werden. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße aus- drücklich, dass der Parlamentarische Beirat für nach- Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei haltige Entwicklung erneut zum Peer Review Stellung der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nu- nimmt. Ich habe mich auch gefreut, dass einige Kolle- kleare Sicherheit: ginnen und Kollegen im vergangenen Jahr mit nach New Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! York gereist und beim HLPF, dem Hochrangigen Politfo- Zum dritten Mal hat die Bundesregierung den Rat für rum, dabei waren; sie kamen nicht nur aus dem Umwelt- Nachhaltige Entwicklung beauftragt, einen Peer Review bereich oder der Entwicklungszusammenarbeit, sondern umzusetzen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, sich auch aus anderen Ausschüssen. Das macht noch einmal von außen betrachten, begutachten zu lassen. Was wol- deutlich: Wir brauchen den Rückenwind der Parlamen- len wir damit erreichen? Wir wollen damit Transparenz tarier. Das wird auch insgesamt gut angenommen, auch und Ambitionen erhöhen. Gleichzeitig können wir auch von der UN. Wie gesagt: Wir brauchen aus allen Politik- Vorbild für andere Länder sein, die im Prozess sind, die feldern die Rückendeckung des Parlaments. UN-Nachhaltigkeitsziele umzusetzen. Trotz aller internationaler Anerkennung der Nach- Die Expertinnen und Experten des Peer Reviews kom- haltigkeitspolitik Deutschlands ist ein Fazit des Beirats men 2018 zu folgendem Fazit: Wir sind mit der Deut- natürlich auch: Die Wertschätzung erfährt die nationale schen Nachhaltigkeitsstrategie schon sehr gut, aber – na- Nachhaltigkeitspolitik vor allem in der einschlägigen türlich – können wir noch ehrgeiziger werden. Szene. Wir haben nur noch knapp zwölf Jahre. Wir müs- sen unser Tempo etwas beschleunigen, um diese Ziele Wir sind international Vorreiter, wir haben eine Veranke- umzusetzen. Wir haben im Koalitionsvertrag auch ei- rung in vielen Sektoren, Institutionen und Prozessen; wir niges verankert. Wir haben zum Beispiel das Insekten- haben intellektuelles, technisches und wirtschaftliches schutzprogramm auf den Weg gebracht. Wir haben gera- (B) Potenzial für den wirklich nachhaltigen Umbau unserer de die UN-Klimakonferenz in Katowice hinter uns, und (D) Gesellschaft. der Gesetzentwurf für ein Klimaschutzgesetz ist auch in Die Bundesregierung hat mit ihrem Beschluss zur den Startlöchern. Wir haben die Strukturwandelkommis- Aktualisierung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie sion, mit der wir auch zeigen können, wie wir eine Trans- im Dezember 2018 auch noch einmal bekräftigt: Die formation nachhaltig voranbringen können. 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung muss zu ei- Deshalb ist mir wichtig, zu sagen: Nachhaltigkeit nem Kompass für alle Politikfelder werden – neben der braucht das Zusammenspiel aller – auf nationaler, euro- Entwicklungs- und Umweltpolitik natürlich auch für die päischer und internationaler Ebene. Damit können wir Innen- und Migrationspolitik und die Wirtschafts- und tatsächlich Frieden und Gerechtigkeit schaffen. Innovationspolitik. Wir sind schon weit gekommen, in ganz unterschied- Herzlichen Dank für die Zusammenarbeit, einmal lichen Bereichen: Wir haben noch bessere Prozesse der dem Rat für Nachhaltige Entwicklung und einmal dem Abstimmung, Kooperation und Beteiligung möglichst Parlamentarischen Beirat. Ich setze auf Sie, dass wir vieler gesellschaftlicher Akteure implementiert; wir ha- die nächsten Jahre Geschwindigkeit aufnehmen, um die ben die Managementregeln ausgebaut, nach denen alle SDGs zu implementieren. Ressorts Nachhaltigkeit voranbringen. Bei der nachhal- tigen öffentlichen Beschaffung beginnen wir, in zwei Vizepräsidentin Petra Pau: Bereichen aktiv zu werden: beim Anteil der beschafften Papiere mit dem Blauer-Engel-Label und bei der Fahr- Frau Staatssekretärin, Sie können gerne weiter reden, zeugflotte. Jetzt denken Sie nicht, dass wir bisher nur in aber ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie diesen Bereichen nachhaltig tätig sind, aber man muss es es auf Kosten Ihrer Fraktion tun. in den Zusammenhang mit Indikatoren und dem setzen, was man messen kann. Das wollte ich nur einbetten. Das Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei sind nicht die einzigen Felder, auf denen die Bundesre- der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nu- gierung nachhaltig tätig ist. kleare Sicherheit: Im Zeitraum von 1990 bis 2017 hat sich der Anteil Das war mein letzter Satz. der erneuerbaren Energien wesentlich erhöht, von 3,4 auf 36 Prozent – die neuesten Zahlen liegen bei 40 Prozent. Herzlichen Dank. Damit haben wir das Ziel, den Anteil der erneuerbaren Energien bis zum Jahr 2020 auf 35 Prozent zu erhöhen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 8644 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: berücksichtigt in keiner Weise, ob die inhaltlichen Ent- (C) Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rainer Kraft für die scheidungen der Regierung diesen sich selbstgestellten AfD-Fraktion. Kriterien gerecht werden. Nehmen wir als Beispiel das Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG. Das Sustainable (Beifall bei der AfD) Development Goal Nummer sieben verlangt nach einer verlässlichen und bezahlbaren Stromversorgung für die Dr. Rainer Kraft (AfD): Gesellschaft. Das EEG führt aber in seiner Ausführung Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeord- weder zu mehr Verlässlichkeit noch zu preiswertem nete! Werte Gäste! Diese Rede hätte ja schon vor einem Strom – ganz im Gegenteil: Durch dieses Gesetz sinken Monat gehalten werden sollen, 150 Jahre nach der Ge- die Verlässlichkeit und die Bezahlbarkeit. Es konterka- burt von Fritz Haber. Nun ist der Termin für die Rede riert also das Nachhaltigkeitsziel Nummer sieben und – verschoben worden, ich werde aber zu einem späteren weil wir gerade dabei sind – die Ziele eins, zwei und drei. Zeitpunkt auf den Sohn eines jüdischen Kaufmanns aus Breslau zu sprechen kommen, der am 9. Dezember 1868 (Beifall bei der AfD) das Licht der Welt erblickte. Wir sehen also: Es reicht nicht, nur nach der Existenz von Zum Peer Review: Wer sind denn diese sogenannten Nachhaltigkeitszielen zu fragen. Man muss auch deren Peers, die ihre Empfehlungen über die Nachhaltigkeits- Umsetzung im Blick behalten, sonst kommt man nicht strategie Deutschlands abgegeben haben? „Peer“ bedeu- vom theoretischen Elfenbeinturm ins reale Leben. tet im englischen Sprachgebrauch so viel wie ein Gleich- gestellter, ein Ebenbürtiger. Fragen wir uns: Wem sind (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE diese elf Peers denn eigentlich ebenbürtig? Wem sind sie GRÜNEN]: Sie kommen keinen Schritt vor- gleichgestellt? Sind sie es mit den arbeitenden, steuer- wärts!) zahlenden Bürgern Deutschlands? Ein Blick in die Bio- grafien dieser Peers verrät es: Nur wenige haben jemals Zurück zu Fritz Haber: eine herausragende Figur der in der freien Wirtschaft gearbeitet; alle anderen haben in Geschichte und dennoch tragisch und kontrovers. Mit der Politik, in Regierungs- und Nichtregierungsorganisa- dem Problem von Hungersnöten in seiner Heimat kon- tionen eine klassische Bürokratenkarriere hingelegt. Nur frontiert, erfand er in der Kaiserzeit das nach ihm und eine Minderheit dieser Personen hat jemals die Erfahrung Carl Bosch benannte Verfahren zur Herstellung von Am- der Bevölkerung dieser Welt geteilt und durch produk- moniak unter Verwendung von Luftstickstoff. Für diese tive Tätigkeit den Wohlstand oder das Wissen der Welt Leistung wurde ihm, dem Mann, der Brot aus der Luft gemehrt oder deren Leiden gelindert. erzeugte, 1919 der Chemie-Nobelpreis verliehen. Dieser Entdeckung verdanken heute bis zu 6 Milliarden Men- (B) (Beifall bei der AfD) (D) schen ihre Existenz, und sie wird als eine der größten Er- Ebenbürtig sind sie damit selbstverständlich einer findungen der Menschheit angesehen. anderen Gruppe, die ebenfalls mehrheitlich nicht über diese Erfahrungen verfügt: unserer Bundesregierung. So (Beifall bei der AfD) kommt am Ende doch ein Peer Review zustande, jedoch nicht von denjenigen, die durch ihre Steuerlast den Staat Mehr Nachhaltigkeit geht wohl nicht. Zu Fritz Habers und seine Errungenschaften stützen, sondern von denje- Zeit gab es noch keine Nachhaltigkeitsziele, sein Han- nigen, die von der Arbeit anderer leben. Wer, wenn nicht deln war nicht durch theoretische Vorgaben supranati- Deutschland? Damit wird die Erwartungshaltung an onaler Behörden motiviert, sondern durch direkte Not- Deutschland ausgedrückt, in Sachen Nachhaltigkeit vor- wendigkeit. Die Bundesregierung wäre gut beraten, die wegzugehen und den anderen Nationen ein Beispiel zu Probleme zu bewältigen, die unsere Bürger ganz real be- geben. Der Peer Review stellt dabei die steile These auf: drohen, anstatt sich an der Erfüllung von bürokratischen Staaten, deren Regierungen die Chance der sogenannten Zielvorstellungen zu beteiligen, wie wohlmeinend sie Nachhaltigkeit nicht ergreifen, würden bezüglich ihrer auch formuliert sein mögen. wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, ihres internatio- nalen Ansehens und des Wohlbefindens ihrer Bürger zu- „Leaving no one behind“, niemanden zurücklassen – rückfallen. Dann müssten sich andere Staaten doch gera- dies ist eine Kernaussage der Nachhaltigkeitsziele. Dies dezu darum reißen, den deutschen Weg zum nachhaltigen gilt aber insbesondere und zuallererst für die deutschen Weltenwohl zu übernehmen, um ihren Völkern Zukunft, Bürger; denn darauf haben Sie, die Bundesregierung, ei- Wohlstand und Glückseligkeit zu bringen. nen Eid abgelegt. (Beifall bei der AfD) Vielen Dank.

Stattdessen stellen sie sich in ausgesuchter Höflichkeit (Beifall bei der AfD) hintenan und überlassen es Deutschland, diesen Pfad zu beschreiten. Oder geht es doch nur darum – so drückt es der Review aus –, dass es Deutschlands Rolle ist, die Vizepräsidentin Petra Pau: nötigen Gelder zur Verfügung zu stellen, um die globale Nachhaltigkeitstransformation zu unterstützen? Das Wort hat der Kollege Kai Whittaker für die CDU/ CSU-Fraktion. Des Weiteren bewertet der Review ausschließlich die Vorgaben der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Er (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8645

(A) Kai Whittaker (CDU/CSU): Stichwort „Umwelttechnologie“. Dazu hat das BMU (C) Frau Präsidentin! Werte Kollegen! vor kurzem eine Studie herausgegeben, die zeigt, dass der Weltmarktanteil Deutschlands an der Umwelttechno- Der Mensch will immer, daß alles anders wird, und logie bei 14 Prozent liegt, obwohl der Marktanteil der gleichzeitig will er, daß alles beim Alten bleibt. Bundesrepublik Deutschland insgesamt nur bei knapp unter 5 Prozent liegt. 1,5 Millionen Menschen stehen je- Dieser Satz von Paulo Coelho beschreibt den Zielkon- den Morgen auf, um für diese Umwelttechnologie, für flikt der Nachhaltigkeit ziemlich genau. Auf der einen einen sauberen Planeten, für eine bessere Zukunft zu ar- Seite wissen wir, dass wir anders produzieren müssen beiten. Wir verdienen in Deutschland inzwischen jeden und dass wir unseren Lebensstil verändern müssen, wenn fünften Euro mit dieser Technologie. Das zeigt – das ist wir saubere, bezahlbare und erneuerbare Energie wollen. insbesondere an Sie gerichtet, Herr Dr. Kraft –, dass es Auf der anderen Seite merken wir aber auch, wie schwer hier nicht um eine Utopie geht, sondern um ganz reale es ist, auf Wohlstand, zumindest aber auf die Annehm- Punkte, die unsere Menschen umtreiben und die sie nicht lichkeiten des Alltags zu verzichten. Eigentlich sollte belasten, sondern von denen sie profitieren. doch alles so bleiben, wie es ist, aber irgendwie auch an- ders werden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- „Nachhaltigkeit“ ist ein Begriff, der manchmal hip ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ und modern ist, manchmal auch etwas sperrig, der aber DIE GRÜNEN) auch kontrovers und widersprüchlich sein kann. Das Die Peers haben uns einige Ratschläge auf den Weg wird klar, wenn man zum Beispiel die Diskussion um die gegeben. Einer davon ist – das freut vielleicht den einen E-Autos betrachtet. Ja, wir wollen weg von der klassi- oder anderen in unserem Ausschuss –, der Parlamenta- schen CO -Verbrennungsmaschine. Wenn wir uns aber 2 rische Beirat für nachhaltige Entwicklung bräuchte mehr anschauen, wie zum Beispiel Batterien für E-Autos her- Kompetenz. Er müsste eventuell zu einem Super-Aus- gestellt werden, stellen wir fest, dass man nicht sagen schuss werden, in dem wir jedes Gesetz daraufhin prü- kann, dass das heute ein ökologisch sauberer Standard fen, ob es den Nachhaltigkeitszielen der UN entspricht. ist. Wir wären dann so etwas wie ein Super-Veto-Ausschuss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich glaube nicht, dass das richtige Ziel ist; denn die Das zeigt den Widerspruch in dieser Debatte. Trotzdem wenigen Wochen, die wir zwischen der ersten und der ist es ein großes politisches Versprechen – und wir wol- zweiten und dritten Lesung haben, um ein Gesetz zu len es einhalten –, Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft prüfen, sind nicht die richtige Zeit, um einen Gesetz- (B) zusammenzubringen. Anders ausgedrückt: Es stellt sich entwurf strukturell komplett umzuschmeißen, wenn er (D) die Frage, wie wir eine Gesellschaft schaffen können, in den Nachhaltigkeitszielen nicht entspricht. Es kann auch der es fair zugeht und die lebenswert und auch lebensfä- nicht Aufgabe von einigen wenigen Parlamentariern in hig ist. Um diese drei Ziele muss es uns gehen. diesem weiten Rund sein, diese Aufgabe zu übernehmen. Wenn wir wirklich wollen, dass diese Ziele erreicht wer- Die elf Experten, die sogenannten Peers, haben sich den, dann muss jeder Kollege diese Ziele mitdenken, und Deutschland daraufhin angeschaut und ihr Urteil in eine dann muss die Feder schon entsprechend geführt werden, Frage gefasst. Sie lautet: Wenn es Deutschland nicht wenn der Gesetzentwurf geschrieben wird. Das kann schafft, wer dann? Man ist gerade als Christdemokrat ge- nicht erst geschehen, wenn wir schon mitten in der Be- neigt, zu sagen: Wir in Deutschland schaffen das, diese ratung sind. drei Ziele zusammenzubringen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir als Union haben deshalb zwei konkrete Forde- rungen: Erstens. Lasst es uns doch als Staatsziel in das Zugegeben: Bei einigen Zielen habe ich mir wenig Grundgesetz aufnehmen. Zweitens. Lasst uns doch den Sorgen gemacht, ob wir sie erreichen, zum Beispiel, was Nationalen Kontrollrat dafür nutzen, dieser Aufgabe mit den Zugang zu sauberem Wasser und zu Wassertoiletten gerecht zu werden. Wir lassen schon die Bürokratiekos- angeht. Das war sicherlich nicht die große Herausforde- ten von ihm überprüfen. Warum lassen wir Gesetze nicht rung für unser Land. Aber natürlich gibt es auch Berei- auch bezüglich der Nachhaltigkeitsziele durch ihn prü- che, in denen wir noch besser werden müssen. Das gilt fen? Ich freue mich darauf, dass wir das in den nächsten etwa beim Thema „CO2“ und beim Thema „erneuerbare Wochen und Monaten gemeinsam debattieren werden. Energien“, auch wenn wir da mit knapp 40 Prozent einen neuen Rekordstand erreicht haben. Die Frau Staatssekre- Herzlichen Dank. tärin hat das gerade ausgeführt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- In vielen anderen Bereichen aber sind wir auf einem ordneten der SPD) sehr guten Weg. Ich nenne als Beispiel das zehnte Ziel der UN, „weniger Ungleichheit“. Deutschland belegt Platz eins beim durchschnittlich verfügbaren Einkom- Vizepräsidentin Petra Pau: men. Auch beim elften Ziel, „nachhaltige Kommunen“, Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Lukas stellen wir fest: Wir belegen Platz eins bei der Recy- Köhler das Wort. clingquote; 63,8 Prozent des kommunalen Mülls werden recycelt. (Beifall bei der FDP) 8646 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Dr. Lukas Köhler (FDP): Es ist ein Widerspruch, die Energiepolitik ausstoßfrei (C) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten denken zu wollen, aber gleichzeitig bei der Kernfusion Damen und Herren! Nachhaltigkeit ist gut für alle. So nicht voranzukommen oder sie ganz abzulehnen. ähnlich denkt jeder über diesen Begriff, der ihn hört oder (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten liest. der AfD) (Zurufe von der Tribüne) Meine Damen und Herren, diese Konflikte sind lös- bar . Wir können sie in diesem Haus gemeinsam angehen, Vizepräsidentin Petra Pau: und zwar durch kluge Regelsetzung. Gerade als Politik Ganz kleinen Moment bitte. Ich halte die Uhr an. – Ich sollten wir der Zivilgesellschaft mehr zutrauen. Wir soll- bitte, die Ordnung auf der Besuchertribüne herzustellen. ten auch unseren Tüftlern, unseren Ingenieuren und den Erfindern in diesem Land Innovationen ermöglichen, die Herr Dr. Köhler, Sie haben das Wort. Die Uhr läuft dazu führen, dass eine nachhaltige und zukunftsgewand- weiter. te Welt geschaffen wird. (Beifall des Abg. Frank Müller-Rosentritt Dr. Lukas Köhler (FDP): [FDP]) Nachhaltigkeit ist gut für alle, und Demokratie sollte gelebt werden; das haben wir gerade gelernt. Ich finde Um Nachhaltigkeit in ihrem alten Sinn neu zu interpre- es gut, dass wir uns gemeinsam mit der Bevölkerung tieren, müssen wir auf moderne Technologien setzen. auch mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigen. Ich Dann gewinnen wir Effizienz. glaube, das muss das Leitprinzip unserer Debatte hier im (Beifall bei der FDP) Bundestag sein. Das Ziel, das wir mit dem PBnE, dem Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung, Die Zukunft der Nachhaltigkeit liegt in der Verbin- verfolgen, muss sein, das Thema Nachhaltigkeit, die Sus- dung von Natur und Technologie. Sie liegt in der Ent- tainable Development Goals und die Agenda 2030 mit ei- kopplung des Wirtschaftswachstums vom CO2-Ausstoß. ner breiten Debatte in der Öffentlichkeit zu verknüpfen; Sie liegt im Geoengineering und im Precision Farming. denn – ich hatte es anfangs erwähnt – Nachhaltigkeit ist Sie liegt in der Landwirtschaft, zum Beispiel, indem wir gut für alle, Zukunft aber auch. Drohnen und Satellitenbilder nutzen, um den Einsatz von Pestiziden zu verringern. Sie liegt aber nicht nur im Wir müssen von den Plattitüden wegkommen. Wir Naturschutz. Nachhaltigkeit wirklich zu leben, bedeutet, müssen darüber diskutieren, was die Zukunft der Nach- (B) dass wir das Säulendenken beenden müssen. Das zeigt (D) haltigkeit eigentlich bedeutet. Wir müssen darüber dis- auch der Peer Review. Das Pariser Klimaabkommen, die kutieren, welche Punkte wir in Angriff nehmen müssen, SDGs und die Biodiversitätsagenda, die in den anderen was wir aufnehmen müssen. Es ist eine zentrale Aufgabe Bereichen nicht gelebt wird, müssen zusammengedacht des Gesetzgebers, die Widersprüche und vor allen Din- werden. Wir müssen Nachhaltigkeit auch in der Sozial- gen die Zielkonflikte, die in den SDGs und in der Nach- politik berücksichtigen. Die 60 Indikatoren, die im Peer haltigkeitsagenda stecken, aufzugreifen und aufzulösen. Review aufgegriffen werden, helfen uns dabei, zu evalu- Meine Damen und Herren, der Begriff „Nachhaltig- ieren, welche Maßnahmen funktionieren und wohin es keit“ kommt aus der Forstwirtschaft. Er geht auf Carl von mittel- und langfristig gehen kann. Sie sind aber nur der Carlowitz aus Chemnitz zurück. Er hat ihn in einer Situ- erste Schritt, um eine gemeinsame Nachhaltigkeitsagen- ation aufgegriffen, in der der Wald dazu genutzt wurde, da als Leitbegriff zu entwickeln. wirtschaftliche Erträge zu bringen, aber natürlich wei- Wenn wir in unseren Begrifflichkeiten und bei den terhin eine prosperierende Landschaft bleiben sollte. Es Zielen und Indikatoren klar sind und diese klug weiter- stellt sich die Frage, wie viele Bäume heute in Sachsen entwickeln, wenn wir Widersprüchlichkeiten beseitigen ohne Carl von Carlowitz noch stehen würden. und technologieoffen und technologiefreundlich sind, Unsere zentrale Aufgabe, mit der wir uns als Gesetz- dann kommen wir ein gutes Stück bei unserem wich- geber beschäftigen müssen, ist es, Widersprüche und tigsten Nachhaltigkeitsziel, das den SDGs noch voran- Zielkonflikte aufzulösen. Es ist zum Beispiel ein Wider- geschaltet ist, weiter, nämlich den kommenden Genera- spruch, den globalen Hunger bekämpfen zu wollen und tionen Chancen auf eine lebenswerte Zukunft zu sichern. gleichzeitig gegen Grüne Gentechnik zu sein. Vielen lieben Dank. (Beifall des Abg. Dr. Rainer Kraft [AfD] – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nein! Das ist falsch!) der CDU/CSU) Es ist ein Widerspruch, unsere öffentlichen Haushalte

zukunftsfest und enkelfit gestalten zu wollen und in der Vizepräsidentin Petra Pau: Rentenpolitik weiter Sozialgeschenke zu verteilen. Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Thomas Lutze das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8647

(A) Thomas Lutze (DIE LINKE): Seit 2009 bin ich Mitglied dieses Parlaments. Ich war (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- acht Jahre im Verkehrsausschuss und im Tourismusaus- ginnen und Kollegen! Nachhaltigkeit ist sicherlich ein schuss. Seit 2013 habe ich meinen Arbeitsschwerpunkt vielsagender Begriff. Die meisten Menschen denken im Ausschuss für Wirtschaft und Energie. Soweit ich hierbei an etwas Gutes, etwas für die Zukunft oder etwas mich erinnern kann, sind die Stichworte „Parlamentari- Notwendiges. Es gibt sicherlich mehrere Definitionen scher Beirat für Nachhaltigkeit“ und „Nachhaltigkeits- für diesen Begriff, und für jede Definition gibt es noch prüfung“ noch nie, also in keiner Sitzung dieser Aus- verschiedene Interpretationen, was man unter Nachhal- schüsse, auch nur ein einziges Mal gefallen. tigkeit verstehen kann. Genau vor diesem Hintergrund Im Peer-Bericht wird deshalb zu Recht gefordert, den fand ich es gut, dass es im Bundestag einen Beirat für Beirat mit mehr Einflussmöglichkeiten auszustatten. In nachhaltige Entwicklungen gibt; denn die Überprüfung seiner Stellungnahme macht der Beirat das konkret und von Nachhaltigkeit ist für unser Gesetzgebungsverfahren fordert zum Beispiel für Beiratsmitglieder ein gesonder- eine sehr wichtige Aufgabe. tes Rederecht in den Ausschüssen. (Beifall bei der LINKEN) Des Weiteren wäre es sinnvoll, wenn der Beirat in die Geschäftsordnung des Bundestages aufgenommen wird. Heute beraten wir die Stellungnahme des Parlamen- Das ist bislang nämlich nicht der Fall. Bislang hat der tarischen Beirates für nachhaltige Entwicklung zum so- Beirat für nachhaltige Entwicklung keine direkte Ein- genannten Peer-Bericht. Dieser bewertet die Nachhaltig- flussmöglichkeit auf das Gesetzgebungsverfahren. Es keitsstrategie der Bundesregierung. fehlen Sanktionsmöglichkeiten oder ein Vetorecht. Das wären zumindest Möglichkeiten, auch Öffentlichkeit Ich nutze die Gelegenheit, um auch über die Rolle herzustellen, wenn Fehlentwicklungen der Politik der des Beirats im Parlament zu sprechen. Dazu finden wir Bundesregierung zu kritisieren sind. Ohne diese Instru- richtige Überlegungen in der Stellungnahme des Beira- mente hat der Beirat keine Handhabe, innerhalb oder au- tes; denn bisher kann der Beirat über Forderungen und ßerhalb des Parlamentes auch nur den geringsten Druck Wünsche aufgrund seiner Stellung im Parlament nicht zu erzeugen. hinauskommen. So ist der Beirat nur ein beratendes Or- gan im Gesetzgebungsverfahren. Neue Gesetze werden Um das zu ändern, gibt es zwei Möglichkeiten, liebe auf Richtigkeit und Glaubwürdigkeit hinsichtlich ihrer Kolleginnen und Kollegen. Die erste, vielleicht ungünsti- Nachhaltigkeit geprüft. Darüber hinaus kann der Beirat gere, ist: Wir lösen den Beirat auf, weil er keinen Einfluss im besten Fall mithelfen, die Nachhaltigkeitsstrategie der hat. Die zweite Möglichkeit ist: Der Beirat bekommt end- Bundesregierung in die richtige Richtung zu lenken. Ob lich Kompetenzen wie ein Fachausschuss. Das muss sich (B) die Bundesregierung sich dann tatsächlich an ihre eigene ändern, damit diese parlamentarische Arbeit, die notwen- (D) Nachhaltigkeitsstrategie hält oder sie effektiv umsetzt, ist dig und sinnvoll ist, auch einen parlamentarischen Sinn eine vollkommen andere Frage. bekommt. Herzlichen Dank und Glück auf! Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung ist in 66 Nachhaltigkeitsindikatoren aufgegliedert. 29 davon (Beifall bei der LINKEN) weisen momentan einen Trend auf, bei dem davon aus- zugehen ist, dass das Ziel nicht erreicht wird. Besonders Vizepräsidentin Petra Pau: in den Feldern Klimaschutz, Erhaltung der Artenvielfalt Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun und Luft- und Wasserverschmutzung zeigt die Politik der Dr. Bettina Hoffmann das Wort. Bundesregierung deutliche Defizite. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bundesrepublik – das ist schon gesagt worden – bekennt sich zu dem Grundsatz „leaving no one behind“ Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus der UN-Agenda 2030. Wir wollen also niemanden NEN): zurücklassen. Länder, die zum Beispiel Probleme bei Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach- der Finanzierung und Umsetzung des Klimaschutzes haltigkeit ist nicht nur ein Wort. Wenn es darum ginge, haben, sollen unterstützt werden. Allerdings findet die- möglichst häufig diesen Begriff in den Mund zu nehmen, ser Grundsatz keine konkrete Umsetzung in der Nach- dann wäre unsere Bundesregierung Nachhaltigkeitswelt- haltigkeitsstrategie der Bundesregierung. Das muss sich meisterin; denn das Wort kommt allein im Koalitionsver- ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen. trag 72-mal vor. (Beifall bei der LINKEN) (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Da sehen Sie mal, wie wichtig das ist!) Des Weiteren kritisiert der Peer-Bericht die Ineffekti- vität des Staatssekretärsausschusses. Dieser ist offenbar Doch es geht nicht um Worte, es geht um Taten. kein ausreichendes Gremium, um die Nachhaltigkeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) strategie der Bundesregierung effektiv umzusetzen. Der Peer-Bericht empfiehlt, dass die Bundesregierung ihre Und dabei steht Deutschland eben nicht so gut da. So, Nachhaltigkeitsstrategie durch ein Maßnahmenpro- wie die Regierung handelt, wird Deutschland 29 von gramm konkretisiert. So sollen ressortspezifische Maß- 66 selbstgesteckten Nachhaltigkeitsindikatoren deutlich nahmenpläne für jedes Ministerium entwickelt werden. verfehlen. Das stellen die Peers in ihrem Bericht fest, 8648 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. Bettina Hoffmann (A) und sie betonen, dass weitere grundlegende Veränderun- Nur solche wirklich konkreten Handlungen machen un- (C) gen nötig sind. Lässt man mal die Höflichkeit weg, dann sere Welt ökologisch, friedlich, gerecht – eben nachhal- heißt das auf gut Deutsch: Die Bundesregierung schafft tig. es nicht, ihre eigenen Ziele in Taten umzuwandeln. Das bedeutet dann leider für uns: Wir hinterlassen unseren Ich möchte mit einer weiteren Feststellung aus unse- Kindern eine Welt, die weniger friedlich ist, in der das rem Bericht schließen: Derzeit droht in Sachen Nach- Klima verrücktspielt und in der der Wohlstand viel zu haltigkeit ein bedrohlicher Stillstand im Gesamtsystem. ungerecht verteilt ist. Zugegeben, das sind wirklich sehr Diesen Stillstand müssen wir beenden. Wir müssen über- große Herausforderungen, an denen alle mitarbeiten all darüber reden, was Nachhaltigkeit ist: hier im Bun- müssen. destag, in den Schulen, zu Hause und in den Kommunal- parlamenten. Das sollten wir alle mitnehmen; ich baue Was mich jetzt ein bisschen hoffnungsvoll stimmt, ist dabei auf eine gute Zusammenarbeit. Der Grundstein da- die Tatsache, dass wir uns zumindest im Beirat für nach- für ist im Beirat gelegt. Vielen Dank an die Kolleginnen haltige Entwicklung fraktionsübergreifend einig sind, und Kollegen, die da mitgearbeitet haben. dass es so nicht weitergehen kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE]) So haben wir das aufgeschrieben. Deshalb hier mal ei- nige unserer gemeinsamen Positionen: Wir stellen fest, Vizepräsidentin Petra Pau: dass die Regierung beim Kampf gegen die Klimakrise, Dr. Andreas Lenz hat für die CDU/CSU das Wort. gegen den Verlust der Artenvielfalt sowie gegen die Luft- verschmutzung ihre Ziele nicht erreicht. Wir unterstützen (Beifall bei der CDU/CSU) gemeinsam die Empfehlung der Peers, dass Deutschland dafür aus der fossilen und der nuklearen Energieerzeu- Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): gung aussteigen muss. Und wir schließen uns alle der Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Meinung der Peers an, dass für eine wirklich nachhaltige Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema Politik grundlegende Veränderungen in der Fleisch- und „nachhaltige Entwicklung“ muss uns in der Tat allen am Milchindustrie nötig sind. Herzen liegen, und das tut es auch. Wenn man sich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wortbeiträge genau anhört, stellt man fest, dass es darin natürlich immer um die Definition, die Konnotation geht, Der gesamte Parlamentarische Beirat stellt fest, dass der dass es aber ein Thema ist, das alle berührt. (B) Schlüssel für eine Trendumkehr beim Verlust der Arten- (D) vielfalt in der Neuverteilung der EU-Agrarmittel liegt, Wie kann man das Thema beschreiben? Ich glaube, und zwar hin zu einem besseren Schutz von Umwelt und man kann es beispielsweise mit „enkeltaugliche Poli- Landschaften. Das sage ich auch mit Blick auf die Grüne tik“ umschreiben. Es geht nämlich darum, dass auch die Woche. nachfolgenden Generationen noch Lebensbedingungen vorfinden, die lebenswert sind, die eine gute Zukunft er- Dies alles betone ich, weil diese Positionen in diesem möglichen. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ beschreibt also Hause in dieser Deutlichkeit viel zu selten im Konsens eine zukunftsfähige Politik insgesamt. an die Regierung gerichtet werden. Ich hoffe, dass dieses deutliche Signal von der Bundesregierung wahrgenom- Wir im Beirat für nachhaltige Entwicklung widmen men wird uns der Nachhaltigkeit in all ihren Facetten. Aber die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ist Verpflich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tung für uns alle, für das Parlament und darüber hinaus und dass sie dafür sorgt, dass die Ziele ehrgeiziger wer- für die gesamte Gesellschaft, für jeden Einzelnen. Nur den, dass die Anstrengungen steigen und dass die Maß- dann können wir letztlich erfolgreich sein. nahmen zeitnah greifen. Mit der Agenda 2030, dem Weltzukunftsvertrag, wird Auch dazu haben wir gemeinsam konkrete Empfeh- auf internationaler Ebene die Erreichung der globalen lungen beschlossen: Stärken Sie die Zusammenarbeit Nachhaltigkeitsziele verfolgt. Diese 17 Ziele sind mitt- Ihrer Häuser, um eine kohärentere Politik zu machen! lerweile auch in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie Machen Sie den Staatssekretärsausschuss zu einem Gre- verankert und werden also in, mit und von Deutschland mium, das für die großen Problemfelder konkrete und umgesetzt. Das eine geht eben nicht ohne das andere. In zwischen den Ressorts abgestimmte Maßnahmenpläne Zeiten eines zunehmenden Isolationismus, eines wieder- entwickelt und diese auch umsetzt! Dann kommen Sie aufkeimenden egoistischen Nationalismus ist es wichtig, auch vom Reden ins Handeln. Sie haben es nämlich in zu erwähnen, dass die SDGs ein Musterbeispiel für Mul- der Hand, aus der Kohle auszusteigen und das Klima zu tilateralismus im besten Sinne sind. Dazu stehen wir und retten, die Luft von Abgasen zu befreien für unsere Ge- bekennen wir uns, sehr geehrte Damen und Herren. sundheit, den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren, um Viele Nachhaltigkeitsziele beinhalten übrigens auch das Artensterben zu stoppen, faire Lieferketten in der Menschenrechte, etwa das Recht auf Nahrung, SDG 2, Welt durchzusetzen und Menschen bessere Teilhabe zu das Recht auf Gesundheit, SDG 3, oder der Gleich- gewähren und niemanden zurückzulassen. heitsgrundsatz in SDG 5. Auch das ist mit Blick auf den (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jüngst begangenen Jahrestag „70 Jahre Charta der Men- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8649

Dr. Andreas Lenz (A) schenrechte“ und die heutige Feierstunde wichtig, zu er- Michael Thews (SPD): (C) wähnen: Die SDGs bedeuten auch Werte, letzten Endes Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- wertefundierte Politik. legen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Wir behandeln heute hier im Plenum die Stellungnahme des Parlamentari- Mit dem Peer Review wurde die nationale Nachhal- schen Beirates zum Peer Review, einem Test bzw. Audit tigkeitsstrategie von elf anerkannten internationalen internationaler Experten, welche die deutsche Nachhal- Experten bewertet, deren Leiterin, Helen Clark, über tigkeitspolitik beurteilt und auch viele kritische Anmer- Deutschland sagte: Wir sprechen Deutschland unsere kungen angebracht sowie Verbesserungsvorschläge un- Anerkennung für seine Bereitschaft aus, eine unabhän- terbreitet haben, wie wir Nachhaltigkeit noch stärker in gige internationale Überprüfung dieser zentralen Regie- die Bevölkerung tragen und Prozesse schneller gestalten rungsstrategie zuzulassen. Deutschland bekommt die können. Aber der Peer Review stellt unserem Bemühen Gesamtnote Gut. – Keine Frage: Gut ist uns nicht gut insgesamt eine gute Note aus, indem er sagt: Die Instru- genug. Die Politik muss besser werden, wenn sie tatsäch- mente, die wir installiert haben, sind geeignet, um die lich enkeltaugliche Politik betreiben will. Wir müssen Nachhaltigkeitsstrategie der Agenda 2030, um die Nach- schauen, dass die eigenen Ziele noch ehrgeiziger verfolgt haltigkeitsziele, die SDGs, voranzubringen. Das sollte werden, und die Ziele hin und wieder überprüfen, auch man an dieser Stelle erwähnen. infrage stellen und Zielkonflikte innerhalb der einzelnen Ziele klären sowie die Umsetzbarkeit, die Realisierbar- Aber werden wir in unserem Bemühen überhaupt keit insgesamt diskutieren. gehört? Wie sieht es da international aus? Viele Kolle- gen waren mit mir auf internationalen Konferenzen. Wir Der Nachhaltigkeitsbeirat wird im Bericht ausdrück- haben auch Gespräche mit Parlamentariern geführt und lich gelobt – zu Recht, wie ich meine. Es wird aber auch dabei gemerkt: Deutschland wird durchaus gehört. Das, eine noch stärkere parlamentarische Beteiligung ge- was wir tun, wird in bestimmten Bereichen wahrgenom- fordert. Dem schließen wir uns insgesamt an; über die men. Bei der Kreislaufwirtschaft, würde ich sagen, haben Ausgestaltung müssen wir noch sprechen. Die Präsenz wir eine Vorbildfunktion. Wenn nicht Deutschland, wer des Themas in sämtlichen Ausschüssen oder im Plenum, dann? Das ist auch ein Credo aus dem Bericht, aus dem beispielsweise bei der Haushaltsdebatte, könnte ein An- Peer Review. Ich meine, wir als Parlamentarier sollten satzpunkt sein. uns genau dieser Verantwortung auch stellen.

Auch hinsichtlich der Kommunikation des Begriffs (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten „Nachhaltigkeit“ gibt es Verbesserungspotenzial. Der der CDU/CSU) Begriff muss raus aus der Community. Um ein breites (B) Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu schaffen, müssen wir Was ich aber in diesem Hohen Haus und auch in den (D) sozialen Medien erlebe, ist häufig etwas anderes. Da die Menschen erreichen, ja sie bewegen. Ein Beispiel ist werden Grenzwerte leichtfertig infrage gestellt, da wird die Kampagne der Bundesregierung „dieglorreichen17. der Einfluss der Menschheit auf das Weltklima bezwei- de“; sie ist im Netz zu finden. Da wird jedes Ziel auf felt. Ich kann nur sagen: Diese Vorgehensweise hilft in die nationalen Ziele und Maßnahmen heruntergebrochen, keiner Weise, die Probleme, die wir global haben, zu lö- und da werden sowohl die eigene Betroffenheit als auch sen, sondern ist, würde ich sogar sagen, ein Vergehen an die Möglichkeit, sich einzubringen, klar betont. der Menschheit. Der Regierungssprecher meinte gestern im Beirat, (Beifall bei der SPD und der LINKEN) dass nur circa 20 Prozent die SDGs, die globalen Nach- haltigkeitsziele, kennen, aber 85 Prozent deren Umset- Dabei zeigt die Vergangenheit, dass eine mutige Vor- zung auch durch Deutschland unterstützen würden. Das gehensweise durchaus funktionieren kann. In meinem sind doch hervorragende Voraussetzungen, um hier noch Wahlkreis im Ruhrgebiet hat Willy Brandt 1961 gesagt, einmal Akzente zu setzen. Es geht schließlich darum, dass er möchte, dass der Himmel über dem Ruhrgebiet dass unser ökologischer Fußabdruck kleiner wird, dass wieder blau wird. Viele Menschen haben das damals Nachhaltigkeit mit Innovationen verbunden wird und wir belächelt und konnten sich das nicht vorstellen. Jedoch dabei niemanden in unserer Gesellschaft zurücklassen. wurde das eine unglaubliche Erfolgsgeschichte in der Das gilt natürlich auch im globalen Kontext. Umweltpolitik: Die Installation von Filtern in Anlagen hat 4 Millionen Tonnen Schwefeldioxid aus der Luft In diesem Sinne herzlichen Dank und auf gute Zusam- genommen und die Situation der Menschen deutlich menarbeit! verbessert. Es gibt auch weltweite Beispiele. Was wäre passiert, wenn wir das Ozonloch ignoriert hätten? Wir (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- hätten heute und in Zukunft Millionen von Hautkrebs- wie bei Abgeordneten der LINKEN) toten. Auch hier hat mutiges Handeln funktioniert. Ich kann nur immer wieder sagen: Wir müssen die richtigen Konsequenzen aus dem Peer Review ziehen. Wir müs- Vizepräsidentin Petra Pau: sen, wie wir im Ruhrgebiet sagen, die Ärmel hochkrem- Das Wort hat der Abgeordnete Michael Thews für die peln und handeln. Wir brauchen ein verbindliches Klima- SPD-Fraktion. schutzgesetz. Wir müssen auch das Parlament und den Parlamentarischen Beirat in ihren Unternehmungen zur (Beifall bei der SPD) Nachhaltigkeit stärken, müssen die Nachhaltigkeit mit 8650 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Michael Thews (A) mehr Mut und Tatkraft genau dahin bringen, wohin sie trag zum Klimawandel zu gering ist und es ehrgeizigere (C) gehört: in die Mitte der Gesellschaft. Ziele bräuchte. Ob das die Menschen im Land auch so sehen? Wir sollten sie einmal fragen. (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will die Zeit nut- So verwundert es auch kein Stück, dass empfohlen zen, um noch auf eine Botschaft hinzuweisen. Manch- wird, ausgerechnet den Staatssekretärsausschuss zu stär- mal ist es ganz gut, einen Schritt zurückzutreten und das ken; denn damit kann man prima den Bock zum Gärtner Ganze von außen zu betrachten, wie es der Astronaut machen, sind das doch oft die Big Player der zweiten Alexander Gerst am 25. November 2018 von der ISS Reihe, deren Wirken weitgehend von der öffentlichen aus getan hat. Ich kann nur empfehlen, sich einmal sein Wahrnehmung befreit bleibt. Da fällt auch nicht auf, Statement anzuhören. Er hat sich bei seinen ungebore- wenn Fördergelder an selbstgegründete NGOs fleißig nen Enkeln für den Zustand der Erde entschuldigt und ansteigen. Es ist halt supernachhaltig, an der richtigen die Probleme, die wir haben, benannt. Aber er hat nicht Stelle zu sitzen. Herrlich nachhaltig ist es auch, eine Eu- nur ein negatives Bild gezeichnet, sondern uns auch zum ro-Politik zu unterstützen, die sehr nachhaltig Spargut- Handeln aufgefordert. Er hat gesagt: Wir können etwas haben, Zukunftsperspektiven vernichtet und Altersarmut tun, um das befürchtete Szenario nicht eintreten zu las- fördert. sen. – Schauen Sie sich seinen Appell an! Ich möchte mit Mein lieber Herr Thews, Dinge infrage zu stellen, ist ihm schließen und sagen: Lasst uns gemeinsam die Welt in der Regel die Grundlage, um sachliche Diskussionen für unsere Enkel, für die nachfolgenden Generationen zu führen, und das erachte ich alles andere als menschen- verbessern und die Ärmel hochkrempeln. verachtend. In diesem Sinne ein herzliches Glückauf! Danke. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD: „Sachlich“, was war das? – Postfaktisch!)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Nun hat der Abgeordnete Mario Mieruch das Wort. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Rüdiger Kruse für die CDU/ CSU-Fraktion. Mario Mieruch (fraktionslos): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (Beifall bei der CDU/CSU ) und Herren! Ich beginne mit einem Zitat: (B) (D) Das gemeinsame Ziel aller Fraktionen im Deut- Rüdiger Kruse (CDU/CSU): schen Bundestag muss dabei sein, die Akteure und Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! letztlich die Menschen in ihrer konkreten Lebens- Der Peer Review beantwortet im Wesentlichen zwei Fra- welt zu erreichen und sie für die Umsetzung der gen: Erstens. Kann Deutschland seine Ziele erreichen? Agenda 2030 und eine nachhaltige Transformation Ja. Zweitens. Wird Deutschland sein Nachhaltigkeitsziel zu gewinnen. erreichen? Nein. Das ist kein Widerspruch, sondern es ist Was für ein Satz, anmaßend und entlarvend zugleich! die Bewertung von Leistungsfähigkeit und der Leistung, Denn könnte man noch deutlicher darstellen, wie sehr die wir erbringen. Das ist besser, als wenn die Situation sich dieses Parteiensystem in den Parlamenten entkop- anders wäre; das heißt, wenn man es zwar wollte, aber es pelt hat, entkoppelt von einem offenbar großen Mysteri- einfach nicht könnte. Das wäre tragisch. um, nämlich der echten Lebenswelt jener Menschen, die (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das hier alles bezahlen? NEN]: Es gibt einen großen Handlungsspiel- Es klingt einfach zu gut, mit hochgesteckten Zielen raum!) und moralischem Führungsanspruch eine rundum per- – Es ist immer wichtig, einen Handlungsspielraum in der fekte Welt anzustreben. Nur der Steuerzahler will oft Politik zu haben. Man muss ihn sich auch selber zumes- nicht begreifen, warum er sich dafür begeistern soll, ist sen. seine eigene Lebensrealität doch weit von jedem Perfek- tionismus entfernt, und erlebt er gerade Politik und Mo- Wir können in dieser Debatte sehen: Es reden hier die ral meist meilenweit voneinander getrennt. falschen Leute, inklusive meiner Person, weil wir alle für Dass man sich im Bericht ausgerechnet für den bei- dieses Thema sind. Wir haben alle den Willen, dass wir spielhaften Einsatz für ehrgeizige Klimaziele auf die das umsetzen. Wir haben sicher verschiedene Vorstellun- Schulter klopft, zeigt, wie sehr diese Aktivitäten – Me- gen, wie wir es erreichen. Das heißt aber, dass verstärkt gaschlagwort „Nachhaltigkeit“ – mittlerweile von Ideo- Leute reden müssten, die in den Bereichen, die zentral logien gekapert wurden. Den Beleg liefert man sogleich für die Nachhaltigkeit sind, auch die Verantwortung ha- mit; denn man fährt mittels EEG und dem ganzen Die- ben, zum Beispiel die wirtschaftspolitischen Sprecher, seltheater gerade Schlüsseltechnologien gegen die Wand, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- verschläft die Digitalisierung, die künstliche Intelligenz. SES 90/DIE GRÜNEN) Sind Begriffe wie Algorithmus für die Bildung zu schwer, weiß man auf jeden Fall sicher, dass Deutschlands Bei- aber auch die sozialpolitischen Sprecher. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8651

Rüdiger Kruse (A) Wie wollen wir das umsetzen? Das fängt an der Spitze len wir dieses Jahr tun, damit in 100 Jahren zumindest (C) der Debatte an – nichts gegen die charmante Kollegin; das Gedenken an uns positiv ist? Das ist unsere Aufgabe es ist alles richtig, was sie gesagt hat –, aber das führt nicht nur gegenüber den anderen Generationen, sondern dazu, dass Nachhaltigkeit als Appendix der Umweltpo- auch für uns selber. Ich glaube, es muss am Ende mehr litik gesehen wird. Das ist vollkommen falsch. Auch da sein, als zu sagen: Ich war dabei, aber ich habe nichts müssen wir umdenken. Glücklicherweise ist es so, dass getan. die 17 SDGs konsensual sind, also zu 99 Prozent. Es gibt immer einige, die das nicht so sehen, das macht auch Herzlichen Dank. nichts. Es muss immer eine Kraft geben, die verneint, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie die Böses will und die uns dabei hilft, Gutes zu schaffen. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Da hat jeder seine Aufgabe. Aber aus diesem Konsens GRÜNEN) heraus muss man es schaffen, dass die Umsetzung nicht zur Friktion führt. Hier sind wir an einem Beispiel, das Europa liefert: die klimapolitischen Ziele. Als Emmanuel Vizepräsidentin Petra Pau: Macron fossiles CO2 verteuern wollte und dementspre- Ich schließe die Aussprache. chend die Spritpreise angehoben hat, war das nicht nach- haltig. Es war umweltpolitisch eine mögliche Variante, Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf aber zur Nachhaltigkeit würde gehören, dass er zum Bei- Drucksache 19/6475 an die in der Tagesordnung aufge- spiel die sozialen Aspekte mitbewertet. Wenn man das führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- nicht tut, dann hat man am Ende die Gelbwesten auf der verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Straße, und zwar zu Recht. Es kann nicht sein, dass die so beschlossen. globalen Klimaziele, die erreicht werden müssen, zulas- ten der Leute erledigt werden – zumindest gefühlt –, die Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: am wenigsten Verantwortung für den ganzen Mist haben. Erste Beratung des von den Abgeordneten René (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Springer, Norbert Kleinwächter, Dr. Birgit ordneten der LINKEN und des BÜNDNIS- ­Malsack-Winkemann, weiteren Abgeordneten SES 90/DIE GRÜNEN) und der Fraktion der AfD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung kindergeld­ Darum ist es erforderlich, dass wir umweltpolitische rechtlicher Regelungen Ziele immer mit den wirtschaftspolitischen und den sozi- alpolitischen Zielen verbinden. Das funktioniert nur da- Drucksache 19/6984 (B) rüber, dass wir die 17 SDGs, die wir mitentwickelt und (D) Überweisungsvorschlag: mitunterschrieben haben und die Konsens sind, zur Leit- Finanzausschuss (f) linie unserer Politik machen und uns jedes Mal dort ab- Ausschuss für Inneres und Heimat fragen. Da muss man sagen: Der Parlamentarische Bei- Ausschuss für Arbeit und Soziales rat für nachhaltige Entwicklung ist gar nicht so kraftlos, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vor allen Dingen ist er eine informelle Macht. Er ist das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für zweite Gremium im Deutschen Bundestag, bei dem man die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nicht sofort erkennt, wer zu welcher Fraktion gehört. Das nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. andere ist der Kulturausschuss. Ich bitte, die notwendige Ordnung in den Fraktionen (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) zügig herzustellen. Ich sage immer: Die werfen da nur mit Wattebäuschchen, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- aber die sind vergiftet. Kultur hat ja auch den Nachteil, ordnete Kay Gottschalk für die AfD-Fraktion. dass sie immer als Luxus gesehen wird. Hier ist es so: Nachhaltigkeit ist kein Luxus. Aber dadurch, dass wir (Beifall bei der AfD) eine weite Übereinstimmung haben, haben wir zum Bei- spiel erreicht, dass alle Gesetze, die hier beschlossen werden, vorher durch einen Nachhaltigkeitscheck müs- Kay Gottschalk (AfD): sen. Das ist schon mal was. Wir müssen jetzt die Umset- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten zung schaffen und die Gesetzentwürfe, aber auch unser Damen und Herren! Liebe Bürgerinnen und Bürger! haushaltspolitisches Handeln müssen vorangeschrieben Wie Sie vielleicht mitbekommen haben – ich führe das werden. Dabei geht es zum Beispiel um die Fragestellun- aus –, hat die AfD am vergangenen Wochenende neben gen: Wo bunkern wir das Geld, das wir an Rücklagen ha- weiteren Kandidatenaufstellungen zur Europawahl auch ben? Wie investieren wir das? Gibt es bei Subventionen, ein Programm für die Europawahl verabschiedet. Ich be- die eine Sache befördern, vielleicht zwei, drei andere ginne sehr wohl mit diesem Hinweis, weil diese Debatte Ziele, die sie nicht befördern, sondern wo es kontrovers über die Indexierung des Kindergelds für im Ausland le- zu sehen ist? Das ist die Aufgabe. bende Kinder und Ihre Kritik ein wirkliches Paradebei- spiel dafür sind, Wir hatten heute Morgen eine Gedenkstunde, weil vor 100 Jahren etwas Bahnbrechendes erreicht worden ist: (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Frauenwahlrecht. Jetzt müssen wir uns fragen: Was wol- Wollen Sie die jede Woche führen?) 8652 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Kay Gottschalk (A) warum die Existenz und unser Wirken als AfD in den mals: Herr Oettinger setzt sich damit in einen krassen (C) Parlamenten so wichtig ist. Widerspruch zur bayerischen Landesregierung. Meine Damen und Herren, im Klartext heißt das: Sie von der (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU CDU/CSU – bei Ihnen wundert es mich nicht, verehrte und der SPD) Kollegen von der SPD – wollen, dass ein Nationalstaat – Ja. nicht mehr frei über seine Transferleistungen und Sozial- leistungen entscheiden kann. Lassen Sie mich vorab eine wichtige Sache klarstel- len, bevor wir in diese Debatte eintauchen. Wir als AfD – (Ingrid Arndt-Brauer [SPD]: Blödsinn!) ich sagte es vorhin schon – setzen uns für ein Europa der Vaterländer mit starken, souveränen Nationalstaaten ein, Hier wird wieder ein Stück der sozialen Transferunion und wir sehen dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich Ihres Super-Europas aufgebaut, und dagegen wehren wir des aktuellen, zentralistischen und undemokratischen uns, meine Damen und Herren. Aufbaus der Europäischen Union. (Beifall bei der AfD – Dr. Wolfgang (Beifall bei der AfD) Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das Kindergeld ist überhaupt keine Wir sind also nicht, wie Sie es uns immer gerne an- Transferleistung! Lesen Sie mal Ihren eigenen dichten wollen, europafeindlich, nein, wir sind EU-kri- Gesetzentwurf! Da steht das drin!) tisch, meine Damen und Herren. Laut „Focus“-Bericht vom 15. Januar 2019 – hören (Marianne Schieder [SPD]: Was dann? Sie Sie gut zu! – werden bereits über 400 Millionen Euro wollen es doch abschaffen, oder nicht?) Kindergeld auf ausländische Konten überwiesen – wohl- Das ist ein Unterschied, wenn Sie Europa und die EU gemerkt: auf ausländische Konten. Die Behörden geben gleichsetzen. leider keine Auskunft darüber, wie viel Kindergeld von deutschen Konten ins Ausland abfließt. Das heißt, der (Beifall bei der AfD) Betrag, der insgesamt ins Ausland abfließt, dürfte weit- Genau das ist Ihr mieser Taschenspielertrick, den Sie im- aus höher liegen als 400 Millionen Euro. Meine Damen mer wieder anwenden, und Herren, das ist familienpolitisch eine Farce. Wir als AfD werden das nicht hinnehmen, meine Damen und (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herren. NEN]: Sie sind europafeindlich!) (Beifall bei der AfD – Sebastian Brehm um die Oberhoheit in der Diskussion zu haben. [CDU/CSU]: Ziemlich pauschal!) (B) (D) Aber der Reihe nach. Diese Kritik ist absolut notwen- Folgen Sie doch dem Beispiel Österreichs, uns und dig – ich sagte es bereits –; denn dieses Gesetz, das die dem Beispiel der bayerischen Landesregierung; denn Indexierung des Kindergeldes betrifft, möchte ich im auch Österreich möchte – genau wie wir als AfD – die Folgenden hier darstellen. Ich zitiere aus unserem Ge- Kindergeldzahlungen für im Ausland lebende Kinder in- setzentwurf: dexieren. So sagt die österreichische Familienministerin, Nach Art. 67 VO (EG) 883/2004 gilt: Eine Person Frau Bogner-Strauß von der ÖVP – Ihre Schwesterpar- hat auch für Familienangehörige, die in einem ande- tei, wenn ich mich nicht täusche, meine Herren von der ren Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familien- CDU/CSU –, leistungen nach den Rechtsvorschriften des zustän- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das war digen Mitgliedstaats, „als ob“ mal!) – hören Sie genau zu: „als ob“! – dass eine solche Indexierung sehr wohl im Einklang mit die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat dem Europarecht steht. Sie bezieht sich hier auf die Posi- wohnen würden. Kinder müssen daher so gestellt tion der EU-Kommission, welche besagt, dass Mitglied- werden, „als ob“ sie in Deutschland leben. staaten über die Zuerkennung und die Berechnungsme- thode von Familienleistungen selbst entscheiden dürften. Genau diese „als ob“-Formulierung ist nun Anstoß Sie können sich den Gesetzentwurf nochmals anschauen für berechtigte Kritik und eine berechtigte Diskussi- und werden feststellen: Er ähnelt in den meisten Teilen on in der Angelegenheit. So ist zum Beispiel – ich darf dem, der bereits am 8. Juni von der CSU eingebracht ihn nennen – Ihr sogenannter EU-Haushaltskommissar wurde. Oettinger von der CDU, auch gegen viele Stimmen aus Ihren eigenen Reihen, liebe Kollegen von der Union – (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das man höre und staune –, vor allem aber auch entgegen der geht nur mit Zustimmung der EU!) bayerischen Landesregierung, die bereits am 8. Juni eine Ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin: fast gleichlautende Gesetzesinitiative, die unserem Ge- setzentwurf stark ähnelt, Innerhalb der Gemeinschaft ist es grundsätzlich nicht gerechtfertigt, Ansprüche der sozialen Sicher- (Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Andersrum heit vom Wohnort der betreffenden Person abhängig vielleicht!) zu machen; in besonderen Fällen jedoch – vor allem in den Bundesrat eingebracht hat, der Meinung, dass die- bei besonderen Leistungen, die an das wirtschaftli- se „als ob“-Regelung keine Indexierung zulässt. Noch- che und soziale Umfeld … gebunden sind – könnte Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8653

Kay Gottschalk (A) – „könnte“, das ist Konjunktiv – diskutieren, und wir werden Ihnen heute auch wieder sa- (C) gen, warum das eben nicht so geht. der Wohnort berücksichtigt werden. Es ist vielleicht mal ein ganz guter Anlass, um sich zu Es liegt also schlichtweg an Ihnen, meine Damen und fragen: Warum nehmen Sie eigentlich gerade dieses The- Herren von der Union, sich nicht pausenlos hinter dem ma und bringen es hier immer wieder so prominent an? EU-Recht zu verstecken, weil Sie keinen Mumm oder – Das ist eigentlich ganz interessant; denn man kann daran auf gut Deutsch – keinen Hintern in der Hose haben. wie an einem Lehrstück erklären, wie Sie als AfD-Frakti- Bekennen Sie sich zum Selbstbestimmungsrecht eines on hier Politik machen. Also: Sie suchen sich – erstens – Staates über seine Sozialleistungen und damit auch dazu, ein Thema, bei dem irgendwie Ausländer vorkommen, über das Geschick der Menschen, die hier Werte schaf- hier also die Frage: Wie ist das eigentlich mit dem Kin- fen, zu entscheiden! dergeld für EU-Ausländer? Zweitens sollte es bei dem Bei der Debatte zum Soli haben Sie eine ähnliche Thema dann als Zutat eine vermeintlich einfache Lösung Position eingenommen wie bei diesem Thema. Das hat geben. Sie haben es ja eben auch so dargestellt, dass ei- schon kein gutes Licht auf die Kollegen der Union ge- nem der sogenannte gesunde Menschenverstand doch worfen. ganz klar sagt: Wieso soll der Bulgare oder Rumäne, der hier arbeitet, aber dessen Kinder noch in der Heimat wohnen, eigentlich das gleiche Kindergeld bekommen

Vizepräsidentin Petra Pau: wie der Deutsche, der hier arbeitet, für seine Kinder? – Herr Gottschalk, achten Sie bitte auf die Zeit. Sie erwecken den Eindruck, dass da auf der einen Seite diejenigen sind, die mit gesundem Menschenverstand Kay Gottschalk (AfD): Politik für die Bürgerinnen und Bürger machen, und auf Sehr gerne. – Folgen Sie daher dem sehr gut durch- der anderen Seite die Politiker, die sich diesen einfach dachten Gesetzentwurf der AfD – Sie würden nämlich umzusetzenden Lösungen widersetzen. – So weit, so gut. sonst auch der bayerischen Landesregierung attestieren, (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie hätte etwas handwerklich Falsches geliefert –, und NEN]: So schlecht!) stimmen Sie für eine Indexierung des Kindergeldes! Das kennen wir ja von einigen Themen. Aber jetzt Danke schön. kommt ein Weiteres dazu, und jetzt wird es lustig. Denn (Beifall bei der AfD) jeder, der das Thema seriös diskutiert, weiß, dass wir das nur über das europäische Sekundärrecht ändern können. Sie haben auf die „als ob“-Fiktion hingewiesen. Die (B) Vizepräsidentin Petra Pau: meisten Europarechtler interpretieren es genau anders- (D) Für die CDU/CSU-Fraktion spricht nun der Kollege rum, als Sie es machen. Also: Nicht der Deutsche Bun- Johannes Steiniger. destag, sondern das Europäische Parlament ist hier am (Beifall bei der CDU/CSU) Zug. (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Johannes Steiniger (CDU/CSU): NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen sie ja Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen abschaffen!) und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Meine sehr geehrten Damen und Herren, genau dort „Und täglich grüßt das Murmeltier“, könnte man meinen. wurde darüber diskutiert, ob die Verordnung 883/2004 Wir diskutieren jetzt innerhalb von einem halben Jahr geändert werden soll. Darin ist nämlich unter anderem zum dritten Mal das Thema Kindergeld-Indexierung. der Bezug von Kindergeld geregelt. Jetzt, meine lieben Auch wenn Sie gerade eben ein bisschen den Hobbyju- Kolleginnen und Kollegen, die große Preisfrage: Wie risten haben heraushängen lassen, Herr Gottschalk, viele Änderungsanträge hat die AfD im Europäischen (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Parlament gestellt? möchte ich schon gleich zu Beginn darauf hinweisen: (Zurufe von der CDU/CSU, der SPD und Wir können dieses Problem nicht im nationalen Allein- der LINKEN: Keinen! – Gar keinen! – Steffi gang lösen, Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Null!) (Kay Gottschalk [AfD]: Doch!) – Richtig: keinen einzigen. – Die „Wirtschaftswoche“ hat in der Überschrift zu ihrem zugehörigen Artikel absolut wie Sie hier als AfD es vorschlagen. Sie, meine sehr ge- zu Recht darauf hingewiesen: „Absolut untätig“. ehrten Kolleginnen und Kollegen, führen die Bevölke- rung hinters Licht, wenn Sie immer wieder so tun, als sei Liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, man macht das einfach so möglich. seriöse Politik nicht mit Schaufensteranträgen wie im vergangenen Jahr, auch nicht mit Schaufenstergesetzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wie jetzt hier, sondern mit Änderungsanträgen dort, wo neten der SPD und des Abg. Markus ­Herbrand es dann auch entschieden wird, und das ist das Europäi- [FDP]) sche Parlament. Aber es heißt ja: Wiederholung ist die Mutter aller Päd- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- agogik. – Also werden wir es heute entsprechend wieder ordneten der SPD) 8654 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: haltungskosten und nicht die Nationalität der Grund für (C) Kollege Steiniger, gestatten Sie eine Frage oder Be- die Indexierung sein sollen. Aber wenn Sie so argumen- merkung des Herrn Gottschalk? tieren, dann dürfen logischerweise die Eltern von Kin- dern, die ein Erasmus-Studium im Ausland machen, auch Johannes Steiniger (CDU/CSU): nur ein an die Lebenshaltungskosten angepasstes Kinder- geld erhalten. Ich habe mir eigentlich vorgenommen, dass ich Zwi- schenfragen von Leuten, die sowieso schon geredet ha- Aber in der Konsequenz diese Fälle per nationaler ben, nicht mehr zulasse. Ausnahme aus der Indexierung herauszunehmen, ist Ro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sinenpickerei und setzt auf die europarechtlichen Zweifel noch eins drauf. Seien Sie dann wenigstens so ehrlich und Vizepräsidentin Petra Pau: beziehen Sie alle ein! So ist das, was Sie hier heute vor- Sie entscheiden. schlagen, weder konsequent noch erfolgversprechend. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Johannes Steiniger (CDU/CSU): bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Ihnen geht es nämlich – das ist sozusagen der Ab- GRÜNEN) schluss des Lehrstückes dazu, wie Sie Politik machen – gar nicht um die Sache, sondern nur darum, die nächste Ich möchte aber zum Schluss zu einem anderen The- Sau durchs Dorf zu treiben. ma kommen, das mir und uns von der Unionsfraktion in Natürlich ist es richtig, dass die Lebenshaltungskosten diesem Zusammenhang sehr wichtig ist und das von Ih- in der EU stark auseinandergehen. Es ist aber falsch, dass nen leider oft in einen Topf mit der Indexierung geworfen man hier nur mit einem nationalen Alleingang Abhilfe wird. Das ist das Thema „Missbrauch von Kindergeld- schaffen kann. Und ja – Sie haben es erwähnt –, Öster- leistungen“. Wir haben im vergangenen Jahr oft Hilfe- reich ist diesen Schritt gegangen und hat vor zwei Wo- rufe aus den Kommunen gehört, weil es dort vorkommt, chen die sogenannte Familienbeihilfe indexiert. Recht- dass Schrottimmobilien angemietet werden, lich ist sie übrigens – Herr Gottschalk, hören Sie zu, Sie sind doch hier der Oberjurist – (Dr. Thomas de Maizière [CDU/CSU]: Ge- nau!) (Jürgen Braun [AfD]: Sie sind der Oberleh- rer!) EU-Ausländer dann mit Scheinverträgen ausgestattet werden und Geburtsurkunden gefälscht werden, um so nicht mit dem deutschen Kindergeld zu vergleichen. Un- (B) unrechtmäßig Kindergeld zu beziehen. Um es ganz klar (D) ser Kollege Alois Rainer hat in der letzten Debatte genau zu sagen: Das ist kriminell. Wir müssen das mit aller auf diesen Punkt hingewiesen. Härte bekämpfen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Wozu hat jetzt diese Indexierung geführt? Die Europäi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sche Kommission prüft derzeit ein Vertragsverletzungs- verfahren, und Rumänien erwägt eine Klage gegen Ös- Ich habe in meiner letzten Rede zu diesem Thema be- terreich vor dem Europäischen Gerichtshof. reits darauf aufmerksam gemacht, was wir schon alles (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: auf den Weg gebracht haben: besserer Datenaustausch, Hört! Hört!) geringere rückwirkende Auszahlung von Kindergeld, die Einführung der Steuer-ID. Das brauche ich nicht noch Wenn man sich anschaut, was die meisten Verfassungs- einmal auszuführen. Ich will aber klarmachen, dass uns und Europarechtler dazu sagen, dann werden sie damit das nicht reicht. Wir wollen noch weiter gehen. Wir wol- auch Erfolg haben. len noch genauer hinschauen. Wir wollen noch stärker Sie schlagen hier nun das Gleiche vor. Sie wollen ei- durchgreifen. nen nationalen Alleingang und nehmen in Kauf, dass es dann gerichtlich kassiert wird. So erweisen Sie Ihrem Deswegen bringen wir gerade ein neues Gesetz auf Anliegen, dem politischen Ziel, einen Bärendienst, mei- den Weg, das genau an diesen kritischen Punkten ansetzt. ne sehr geehrten Damen und Herren, Der Zoll und die Familienkassen bekommen mehr Kom- petenzen und können in Zukunft härter durchgreifen. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Kindergeld soll zukünftig nur nach einer Übergangspha- Ingrid Arndt-Brauer [SPD]) se ausgezahlt werden und bei Verdacht ganz eingestellt zumal Sie ja – das ist jetzt ganz interessant – in Ihrem werden. Ein Beispiel: Wenn der Zoll oder die Ausländer- Entwurf noch ein Stück weiter gehen: Sie wollen nicht behörde bei einem Vorortbesuch Verdacht schöpft, kann nur, dass das Kindergeld für EU-Ausländer, deren Kin- er oder sie das direkt an die Familienkasse melden. Die- der im Ausland leben, indexiert wird, sondern auch, dass se kann dann noch einmal genauer nachschauen und die deutsche Eltern von Kindern, die im Ausland sind, davon Zahlungen gegebenenfalls einstellen. ausgenommen werden. Das passt eigentlich logisch gar nicht zusammen; es ist ein klarer Widerspruch zu Ihrem Kümmern Sie sich also um die eigentlichen Probleme! Vorschlag. Sie argumentieren ja gerade, dass die Lebens- Das ist das Thema Kindergeldmissbrauch. Der Gesetz- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8655

Johannes Steiniger (A) entwurf, den Sie hier ins Parlament eingebracht haben, leistung. Das sind also Dinge, die nicht miteinander zu (C) bringt uns nicht weiter. Deswegen lehnen wir ihn auch vergleichen sind. In Deutschland steht auch zumindest ab. die verfassungsmäßige Freistellung für eine Indexierung überhaupt nicht zur Verfügung; das geht ja gar nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Es ist schade, dass Sie verpassen, zu erwähnen, was DIE GRÜNEN) man wirklich machen kann und auch muss, ohne Recht zu brechen, indem man einfach nur bestehendes Recht Vizepräsidentin Petra Pau: konsequent durchsetzt und möglicherweise auch anpasst. Das Wort hat der Kollege Markus Herbrand für die Der Kollege Steininger hat darauf hingewiesen: Wir FDP-Fraktion. müssen gegen Betrüger vorgehen, die beispielsweise mit Urkundenfälschung Kinder erfinden, um Kindergeld zu (Beifall bei der FDP) kassieren. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Markus Herbrand (FDP): der CDU/CSU) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin- nen und Kollegen! Es ist in der Tat immer die gleiche Es muss dafür gesorgt werden, dass hier in Deutschland Leier. Schon wieder steckt ein Vorschlag der AfD voll geeignete und auch bestehende Kontrollmechanismen verdrehter und auch verkürzter Fakten. Die AfD verpackt umgesetzt und bei Bedarf angepasst werden. in der öffentlichen Darstellung das Thema „Indexierung von Kindergeld für EU-Ausländer“ in Behauptungen Von diesen Betrugsfällen findet sich bei Ihnen kein über vermeintlichen Sozialtourismus. Aber auch durch Wort – und auch kein Wort über die Kinder deutscher permanente und gebetsmühlenartige Wiederholungen Staatsbürger im Ausland, die von Ihrem Gesetzentwurf wird ihr eintöniger Antrag weder korrekter noch seriöser ebenfalls betroffen wären, oder von Fällen, bei denen die und erst recht nicht zielführender. Indexierung zu Mehrkosten führt, weil es sich um Länder mit höheren Lebenshaltungskosten handelt. Kein Wort! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das ist alles sehr scheinheilig und dient aus meiner Sicht der CDU/CSU und der SPD) vor allen Dingen der Stimmungsmache gegen Ausländer. Es ist bedauerlich und zugleich in meinen Augen auch (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ sehr aussagekräftig, dass die AfD abermals die geltende DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Rechtslage ganz bewusst ausblendet. Denn solange das SPD und der LINKEN) (B) geltende EU-Recht nicht geändert wird, ist eine Indexie- (D) rung des Kindergeldes aus juristischer Sicht eine Diskri- Meine Damen und Herren der AfD, mit diesem Antrag minierung von EU-Bürgern und damit schlicht rechts- wollen Sie das EU-Recht brechen. Schon deshalb lehnen widrig – ganz einfach. So schwer ist das eigentlich nicht wir den Antrag natürlich ab. An anderer Stelle, wenn es zu verstehen. um die Migration und die Dublin-Verordnung geht, for- dern Sie die Einhaltung europäischen Rechts. Sie biegen (Beifall bei der FDP sowie des Abgeordneten sich das Recht, wie es Ihnen passt. Jörg Cezanne [DIE LINKE]) Sie werden es nicht schaffen, meine Damen und Her- (Dr. Alice Weidel [AfD]: Oh Gott!) ren von der AfD, die FDP-Fraktion zu einem Abstim- Damit legen Sie die Axt an die Rechtsstaatlichkeit in Eu- mungsverhalten zu bringen, das sehenden Auges die ropa. bestehende Rechtslage ignoriert. Das werden wir nicht mitmachen. Wir pflegen uns an die Rechtsordnung zu (Lachen bei der AfD – Dr. Alice Weidel halten. Das mag bei Ihnen anders sein. [AfD]: Die alte Leier!) Weil Sie das Beispiel Österreich in diesem Zusam- – Das scheint Sie sehr zu treffen. menhang so häufig anführen, möchte ich dazu auch zwei Punkte erläutern. Erstens hätten Sie wissen müs- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wahnsinnig! sen, dass Österreich, weil es die Indexierung der Fami- Mein Gott!) lienbeihilfe – so nennt sie sich dort – beschlossen hat, gerade ein Vertragsverletzungsverfahren droht. Sie spie- Seit Ihrem Europaparteitag letzte Woche wissen wir len also auch da wieder wissentlich mit der Absicht, zur zudem, dass Sie demokratische Institutionen wie das Durchsetzung Ihrer populistischen Forderungen gegen EU-Parlament abschaffen wollen. geltendes Recht zu verstoßen. Zweitens vergleichen Sie, Meine Damen und Herren, als Rechtsstaatspartei, die wenn Sie die Systeme in Deutschland und Österreich – demokratische Werte hochhält, lehnt die FDP eine solche der Kollege hat auch schon darauf hingewiesen – mit- Politik natürlich ab – wie den Antrag auch. einander vergleichen, Äpfel mit Birnen. In Deutschland haben wir das Kindergeld, das zweigeteilt ist. Zum Teil Vielen Dank. ist es die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung von Einkommensteilen der Eltern; der Betrag darüber hinaus (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem ist eine Sozialleistung. In Österreich gibt es eine vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Einkommen der Eltern völlig unabhängige Familien- geordneten der SPD und der LINKEN) 8656 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Aber – es wurde auch schon erwähnt – mehrere Gutach- (C) Das Wort hat der Abgeordnete Michael Schrodi für die ten auch der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen SPD-Fraktion. Bundestages gerade zu Österreich haben gezeigt, dass sie eben nicht mit europäischem Recht vereinbar ist. Ich (Beifall bei der SPD) wünsche Österreich viel Spaß vor dem Europäischen Ge- richtshof. Michael Schrodi (SPD): Weil Sie aber das Kindergeld immer wieder in Zu- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten sammenhang mit Sozialmissbrauch bringen, lassen wir Damen und Herren! Es ist schon erwähnt worden: Wir doch einmal einen Experten zu Wort kommen. Ich darf haben jetzt mehrere Debatten zu dem Thema geführt. Die aus einem Interview mit dem Leiter der Familienkasse Anträge der AfD waren schon damals Quatsch. Aber um bei der Bundesagentur für Arbeit, Karsten Bunk, vom es mit Herbert Wehner zu sagen: Sie sind einige Wochen 31. Dezember 2018 zitieren. Dort sagt er zum Thema später nur noch „quätscher“. „Kindergeldzahlungen ins Ausland“: (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der Die Fälle, bei denen Kindergeld ins Ausland über- FDP) wiesen wird, sind in der Regel diejenigen, wo Men- Es gibt einige Dinge dazu zu sagen, warum sie nur noch schen – ohne ihre Familien – nur zum Arbeiten nach „quätscher“ sind. Deutschland kommen. … In solchen Fällen findet Missbrauch so gut wie nicht statt. Zum Ersten. Die Zunahme der Kindergeldanträge und der Kindergeldzahlungen in den letzten Jahren bringen Zur Indexierung sagt er: Sie immer in Zusammenhang mit Missbrauch; das ist Die Debatte um die Indexierung ist nicht geeignet, hier auch schon erwähnt worden. Richtig ist: Sie ist eine um Missbrauch zu bekämpfen. Folge der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Die Wirtschaft brummt. Es gibt hohe Beschäftigungszahlen. Darauf sind Insofern geht Ihr Antrag vollkommen ins Leere, meine wir stolz. sehr geehrten Damen und Herren. Wir brauchen aber auch weiter Menschen, die hier (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem arbeiten. So wirbt zum Beispiel auch der Gesundheits- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) minister um europäische Pflegekräfte. Die Menschen Bei Missbrauch geht es eher darum, dass Schleuser- kommen also hierher, arbeiten hier, zahlen hier Steuern banden die Menschen in Schrottimmobilien unterbrin- und zahlen hier Versicherungsbeiträge. Sie haben deswe- gen und dann Sozialleistungen beantragen lassen. Dort gen – das steht so in dem Urteil des Europäischen Ge- muss man ansetzen. Wir haben schon einiges getan – es (B) richtshofs, das Sie hier zitieren – ein Recht auf Kinder- (D) ist erwähnt worden, zum Beispiel die Einführung einer geld. Wir werden nicht zulassen, dass es Lohndumping steuerlichen Identifikationsnummer für Eltern und Kin- auf Kosten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern der, um eine doppelte Beantragung auszuschließen –, gibt, indem man ihnen dieses Recht abspricht, meine sehr und wir werden weitere Maßnahmen auf den Weg brin- geehrten Damen und Herren. gen. Es wird eine Taskforce für besseren Datenaustausch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zwischen Familienkasse, Behörden und den betroffenen der FDP) Kommunen geben. Außerdem hat Olaf Scholz angekün- digt, dass es eine Anpassung der Voraussetzung für Kin- Zum Zweiten. Sie reden von Einsparungen. Um das dergeldanspruch geben soll, unter anderem einen Leis- einmal einzuordnen: 2018 gingen 1,64 Prozent der Kin- tungsausschluss für neu zugezogene, nicht erwerbstätige dergeldzahlungen an Kinder im europäischen Ausland – Unionsbürger in den ersten drei Monaten. Wir wollen davon übrigens 30 000 deutsche Staatsbürger; die wollen dort ansetzen, wo Missbrauch möglich ist, aber nicht bei Sie jetzt irgendwie herausrechnen –, und der Anteil der der Kindergeld-Indexierung. Kindergeldzahlungen an EU-Staaten am Gesamtvolu- men betrug 1,08 Prozent. Wenn man über Einsparungen Um Ihnen von der AfD das etwas lebensnäher zu er- spricht, muss man aber auch erwähnen, dass es enormen klären: Wenn die im europäischen Ausland lebende Frau bürokratischen Aufwands bedarf, diese Kindergeldin- Weidel und die AfD bei den Parteispenden tricksen, dann dexierung einzuführen. Die EU-Kommission rechnet stellen wir nicht die bewährte Parteienfinanzierung infra- vor, dass dadurch bis zu 300 Prozent an mehr bürokrati- ge, sondern dann bekämpfen wir Missbrauch, dann er- schem Aufwand und an Mehrkosten entstehen würden. – mittelt die Staatsanwaltschaft. So machen wir das auch So viel zum Thema der Einsparungen. beim Kindergeld: Wir bekämpfen Missbrauch, wir stel- len aber nicht den bewährten Anspruch auf Kindergeld Zum dritten und letzten Punkt, Ihre Behauptung, die für die große, ehrliche, hier arbeitende und hier Steuern Indexierung sei mit dem EU-Recht konform. Dabei han- zahlende Mehrheit infrage, meine sehr geehrten Damen delt es sich, wie Sie bereits erwähnt haben, um eine „als und Herren. ob“-Fiktion. Sie von der AfD tun ja auch so, als ob Sie Ahnung von diesem Thema hätten. Das ist auch eine ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wisse Art von Fiktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Dass es der AfD dabei nicht um eine Besserstellung SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- der Familien in Deutschland geht, hat die Debatte über SES 90/DIE GRÜNEN) das Kindergeld in Deutschland gezeigt. Die AfD hat das Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8657

Michael Schrodi (A) Kindergeld infrage gestellt. Wir haben es erhöht, und wir in vergleichbarem Umfang wie die Kindergeldzahlungen (C) werden es weiter erhöhen. Sie von der AfD wollen auch ins Ausland. in anderen Bereichen sparen, bei Familienleistungen, Rentnern und Langzeitarbeitslosen. Die AfD ist die Par- Umgekehrt gilt der Kindergeldanspruch genauso. tei des sozialen Kahlschlags für alle Menschen in diesem Menschen mit deutschem Pass, die im Ausland leben und Land. Das zeigt nicht nur, aber auch der vorliegende Ge- arbeiten, erhalten dort Kindergeld oder vergleichbare setzentwurf. Deshalb ist er abzulehnen. Leistungen nach den jeweiligen nationalen Regeln. Auch das ist kein Problem. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Jürgen Braun [AfD]: Alles super! Alles su- per!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Auch deutsche Staatsangehörige erhalten für ihre im Der nächste Redner für die Fraktion Die Linke: der Ausland lebenden Kinder Kindergeld. Die deutschen Kollege Jörg Cezanne. Kinder, die davon profitieren – das ist auch schon an- (Beifall bei der LINKEN) gesprochen worden –, sind nach den in Polen lebenden Kindern im Übrigen die größte Gruppe. Dass Sie für Jörg Cezanne (DIE LINKE): Menschen mit deutschem Pass ein anderes Recht anwen- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- den wollen als für diejenigen mit anderen Pässen, das ren! Es fällt schon ein bisschen schwer, aber zum drit- widerspricht nun wirklich jedem Rechtsempfinden und ten Mal die gleichen Argumente und die entscheidenden jeder Gleichheit vor dem Gesetz. Das ist völlig hirnrissig. Fakten: Wer in Deutschland lebt und arbeitet, Steuern (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- und Sozialabgaben zahlt, hat Anspruch auf Kindergeld. neten der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Auch das Argument der EU-Kommission, dass der- Das gilt auch für Beschäftigte mit ausländischen Pässen, jenige, der in ein nationales Sozialversicherungssystem egal ob sie aus Belgien oder Bulgarien kommen. Mit So- einzahlt, auch die gleichen Leistungen wie alle übrigen zialtourismus hat das überhaupt nichts zu tun. Einzahlerinnen und Einzahler erhalten soll, ist völlig (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- überzeugend. Auf das europäische Recht ist schon hin- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gewiesen worden. Es gilt – und diesen Einschub will ich mir jetzt doch er- Meine Damen und Herren, womit es wirklich Proble- (B) lauben – im Übrigen nicht für Menschen, die Hartz IV me gibt – darüber lohnt es sich kurz zu reden –, sind Fälle (D) beziehen, egal welche Staatsangehörigkeit sie haben. von organisiertem Betrug. Dies berichten Bürgermeister einiger Städte, vor allem im Ruhrgebiet. Das konzen- Wenn es beim Kindergeld überhaupt ein Thema gäbe, triert sich offensichtlich auf 10 bis 15 Städte, in denen über das in diesem Hause dringend geredet und bei dem das gehäuft vorkommt. Bei Betrug – so ist das in einem auch endlich mal gehandelt werden müsste, dann das, Rechtsstaat mit Gewaltenteilung – schreitet nicht der Ge- dass die Ärmsten und Bedürftigsten, die bisher von dieser setzgeber ein, da rückt nicht der Deutsche Bundestag aus Leistung ausgeschlossen sind, endlich in den Genuss der und ändert die Gesetze, sondern bei Betrug ist die Polizei Leistung kommen. So könnte Kinderarmut wenigstens zuständig. Die ermittelt, verfolgt die Betrüger und führt ein bisschen stärker bekämpft werden. Das wäre doch sie der Justiz zu. Statt mit einer Gesetzesänderung wäre mal was. Darum könnte sich die AfD verdient machen. den betroffenen Städten daher vor allen Dingen gehol- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und fen, wenn mehr und qualifizierte Ermittler zum Einsatz der SPD) kommen. Kindergeld erhalten in Deutschland lebende erwerbs- (Beifall bei der LINKEN) tätige Eltern für ihre Kinder, unabhängig davon, wo diese wohnen. Deshalb fließt ein sehr geringer Teil – die Zahl Eine Gesetzesänderung ist also eine völlig unsinni- ist schon genannt worden: etwas mehr als 1 Prozent – ins ge Reaktion auf eine begrenzte Zahl von Betrugsfällen. Ausland; das heißt, es fließt auf ausländische Konten. Ob Deshalb werden wir den vorliegenden Gesetzentwurf ab- die Kinder tatsächlich im Ausland leben, lehnen.

(Markus Herbrand [FDP]: Das weiß man gar Danke schön. nicht!) ist übrigens völlig unerheblich. Also stimmt auch die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rechnung, die Sie hier vortragen, gar nicht. Es kann ge- [Heidelberg] [SPD]) nauso gut sein, dass die Kinder hier in Deutschland leben und die Eltern einfach nur das alte Konto benutzen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Zahl der Berechtigten hat in den letzten Jahren Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege zugenommen. Das liegt nicht daran, dass so viel betrogen Dr . Wolfgang Strengmann-Kuhn. wird, sondern das liegt daran, dass die Zahl ausländischer Beschäftigter in Deutschland zugenommen hat, und zwar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 8658 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ regierung nimmt darauf Rücksicht und hat ihn deswegen (C) DIE GRÜNEN): bisher noch nicht eingebracht. Die Bundesregierung setzt Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ge- sich auf europäischer Ebene im Rahmen der Verhandlun- setzentwürfe haben den Vorteil, dass am Anfang steht, gen über die schon genannte Verordnung Nr. 883 zurzeit welches Problem angegangen werden soll. Stellen Sie immer noch dafür ein, dass eine Kindergeld-Indexierung sich mal einen Gesetzentwurf vor, in dem folgendes Pro- möglich ist. Dafür gibt es aber keine Mehrheit. blem steht: Lebt ein Kind in einem Bundesland mit nied- rigerer Kaufkraft, kommt es zu einem Fördereffekt, der (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Familien mit in Ländern mit höherer Kaufkraft lebenden Gott sei Dank!) Kindern verwehrt bleibt. – Würde das hier irgendjemand Da setzt sich die Bundesregierung nicht durch. Man als Problem bezeichnen? Ist das ein Problem? Das ist aber nennt so etwas übrigens Demokratie. genau der Satz, ein ganz kleines bisschen verändert, der im vorliegenden Gesetzentwurf das Problem beschreiben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) soll. Das Einzige, was geändert wurde, ist: Statt „Staat“ steht „Bundesland“. Aber das, was in der Bundesrepublik Es geht um Mehrheitsverhältnisse. Aber wie Sie zur De- Deutschland gilt, gilt auch in der Europäischen Union. mokratie auf europäischer Ebene stehen, haben Sie ja in Wenn jemand mit seinem Kind kurz hinter der Grenze der letzten Woche auf dem Parteitag gezeigt. Sie wollen lebt, aber in Deutschland arbeitet, dann bekommt er Kin- das demokratische Gremium, das Europäische Parla- dergeld, und zwar in gleicher Höhe wie für Kinder, die in ment, abschaffen. Die Volksvertretung! Deutschland leben. (Lachen bei der AfD) Was ist eigentlich Ihre Lösung? Ihre Lösung sind Steuermehreinnahmen. Das steht unter „Haushaltaus- Sie machen Politik gegen das Volk. Das ist Ihre Po- gaben“ in Ihrem Gesetzentwurf. Dort steht: Die im Ge- litik. setzentwurf vorgesehenen Maßnahmen führen zu Steu- ermehreinnahmen von 160 Millionen Euro. – Was heißt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das konkret? Sie wollen, dass Menschen, die zu uns kom- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der men und alte Menschen pflegen, auf Baustellen arbeiten, CDU/CSU und der LINKEN) aber ihre Kinder teilweise längere Zeit alleine zu Hause lassen müssen, um hier bei uns zu arbeiten und produktiv Sie wollen die Volksvertretung abschaffen, und Sie wol- zu sein, höhere Steuern zahlen. Genau das wollen Sie. len dann auch noch Kompetenzen auf den Europarat Geht’s noch? Was ist denn das für ein Menschenbild? übertragen, das heißt auf die Regierung und nicht auf die (B) Volksvertretung, die die Regierung eigentlich kontrollie- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren soll. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) (Zurufe von der AfD) Wie denken Sie über die Menschen? Sie müssten eher Das ist Ihr Demokratieverständnis. Das ist Ihr Verständ- noch besser bezahlt werden, weil sie ihre Kinder alleine nis von Rechtsstaat. Für Sie gilt: legal, illegal, sehr egal. lassen müssen. Demokratie kümmert Sie überhaupt nicht, insbesondere nicht auf europäischer Ebene. (Zuruf des Abg. Kay Gottschalk [AfD]) – Das ist das, was in Ihrem Gesetzentwurf steht. (Jürgen Braun [AfD]: Rechtswidrig hat Sie noch nie interessiert bei den Grünen! Sie leben Es ist schon gesagt worden: Das Kindergeld ist keine doch von der Illegalität! Seit Jahren!) Sozialleistung, sondern es ist eigentlich ein Steuerfrei- betrag. Denjenigen, die hier arbeiten, wird es sozusagen Das, was Sie hier beschreiben, ist überhaupt kein Pro- von der Steuer abgezogen. Es sind haushaltsmäßig Mehr- blem; ich habe das geschildert. Das, was Sie vorschlagen, einnahmen – so steht es in Ihrem Gesetzentwurf –, weil ist rechtswidrig, doch das kümmert Sie überhaupt nicht. die Menschen weniger Steuern zahlen müssen, wenn man das Kindergeld verrechnet. – Das ist Ihre Lösung. Wir sollten uns in der Tat um die wirklichen Proble- me kümmern. Im Zusammenhang mit dem Kindergeld (Zuruf des Abg. Kay Gottschalk [AfD]) gibt es das Problem der Kinderarmut. Wir brauchen eine Eine solche Diskriminierung ist rechtswidrig. Das ist Kindergrundsicherung in Deutschland. schon mehrfach gesagt worden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Wir müssen auf europäischer Ebene mehr machen gegen LINKEN) Kinderarmut. Da muss auch die EU mehr Verantwortung übernehmen. Darum geht es. Wir müssen etwas gegen Das verstößt gegen Europarecht. Das ist übrigens der Kinderarmut machen. zentrale Unterschied zwischen dem Gesetzentwurf von Ihnen und einem ähnlichen Gesetzentwurf, den die Bun- desregierung 2017 verfasst hat. Da steht nämlich drin, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dass ein solches Vorgehen rechtswidrig ist. Die Bundes- Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8659

(A) Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ wir Ihnen nicht durchgehen, jetzt nicht und auch in Zu- (C) DIE GRÜNEN): kunft nicht, meine Damen und Herren. Wir müssen mehr machen für eine bessere soziale Ab- Was die Kindergeldregelung betrifft, haben wir bereits sicherung der Freizügigkeit, für ein soziales Europa. Das vieles getan. Wir haben beim Leistungsmissbrauch ge- ist die Alternative. handelt: mit der Einführung der Pflicht zur Angabe der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Steueridentifikationsnummer bei der Beantragung von Kindergeld zur besseren Identifizierung von Antragstel- ler und Kind, mit einem besseren Datenabgleich zwi-

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schen Ausländerzentralregister und Familienkassen, mit Der nächste Redner, der Kollege Dr. Hans Michelbach, der Beschleunigung des Informationsaustausches zwi- CDU/CSU-Fraktion. schen Meldebehörden und Familienkassen. Diese Maß- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nahmen, meine Damen und Herren, wirken. Wir wollen die Instrumente weiter verbessern. Daran Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): arbeiten wir laufend. Beim Kinderfreibetrag haben wir Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Es ist bereits eine am Auslandswohnort des Kindes ansetzende ein gutes Dreivierteljahr her, da hat uns die AfD schon Indexierung eingeführt. Eine Indexierung des Kindergel- einmal mit diesem Thema beglückt. War es damals ein des scheitert aber, wie hier heute mehrfach betont wurde, Antrag, so kommt das Thema nun als Gesetzentwurf da- am EU-Recht. Ein Referentenentwurf der Bundesregie- her. Geändert hat sich an der Sachlage nichts, nichts an rung zur Indexierung wurde in der vergangenen Legisla- der zutiefst ausländerfeindlichen Ideologie der AfD und turperiode mit Blick auf das EU-Recht nicht weiterver- nichts an den EU-rechtlichen Rahmenbedingungen, die folgt. Die Bundesregierung hat die EU-Kommission in Sie von der AfD nicht beachten, ja bewusst ignorieren. der Vergangenheit mehrfach aufgefordert, eine Rechtsän- derung auf die Tagesordnung zu setzen – bislang ohne (Jürgen Braun [AfD]: Ihre CSU will das doch Erfolg. so, Herr Michelbach! Die Staatsregierung! Sie wollen es doch!) Meine Damen und Herren, nun verweist die AfD auf den Alleingang Österreichs bei der Kindergeldindexie- Sie, meine Damen und Herren von der AfD, treibt ja auch rung. nicht die Sorge um die Staatskasse um. Sie suchen nur ein neues Vehikel für Ihre widerliche Hetze gegen Ausländer (Jürgen Braun [AfD]: Und den Alleingang und Ihre üble Polemik gegen die Europäische Union. Ihrer Bayerischen Staatsregierung!) (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der Tatsache ist aber auch: Das Nachbarland liegt darüber (D) LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit der EU-Kommission im Streit. Ich bin sehr dafür, NEN – Jürgen Braun [AfD]: Lenken Sie nicht dass wir den österreichischen Weg nicht gehen, ab mit dummen Sprüchen, Herr Michelbach! (Jürgen Braun [AfD]: Sind Sie eigentlich in Hören Sie auf mit dummen Sprüchen!) der CSU oder nicht, Herr Michelbach? Sind Das ist die Grundlage. Ihnen geht es nicht um die Sache Sie in der CSU oder nicht?) und schon gar nicht um die Bedeutung unseres demo- sondern den mühsamen Weg der Überzeugungsarbeit, kratischen Parlaments. Ihnen geht es wie allen Radikalen meine Damen und Herren. Als Gründungsmitglied der um die Spaltung der Gesellschaft, um daraus Früchte zu EU und als größtes und wirtschaftsstärkstes EU-Mitglied ernten. hat Deutschland eine besondere Verantwortung für Eu- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem ropa und für den Zusammenhalt dieser Gemeinschaft. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Braun Damit verträgt es sich natürlich nicht, wenn wir aus dem [AfD]: Lenken Sie nicht ab, Herr Michelbach! EU-Rechtsrahmen einfach ausbrechen, so wie Sie das Bleiben Sie bei der Wahrheit!) wollen. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ten der SPD) Kollegen Springer von der AfD-Fraktion? Es ist mir klar, dass das für Sie von der AfD natürlich kein Argument darstellt. Sie wollen ja auch aus der EU Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): raus. Sie wollen die EU zerstören und damit die Hand an Nein. die Friedensordnung in Europa legen. (Jürgen Braun [AfD]: Weil Sie keine Argu- (Jürgen Braun [AfD]: Sind Sie in der CSU mente haben! Deswegen lassen Sie keine Zwi- oder nicht, Herr Michelbach? Beantworten schenfrage zu, Herr Michelbach, weil es Ihnen Sie die Frage!) peinlich ist! – Weitere Zurufe von der AfD) Meine Damen und Herren, es ist völlig klar: Es be- Erst die Menschen gegeneinander aufhetzen und dann steht natürlich Handlungsbedarf. Und ich halte die bis- das Ergebnis lauthals beklagen, das ist Ihre üble Metho- herige Verweigerungshaltung der EU-Kommission auf de. Da können Sie schreien wie Sie wollen, das lassen Dauer für durchaus angreifbar; denn die Kommission 8660 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) selbst nutzt die Indexierung bei der Berechnung der Pen- und zu guter Letzt wollen wir mit unserem Antrag auch (C) sionen ihrer Beamten. Auch das gehört zur Wahrheit. noch Hand an die Ordnung der Europäischen Union le- Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung hierzu gen, ja die Europäische Union zerstören. einen Entwurf vorlegt bzw. hierzu verhandelt hat. Einen Alleingang gegen EU-Recht darf und kann es von unse- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rer Seite aber nicht geben. Wir haben eine Vorbildfunkti- NEN]: So ist das!) on als größte Volkswirtschaft in Europa. Das alles werfen Sie uns vor. Das alles soll Gegenstand unseres Entwurfs sein. Was Alleingänge von Ländern bedeuten, sieht man in schlimmster Ausprägung in dieser Woche am Brexit-De- (Michael Schrodi [SPD]: Wenn Sie jetzt ab- saster. Dieses Beispiel allein sollte Warnung für uns alle brechen, war das ein guter Redebeitrag!) in Europa sein. Einer Partei wie der AfD, die die Euro- Herr Michelbach, ich frage mich: Sie als CSU-Mit- päische Union lieber heute als morgen zerlegen möchte, glied haben meinem Kollegen Gottschalk hoffentlich gut ist das freilich völlig egal, und so handeln Sie von der zugehört und verstanden, dass er in seiner Rede gesagt AfD leider auch. Wir ignorieren Sie nicht, wir stellen Sie hat, dass dieser Gesetzentwurf bereits im vergangenen in diesen europäischen Fragen, weil das Grundsatzfra- Jahr von der CSU-geführten Bayerischen Staatsregierung gen für das Wohlergehen der Menschen in unserem Land in den Bundesrat eingebracht wurde. Da frage ich mich sind. nun: Sind Sie ein Hetzer, der gegen Ausländer hetzt? Ist die Bayerische Staatsregierung eine Landesregierung, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die die Hand an die Ordnung der Europäischen Union ordneten der FDP) legt? Sind Sie ausländerfeindlich? Das ist meine Frage. Nationalismus und Populismus bringen keine Lösun- Herzlichen Dank. gen. Deswegen lehnen wir Ihren Nationalismus, Ihren Populismus in aller Schärfe ab. (Beifall bei der AfD)

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Kollege Michelbach. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): Gauland [AfD]: Wir sind wahnsinnig beein- Sehr geehrter Herr Kollege, es ist natürlich schon eine (B) druckt!) Grundsatzfrage, wenn Sie einen Entwurf gegen das EU- (D) Recht einbringen. Natürlich ist nichts dagegen zu sagen, einen Entwurf einzubringen wie den, den die Bundes- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: regierung erarbeitet bzw. in die Verhandlungen mit der Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem EU-Kommission eingebracht hat, für den sie im Rat aber Kollegen René Springer von der AfD-Fraktion. keine Mehrheit bekommen hat. Es geht aber nicht an, dass Sie sagen: Europa interessiert uns nicht; am deut- schen Wesen soll Europa genesen. – In Europa herrscht René Springer (AfD): Demokratie, meine Damen und Herren. Lieber Kollege Dr. Michelbach, ich bin etwas irritiert. (Jürgen Braun [AfD]: In Bayern nicht, oder Zunächst bin ich irritiert, weil Sie unseren Gesetzent- wie?) wurf, von dem wir alle hoffen, dass man sich damit ernst- haft auseinandersetzt, zu einer Grundsatzfrage machen. Wenn es dafür keine Mehrheit gibt, dann ist das so. Dann Das halte ich nicht für angemessen. Wenn Sie uns inhalt- ist die Mehrheit eben gegen diese Indexierung. Dann lich stellen wollen, dann sollten Sie sich auch inhaltlich muss man sich damit auseinandersetzen. Man muss aber mit unserem Entwurf auseinandersetzen. – Das als erste die Mehrheiten akzeptieren. Bemerkung vorab. (Jürgen Braun [AfD]: In der CSU sind alle Ausländerfeinde, oder was? (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist aber eine Grundsatzfrage!) Das ist das, was wir letzten Endes bei Ihnen bemängeln: dass Sie nicht bereit sind, demokratische Entscheidungen Dann stelle ich fest: Unser Entwurf ist Ausdruck von anzuerkennen und sich daran zu halten. Darin unterschei- Nationalismus, er ist Ausdruck von Fremdenfeindlich- den wir uns grundsätzlich. keit, (Jürgen Braun [AfD]: Sagen Sie was zu Mün- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen, zur Staatsregierung!) NEN]: So ist das, genau so!) (Jürgen Braun [AfD]: Sie weichen aus, Herr Michelbach!) er ist Ausdruck von Hetze gegen Ausländer, Natürlich ist es, wenn die Höhe der Beamtenpensio- (Michael Schrodi [SPD]: Zum ersten Mal was nen in Europa indexiert wird, schwer vermittelbar, dass richtig erkannt!) in diesem Bereich keine Indexierung stattfindet. Aber es Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8661

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) braucht Mehrheiten. Es kann nicht sein, dass wir EU- Erweiterung des Prüfauftrages der FKS (C) Recht beugen und damit Hand an Europa legen. – der Finanzkontrolle Schwarzarbeit – (Jürgen Braun [AfD]: Sie weichen aus, Herr Michelbach!) im Hinblick auf Anhaltspunkte für unberechtigten Kindergeldbezug und Schaffung einer Sofortmittei- Wenn ich Ihre Parteitagsbeschlüsse richtig vernommen lungspflicht gegenüber den zuständigen Familien- habe, legen Sie Hand an Europa. Das ist schändlich, mei- kassen, um die Rechtmäßigkeit des Kindergeldbe- ne Damen und Herren. zuges sicherzustellen ... (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- (Zurufe von der AfD) NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Ich finde, das ist ein gutes Ziel. Wir werden dahin- ten der SPD – Jürgen Braun [AfD]: Eine ganz kommen, nicht indem wir beim Zoll Bürokratie abbauen, peinliche Nummer! – Weitere Zurufe von der sondern indem wir den Zoll besser aufstellen. Das haben AfD – Gegenruf des Abg. Sebastian Brehm wir vor. Das haben wir schon angefangen. Das werden [CDU/CSU]: Wer schreit, hat unrecht!) wir noch weiter verfolgen. Wir haben letztes Wochenende in NRW eine Razzia Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gehabt. Sie hat dazu geführt, dass Missstände aufgedeckt Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt: wurden. Da haben Behörden zusammengearbeitet, gute die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer von der SPD-Fraktion. Ergebnisse im Sinne unserer Vorhaben erzielt, dass wir (Beifall bei der SPD) gerecht besteuern, aber auch im Sinne der Menschen, die hier für uns arbeiten, die wir mit vernünftigen Löhnen gerecht bezahlen, damit sie hier vernünftig Steuern zah- Ingrid Arndt-Brauer (SPD): len und vernünftige Kindergeldleistungen bekommen. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- Das werden wir weiterhin so praktizieren. Ich den- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden hier ke, Sie haben den Eindruck erwecken wollen, dass hier über Mitbürger, die in Deutschland hauptsächlich in Unsummen ins Ausland abfließen – unberechtigterwei- Mangelberufen arbeiten, aus dem EU-Ausland kommen se. Das ist nicht der Fall. Wir können froh sein, dass es und ihre Kinder und Familien nicht mitgebracht haben. Menschen aus dem europäischen Ausland gibt, die bereit Sie haben dafür gute Gründe. Manchmal können sie sie sind, hier bei uns zu arbeiten, die für ihre Familien gut nicht mitbringen, weil sie sie gar nicht betreuen können, sorgen, ob sie hier bei ihnen wohnen oder ob sie im Aus- weil sie hier 24 Stunden in der Pflege unserer Angehöri- (B) land geblieben sind. (D) gen arbeiten. Das finden wir alle gut und richtig. Das werden wir weiterhin unterstützen. Deshalb müs- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Gut und rich- sen wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen. Ich denke, das tun tig?) wir fast einvernehmlich. – Nein, wir finden nicht gut und richtig, dass sie hier (Stephan Brandner [AfD]: Da bin ich sicher!) 24 Stunden arbeiten, sondern dass sie bei uns in Man- gelberufen tätig sind. Das finden wir gut und richtig. Das Ich glaube, Sie können sich den nächsten Vorstoß in die- möchten wir auch beibehalten. Wir möchten, dass sie se Richtung in dieser Legislatur echt sparen. hier gut Geld verdienen, dass sie hier gut Steuern zah- len. Dann sollen sie auch das Kindergeld bekommen, das Danke schön. deutsche Arbeitnehmer bekommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Kay der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Gottschalk [AfD]) NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir wollen den Missbrauch bekämpfen; das ist ganz Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: klar. Da schließt sich der Kreis zu der Debatte von heute Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aus- Morgen. Heute Morgen meinten einige Kollegen, dass sprache. wir die Bürokratie beim Zoll abbauen und den Zoll so richtig schlank machen sollen. In Wirklichkeit brauchen Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wir aber einen funktionierenden Zoll, eine funktionieren- wurfs auf Drucksache 19/6984 an die in der Tagesord- de Finanzkontrolle Schwarzarbeit, eine Institution des nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Zolls. Diese wird sich demnächst noch verstärkter mit anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann dem Problem des Missbrauchs beim Bezug des Kinder- ist die Überweisung so beschlossen. gelds beschäftigen. Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 9 a bis (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der 9 c: CDU/CSU) a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Wir haben einen Referentenentwurf vom Bundesmi- Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- nisterium der Finanzen vorliegen. Ich darf daraus mal schuss) zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ zitieren. Da steht als Ziel: CSU und SPD 8662 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Friedensprozess zwischen Äthiopien und Wir sehen hier also ein Stück Afrika im Aufbruch. Ich (C) ­Eritrea unterstützen – Zusammenarbeit aus- finde es wichtig, das deutlich zu machen; denn Afrika bauen spielt in unserer Berichterstattung vor allem als Muster für Katastrophen, für Flüchtlingsbewegungen und viel- Drucksachen 19/4847, 19/5644 leicht, wenn es mal schön ist, als Hintergrund für die b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Safari eine Rolle. Aber Afrika ist ein Kontinent im po- Berichts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- litischen Aufbruch, und zwar an vielen Stellen und mit schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Olaf einer ganz interessanten Entwicklung auch für uns. Wir in der Beek, Alexander Graf Lambsdorff, Till müssen lernen, Afrika als Partner ernster zu nehmen. Mansmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Aber – das will ich auch gleich zu Beginn sagen – diese tion der FDP Entwicklung, die der äthiopische Premierminister ange- Zusammenarbeit nutzen, um dauerhaften stoßen hat, ist kein Selbstläufer. Sie steht vor gewaltigen Frieden zwischen Äthiopien und Eritrea zu Herausforderungen. Man muss sich vor Augen führen, sichern dass sich hier ein Vielvölkerstaat, in dem es rund 80 ver- schiedene Ethnien gibt, aus einer autoritären Herrschaft Drucksachen 19/4837, 19/7082 in eine offene Gesellschaft entwickeln soll. Das hat nicht c) Beratung der Beschlussempfehlung und nur positive Effekte ausgelöst, sondern auch erhebliche des Berichts des Auswärtigen Ausschusses ethnische Konflikte wach werden lassen, aufbrechen las- (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- sen. Seit Anfang des letzten Jahres hat es in Äthiopien neten Agnieszka Brugger, Margarete Bause, rund 1,4 Millionen Binnenvertriebene aufgrund solcher Dr. Franziska Brantner, weiterer Abgeordneter ethnischer Konflikte gegeben. und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eine große Zeitung hat vor einiger Zeit deshalb geti- Den Friedensprozess zwischen Äthiopien und telt: Äthiopien zwischen Demokratie und Chaos. – Äthi- Eritrea fördern, schwere Menschenrechtsver- opien ist auf dem Weg zur Öffnung, auf dem Weg zur letzungen in Eritrea beim Namen nennen und Demokratie. Aber es gibt auch andere starke Kräfte im ahnden Land. Es gibt neben diesen ethnischen Konflikten natür- lich auch enorme wirtschaftliche Probleme, insbesondere Drucksachen 19/6109, 19/7088 eine stark ausgeprägte Bürokratie, aber auch einen über Interfraktionell sind 38 Minuten vorgesehen. – Es gibt Jahre hinweg immer wieder hemmenden Devisenman- dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. gel. Trotzdem hat es Äthiopien in den letzten Jahren ge- schafft, ein enormes Wirtschaftswachstum zwischen 8 (B) Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist der und 10 Prozent pro Jahr hinzulegen. Und es braucht auf (D) Kollege Christoph Matschie, SPD-Fraktion. diesem Weg weitere Unterstützung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Diese braucht es auch, wenn man auf die Nachbar- schaft des Landes schaut, die ebenfalls nicht stabil ist, Christoph Matschie (SPD): sondern von großen Turbulenzen geprägt ist: Somalia, Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Südsudan. Aktuell gibt es auch wieder im Sudan Unru- Jetzt also vom Kindergeld zu Äthiopien. Warum diskutie- hen. Trotz allem hat es der äthiopische Premierminister ren wir heute Abend Äthiopien und Eritrea? Weshalb gibt geschafft, eine unglaubliche Hoffnung in seinem Land zu es diesen Antrag? Es gibt ihn, weil sich ein gewaltiger erzeugen, eine Aufbruchstimmung. Ich bin mit einigen Umbruch in der Region am Horn von Afrika vollzieht. Kollegen Ende August letzten Jahres dort gewesen. Die Begeisterung in vielen Teilen der Bevölkerung ist mit Der im letzten Frühjahr in Äthiopien neu ins Amt Händen zu greifen. gekommene Premierminister Abiy Ahmed hat eine un- Wir müssen das Momentum, was da ist, die Bewe- glaubliche politische Dynamik in der Region ausgelöst. gung, die entstanden ist, jetzt nutzen. Diese neue Regie- Er hat politische Gefangene freigelassen, hat die Oppo- rung braucht politische und wirtschaftliche Unterstüt- sition eingeladen, sich an der politischen Debatte zu be- zung. Mit diesem Antrag wollen wir ein klares Signal an teiligen und hat auch die Exilopposition wieder ins Land die äthiopische Regierung senden, aber auch an Eritrea: zurückgeholt. Er hat einen Friedensprozess mit Eritrea Wir unterstützen die politische Öffnung. Wir unterstüt- in Rekordgeschwindigkeit, muss man schon sagen, auf zen den Friedensprozess. Wir wollen auch die wirtschaft- den Weg gebracht und damit einen Konflikt beendet, der liche Entwicklung unterstützen. schon über 20 Jahre die Politik am Horn von Afrika mit- bestimmt und in weiten Teilen auch gelähmt hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Nach Jahrzehnten einer autoritären Herrschaft hat sich NISSES 90/DIE GRÜNEN) Äthiopien auf den Weg in eine offene Gesellschaft, in ei- nen demokratischen Umbruch gewagt. Es hat einen Frie- Der Friedensprozess und die Öffnung, die sich jetzt den gewagt, an den vor kurzem noch niemand zu den- in Äthiopien zeigen, die Gesellschaft, die in Bewegung ken wagte. Dieser Frieden hat übrigens nicht nur auf die gekommen ist, erhöhen natürlich auch den Druck auf die Beziehungen von Äthiopien und Eritrea Auswirkungen, eritreische Regierung, zu Veränderungen zu kommen. sondern strahlt auch auf die Konfliktregion Somalia ab, Wenn man nach Eritrea schaut, stellt man fest: Dort hat auf die Situation im Südsudan und im Sudan. sich innenpolitisch bisher kaum etwas bewegt. Nach wie Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8663

Christoph Matschie (A) vor gibt es in Eritrea nicht einmal eine in Kraft gesetzte Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) Verfassung; der Entwurf von 1997 ist nie tatsächlich Ver- Für die AfD-Fraktion hat das Wort der Kollege Paul fassung geworden. Es gibt kein Parlament, das tagt. Es Podolay. gibt keine Pressefreiheit. Es gibt keine Opposition. – Es gibt eine harte Unterdrückung. Die klare Botschaft an die (Beifall bei der AfD) eritreische Regierung muss sein: Auch in Eritrea erwar- ten wir Reformprozesse, politische Öffnung. Wir brau- chen auch hier Freiheit für eine neue Entwicklung. Das Paul Viktor Podolay (AfD): Land hat hier einen schwierigen Weg vor sich. Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Der langjährige Kriegszustand zwischen Äthio- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten pien und Eritrea ist durch die neue äthiopische Regierung der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE nun beendet worden, noch dazu ohne jegliche Einmi- GRÜNEN) schung äußerer Mächte. Ein Problem bleibt jedoch be- Was in Äthiopien passiert ist, ist wirklich beeindru- stehen: die aus der früheren Unabhängigkeitsbewegung ckend. Ich will nur einige Beispiele nennen, die auch stammenden alten und noch herrschenden Eliten. Sie durch die Medien gegangen sind: Eine Oppositionspoliti- sind daran interessiert, den autoritären Einparteienstaat kerin, die im Exil lebte, die zu, ich glaube, sogar mehrfa- in Eritrea beizubehalten. Dies verhindert gestalterische cher lebenslanger Haft verurteilt war, Birtukan ­Mideksa, Chancen für das Land und kann letztendlich die ge- ist nicht nur zurückgekommen ins Land, sondern der wünschte Stabilisierung in der Region gefährden. neue Premierminister hat sie mit Blick auf die 2020 ge- Was sind demgegenüber unsere deutschen Interessen planten Wahlen zur Leiterin der Wahlbehörde gemacht. in der Region? Es ist völlig klar: Das Ergebnis des lau- Es sind umfangreiche Gesetzesänderungen angekündigt fenden Friedensprozesses muss dort der Aufbau eigener und einige auf den Weg gebracht worden. Wir hatten vor nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen sein. Es bedarf neben einigen Monaten die Gelegenheit, mit der Kommission den finanziellen auch menschlicher Ressourcen. Seit zu diskutieren, in der Wissenschaftler, Juristen, Vertreter Jahrzehnten fliehen Tausende Menschen aus Eritrea nach der Zivilgesellschaft und der Regierungspartei zusam- Europa. In den vergangenen Jahren kamen die meisten mensitzen und überlegen, wie man diese Reformprozesse eritreischen Asylsuchenden nach Deutschland, und zwar jetzt institutionalisieren kann, welche Gesetze man än- signifikant mehr als in jedes andere EU-Land. Es liegt dern muss – das Wahlgesetz, das Gesetz über die Arbeit also im deutschen Interesse, an Rahmenbedingungen in zum Beispiel von NGOs –, wie man Pressefreiheit veran- diesem Land mitzuwirken, die es den Flüchtlingen er- (B) (D) kern kann usw. usf. möglichen, wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Äthiopien sieht sich aber auch – das nehmen die meis- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) ten vielleicht gar nicht wahr – als Vorreiter einer grünen Wachstumsstrategie in Afrika. Äthiopien ist ein Land, Auch andere Nationen, vor allem in Europa, sollten die- das heute schon über 80 Prozent seines Energiebedarfs ses Interesse haben und daher bereit sein, mit uns zusam- aus erneuerbaren Energien deckt und diesen Weg auch menzuarbeiten. konsequent weitergehen will. Auch das sind Entwick- lungen, die spannend sind, die wir unterstützen können Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen endlich und bei denen es auch genügend Anknüpfungspunkte für mal im Sinne einer interessengeleiteten deutschen Au- wirtschaftliche Zusammenarbeit gibt. ßenpolitik handeln. Nur mit diesem Ansatz können wir die Wirtschaftsstärke Eritreas und möglicherweise ande- Die Rolle der Frauen ist durch die neue Entwicklung rer Nachbarstaaten positiv beeinflussen. Wir dürfen auf deutlich gestärkt worden. keinen Fall die Fehler der bisherigen Entwicklungspoli- tik des Westens in Afrika wiederholen. Ich will zum Schluss eines sagen: Wir dürfen bei die- ser Entwicklung nicht in der Zuschauerreihe stehen blei- Eritrea ist bekanntermaßen reich an Bodenschätzen, ben. Die Bundesregierung hat erste Schritte eingeleitet, die es weltweit exportiert. Ebenso sind die Böden dort es gibt klare Signale. Der Bundespräsident wird noch fruchtbar. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung sind da- Ende dieses Monats auch Äthiopien besuchen. Das ist, her in der Landwirtschaft beschäftigt. Die wirtschaftspo- wie ich finde, ein wichtiges Signal. Wir wollen als Ko- litische Kompetenz der Regierung bleibt jedoch äußerst alitionsfraktionen noch mal ein deutliches Signal an die kritisch zu betrachten. Es ist nicht klar, ob sie die not- Bundesregierung schicken: Lassen Sie uns gemeinsam wendigen Schritte in Richtung Prosperität unternimmt. alles unternehmen, um die Entwicklung in Äthiopien zu Diese Mängel haben mehrfach zu Hungersnöten und ge- unterstützen und den Friedensprozess zu unterstützen; sundheitsgefährdenden Entwicklungen in der Gesamtbe- denn es werden dringend Erfolge gebraucht – und die so völkerung geführt. rasch wie möglich. Die Maßnahmen, die wir treffen müssen, sind also Ich bitte also um Zustimmung zu unserem Antrag. evident, nämlich eine Art Entwicklungspakt mit Eritrea.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) 8664 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Paul Viktor Podolay (A) Erstens. Unsere deutschen Unternehmen erschließen die Äthiopien hat, indem es dem Abkommen von Algier (C) Bodenschätze und verschaffen dem Staat somit Steuer- und auch der Empfehlung der Grenzkommission aus dem einnahmen. Jahr 2013 dann doch noch nachgekommen ist, den Mut bewiesen, den ich mir manchmal bei Grenzkonflikten auf (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Kolonialis- der Erde wünschen würde, nämlich zu sagen: Wir ver- mus!) zichten auf Territorium. – Das klingt erst mal leichter, als Zweitens. Wir schützen dabei die Wirtschaft Eritreas es in der Realität dann meistens ist. durch Fairtrade-Abkommen. Drittens. Durch die Mo- Wir von der CDU/CSU hoffen eindringlich, dass Äthi- dernisierung der Landwirtschaft erhöhen wir die Wirt- opien seiner Bereitschaft zum Frieden eine tatsächliche schaftskraft und stellen die Ernährung der wachsenden Bereitschaft zu innerstaatlichen Reformen folgen lässt. Bevölkerung sicher. Viertens. Durch Aufbau von Hand- Es bleiben in Äthiopien, in diesem 100-Millionen-Ein- werk und Gewerbe schaffen wir Mittelstand sowie Infra- wohner-Land, trotz des in der Tat hohen Wirtschafts- struktur. wachstums der letzten Jahre wirtschaftliche Reformen (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Am deutschen notwendig, wenn das Ziel erreicht werden soll, im Wesen soll die Welt genesen! Herr Podolay!) Jahr 2025 ein Schwellenland zu werden. Fünftens. Zur Verstärkung dieser Maßnahmen helfen wir Ungleich größer hingegen sind die Herausforderun- mit unserer Expertise beim Auf- und Ausbau einer effizi- gen, vor denen Eritrea steht: ein Land mit bitterer Ar- enten öffentlichen Verwaltung. mut, in dem Rechtsstaatlichkeit nach wie vor nicht be- steht. Der Friedensinitiative müssen deshalb erst recht (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: durchgreifende nationale Reformen folgen. Der für Und der Staatssicherheit!) viele Flüchtlinge auf der Welt verantwortliche Nationa- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dabei muss uns klar le Dienst in diesem Land sollte vergütet und vor allem sein: So ein Entwicklungsvorhaben muss ausschließlich zeitlich begrenzt, die Verfassung geändert, politische und konsequent zentral geplant und geführt werden. Ler- Opposition zugelassen, freie Wahlen abgehalten, Men- nen wir aus den Misserfolgen wie zum Beispiel in Haiti schenrechte gewährt und rechtsstaatliche Prinzipien ge- der jahrelangen massiven Veruntreuung von Hilfsgütern wahrt werden. Die To-do-Liste – Sie haben es gehört – ist und Intransparenz: Nichtstaatliche Organisationen sind ausgesprochen lang in diesem Land. entwicklungspolitisch nicht effizient. Es muss einen Auch die Herausforderungen der Nachbarländer – festen Masterplan geben, und die in Haiti gescheiterten Somalia, Dschibuti, Sudan, Südsudan, Kenia – auf dem NGOs haben in Eritrea nichts zu suchen. Weg zur Prosperität sind groß. Wir hoffen, dass die Be- (B) (Beifall bei Abgeordneten der AfD) friedung dieses einen Konfliktes zwischen Eritrea und (D) Äthiopien auch zu einer Stärkung der gesamten Region Sonst scheitern sie erneut. führen wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Die Anträge, über die wir heute diskutieren, zeigen: (Beifall bei der AfD) In der positiven Bewertung der Chance auf Frieden sind wir uns in diesem Hause weitgehend einig, ebenso in der Einschätzung, dass weitere Reformen notwendig sind. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Die Unterschiede in den Anträgen zeigen sich eher in der Der nächste Redner, der Kollege Markus Koob, CDU/ Einschätzung der Afrika-Politik der Bundesregierung. CSU-Fraktion. Die Kritik der FDP und der Grünen an der Afrika-Poli- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tik der Bundesregierung halte ich dabei für überzogen. Nur weil im Einzelnen mehrere Bundesministerien für Markus Koob (CDU/CSU): die Hilfen in den afrikanischen Ländern zuständig sind, heißt das nicht gleich, dass ein Durcheinander existiert, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und und heißt auch nicht, dass keine Strategie vorhanden ist. Kollegen! Wenn wir auf Ostafrika blicken, dann blicken wir auf eine Region der Welt, aus der gute Nachrichten Auch kann ich nicht nachvollziehen, warum im An- nicht zur alltäglichen Selbstverständlichkeit gehören, trag der Grünen das Eintreten der Bundesregierung bei erst recht nicht, wenn wir auf die beiden Länder schau- der Bekämpfung der Fluchtursachen gerade im Fall von en, über die wir hier heute reden: Äthiopien und Eritrea, Eritrea als etwas Negatives angesehen wird. Eine der zwei Länder, die in den letzten Jahren überwiegend mit wesentlichen Ursachen für die Flucht von Menschen Konflikten, Menschenrechtsverletzungen und bitterer aus Eritrea ist neben der Armut der erwähnte Nationale Armut in Verbindung gebracht worden sind. Dienst. Das Land dazu zu bewegen, hier endlich Ände- rungen vorzunehmen und damit einer Fluchtursache den Auch nach der Gemeinsamen Erklärung von Frieden Boden zu entziehen, ist vor allem im Interesse der betrof- und Freundschaft zwischen Äthiopien und Eritrea vom fenen Menschen in Eritrea. 8. und 9. Juli letzten Jahres bleiben weiterhin sehr große Herausforderungen für die beiden Länder, auch in ihrem Der in allen Anträgen richtigerweise erwähnte Wett- bilateralen Verhältnis, bestehen. Aber ich finde, in einer bewerb mit Ländern wie China, den USA oder den Golf- Zeit, in der internationale Erfolge nicht alltäglich sind, staaten um das Engagement in der Region ist eine zusätz- kann man an dieser Stelle auch einfach mal sagen: Gut liche Herausforderung. Dieser Wettbewerb darf in der gemacht, beide Länder! Tat nicht zu einem Unterbietungswettbewerb führen. Die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8665

Markus Koob (A) Befürchtung der Grünen, es könne daher zu einer bedin- Die Reformentwicklungen in Äthiopien sind schon (C) gungslosen Wiederaufnahme staatlicher Entwicklungs- beeindruckend. Binnen Monaten hat es Ministerpräsi- zusammenarbeit durch die Bundesregierung kommen, dent Abiy geschafft, sein Land zu öffnen, und zwar nach teile ich aber nicht. Ich habe Vertrauen in die deutsche innen und nach außen. Diese Reformbemühungen müs- Entwicklungshilfe und die Arbeit des Ministeriums, dass sen und wollen wir mit aller Kraft unterstützen. Dennoch es hier den richtigen Ansatz findet. liegt vor beiden Ländern wie auch vor der gesamten Region am Horn von Afrika noch ein weiter und langer Ich möchte an dieser Stelle aber auch ganz klar und Weg. ausdrücklich sagen, dass der eben beschriebene Wett- bewerb um Einflussnahme nicht nur in Afrika, sondern Während in Äthiopien Oppositionelle aus den Ge- auch in anderen Regionen dieser Erde ein Wettbewerb fängnissen entlassen werden und Ansätze demokrati- ist, mit dem wir uns als Parlament insgesamt, also Ko- scher Reformen verfolgt werden, ist Eritrea von dieser alition wie Opposition, deutlich intensiver beschäftigen Entwicklung leider völlig abgeschnitten. Das dürfen müssen, als wir das bisher tun. Gemeinsamkeiten dabei wir – trotz unserer Freude über den Friedensvertrag – gibt es ja durchaus. nicht verschweigen. Im Gegenteil: Wir müssen dies ge- Der Antrag der Regierungsfraktionen – hier am kon- rade jetzt noch deutlicher benennen, um den Menschen kreten Beispiel von Äthiopien und Eritrea –, aber auch in Eritrea eine echte Chance zu geben. Für uns Freie De- die Anträge der Grünen und der FDP zeigen: Im Grunde mokraten gibt es eine eindeutige rote Linie: Nur wer die wollen wir alle in diesem Haus eine enge Partnerschaft Menschenrechte achtet, wahrt und schützt und sich an mit Afrika, wir wollen den wirtschaftlichen Erfolg Afri- den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit hält, hat die Mög- kas, und wir wollen, dass die Menschen in Afrika mit Per- lichkeit, von uns unterstützt zu werden. spektiven in Frieden – inklusive der Wahrung der Men- schenrechte – und Wohlstand leben können. Wir sollten (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Gisela alles dafür tun, um diese Länder dabei zu unterstützen. Manderla [CDU/CSU]) Deshalb bitte ich um Unterstützung für den Antrag der Regierungskoalition. Davon dürfen wir keinen Millimeter abweichen, gerade in Zeiten, in denen liberale Wertegemeinschaften unter Vielen Dank. Dauerbeschuss stehen. Das gilt gerade jetzt, da sich kurz- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- fristige Maßnahmen der Migrationssteuerung größerer ordneten der SPD) Beliebtheit erfreuen als langfristige, also echte Entwick- lungszusammenarbeit.

(B) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen drin- (D) Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Olaf gend aufpassen, dass wir dabei nicht unseren Wertekom- in der Beek. pass verlieren. Deshalb müssen wir ganz besonders nach (Beifall bei der FDP) der Aufhebung der Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegen Eritrea genau hinschauen. Und an Herrn Staats- minister Annen, der hier anwesend ist: Nutzen Sie bitte Olaf in der Beek (FDP): auch unseren Sitz im Sicherheitsrat dazu, genau diesen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Prozess kontinuierlich zu überprüfen. im letzten Sommer zwischen Äthiopien und Eritrea ge- schlossene Friedensvertrag ist in seiner Bedeutung kaum (Beifall bei der FDP) zu überschätzen. Er ist ein Zeichen von Aufbruch, Ver- änderungswillen und der Sehnsucht nach Frieden. Er ist Dazu gehört für uns ganz klar, dass den UN-Institutio- ein Zeichen in einer Zeit, in der andere Mauern bauen nen und unabhängigen Beobachtern Zugang zum Land wollen, in der die Anzahl bewaffneter Konflikte leider gewährt werden muss. Die Weltgemeinschaft muss dazu zunimmt und in der eher das Trennende als das Verbin- in der Lage sein, Anklagen wegen Menschenrechtsverlet- dende betont wird. zungen auch tatsächlich überprüfen zu können.

Welche Wirkung ein solcher Friedensvertrag entfalten Um die Lage der Menschen im Land zu verbessern, kann, wissen wir in Deutschland nur zu gut. In diesem wollen wir, dass die Bundesregierung neben allen diplo- Jahr jährt sich die Unterzeichnung des Élysée-Vertrags matischen Bemühungen auch ganz praktisch zur Ent- zwischen Deutschland und Frankreich zum 55. Mal. Aus wicklung in Äthiopien und Eritrea beiträgt. den früheren Erbfeinden Deutschland und Frankreich sind enge und vertrauensvolle Partner geworden, die nun (Beifall bei der FDP) in Europa und der EU eine gemeinsame Führungsrolle einnehmen. Angesichts dieser Entwicklung muss es un- Das Zusammenwachsen beider Staaten kann insbesonde- ser gemeinsames Ziel sein, den Friedensschluss zwischen re durch die Förderung von grenzüberschreitenden wirt- Äthiopien und Eritrea zum afrikanischen Élysée-Vertrag schaftlichen, kulturellen und sozialen Projekten sowie werden zu lassen. den Auf- und Ausbau der dringend benötigten Infrastruk- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tur gefördert werden. der CDU/CSU und der SPD) Der Friedensschluss zwischen beiden Ländern kann Bis dahin ist es allerdings noch ein weiter Weg. zum Élysée-Vertrag von Afrika werden. Lassen Sie uns 8666 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Olaf in der Beek (A) gemeinsam daran arbeiten! Deshalb würden wir uns über um Schutz gebeten, und 7 von 10 erhalten diesen Schutz (C) die Unterstützung unseres Antrages sehr freuen. auch. Damit ist Eritrea nach Syrien das Land mit der zweithöchsten Anerkennungsquote. Vielen Dank. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört! (Beifall bei der FDP) Hört!)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Aber im Dezember hat nun auch die EU ihre Sank- Die Kollegin Kathrin Vogler spricht für die Fraktion tionen gegen Eritrea aufgehoben. Meine Damen und Die Linke. Herren, Sanktionen aufzuheben und damit der Zivilbe- völkerung das Leben zu erleichtern, dagegen sagen wir (Beifall bei der LINKEN) überhaupt nichts; da sind wir auch sofort dabei. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Kathrin Vogler (DIE LINKE): Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Aber Waffenlieferungen an eine Militärdiktatur, das ist Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Dass etwas ganz anderes, und dagegen haben wir als Linke tat- Äthiopien und Eritrea im Juli letzten Jahres einen Frie- sächlich entschieden etwas. densvertrag unterzeichnet haben, ist eine große Hoffnung (Beifall bei der LINKEN) für die Region; das hatten wir alle nicht erwartet. Beide Länder verkündeten eine neue Ära des Friedens und der Auch gegen die Zusammenarbeit mit dieser eritreischen Freundschaft und nahmen diplomatische Beziehungen Diktatur zur Flüchtlingsabwehr und Migrationskontrolle, auf. Und wir haben jetzt die große Chance, aber auch die wie sie die EU zynischerweise im sogenannten Khar- Verantwortung, diese zwei Länder dabei zu unterstützen, tum-Prozess betreibt, haben wir entschieden etwas. Die- dass sie sich aus einem blutigen, jahrzehntelangen Krieg se Zusammenarbeit lehnen wir ab. mit über 80 000 Toten auf den Weg zu einem stabilen (Beifall bei der LINKEN) Frieden und guter Nachbarschaft machen. (Beifall bei der LINKEN) Was die Menschen in Äthiopien und Eritrea jetzt brau- chen, ist Friedensförderung, ist Freiheit und ist nachhal- Diese historische Chance, liebe Kolleginnen und Kolle- tige Entwicklung, keine neue Aufrüstung und vor al- gen, dürfen wir nicht vermasseln. Dafür müssen wir ge- lem auch keine Normalisierung ohne Verbesserung der nau schauen – dafür möchte ich werben –, was sinnvoll Menschenrechtslage. Deshalb bitte ich Sie und fordere ist und was nicht, welche Hilfe Frieden fördert und wel- die Bundesregierung auf: Warten Sie nicht, dass sich ein (B) che die Saat für neue Gewalt legen könnte. dauerhafter und tragfähiger Frieden in den beiden Län- (D) dern von selbst einstellt, sondern tragen Sie aktiv dazu Wir wissen, dass ein dauerhafter und tragfähiger Frie- bei. den keine Selbstverständlichkeit ist. Friedenskonsolidie- rung, das sogenannte Peacebuilding, ist langfristig und (Beifall bei der LINKEN) anspruchsvoll. Aus meiner Erfahrung als Friedensakti- vistin ist es dabei zentral, Abrüstung statt Aufrüstung zu Hoffen Sie nicht darauf, dass Isayas Afewerki sich durch fördern. Aber die Tinte unter dem Friedensvertrag zwi- militärische Kooperation zu innenpolitischen Reformen schen Äthiopien und Eritrea war noch nicht trocken, da verlocken lässt. Schützen und bestärken Sie vielmehr das bestätigte der stellvertretende Stabschef der äthiopischen zivilgesellschaftliche Engagement und die zivilgesell- Armee, dass man nun eine Marine aufbauen und dafür schaftlichen demokratischen Kräfte in Eritrea. Arrange- einen entsprechenden Militärstützpunkt – ich zitiere – „in ments mit einem Despoten, der die Menschenrechte mit einem anderen Land“ aufbauen wolle. Das kann eigent- Füßen tritt, sind inakzeptabel. lich nur in Eritrea sein. Das bedeutet, dass dieser Vertrag, (Beifall bei der LINKEN) der ein Friedensvertrag sein soll, die Option zu neuer Aufrüstung in der Region schafft – und Aufrüstung war Und: Setzen Sie sich ein für ein politisches Peacebuil- noch niemals gut für den Frieden. ding, das diesen Namen verdient. Die Aufhebung der Embargos darf nicht dazu führen, dass diese beiden Län- (Beifall bei der LINKEN) der jetzt massiv aufgerüstet werden. Etwa zur gleichen Zeit hob der UN-Sicherheitsrat das Last, not least: Gestalten Sie eine Entwicklungszu- Waffenembargo gegen Eritrea auf. Damit wollte man den sammenarbeit, die Armut, Unterentwicklung, Ausbeu- eritreischen Militärdiktator Isayas Afewerki ködern, sein tung und Umweltzerstörung und damit die wesentlichen Unrechtsregime zu beenden. Meine Damen und Herren, Gewaltursachen wirksam bekämpft! Vermasseln Sie es das ist doch so, als ob man mit einem Benzinkanister ein nicht! Feuer löschen wollte. In Eritrea – das haben wir schon von mehreren gehört – werden die Menschenrechte mit (Beifall bei der LINKEN) Füßen getreten. Tausende Bürgerinnen und Bürger sind ohne Gerichtsverfahren eingesperrt. Hunderttausende Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Frauen, Männer und Jugendliche werden auf unbestimm- Für Bündnis 90/Die Grünen spricht nun die Kollegin te Zeit vom Militär zwangsrekrutiert, wo Missbrauch und Agnieszka Brugger. Folter an der Tagesordnung sind. Mehr als 5 300 Men- schen aus Eritrea haben im letzten Jahr in Deutschland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8667

(A) Agnieszka Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- trag und denen der Koalition und der FDP –: Wer Demo- (C) NEN): kratie, wer Menschenrechte und Stabilität befördern will, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer der muss Frieden und Zukunftsperspektiven unterstützen Welt, die in den letzten Jahren eher neue Grenzen und und der darf nicht auf fragwürdige Deals und vermeint- neue Konflikte, mehr Spannungen und Spaltungen zwi- liche Sicherheitskooperationen mit autokratischen Regi- schen Staaten und Gesellschaften gesehen hat, ist es men setzen. mehr als eine gute Nachricht für Ostafrika, dass es nach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jahrzehnten zu einem historischen Friedensschluss zwi- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) schen Äthiopien und Eritrea gekommen ist. Wo früher Schweigen und Schüsse geherrscht haben, kann jetzt der Wir Grüne beobachten wirklich mit großer Sorge, wie diplomatische Dialog beginnen. Wo Familien auseinan- aktuell Mittel unter dem Stichwort „Migrationsmanage- dergerissen worden sind, finden jetzt Telefonate und Be- ment“ umgeschichtet werden und dass es immer weniger suche statt. um echte Entwicklungszusammenarbeit, immer weniger um notleidende Menschen und ihre Perspektive geht, Allerdings darf aus der berechtigten Freude nicht der sondern immer mehr um die Abwehr von Geflüchteten. naive Glaube werden, dass nun alles gut ist. Ein Friedens- Es ist einfach schwierig, Menschenrechte und Demokra- prozess ist leider nun mal kein Selbstläufer, sondern das tie einzufordern, wenn man sich derart erpressbar macht. ist eine sehr schwierige, eine sehr fragile Entwicklung Eine solche Politik ist nicht nur falsch und zynisch, son- über Jahre hinweg. Deshalb ist es bei allen Unterschieden dern sie ist zugleich auch höchst naiv; denn sie droht am richtig, dass sich durch alle Anträge die Forderung zieht, Ende die Fluchtgründe nicht zu beseitigen, sondern sogar dass die deutsche und auch die europäische Seite diesen noch zu befördern. wichtigen Prozess tatkräftig unterstützen müssen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zum anderen dürfen aber eben außenpolitische Er- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) folge auch nicht von der innenpolitischen Situation ab- lenken. Meine Damen und Herren, Eritrea zählt zu den Denn wer von Fluchtursachenbekämpfung redet, damit autoritärsten Staaten dieser Welt. Die Liste der VN-Son- aber vor allem Fluchtabwehr meint, der macht sich eben derberichterstatterin über die Menschenrechtsverletzun- sehr angreifbar und sehr unglaubwürdig. gen ist ebenso lang wie schrecklich. Folter, willkürliche Daher fordern wir die Bundesregierung an dieser Stel- Festnahmen: Das ist übler Alltag in Eritrea. Die Men- le und in unserem Antrag dazu auf, sich von einem sol- schen werden dort zum sogenannten Nationalen Dienst chen Kurswechsel zu verabschieden und ihm eine deutli- gezwungen. Das ist eigentlich nur eine freundlich klin- che Absage auch auf europäischer Ebene zu erteilen. (B) gende Umschreibung für Sklavenarbeit. Schülerinnen (D) und Schüler müssen einen militärischen Zwangsdienst (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leisten. Frauen und Mädchen werden sexuell versklavt und gequält. Die Bundesregierung sollte nicht, wie es die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: AfD gefordert hat, dieses brutale Regime mit Entwick- Die nächste Rednerin: die Kollegin Gisela Manderla, lungszusammenarbeit unterstützen, sondern sie sollte die CDU/CSU-Fraktion. Mitgliedschaft Deutschlands im Sicherheitsrat der Ver- einten Nationen dazu nutzen, eine Überweisung an den (Beifall bei der CDU/CSU) Internationalen Strafgerichtshof in Angriff zu nehmen. Gisela Manderla (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ja, Meine Damen und Herren, zumindest im Nachbarland es war ein historisches Ereignis: die Gemeinsame Erklä- Äthiopien gibt es innenpolitische Hoffnungsschimmer rung von Frieden und Freundschaft zwischen Äthiopien mit Blick auf etwas mehr Demokratie. So wurden politi- und Eritrea. Seit dieser für die gesamte Region histori- sche Gefangene endlich freigelassen, und die Exiloppo- schen Entscheidung können wir bereits sehr positive Ent- sition wurde eingeladen, sich am politischen Prozess zu wicklungen erkennen. Ein politischer Wandel in Äthiopi- beteiligen. Es muss sich aber noch zeigen, ob die Rechte en, der vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen wäre, von Zivilgesellschaft, von Opposition und von Minder- ist klar erkennbar. Regierungschef Ahmed hat sein Land heiten wirklich respektiert werden und ob es zu einem innerhalb weniger Monate durch seine Rhetorik, den ein- fairen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Grup- geschlagenen Reformkurs und diplomatische Erfolge in pen in der Gesellschaft kommt. Die Bundesregierung der Region zum Positiven verändert. So wurde etwa die sollte demokratische Reformen einfordern und unter- Opposition entkriminalisiert, und Tausende politische stützen. Dazu gehört aber zum Beispiel auch, sich dafür Gefangene wurden freigelassen. Als weitere beabsichtig- einzusetzen, dass das Anti-Nichtregierungsorganisatio- te Schritte wurden die Einführung einer Mehrparteiende- nen-Gesetz endlich abgeschafft wird. mokratie sowie freie und faire Wahlen 2020 angekündigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch in wirtschaftlicher Hinsicht gibt es inzwischen beachtliche Fortschritte. So hat sich in Eritrea seit der Liebe Kolleginnen und Kollegen, eins muss bei der Grenzöffnung die Versorgung der Bevölkerung deutlich Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und verbessert, auch wenn sie noch lange nicht gut ist, und es den afrikanischen Staaten aber auch ganz klar sein – das findet auch eine verstärkte Handelstätigkeit statt. Gleich- ist der entscheidende Unterschied zwischen unserem An- zeitig hat Äthiopien den Logistiksektor für ausländischen 8668 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Gisela Manderla (A) Investoren – wenn auch nur wenig, aber dennoch – ge- ge, ob Europa, ob Deutschland diese Chancen in ausrei- (C) öffnet. chendem Maße ergreift. Nichtsdestotrotz befinden sich Äthiopien und Eritrea Wir als Unionsfraktion unterstützen den von der zweifellos am Beginn eines sehr langen Reformprozes- Kanzlerin skizzierten Afrika-Fonds; das ist die richtige ses, der neben der Aussöhnung der Staaten zuvorderst das Richtung. Aber aktuelle Zahlen zeigen, dass zum Bei- Ziel haben muss, die Lebenssituation der Bevölkerung zu spiel China für einen Anteil von über 25 Prozent aller verbessern und vor allen Dingen Zukunftsperspektiven Neuinvestitionen in Afrika steht, Frankreich und Groß- in ihren Heimatländern für sie zu etablieren. Angesichts britannien unter 5 Prozent und Deutschland unter 2 Pro- extrem hoher Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig rasantem zent. Dabei werden die Investitionssummen in Afrika in Bevölkerungswachstum gilt es, auch mithilfe europäi- den nächsten Jahren gigantisch sein. Das ist nicht nur scher Investitionen die Wirtschaft vor Ort zu stärken. Die wirtschaftlich von Bedeutung, sondern zum Beispiel Schaffung beruflicher Perspektiven besonders für junge auch beim Klimaschutz, bei dem wir eine große Hebel- Menschen leistet zugleich einen großen Beitrag zur Be- wirkung sehen, wenn neu zu erstellende Infrastruktur kämpfung der Fluchtursachen in Ostafrika. Gut ausge- gleich klimaschonend auf das richtige Gleis gesetzt wird. bildete junge Leute können ihr Land besser stabilisieren, wenn sie es nicht verlassen müssen. Blickt man auf den Handel, ist Europa nach China und Japan nur noch der drittgrößte Partner, trotz der direkten Neben einer wirtschaftlichen Förderung des Entwick- Lage vor unserer Haustür. Hier müssen wir dringend wie- lungsprozesses durch die internationale Gemeinschaft der aufholen. Das Cotonou-Folgeabkommen bietet dazu bedarf es auch einer politischen Unterstützung. Voraus- eine Chance. Innerhalb Afrikas bilden nur wenige Län- setzung hierfür ist jedoch zunächst, dass die Staatschefs der den Großteil des Handels mit Europa ab. Stabilität beider Länder eingegangene Verpflichtungen auch ein- und gute Regierungsführung sind wesentliche Kriterien halten und den eingeschlagenen Reformkurs beibehal- für eine Teilhabe an diesem wirtschaftlichen Austausch. ten. Hier ist beispielsweise die bereits 2013 ratifizierte Dabei gibt es Licht und viel Schatten. Agenda 2063 der Afrikanischen Union zu nennen, in der gute Regierungsführung, freie Wahlen und eine gerechte Über einen besonderen Lichtblick haben wir hier heu- Wirtschaftspolitik festgeschrieben sind. te debattiert. Das Friedensabkommen zwischen Äthiopi- en und Eritrea hätte es eigentlich als Wunder von Afrika Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich müssen des Jahres 2018 in sämtliche Jahresrückblicke schaffen im Rahmen des Friedensdialogs zwischen Äthiopien müssen, zum Beispiel mit den emotionalen Bildern bei und Eritrea auch die individuellen Herausforderungen den Grenzöffnungen, wo sich Familien und Geschwister beider Länder berücksichtigt werden. In Äthiopien – mit nach Jahren und Jahrzehnten der Trennung wieder in den (B) 200 Ethnien und 80 Sprachen – muss die Regierung un- Armen lagen, oder mit dem sensationellen Reformtempo (D) terstützt werden, einen demokratischen Föderalismus zu von Ministerpräsident Abiy. Er hat im Übrigen ein Kabi- etablieren. Die Versöhnung und die Vereinigung aller nett mit 50 Prozent Frauenanteil Ethnien ist das Ziel des Landes und des Staatschefs; und dieses muss gelingen. ( [CDU/CSU]: Ja!) Meine Damen und Herren, wir haben heute Morgen und einer klugen Auswahl an Persönlichkeiten aufge- über den neuen deutsch-französischen Freundschaftsver- stellt. Und: Äthiopien hat seit kurzem ein weibliches trag gesprochen. Jahrhundertelang haben sich Deutsche Staatsoberhaupt. Das sei an diesem Tage auch erwähnt. und Franzosen bis aufs Blut bekämpft. Seit 70 Jahren haben wir Frieden zwischen unseren Ländern. Warum (Beifall der Abg. Michaela Noll [CDU/CSU]) sollte es nicht auch in Ostafrika möglich sein, Frieden zu Die Hoffnung, die in Ministerpräsident Abiy gesetzt schaffen? Wir sollten alles dafür tun, dass dieses möglich wird, konnte man auch an den 20 000 Äthiopiern, die in ist. Dazu nutzt auch der Antrag, den wir heute gestellt Europa leben, ablesen, die seinen Auftritt in der Frank- haben. Ich bitte Sie um Ihre Unterstützung. furter Commerzbank-Arena feierten, als er letztes Jahr (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- für den Afrika-Gipfel nach Deutschland kam. ordneten der SPD) Bei aller Euphorie müssen wir aber auch sehen, dass die Verhältnisse durchaus fragil sind. Einige Herausfor- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: derungen haben meine Vorredner an dieser Stelle bereits Vielen Dank. – Ich erteile das Wort dem Kollegen angesprochen. Es gibt nach wie vor Unruheherde, verur- Thomas Erndl, CDU/CSU-Fraktion. sacht durch Rebellen. Eritrea ist ausführlich besprochen worden; dort ist bisher keine Öffnung sichtbar, keine Ab- (Beifall bei der CDU/CSU) schaffung des lebenslangen Militärdienstes. Viele Men- schen aus Eritrea suchen deshalb den Weg nach Äthiopi- Thomas Erndl (CDU/CSU): en, was neue Herausforderungen bringt. Offene Grenzen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Besucher auf den Richtung Eritrea und die Nutzung der Häfen sind Reali- Tribünen! Zuschauer im TV und Internet! Meine Damen tät, formale Regeln sind aber auch an dieser Stelle noch und Herren! Es ist gut, dass wir heute eine weitere Debat- nicht aufgesetzt – möglicherweise eine weitere Heraus- te zu Afrika haben. Wir sollten öfter über Afrika debat- forderung für die Zukunft, genauso wie das Staudamm- tieren – und zwar über Afrika als Kontinent der Chancen, projekt am Blauen Nil, bei dem sich die Beziehung zu über Afrika als Kontinent der Zukunft und über die Fra- Ägypten bewähren muss. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8669

Thomas Erndl (A) Es liegt noch ein weiter Weg vor den Menschen dort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: (C) Unser Antrag fordert die Bundesregierung auf, die Regi- on verstärkt mit allem zu unterstützen, was unser Werk- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zeugkasten hergibt – ob es das Finanzministerium, Wirt- richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- schaftsministerium oder unser hervorragend arbeitender sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) Minister für Entwicklungszusammenarbeit Gerd Müller – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU ist. Dies ist richtig – selbstverständlich in einer Partner- und SPD schaft auf Augenhöhe, interessen-, aber auch wertegelei- tet und natürlich mit Fokus auf Auswärtige Kultur- und Schutz von Weltnaturerbe und Entwick- Bildungspolitik für eine nachhaltige Stärkung der Zivil- lungsziele in Einklang bringen – Al- gesellschaft. ternativen zum geplanten Bau des Me- gastaudamms „Stieglers Schlucht“ im Afrika als Kontinent der Chancen – für Europa, für tansanischen UNESCO-Weltnaturerbe uns, aber auch für die Menschen in Afrika. Das ist unser Selous-Wildreservat suchen Interesse, und das sollte regelmäßig an dieser Stelle be- sprochen werden. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Christoph Hoffmann, Alexander Graf Lambsdorff, Vielen Dank. Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter (Beifall bei der CDU/CSU) und der Fraktion der FDP Alternativen zur Zerstörung des UNESCO-­ Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Weltnaturerbes Selous in Tansania aufzei- Vielen Dank, Kollege Erndl. gen Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst Drucksachen 19/6414, 19/5461, 19/7089 zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Interfraktionell sind 38 Minuten vereinbart. – Es gibt Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Frakti- dazu keinen Widerspruch. onen CDU/CSU und SPD mit dem Titel „Friedenspro- zess zwischen Äthiopien und Eritrea unterstützen – Zu- Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist der sammenarbeit ausbauen“. Der Ausschuss empfiehlt in Kollege Volkmar Klein, CDU/CSU-Fraktion. seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/5644, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf (Beifall bei der CDU/CSU) Drucksache 19/4847 anzunehmen. Wer stimmt für die- (B) se Beschlussempfehlung? – Das ist die Koalition. – Ge- Volkmar Klein (CDU/CSU): (D) genprobe! – Grüne und AfD. Enthaltungen? – Linke und Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- FDP. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. ren! Engagement für den Schutz der natürlichen Lebens- Abstimmung über die Beschlussempfehlung des grundlagen ist uns wichtig. Engagement für den Schutz Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion von Biodiversität ist uns wichtig. Und am Ende ist uns der FDP mit dem Titel „Zusammenarbeit nutzen, um wichtig: Engagement für den Schutz der Schöpfung. Das dauerhaften Frieden zwischen Äthiopien und Eritrea zu ist uns als CDU/CSU wichtig; das ist uns auch als Koa- sichern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- lition wichtig. Und eigentlich ist es genau das, was im empfehlung auf Drucksache 19/7082, den Antrag der deutschen Interesse liegt: das Engagement unseres Lan- Fraktion der FDP auf Drucksache 19/4837 abzulehnen. des. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Koalition, die AfD, die Grünen und die Linken. – Ge- genprobe! – Nur die FDP. Enthaltungen? – Keine. Die – Ja, da wäre Beifall eigentlich angemessen. Beschlussempfehlung ist damit angenommen. (Beifall bei der CDU/CSU – Jürgen Hardt Abstimmung über die Beschlussempfehlung des [CDU/CSU]: Bei allen Fraktionen!) Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion – Bei allen Fraktionen, richtig, vielen Dank. Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Friedens- prozess zwischen Äthiopien und Eritrea fördern, schwe- Dieses Engagement verbindet uns eben auch mit re Menschenrechtsverletzungen in Eritrea beim Namen Tansania. Dazu gehört auch die gemeinsame Erkenntnis, nennen und ahnden“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner dass Umweltprobleme keine Grenzen kennen, dass man Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/7088, den An- sie gemeinsam anpacken soll und dass wir sie deswegen trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- auch gemeinsam anpacken; denn die Zusammenarbeit che 19/6109 abzulehnen. in diesem Bereich zwischen Deutschland und Tansania (Agnieszka Brugger [BÜNDNIS 90/DIE hat eine lange Tradition. Das ist nicht nur eine politische GRÜNEN]: Große Fehleinschätzung!) Deklaration, sondern wird auf vielen Ebenen gelebt, zum Beispiel durch die Kooperation von vielen Fachleuten an Wer stimmt für diese Ablehnung? – Das sind die Koaliti- offiziellen Stellen, in NGOs. Das ist aber auch spätestens on und die AfD. Gegenprobe! – Die Grünen. Enthaltun- seit der Zeit von Bernhard Grzimek ganz tief verwurzelt gen? – FDP und Linke. Damit ist die Beschlussempfeh- im emotionalen Leben der Deutschen. Das ist auch gut lung angenommen. so. Auch emotional steht Deutschland hinter Tansania, 8670 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Volkmar Klein (A) und gerne wollen wir diese Zusammenarbeit auch in Zu- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) kunft fortsetzen. Das Wort für die AfD-Fraktion hat der Kollege Dietmar Friedhoff. Gerne wollen wir gemeinsam auf Projekte und Proble- me schauen, auch im Selous. Das ist ein riesiges Wild- (Beifall bei der AfD) schutzgebiet, das einerseits ökologisch ausgesprochen wertvoll, andererseits aber auch wirtschaftlich sehr wert- Dietmar Friedhoff (AfD): voll ist für Tansania und erhebliche Einnahmen im Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und reich der in Tansania so wichtigen Tourismuswirtschaft – Kollegen! Geschätzte Jugend auf der Tribüne! Unsere beispielsweise durch Jagdtourismus, Fototouristen und Welt ist im Wandel, und die Lage ist ernst. Heute ging andere Touristen – generiert. es bereits um Nachhaltigkeit. Auch deswegen ist es gut, Nun plant Tansania berechtigterweise, in Zukunft richtig und sinnvoll, über das Staudammprojekt in Tansa- sehr viel mehr Strom zu produzieren; denn es wird mehr nia zu sprechen. Zeigt es doch beispielhaft auf, welche Strom gebraucht, wenn die Menschen in Tansania mehr Veränderungen der Mensch mit nur einer Entscheidung Jobs und Chancen und Perspektiven haben sollen. Und auf ein gesamtes Ökosystem haben kann, auf ein System, das muss auch erreicht werden. Deswegen ist der Plan, das die Erde im wahrsten Sinne des Wortes lebenswert mehr Energie zu produzieren, sicherlich erst mal sehr zu macht. begrüßen. Die Frage ist nur, ob dafür ein uralter Plan, Ich möchte beide Anträge nutzen, um den Blick etwas nämlich dieses Staudammprojekt „Stieglers Gorge“, der zu erweitern; denn auch unser eigenes Tun hat massive richtige Weg ist. Daran gibt es erhebliche Zweifel. Auswirkungen. Die Zerstörung der Natur, der Umwelt, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- hat bereits schon jetzt gravierende Folgen für uns Men- ordneten der SPD) schen. Und da spielt – das wird Sie jetzt vermutlich wun- dern – CO2 eine untergeordnete Rolle, auch wenn wir Und diese Zweifel gibt es offensichtlich auch in Deutsche das anders sehen mögen. Tansania. Anders kann ich mir nicht erklären – ich war in der vorigen Woche in Tansania und habe mich vor Ort Zur Sache: Die Welt wird geplündert. Ressourcen vertraut gemacht mit dem erheblichen Potenzial an guter werden in nie dagewesenem Umfang im Zusammen- Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern –, spiel mit der Bevölkerungsexplosion verbraucht. Jedes dass mir als deutschem Abgeordneten der Zutritt zu die- Jahr verschwinden weltweit mehr als 5 Millionen Hektar sem Schutzgebiet verwehrt wurde. Wald von der Landkarte, eine Fläche so groß wie Nieder- sachsen – Jahr für Jahr einfach weg. Die Tropenhölzer (Johannes Selle [CDU/CSU]: Das geht so des Amazonas oder des Feuchtgebietes in Madagaskar (B) nicht!) werden von korrupten Politikern an Chinesen verkauft. (D) Offenbar ist man sich in Tansania selber nicht ganz klar Wir bauen immer mehr. Dafür brauchen wir Sand für über die eigene Argumentation. Beton; deswegen wird Sand zu einer begehrten, notwen- digen und endlichen Ressource. Sand wird in unseren Zweifel an diesem Projekt sind in der Tat durchaus Meeren, Flüssen und an Stränden abgebaut, mit negati- berechtigt. Da gibt es Zweifel, was die wirtschaftliche vem Einfluss auf die Biodiversität. Unsere Meere ver- Qualität angeht. Denn viele sagen: Die Stromproduktion kommen im Kunststoff, und Überfischung verändert wird sehr viel geringer sein, als Pläne aus den 70er-Jah- auch hier den natürlichen Kreislauf. Das Artensterben ren mit anderen Rahmendaten – beispielsweise mit sehr schreitet immer weiter voran. viel mehr Wasser – prognostiziert haben. Zweifel kann man auch haben, wenn man einfach nur beobachtet, dass Durch unseren unbegrenzten Konsumzwang, aber sich noch keiner – auch nicht die Chinesen – gefunden eben auch durch die Bevölkerungsexplosion und die He- hat, der das Ganze finanziert. Also, was die Effizienz der rausforderungen einer Welt ohne Hunger entstehen große künftig erhöhten Stromproduktion angeht, kann man sehr Weideflächen für Rinder und Ackerflächen für Mono- große Zweifel haben – von Natur- und Biodiversitätsfra- kulturen wie Soja und Mais. So verändert eben auch die gen ganz zu schweigen. Nutzung von Biogasanlagen die Landwirtschaft. Ange- baut wird das, was Geld bringt: Soja, Mais, Palmöl. All Unser Antrag ist keine Verurteilung der Pläne Tansa- das hat Einfluss auf Flora und Fauna. nias, sondern ein doppeltes Angebot. Erstens. Lasst uns miteinander reden. Lasst uns darüber reden, welche bes- Liebe Grüne, die E‑Mobilität, eine der großen ideolo- seren und effizienteren Möglichkeiten es gibt, euren be- gischen Lügen der letzten Zeit, wird den Ressourcenab- rechtigterweise erhöhten Energiebedarf der Zukunft zu bau weiter beschleunigen; denn Kupfer, Lithium und decken. Zweitens. Lasst uns auch in Zukunft sehr, sehr Kobalt werden benötigt. E‑Mobilität trägt folgenschwere eng unter Freunden zusammenarbeiten. Das ist das, was Ressourcenrucksäcke mit sich; informieren Sie die Men- wir als doppeltes Angebot in unserem Antrag festge- schen auch einmal darüber. Die Gewinnung von Lithium schrieben haben. Ich würde mich freuen, wenn wir dazu lässt mittlerweile große landwirtschaftliche Flächen von eine breite Zustimmung über alle Fraktionen hinweg fin- Kleinbauern erodieren. In Deutschland sauber durch die den könnten. Innenstädte fahren, aber die Erde zerstören: Das ist grü- ne Politik – ich kann Ihnen sagen: überhaupt nicht unser Vielen Dank. Humor. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8671

Dietmar Friedhoff (A) Welche Alternative hätte Tansania zu dem geplanten Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) Staudamm? Eine sinnvolle Lösung wäre ein Gasturbi- Für die SPD-Fraktion hat das Wort die Kollegin Gabi nenkraftwerk, wie es unlängst in Ägypten gebaut wur- Weber. de. Liefert es vor allen Dingen eins, nämlich konstanten Strom, im Gegensatz zu Wind- und Solarenergie. (Beifall bei der SPD)

Werte antragstellende Fraktionen, Sie reden immer Gabi Weber (SPD): gerne von einer Welt ohne Hunger, Zugang für jeden Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Der Menschen zu Gesundheit und Energie. Aber wie viel tansanische Präsident John Magufuli plant – wir haben es Mensch verträgt die Welt? Und wie wollen Sie das bei eben schon gehört –, im UNESCO-Weltnaturerbe­ Selous 10 Milliarden Menschen hinbekommen? Denn die Welt einen gewaltigen Staudamm zu bauen. Er soll eine steht doch bereits jetzt schon am Rande des Machbaren. 126 Meter hohe und 700 Meter breite Mauer haben. Zum Wenn Sie von Zugang zu Energie sprechen – genau das Vergleich der Größenordnung: Der Berliner Funkturm ist es –: Was bitte bedeutet das? Wie viel Energie wird im hat eine Höhe von etwa 147 Metern. Wer die Kapruner Jahr 2050 von jedem der bis dahin lebenden 2,5 Milliar- Staumauern kennt, weiß, dass sie eine Höhe von etwa den Afrikaner verbraucht? 112 Metern haben. (Zuruf des Abg. René Röspel [SPD]) Wenn wir uns diese Planung im UNESCO-Weltna- – Genau das ist es; deswegen erklären Sie uns mal, wie turerbe anschauen, stellen wir fest, dass es dabei einen das dargestellt wird. Zielkonflikt zwischen wirtschaftlicher und sozialer Ent- wicklung eines Landes und dem Schutz von Umwelt und Derzeit beträgt der Verbrauch an elektrischer Energie auch Klima gibt. Tansania hat wie die Bundesrepublik pro Jahr und Kopf in Deutschland 6 700 Kilowattstun- Deutschland die Agenda 2030 mit den 17 Zielen für den. Ein Afrikaner verbraucht derzeit im Schnitt 100 Ki- nachhaltige Entwicklung unterschrieben. Jetzt stellt sich lowattstunden. Das reicht nicht einmal, um einen Kühl- die Frage: Ist denn bei den Staudammplanungen insbe- schrank zu betreiben. sondere Ziel 15, die Bewahrung der Natur und der biolo- gischen Vielfalt, in irgendeiner Form beachtet worden? (René Röspel [SPD]: Wer ist das Problem?) Liebe Kollegen und Kolleginnen, der Selous-Park ist 75 Prozent der Afrikaner, Herr Röspel, haben noch nicht ein wichtiges Ziel für Menschen, die sich in Tansania mit einmal Zugang zu Strom. Ich möchte Ihnen das nur mal Wildtieren beschäftigen wollen, und bringt erhebliche erklären. Sie wollen den Menschen den Zugang gewäh- Einnahmen ins Land. Deutschland unterstützt seit über (B) ren, aber der Strom muss auch irgendwo herkommen. 30 Jahren den Erhalt und die Nutzung der biologischen (D) Das muss auch für Herrn Röspel aus Hagen klar sein. Vielfalt in diesem Schutzgebiet. 2014 wurde mit deut- scher Unterstützung die tansanische Wildtierschutzbe- Tansania hat circa 60 Millionen Einwohner und ist fast hörde ins Leben gerufen, deren Obhut der Selous-Park dreimal so groß wie Deutschland. Wie kommt der Strom inzwischen unterliegt. Seither erholen sich die Bestände in die Dörfer? Ich kann Ihnen sagen: Mit WLAN funktio- gefährdeter Tierarten dort. Zudem starteten die tansani- niert es nicht. Dazu braucht es nämlich sehr viele Kupfer- sche und die deutsche Regierung 2017 ein neues Projekt leitungen. Am Rande: Deutschland fehlen selber Tausen- im Selous-Park, das wir mit 18 Millionen Euro aus dem de von Kilometern Erdkabel für die von Ihnen geplante Etat des BMZ fördern. Energiewende. Bei all Ihren Ideen wäre eine ressourcen- schonende Machbarkeitsanalyse dringend geboten. Ganz nebenbei: Im November hat die Deutsche Afri- ka Stiftung Herrn Gerald Bigurube ausgezeichnet. Was Der Kapitalismus sieht in den neuen Erdenbürgern ei- macht er? Er kommt aus Tansania, bekämpft seit 44 Jah- gentlich nur eines: Humankapital. Der Verlust der Natur ren Wilderei und hat Projekte entwickelt, die Natur- kommt in keiner Kostenrechnung vor. Das Ziel muss es schutz, Wildtierschutz und vor allen Dingen die Belange sein, die Menschen, die Regierung und die Großunter- der Bevölkerung in Einklang bringen. Daran kann man nehmen in die Selbstverantwortung zu nehmen; denn nur also sehen, dass es diese Möglichkeiten gibt und wie man gemeinsam lässt sich diese Welt retten. sie anders nutzen kann. Zu Tansania. Als Politiker eines außenstehenden Lan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des des können wir den Menschen eigentlich nur etwas emp- Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU]) fehlen und sie beraten. Deswegen möge dieser Staudamm Mit unserem heutigen Antrag wollen wir dazu anre- nur als Beispiel dienen. Der Regenwald in Südamerika gen, dass die tansanische Regierung die Gewinnung al- und Madagaskar und viele andere Gebiete haben die ternativer, erneuerbarer Energien in Erwägung zieht, um gleiche Aufmerksamkeit verdient. Verstehen wir endlich den Staudamm überflüssig zu machen und dadurch die eines: Die ganze Welt ist ein UNESCO-Weltnaturerbe. Einzigartigkeit des Selous-Gebietes zu erhalten. Der An- Und ich kann Ihnen sagen: Das liegt der AfD besonders trag hat auch zum Ziel, die angespannte diplomatische am Herzen; denn vom Mond aus gesehen, liebe Grüne, Lage in der Beziehung zu Tansania etwas zu entspannen; ist die Erde nicht grün, sondern blau. denn von tansanischer Seite – der Kollege Klein hat das Vielen Dank. eben noch mal unterstrichen – gibt es durchaus Vorwür- fe der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des (Beifall bei der AfD) Landes. 8672 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Gabi Weber (A) Aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, uns geht es wicklung, für den Wohlstand und für die leichte Industri­ (C) mitnichten darum, der tansanischen Regierung die Ent- alisierung, die angedacht ist. Dafür muss es Lösungen wicklung der tansanischen Gesellschaft zu verwehren. geben, die ohne diesen Staudamm und ohne dieses Was- Es hat sich aber gezeigt – da komme ich zu einem Kern- serkraftwerk auskommen. punkt –, dass dezentrale Energieerzeugung aus Wind und Sonne schneller und effektiver zu verwirklichen ist als (Beifall bei der FDP sowie der Abg. ein Staudamm, aber auch als ein Gasturbinenkraftwerk, [SPD]) bei dem sich die Frage stellt, wo die Energie, das Gas, herkommen soll. Tansanias Präsident hat der Bevölkerung 2015 ver- sprochen, dass die Stromversorgung, die Elektrifizie- Tansania ist ein Land, das Wind in den Bergen und rung, kommt. Dann hat er die alten Pläne zu diesem Sonne im Überfluss zur Verfügung hat. Mit intelligen- Staudamm aus der Schublade gezogen. Dabei geht es um ten Speichertechnologien wäre dort eine ganze Menge zu eine Investition von etwa 3 Milliarden Dollar und fünf machen. Deutschland hat damit durchaus Erfahrungen Jahre Bauzeit. Das Herz dieses Wildreservats wird dabei und würde die tansanische Regierung mit dem Wissen, zerstört. Das sollten wir, glaube ich, nicht kommentarlos das bei uns vorhanden ist, gerne unterstützen. hinnehmen.

Wenn es um den Klimaschutz geht, müssen wir uns in Tansania hat deshalb auch keine Kredite von den inter- Deutschland aber auch an die eigene Nase fassen. Auch nationalen Geldgebern bekommen. Selbst China, das bei wir müssen unsere Hausaufgaben machen und ein am- der Finanzierung auch von obskuren Projekten eigentlich bitioniertes Klimaschutzgesetz auf den Weg bringen. So schmerzunempfindlich ist, hat sich geweigert, zu finan- können wir international und auch Tansania gegenüber zieren. Jetzt sind bereits 3,5 Millionen Kubikmeter Holz mit mehr Gewicht in Klimaschutzfragen auftreten. zum Einschlag ausgeschrieben. Wir haben also nur noch (Beifall bei der SPD) ein superkurzes Zeitfenster, in dem wir überhaupt noch intervenieren können, in dem wir Tansania vielleicht Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich bitte Sie um überzeugen können, auf dieses Projekt zu verzichten. Zustimmung zu unserem mit der CDU/CSU gemeinsam Dafür ist der Antrag der Koalition aber einfach zu wenig eingebrachten Antrag. Ich denke, er ist richtig gut. pragmatisch, zu wenig konkret, und er wird nicht schnell (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) genug wirken können. (Beifall bei der FDP) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (B) Für die Fraktion der FDP hat das Wort der Kollege Tansania hat Gasvorkommen. Wir haben uns alle (D) Dr. Christoph Hoffmann. Studien zur Energieversorgung Tansanias genau ange- schaut und festgestellt, dass wir dort Gaskraftwerke als (Beifall bei der FDP) Überbrückungstechnologie brauchen, bis der Rollout der regenerativen Energien tatsächlich erfolgen kann und er- Dr. Christoph Hoffmann (FDP): folgt ist. Wir brauchen die Gaskraftwerke auch danach Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- als Backup für die Flautentage und für die Dunkelheit in ren! Selous darf nicht sterben. der Nacht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Der Vorteil einer Gasanlage ist: Sie ist schneller, Abg. Hermann Gröhe [CDU/CSU]) nämlich in zwei Jahren, gebaut und 1 Milliarde Dollar Das sage ich in Anlehnung an Grzimeks Film „Serenge- günstiger als der Staudamm. Ich glaube, das ist ein An- ti darf nicht sterben“. Selous ist noch ein Stück größer gebot, das man dem tansanischen Präsidenten unbedingt als die Serengeti, beherbergt aber auch genau diese Tie- machen sollte. re: die Großsäuger, Elefanten, Nashörner, Giraffen usw. (Beifall bei der FDP) Dieses Gebiet ist von unglaublicher Bedeutung nicht nur für Tansania, sondern für die gesamte Menschheit und Deshalb muss die Bundesregierung dem tansanischen ist deshalb auch zu Recht ein UNESCO-Weltnaturerbe. Präsidenten jetzt ein glasklares Konzept, das operativ Bisher hat Deutschland die Bemühungen zum Erhalt schnell umsetzbar ist, vorstellen. Machen Sie das, wenn dieses Reservats mit 25 Millionen Euro unterstützt. Ich es Ihnen wirklich ernst ist mit der Rettung von Selous! glaube, wir tun gut daran, diese 25 Millionen Euro nicht kampflos aufzugeben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Stefan Es genügt nicht, dass man, wie Sie es, Herr Klein, ge- Sauer [CDU/CSU]) sagt haben, mal ein bisschen miteinander redet. Nein, es muss ein konkretes Projekt mit einer klaren Finanzierung Die andere Seite ist: Tansania hat ein Stromproblem. auf den Tisch. Dann kann es noch eine Rettung für den Nur 30 Prozent der Haushalte sind an das Stromnetz an- Selous geben. geschlossen. Zusammen haben die Kraftwerke nur eine Leistung von 1,4 Gigawatt für etwa 60 Millionen Men- Selous darf nicht sterben. schen. Das ist natürlich viel zu wenig. Tansania braucht dringend die Elektrifizierung für die wirtschaftliche Ent- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8673

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: wird und wenig Energie für teures Geld liefert. Vor der (C) Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Küste hat man zwar viel Gas gefunden; das stimmt. Aber Eva-Maria Schreiber. das hat die Situation nicht verbessert; denn Unternehmen wie Shell sind eben nicht bereit, das Gas zu vernünftigen (Beifall bei der LINKEN) Preisen an Tansania zu verkaufen.

Eva-Maria Schreiber (DIE LINKE): (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: So ist es!) Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- Deshalb zielen sowohl der FDP-Vorschlag ins Leere, die gen! Liebe Gäste! Wir reden heute über einen Megastau- Energieversorgung mit Gaskraftwerken zu sichern, als damm, einen Staudamm, der im UNESCO-Weltnaturer- auch der Vorschlag der Regierungsfraktionen, Weltbank- be Selous errichtet werden soll, um die Stromversorgung kredite lockerzumachen. Die Weltbank setzt nämlich auf Tansanias zu verdoppeln. Die Linke und ich teilen vie- Privatisierung. le der in den Anträgen der FDP und der Koalition an- gesprochenen Sorgen. Der Damm bedroht die Lebens- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Genau!) grundlagen vieler Menschen. Er stellt die Existenz des Tansania ernst zu nehmen, bedeutet, auch den Wunsch Selous-Wildtierreservats infrage, Heimat vieler gefähr- nach einer öffentlichen, flächendeckenden und bezahlba- deter Wildtiere. Ökonomisch ist das Projekt fragwürdig. ren Energieversorgung ernst zu nehmen und Vorschläge So wird das Kraftwerk die erhofften Stromkapazitäten zu unterstützen, damit dieses Ziel mittelfristig erreicht nie erreichen, da viel zu viel Wasser im Oberlauf der werden kann, beispielsweise durch Sonnen- oder Wind- Staumauer für großflächige Agrarprojekte abgezweigt kraft. Pläne dazu liegen bereits in den Schubladen der wird; das wurde schon erwähnt. tansanischen Regierung. Ich begrüße sehr den Einsatz für Natur- und Tier- (Beifall bei der LINKEN) schutz. Bei Belo Monte in Brasilien fehlte dieser noch. Es ist sehr schön, dass es nun ein solches Engagement Nur dann besteht die Hoffnung, dass unsere Kritik an gibt; das unterstütze ich sehr gerne. Mir fällt aber noch dem Staudammprojekt nicht nur als Poltern einer alten ein Grund ein, warum wir darauf achten sollten, wie wir Kolonialmacht abgetan wird, die dann auch noch mit diese Unterstützung geben: die Entwicklungsgeschichte Einstellung der Entwicklungshilfe droht, sondern als po- des Selous-Parks. Die deutsche Entwicklungszusam- sitiver Beitrag für einen zukunftsfähigen Selous und eine menarbeit engagiert sich schon sehr lange für die Tie- nachhaltige Energiepolitik Tansanias gesehen wird. re des Selous-Parks. Das hat einen bestimmten Grund, und dieser fehlt mir leider in den Begründungen Ihrer Danke schön. (B) Anträge. Das ist die deutsche Kolonialgeschichte. Den (Beifall bei der LINKEN) (D) ältesten Teil des Parks gründeten die Deutschen bereits 1896. Zwischen 1905 und 1907 war die Gegend Schau-

platz eines der grausamsten Kriege der afrikanischen Ko- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lonialgeschichte, des Maji-Maji-Kriegs. Die deutschen Das Wort hat der Kollege Ottmar von Holtz, Bünd- Schutztruppen verwüsteten Felder und Ernten, zerstörten nis 90/Die Grünen. Siedlungen und Brunnen und töteten ungefähr 250 000 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bis 300 000 Menschen, kurz: Strategie der verbrannten Erde. Durch diese Strategie wurde erst jenes menschen- leere Gebiet geschaffen, das es ermöglichte, das beste- Ottmar von Holtz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hende kleine Reservat zu vergrößern. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Einzigartigkeit des Selous-Wildreservats in Tansania ist Selous erwirtschaftet heute Geld durch Tourismus hier schon einiges gesagt worden. Wir alle sind uns sehr und durch Großwildjäger, die sich im Süden des Parks schnell einig darin, zu sagen: Liebe Regierung in Tansa- Jagdlizenzen kaufen können, um Elefanten, Löwen und nia, lasst dieses UNESCO-Weltnaturerbe unberührt! Leoparden abzuknallen, zu erlegen. Die Integration der Opfert es nicht einem gigantischen, zweifelhaften Inf- lokalen Bevölkerung ist jedoch nicht gelungen. Für sie rastrukturprojekt! – Natürlich schließen wir Grüne uns ist der Park Sperrgebiet. diesem Aufruf an. Die beiden Anträge, über die wir heute Selous ist also Folge der deutschen Kolonialgeschich- abstimmen, sprechen in der Tat eine sich anbahnende Ka- te, und daraus leitet sich für uns eine ganz besondere Ver- tastrophe an. Der Staudamm wäre nicht nur ein ökologi- antwortung ab: sches und soziales, sondern auch ein ökonomisches De- saster . Aber ich finde, dass die Anträge auch in zweierlei (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hinsicht sehr nachdenklich stimmen. Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]) Erstens werfen die Anträge Fragen auf, die immer die Anliegen Tansanias zu unterstützen, trotz berechtigter wieder kontrovers diskutiert werden: Ist das Bevormun- Kritik am Staudamm, den ich auch nicht möchte. dung? Wie halten wir es mit der Konditionalisierung von Die tansanische Regierung hält den Damm für einen Entwicklungsgeldern? Wir sagen: Wir haben das Wild­ Meilenstein auf dem Weg zu einer öffentlichen und be- reservat mit zweistelligen Millionenbeträgen gefördert. zahlbaren Energieversorgung. In den letzten Jahrzehnten Dürfen wir dann jetzt auch einfordern, dass es so bleibt, hat das Land miserable Erfahrungen mit einem Energie- wie es ist? Wer das Geld hat, hat das Sagen? Das sind markt gemacht, der von Privatunternehmen kontrolliert keine einfachen Fragen. 8674 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Ottmar von Holtz (A) Tansania hat ein Stromproblem. Es muss dieses Pro- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) blem lösen, um Wachstum und Beschäftigung zu ermög- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des lichen. Kollegen Hampel? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Kathrin Ottmar von Holtz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vogler [DIE LINKE]) Nein. – Jetzt müssen Sie, liebe Kolleginnen und Kol- legen von den Koalitionsfraktionen, noch genauso viel „Wachstum“ und „Beschäftigung“, diese beiden Begriffe Entschlossenheit beim Kohleausstieg und bei der Umset- verwende ich in diesem Zusammenhang ganz bewusst; zung der Energiewende hier bei uns zu Hause zeigen wie denn Wachstum und Beschäftigung sind auch immer Be- beim Selous-Wildpark. Das wünsche ich mir. gründungen bei uns in Deutschland für Infrastrukturpro- jekte. Zum Antrag der FDP. Lieber Herr Kollege Dr . Hoffmann, ich schätze Ihren Einsatz für die Sache Das bringt mich zu meinem zweiten nachdenklich sehr . Aber ich habe schon im Ausschuss gesagt: Ein Gas- stimmenden Punkt, zu unserer Glaubwürdigkeit. Wir sind kraftwerk zu fordern, das die nächsten 50 Jahre fossile von hier, vom globalen Norden aus, immer schnell dabei, Brennstoffe verheizt, werden wir leider ablehnen müs- zu urteilen, wenn es um Arterhaltung, Umwelt- und Na- sen. turschutz weit entfernt von uns geht. Aber wie sieht es denn bei uns zu Hause aus? Ich komme aus Niedersach- (Christian Dürr [FDP]: Was wäre denn Ihre sen. Da gibt es zwei Reizwörter: Autobahnen und Wolf. Lösung, außer zu allem Nein zu sagen?) (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Und Windrä- Danke schön. der ohne Ende!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Josip Juratovic [SPD]) In Afrika dürfen keine Elefanten, Löwen oder Leoparden erlegt werden, auch wenn sie täglich irgendwo in Afri- ka in irgendwelchen Dörfern Menschen bedrohen. Doch Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: die Entnahme des Wolfes, wie man das hier so verschämt Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem nennt, soll kein Problem sein? Dabei ist der Wolf in Eu- Kollegen Armin-Paulus Hampel, AfD-Fraktion. ropa genauso geschützt wie Elefanten, Löwen und Leo- parden in Afrika. Armin-Paulus Hampel (AfD): (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lieber Herr von Holtz, ich möchte Ihnen – genauso (D) sowie bei Abgeordneten der SPD und der wie Ihren Vorrednern – folgende schlichte Frage stellen: LINKEN) Es gibt mehrere Vorschläge, dass man mit Sonnenkollek- toren und Windkrafträdern das Problem in Tansania auch Den Kollegen Ferlemann, der ebenfalls aus Niedersach- lösen könnte. Wie muss ich mir das praktisch vorstellen? sen kommt – er ist nicht anwesend –, hätte ich gerne ge- Soll der bereits mehrfach angesprochene Regenwald, der fragt, wie er das einschätzt, da er sich doch so eindring- geschützt werden soll, zugunsten von Windrädern, wie lich für Autobahnen quer durch die Lüneburger Heide wir sie in unserem schönen Niedersachsen so mannigfal- und das Marschgebiet entlang der Küste einsetzt, deren tig haben und die zum Naturbild so wunderbar beitragen, Kosten-Nutzen-Analysen sehr zweifelhaft sind. und Sonnenkollektoren abgeholzt werden? Was ist dann mit Elefanten, Giraffen, Löwen und den anderen Tieren? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist nur eine Lernfrage. Ich bin ja etwas schlicht im Glyphosat wäre ein anderes Reizwort. Hier auch völlig Geiste, wenn ich solche Vorschläge von Ihnen höre. passend: Einen schönen Gruß an RWE und den Hamba- (Beifall bei der AfD – Harald Weinberg [DIE cher Wald! LINKE]: „Schlicht im Geiste“, das stimmt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wie soll das gehen? Das ist die entscheidende Frage. Da- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – rauf müssen Sie doch eine Antwort geben. Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Das ist ein anderer Maßstab!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Also, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koali- Herr Kollege, wollen Sie antworten? – Der Kollege tionsfraktionen, Ihr Antrag ist gut. Von grüner Seite aus von Holtz verzichtet auf eine Antwort. – Der nächste können wir ihm guten Gewissens zustimmen. Dass sich Redner ist der Kollege Johannes Selle. CDU und CSU so eindringlich für einen Mix aus erneu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- erbaren Energien und dezentraler, lokaler Stromerzeu- ordneten der SPD) gung einsetzen, hätten wir kaum für möglich gehalten. Das unterstützen wir natürlich gerne. Gut finde ich auch, wie differenziert Ihr Angebot an die tansanische Regie- Johannes Selle (CDU/CSU): rung ist. Damit begegnen Sie dem Problem, das ich ein- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und gangs ansprach, nämlich der Gratwanderung zwischen Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Afrikas Ent- Bevormundung und berechtigtem Einsatz für die Sache. wicklung gehört zu den ganz großen Themen dieser Le- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8675

Johannes Selle (A) gislaturperiode. Es ist ganz in unserem Sinne, wenn sich siert werden. Das Projekt sei aus seiner Sicht notwendig, (C) auch afrikanische Präsidenten diesen Zielen zuwenden. da die Bevölkerung seit der Unabhängigkeit von 9 Milli- onen auf 55 Millionen Menschen und die Zahl der Nutz- In Tansania hat sich John Magufuli erfolgreich das tiere von 9 Millionen auf 35 Millionen angewachsen sei. Image des Anpackers zugelegt und wurde 2015 zum Prä- sidenten gewählt, und tatsächlich hat er seit seiner Amts- Eine wirtschaftlich und ökologisch vernünftige Ent- übernahme eine Reihe von Großprojekten angestoßen. wicklung darf nicht daran scheitern, dass wir nicht un- Dazu gehört die Ankündigung im Jahr 2018, dass das sere Hilfe angeboten hätten. Deshalb stellen wir diesen Land zu industrialisieren sei, indem jede der 30 Regio- Antrag und bitten um Zustimmung. nen 100 neue Betriebe errichtet. Mit Blick auf die Ver- sorgung der Bevölkerung mit Elektrizität – nur 2 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der Landbewohner und 39 Prozent der Städter haben ordneten der SPD) einen elektrischen Anschluss – erscheint die Idee, einen Megastaudamm zur Erzeugung von Elektroenergie zu Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: bauen, plausibel. Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Christoph Uns kann dieses Vorhaben nicht freuen, obwohl es Matschie das Wort. auf erneuerbare Energie setzt. Das Selous-Wildreservat (Beifall bei der SPD) würde dabei quasi zerstört, da der Staudamm im Kern des Gebietes läge. Neben der Errichtung des Staudamms würden Energietrassen sowie laufende Wartungs- und Christoph Matschie (SPD): Instandsetzungsarbeiten eine permanente Belastung dar- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! stellen. Dieser Antrag befasst sich mit einem klassischen Ent- wicklungsdilemma: Industrielle Entwicklung braucht Zum Aufbau des Selous-Reservats hat Deutschland Ressourcen, braucht Energie, und oft gerät dieser Res- wesentlich beigetragen. Nachhaltigkeit bedeutet, dass sourcen- und Energiehunger in Konflikt mit anderen man nicht mit nachfolgenden Projekten vorangegangene Zielen, zum Beispiel der Bewahrung der Umwelt. Das Investitionen zerstört. ist nicht nur eine Debatte in Entwicklungsländern. Wer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sich bei den Debatten umschaut, die wir im eigenen Land über die Erreichung der Klimaziele, den Ausstieg aus der Neben der dringend erforderlichen Erhaltung dieses Kohle oder die Belastung des Grundwassers mit Nitraten mit einer Fläche von 54 000 Quadratkilometern sehr führen, weiß, wovon hier die Rede ist. Das sind keine großen Teils ursprünglicher Natur erscheint uns auch die Konflikte, die sich einfach auflösen lassen, und es sind Schmälerung des Gewinns durch die Beeinträchtigung (B) oft sehr eingefahrene Wege, die man aufgeben muss, um (D) des Tourismus nicht ausreichend betrachtet zu sein. Eine neue Wege zu suchen. Umweltverträglichkeitsprüfung hat ohnehin nicht statt- gefunden. Deshalb bitten wir die Bundesregierung mit Es ist hier schon mehrfach angesprochen worden: Bei diesem Antrag, auf Tansania zuzugehen und die Hand diesem Antrag geht es um das größte und älteste kon- auszustrecken, auch wenn die Regierungsverhandlungen trollierte Wildschutzgebiet in Afrika. Der Selous hat eine im Herbst 2018 sehr entmutigend verliefen. Fläche von etwa der Größe der Schweiz und eine enor- Deutschland hat die Expertise, gemeinsam mit Tansa- me Bedeutung für die biologische Vielfalt, den Schutz nia ein umweltschonendes Energiekonzept zu erarbeiten, der Artenvielfalt und damit auch eine Bedeutung für damit die Bevölkerung mit alternativer Energie unter die Weltgemeinschaft. Deshalb ist er zu Recht UNES- Einbeziehung der riesigen eigenen Erdgasvorräte stabil CO-Weltnaturerbe. und dem notwendigen Wachstum entsprechend versorgt Trotzdem muss man sagen: Wenn wir jetzt als Bun- werden kann. Nach unseren Überlegungen würde das desrepublik Deutschland – als ein Land mit einem enorm sogar wesentlich weniger finanzielle Mittel erfordern hohen Energieverbrauch – auf die tansanische Regierung und den sehr belasteten Haushalt schonen. Wir bitten die zugehen, die Regierung eines Landes, in dem nur ein Bundesregierung ebenfalls, Energie zu einem Schwer- Drittel der Bevölkerung Zugang zu Energie hat, ist das punkt der Zusammenarbeit zu erheben, was jetzt noch schon eine gewaltige Zumutung. Die ist nur gerechtfer- nicht der Fall ist. tigt, wenn wir wirklich gute Angebote machen können. Die Zeit drängt. Der Präsident Tansanias hat bereits Kein tansanischer Präsident kann sich allein auf schöne die ersten Maßnahmen ergriffen. Im Dezember 2018 hat Reden verlassen, wenn er sein Land wirtschaftlich ent- er einen Bauvertrag mit einem ägyptischen Konsortium wickeln muss, unterzeichnet und mit der Waldrodung beginnen lassen. (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Genau!) Zeit haben wir nur dadurch gewonnen, dass niemand ohne Umweltverträglichkeitsprüfung, verlässliche Kos- wenn er seine Bevölkerung mit Energie versorgen muss. tenschätzungen und gesicherte Refinanzierung in die Fi- Wenn wir darum bitten, den Selous intakt zu lassen, dann nanzierung einsteigen will – noch nicht einmal die Chi- sind wir in der Pflicht, hier in die Speichen zu greifen und nesen. zu helfen, eine andere Energieversorgung aufzubauen. Vor zwei Tagen hat der Präsident in einer Pressemit- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volkmar teilung die Überprüfung und Neuordnung der Schutzge- Klein [CDU/CSU] – Dr. Christoph Hoffmann biete angeordnet. Vorhandene Siedlungen sollen legali- [FDP]: Meine Rede! Genau das habe ich ge- 8676 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Christoph Matschie (A) sagt! – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Wie soll lichkeitsprüfungen – die es zu diesem Projekt ja bis heute (C) das aber gehen, Herr Matschie?) nicht gibt. Von daher kann man nur sagen: Da all die Stö- rungen, die Eingriffe in Natur und Landschaft, aber auch Um diese Zusammenarbeit dreht sich der Antrag. Das in den Tourismus sowie in die Lebensform der Tiere dort kann – wie im Antrag benannt – natürlich der Ausbau der nicht analysiert und bewertet worden sind, kann man das Nutzung anderer erneuerbarer Energieressourcen sein. nicht unterstützen; denn das ist nicht gut. Unser bishe- Aber es wird auch einen Dialog mit der tansanischen Re- riges Engagement im Selous-Nationalpark war auch an- gierung darüber geben müssen, welche anderen Wege sie ders gelagert und verfolgte andere Ziele als das, was sich selbst noch sieht, die wir vielleicht unterstützen können. möglicherweise nach der Umsetzung eines solchen Plans aus den 70er-Jahren ergeben würde. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Von daher liegt es in unserem eigenen Interesse, ein Kollegen Spaniel? Angebot zu unterbreiten. Kollege Selle hat es schon ge- sagt: Es geht nicht darum, die tansanische Regierung pauschal mit Kritik zu überziehen. Wir wollen nicht den Christoph Matschie (SPD): Zeigefinger erheben, sondern wir wollen ein Angebot Nein. – Herr Kollege Hampel, Ihre Kurzintervention machen und sagen: Es ist nicht mehr up to date, ein sol- war wohl etwas flach. Es geht, wenn von der Nutzung der ches Megaprojekt aus den 70er-Jahren aus der Schublade Windkraft die Rede ist, natürlich nicht darum, Windräder zu holen und ungeprüft in die Landschaft zu setzen. in den Selous zu stellen, sondern darum, sie dorthin zu stellen, wo man Windkraft – nämlich auf Bergen – sehr Ich glaube, es ist ein Prozess, bei dem wir sehr viel gut nutzen kann, um in Tansania eine dezentrale Ener- einbringen können. Sicherlich machen wir bei uns auch gieversorgung aufzubauen. Da ist mit solch polemischen nicht immer alles richtig. Wir wissen ganz genau, dass es Interventionen nicht geholfen. hier ein Angebot geben muss. Ich freue mich sehr, dass wir von CDU/CSU und SPD einen gemeinsamen Antrag (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten formuliert haben, dem sogar die Grünen zustimmen kön- der CDU/CSU – Karsten Hilse [AfD]: Was nen. Das ist nicht immer der Fall. Ich glaube, in Zukunft aber wollen Sie machen, wenn der Wind nicht finden wir auch noch mehr Gemeinsamkeiten mit der weht? – Armin-Paulus Hampel [AfD]: Das ist FDP. So viele Unterschiede waren es ja nicht. ein schöner Vorschlag! Ich habe doch nur ge- fragt!) Wir bieten also Hilfe an zum Aufbau einer modernen und nachhaltigen Energieversorgung. Wir bieten Tech- Es geht um die Bewahrung eines weltweit wichtigen nologie- und Wissenstransfer an. Es ist eine Stärke der (B) Naturerbes, aber eben auch um wirtschaftliche, soziale deutschen Entwicklungszusammenarbeit, eine Stärke der (D) und gesellschaftliche Entwicklungen in Tansania. Hier deutschen kleinen und mittelständischen Wirtschaft, un- wird es darauf ankommen, ein fairer Partner zu sein, ein seres Forschungs- und Entwicklungsstandortes, Techno- Partner, der der tansanischen Regierung bei dieser gewal- logie gepaart mit Ausbildung und Schulung anbieten zu tigen Aufgabe wirklich unter die Arme greift. Da sage ich können, alles mitzubringen, was die Leute mit unserer ganz deutlich: Da muss auch der Bundesregierung noch Hilfe in die Lage versetzt, eine Technologie auf ein neues mehr einfallen, da brauchen wir noch mehr Drive in der Level zu heben, die auch vor Ort betrieben werden kann. Zusammenarbeit mit Tansania. Darauf freue ich mich Das alles ist als Paket zu sehen. und bitte um die Annahme des Antrags. Wir gehen grundsätzlich von Technologieoffenheit (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- aus. Das schließt also nicht aus, dass auch ein Gaskraft- wie bei Abgeordneten der FDP) werk eine Rolle spielen kann bei einem Energiemix in einem Land, das nach Energie dürstet. Aber sehen wir Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: uns einmal die Zeitschiene an. Ein Gaskraftwerk ist recht Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist schnell zu bauen. Wir haben aber auch die Möglichkeit, der Kollege Peter Stein, CDU/CSU-Fraktion. beispielsweise bestehende Wasserkraftanlagen zu er- tüchtigen. Tansania ist ja nicht arm daran. Es funktioniert (Beifall bei der CDU/CSU) bloß nicht alles. Dort kann man ansetzen: dezentrale Energieversorgung gerade in Entwicklungs- und Schwel- Peter Stein (Rostock) (CDU/CSU): lenländern. Wir alle, die im EZ-Bereich unterwegs sind, Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- wissen, es gibt gar keine Netze, um Strom von A nach B, ren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich glaube, es ist von einem Gaskraftwerk an der Küste in das letzte ent- deutlich geworden, wie wichtig dieser Nationalpark, die- legene Dorf, wo auch Strom gebraucht wird, zu bringen. ses Wildreservat für Afrika, für die gesamte Welt, aber Wenn der Präsident verspricht, wir bauen 100 Betriebe, gerade für Tansania ist. dann muss der Strom auch dorthin kommen. Wir brau- chen also dezentrale Energieversorgung. Wenn man jetzt auf Pläne aus den 70er-Jahren zurück- greift, um eine Energieversorgung für ein ganzes Land Das geht natürlich mit erneuerbaren Energien. Es geht auf ein anderes Niveau zu heben, darf man dabei nicht mit Wasserkraft, aber es geht sicherlich auch mit soge- übersehen, dass es in den 70er-Jahren noch keine SDGs, nannten konventionellen Projekten. Das muss man sehr keine gemeinsam vereinbarten Nachhaltigkeitsziele gab. genau abwägen. Ich glaube, wir dürfen uns kein Denk- Es gab noch nicht einmal so etwas wie Umweltverträg- verbot geben, wenn zwei Regierungen in Verhandlungen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8677

Peter Stein (Rostock) (A) in ein Angebotsverfahren gehen. Vielleicht findet man Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner für die (C) offene Türen und Ohren, wenn Parlamentarier auf einer Fraktion Die Linke ist der Kollege Michel Brandt. Delegationsreise das Thema ansprechen. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Christoph Hoffmann [FDP]: Zu spät!) Zum Schluss ein Blick auf die SDGs. Das ist, wie wir Michel Brandt (DIE LINKE): alle wissen, kein Selbstzweck. Das ist kein Dogma. Das Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über ist unser Anspruch. Das ist der Anspruch aller Nationen, 200 000 Menschen sind in über 130 deutschen Städten die diesen Vertrag, diese Vereinbarung unterschrieben in den vergangenen Monaten auf die Straße gegangen. haben. Tansania gehört dazu. Daran zu erinnern, ist, als Sie alle haben eines gemeinsam: Als Teil des Bündnisses letzter Satz heute, der richtige Moment. Seebrücke fordern sie die Bundesregierung auf, legale und sichere Fluchtwege für Menschen auf der Flucht zu Herzlichen Dank. schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der LINKEN) ordneten der SPD) Sie fordern sichere Häfen, solidarische Städte und ein sofortiges Ende der Kriminalisierung ziviler Seenotret- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: terinnen und -retter. Ihre Forderungen sind im Kern sehr Vielen Dank, Herr Kollege Stein. – Ich schließe die einfach: Sorgen wir endlich dafür, dass das Sterben im Aussprache. Mittelmeer aufhört. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- (Beifall bei der LINKEN) empfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung auf Drucksache 19/7089. Bringen wir endlich eine staatlich organisierte zivile See- Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- notrettung auf den Weg. schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak- (Beifall bei der LINKEN) tionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache 19/6414 mit dem Titel „Schutz von Weltnaturerbe und Entwick- Über den Jahreswechsel retteten die Hilfsorganisatio- lungsziele in Einklang bringen – Alternativen zum ge- nen Sea-Watch und Sea-Eye wieder einmal 49 Menschen planten Bau des Megastaudamms ‚Stieglers Schlucht’ im aus Seenot. tansanischen UNESCO-Weltnaturerbe Selous Wildre- servat suchen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- (Jan Ralf Nolte [AfD]: Schlepper!) (B) lung? – Das sind die Koalition und die Grünen. Gegen- Wieder wurde den Retterinnen und Rettern die Einfahrt (D) probe! – Keine. Enthaltungen? – Linke, FDP und AfD. in einen sicheren europäischen Hafen verwehrt. Das ist Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen. ein klarer Verstoß gegen Seerecht und eine Missachtung Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp- der UN-Menschenrechtscharta. fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der (Beifall bei der LINKEN) FDP-Fraktion auf Drucksache 19/5461 mit dem Titel „Alternativen zur Zerstörung des UNESCO-Weltnaturer- Fast drei Wochen mussten die Geflüchteten auf dem bes Selous in Tansania aufzeigen“. Wer stimmt für diese Rettungsschiff ausharren. Die Situation der Menschen Beschlussempfehlung? – CDU/CSU, SPD, Die Linke an Bord ist eine Katastrophe. Wie kann die Bundesregie- und die Grünen. Gegenprobe! – Die FDP. – Enthaltun- rung dabei tatenlos zusehen? Dies berichtete mein Frak- gen? – Die AfD. Damit ist die Beschlussempfehlung an- tionskollege Tobias Pflüger direkt von Bord der „Sea- genommen. Watch 3“. Bundesinnenminister Horst Seehofer hätte die Situation auf den Schiffen sofort beenden können. Über Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: 30 Städte in Deutschland haben sich bereit erklärt, die Beratung des Antrags der Abgeordneten Michel Menschen aufzunehmen. Diese Hilfsbereitschaft schlug Brandt, Eva-Maria Schreiber, Zaklin Nastic, wei- der Abschottungsminister Seehofer wochenlang aus. terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Pfui!) Seenotrettung im Mittelmeer sicherstellen – Wollen Sie ernsthaft alle paar Wochen darüber debattie- Keine Unterstützung der libyschen Milizen ren, wo die nächsten 49 Geretteten untergebracht wer- Drucksache 19/4616 den? Es ist doch einfach nur noch ein Trauerspiel und absurd, was sich die Bundesregierung hier leistet. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ausschuss für Inneres und Heimat NIS 90/DIE GRÜNEN) Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Seit 2014 sind 17 500 Menschen beim Versuch gestor- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- ben, über das Mittelmeer Europa zu erreichen. Das Mit- lung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union telmeer darf nicht weiter zu einem Massengrab werden. Deshalb fordern wir Linke heute in unserem Antrag die Interfraktionell sind 38 Minuten vereinbart. – Es gibt Einsetzung einer staatlich organisierten zivilen Seenot- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. rettung, die Beendigung der Zusammenarbeit mit der so- 8678 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Michel Brandt (A) genannten libyschen Küstenwache und die Unterstützung Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) und Entkriminalisierung ziviler Hilfsorganisationen. Ich erteile das Wort dem Kollegen Nikolas Löbel, (Beifall bei der LINKEN) CDU/CSU-Fraktion. Aber anstatt sich für eine staatlich organisierte Seenot- (Beifall bei der CDU/CSU) rettung einzusetzen, entsendet die Bundesregierung wei- ter Militärschiffe, die interessanterweise nie dort sind, Nikolas Löbel (CDU/CSU): wo Menschen gerade ertrinken. Die Militäroperation der NATO Sea Guardian hat in drei Jahren keinen einzigen Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Menschen gerettet. Ich finde das absurd, meine Damen Beginn meiner Rede möchte ich grundsätzlich festhalten: und Herren. Im Antrag der Linken geht es um Seenotrettung. Es geht also um den Einsatz für Menschen, die in Not geraten (Beifall bei der LINKEN) sind. Uns allen liegt die Rettung dieser Menschen am Herzen; denn es sind Menschen. Da zählt weder die Her- Die Bundesregierung und die EU behindern ganz ge- kunft noch die Hautfarbe noch die Religion, sondern es zielt zivile Seenotretterinnen und -retter bei ihrer Arbeit. geht darum, dass sie gerettet werden. Dennoch oder erst Organisationen wie Sea-Watch, Jugend Rettet und Missi- recht geht es auch um die Art und Weise der Rettung; on Lifeline werden wie Kriminelle behandelt und – ja – denn die Rettung eines Menschenlebens kann nicht mit sogar von Geheimdiensten überwacht. dem Anspruch auf einen dauerhaften Aufenthalt in Euro- (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Pfui!) pa gleichgesetzt werden. Deutlicher können Sie nicht zeigen, dass Sie nichts, aber (Beifall bei Abgeordneten der AfD) auch gar nichts unternehmen wollen, um die humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer endlich zu beenden. Es Der Antrag der Linken legt vordergründig den Fokus geht hier nämlich nicht um die Frage, ob die Rettung von auf die Rettung von in Seenot geratenen Menschen. Menschen auf dem Mittelmeer möglich oder umsetzbar (Zuruf von der LINKEN: Ach was!) ist. Selbstverständlich ist sie das. Es geht um die Frage des Wollens. Die Bundesregierung will nicht. Doch augenscheinlich geht es Ihnen um den Ausdruck Ihres Misstrauens gegenüber dem dafür notwendigen mi- (Dr. Johann David Wadephul [CDU/CSU]: litärischen Einsatz. Im Kern fordern Sie nichts anderes Was will Frau Wagenknecht denn?) als die Abschaffung der Operation Sophia. Statt Geflüchteten zu helfen, bildet die Bundesre- Die Operation Sophia ist eine Mission der Europäi- (B) gierung die sogenannte libysche Küstenwache aus. Als schen Union, und Deutschland beteiligt sich. Ziel ist (D) Handlanger der EU bedrohen sie Menschen in Seenot es, gegen kriminelle Schleuserbanden vorzugehen, die und zwingen sie zurück in libysche Folterlager. Beenden Menschen im Mittelmeer zu Tausenden auf seeuntüch- Sie die Zusammenarbeit mit diesen Milizen. Sie benut- tigen Schlauch- und Holzbooten in Lebensgefahr brin- zen Sie als Türsteher der Festung Europa. gen. Deshalb ist die Operation Sophia ein gutes Beispiel (Beifall bei der LINKEN) für gemeinsames Handeln der Europäischen Union. Hier funktioniert die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspo- Was in dieser Diskussion gerne vergessen wird: 2011 litik der europäischen Staaten vorbildlich. hat die NATO Libyen erst ins Chaos gebombt. Für Ge- flüchtete ist das Land eine Sackgasse. Die Grenzen zu (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Die funktio- den Nachbarstaaten Tunesien und Ägypten sind zu. Der niert garantiert nicht! Italien möchte ausstei- Weg Richtung Süden durch die Wüste des Niger ist noch gen!) tödlicher als der über das Mittelmeer. Die Menschen dort – das müssen Sie verstehen – haben keine andere Ich hoffe, dass wir in Europa die Kraft finden, die Wahl, als über das Mittelmeer zu kommen. Umso mehr Mission Sophia über Ende März dieses Jahres hinaus gilt unser Dank den Seenotretterinnen und -rettern und zu verlängern. Daher appelliere ich auch an unsere ita- den Tausenden Unterstützerinnen und Unterstützern des lienischen Partner, weiterhin Teil dieser für den Schutz Bündnisses Seebrücke, die in Deutschland, der EU und der europäischen Außengrenze so wichtigen Mission zu ganz Europa weiter auf die Straße gehen. Ihr könnt euch bleiben. darauf verlassen: Die Linke steht an eurer Seite. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Italien fordert Entlastungen seines Landes, und das si- Um es noch einmal zu betonen: Wir stehen vor einer cherlich auch zu Recht. Unabhängig davon zeigt die Mis- einfachen Wahl: Entweder schicken wir Schiffe und ret- sion Sophia bereits Wirkung. Die Zahl der über die zen- ten die Menschen, oder wir schicken keine Schiffe, und trale Mittelmeerroute ankommenden Flüchtlinge ist im die Menschen werden weiter sterben. Das ist die Ent- Jahr 2018 abermals deutlich zurückgegangen. scheidung, die wir hier treffen müssen. Die Linke weiß, ( [DIE LINKE]: Der Rest wo sie dabei steht. ist ertrunken!) Danke schön. Während 2017 noch knapp 119 000 Menschen das Meer (Beifall bei der LINKEN) überquerten, waren es 2018 nur noch 21 600. Die Todes- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8679

Nikolas Löbel (A) fälle auf der gesamten Mittelmeerroute sanken ebenfalls Soldatinnen und Soldaten für ihren Einsatz im Rahmen (C) drastisch ab. der Mission Sophia herzlich danken. (Lachen der Abg. Simone Barrientos [DIE (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. LINKE] – Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Un- Gyde Jensen [FDP]) glaublich!) Neben dem Kernauftrag der Operation Sophia kom- Und dennoch: Wir brauchen eine gemeinsame europä- men der Mission weitere Aufgaben zu. Ein wichtiger ische Lösung, damit ankommende Flüchtlinge nicht in Bestandteil ist dabei die Ausbildung der libyschen Küs- Italien, Griechenland oder eben nun über die westliche tenwache, Route in Spanien ankommen und diese Länder einseitig (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Genau! Und belasten. das sind Verbrecher!) Ich wiederhole mich: Die Rettung eines Menschenle- was mich zu meinem nächsten Kritikpunkt führt. Ihre bens kann keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf ein Forderung, die Ausbildung zu beenden, beruht auf der Bleiberecht in Europa bedeuten. Argumentation, dass die libysche Küstenwache in der Vergangenheit nicht fehlerfrei gearbeitet hat. (Michel Brandt [DIE LINKE]: Das steht im Antrag drin!) (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: „Nicht fehler- frei“!) Das muss endlich auch Realität gemeinsamer europäi- Mag sein. Genau aus diesem Grund sollten wir keines- scher Asylpolitik werden. Deutschland wird dabei in Eu- falls unsere Hilfe einstellen. ropa und mit Europa seinen Beitrag leisten – das hat die Bundesregierung oftmals deutlich gemacht. (Michel Brandt [DIE LINKE]: Die stehen auf der Sanktionsliste!) Wenn wir uns einmal die Erfolge der bisherigen Mission anschauen, dann wird sehr deutlich: Circa Libyen braucht nicht weniger Unterstützung – Libyen 50 000 Menschen konnten wir aus der Seenot retten, braucht mehr Unterstützung. Die Sicherheitslage in Li- über 22 500 davon durch deutsche Marinesoldaten auf byen bleibt überwiegend instabil und muss, ebenso wie deutschen Schiffen. Über 145 Schlepper konnten den Be- der politische Einigungsprozess, weiterhin von der in- hörden übergeben werden. ternationalen Gemeinschaft eng begleitet und gefördert werden. (Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Das sind nicht die Zahlen von 2018!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Was Libyen benötigt, ist eine Lösung für sein fragiles (D) Über 550 Schlepperboote konnten im Zuge dieser Mis- staatliches Gewaltmonopol. Die anhaltende Instabilität sion zerstört werden. – Das zeigt: Diese Mission ist im ermöglicht die Ausbreitung von extremistischen Grup- Sinne der Menschen erfolgreich. Und genau diese Missi- pen und Gruppierungen auch im Mittelmeerraum. Des- on wollen Sie abschaffen. Sie legen damit die Axt an den wegen gilt es, die richtigen Akteure zu fördern, um die einzigen Strohhalm, den viele Flüchtlinge auf ihrer Rou- Stabilität des Landes voranzubringen. te durchs Mittelmeer überhaupt haben. Das zeigt aber eben auch die wahre Motivation, die hinter Ihrem Antrag Wir müssen dem Land beim Aufbau seiner eigenen steckt. In Ihrem Antrag schreiben Sie einerseits, dass Sie staatlichen Gewalt helfen. Diese Staatsgewalt – ja! – übt eine zivile Seenotrettung fordern. Gleichzeitig betonen auch die Küstenwache an der über 1 700 Kilometer lan- Sie aber auch, dass die Seenotrettung „keine dauerhafte gen Küstenlinie aus. Und auf Beschluss des Rates der Lösung“ sei. Europäischen Union im Juli 2016 tun wir dies: Wir hel- fen Libyen bei der Ausbildung seiner Küstenwache. Wir (Michel Brandt [DIE LINKE]: Richtig! Wir haben bisher über 320 Angehörige der libyschen Küsten- brauchen legale Fluchtwege!) wache ausgebildet. Die libysche Küstenwache ist dabei Die Operation Sophia zeigt meines Erachtens jedoch erfolgreich. deutlich: Kriminelle Schlepperbanden verstehen nur das (Michel Brandt [DIE LINKE]: Nein!) Gesetz der Stärke. Militärische Einsätze, um Menschen vor diesen Schlepperbanden zu schützen, sind daher un- Sie hilft den Menschen; denn sie hat alleine im ersten umgänglich. Halbjahr 2018 mehr als 10 000 Menschen gerettet. Wenn Sie fordern, dass die Ausbildung beendet wer- Ihr Antrag ist nichts anderes als ein Ausdruck Ihrer den soll, dann gehe ich davon aus, dass Sie sich auch mit grundsätzlichen Ablehnung gegenüber militärischen Ein- den Inhalten der Ausbildung auseinandergesetzt haben. sätzen und damit auch gegenüber unserer Bundeswehr. Ich habe mir die Inhalte einmal näher angeschaut. Auf Sie haben in Ihrem Antrag kein einziges Wort des Dankes dem Lehrplan stehen fachliche Fähigkeiten für den Einsatz unserer Soldaten übrig gehabt. (Lachen der Abg. Simone Barrientos [DIE (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie LINKE]) halten die falsche Rede!) wie seemännische Grundlagen, Navigation, Such- und Das offenbart den Charakter Ihres Ansinnens, dem ich Rettungsdienste. Das verwundert jetzt nicht. Aber – das hier entschieden widersprechen will, und möchte unseren haben Sie vielleicht überlesen – es geht auch um ande- 8680 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Nikolas Löbel (A) re Kenntnisse und Werte, die vermittelt werden sollen: Meine Damen und Herren, ich finde es eindrucksvoll, (C) Menschenrechte, internationales Recht wenn wir im vergangenen Jahr 20 000 Flüchtlinge ge- rettet haben. Wenn wir ansonsten hohe Opferzahlen zu (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Das ist beklagen haben, dann haben diese 20 000 schlichtweg doch lächerlich!) Glück gehabt. Von den anderen Schicksalen erfahren Sie und sogar Genderfragen. nichts. Jetzt ist doch das Allerwichtigste, zuerst dafür zu sorgen, dass keine Menschen mehr im Mittelmeer ster- (Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD) ben. Es kann eigentlich gar nicht in Ihrem Sinne sein, die Ver- (Beifall bei Abgeordneten der AfD) mittlung solcher Inhalte und erst recht die Behandlung genderpolitischer Fragen zu stoppen. Die Linke wäre Und das heißt: Rückführung der Flüchtlinge von der dann kaum wiederzuerkennen. Küste sofort wieder an den Strand. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, das heißt, legale Fluchtwege ermöglichen!) Wir als CDU/CSU-Fraktion und diese Bundesregie- rung stehen für die Fortsetzung der erfolgreichen Mis- Meine Damen und Herren, hier wird etwas betrieben – sion Sophia und für eine weitere Kooperation mit der Sie unterstützen das ja –, was nicht nur rechtlich proble- libyschen Küstenwache, und wir lehnen Ihren Antrag ab. matisch, sondern kriminell ist. Hier wird etwas betrieben, mit dem man einer Gruppe von übelsten Kriminellen in (Simone Barrientos [DIE LINKE]: Ach was! die Hand spielt. An der Küste haben wir Banden von Das überrascht mich!) Schleppern, die übrigens nicht nur Menschenschlepper sind, sondern in der Regel auch in den Drogenhandel, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. den Waffenhandel und andere üble Geschäfte verwickelt (Beifall bei der CDU/CSU) sind. Die Schlepperbanden mit diesem kriminellen Hin- tergrund fahren mit den Schiffen hinaus, und dort warten schon die anderen Schleuserbanden, nämlich genau die Vizepräsidentin Claudia Roth: Organisationen, die Sie hier gerade erwähnt haben. Vielen Dank, Nikolas Löbel. – Nächster Redner: ­Armin-Paulus Hampel für die AfD-Fraktion. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Es sind Schleuser – nichts anderes –, (B) (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) Armin-Paulus Hampel (AfD): NEN]: Schämen Sie sich! – Michel Brandt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lie- [DIE LINKE]: Sie sabbeln das seit fünf Jahren be Gäste des Deutschen Bundestages! Herr Löbel, man und haben noch nie Beweise geliefert! Sie be- lernt doch in diesem Hause immer noch was dazu. Es ist weisen gar nichts! Lächerlich!) schön, dass sich die libysche Küstenmiliz jetzt auch mit mit einem Unterschied: Ihre Schleusergruppen wer- Genderfragen beschäftigt. den von Spendern und vom Steuerzahler bezahlt. Die (Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD – Schleusergruppen an Land kassieren zwischen 1 000 und Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Tosen- 2 000 Dollar pro Flüchtling. Das ist aber auch der einzige der Beifall bei der AfD-Fraktion! – Omid Unterschied. Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der AfD) Was ist daran witzig? Sagen Sie doch mal! – Michel Brandt [DIE LINKE]: Sagen Sie lie- Damit unterstützen Sie etwas, dessen Auswirkungen ber, was Gender heißt! Das würde helfen!) in diesem Hohen Hause weder gesehen noch erwähnt werden. – Es ist interessant. Ich sage ja: Ich lerne immer noch was dazu. Bleiben Sie entspannt! (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Pfui, pfui, pfui!) Die Linke fordert in ihrem Antrag, die Zusammen- arbeit mit der libyschen Küstenwache einzustellen. Wir Was meinen Sie denn – addieren Sie das nur einmal für haben gerade von dem Kollegen Löbel von der Union – ein einziges großes Boot zusammen –, wie viel Geld in da stimme ich ihm vollkommen zu – vom erfolgreichen die Taschen dieser Schlepper fließt? Wir wissen, dass das Einsatz der Operation Sophia erfahren. Wir haben da in tagtäglich stattfindet. Dann reden wir nicht mehr über der Tat gut gewirkt, und die Zusammenarbeit mit der li- Hunderttausende oder über Millionen, sondern kommen byschen Küstenwache ist ebenfalls auf einem guten Weg; in Einnahmen von Milliarden hinein. die Genderfrage klammern wir jetzt mal aus. Der richtige Schluss wäre doch, die andere Richtung einzuschlagen Und was passiert, wenn Sie in Libyen oder anderswo und das Gegenteil von dem, was Sie sagen, konsequent Menschen mit einem Milliardenvermögen haben? Diese zu verfolgen, nämlich zu verhindern, dass Menschen Menschen haben Sie in wenigen Jahren an den Schalthe- überhaupt erst in Seenot geraten. beln der Politik in diesen Ländern sitzen. Dann müssen Sie sich mit kriminellen Regierungen im Nahen Osten (Beifall bei der AfD) auseinandersetzen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8681

Armin-Paulus Hampel (A) Das fördern Sie mit Ihrem Antrag, in dem Sie das voll- Helge Lindh (SPD): (C) kommen negieren. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der AfD – Matthias W. Birkwald Herr Hampel, danken Sie Ihrem Herrgott dreimal täglich [DIE LINKE]: Was ist Ihr Vorschlag, wenn dafür, dass Sie nicht in Afrika geboren sind und nicht in das so wäre?) der Situation sind wie viele, die jetzt aus Seenot gerettet wurden. Meine Damen und Herren, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Verstärken Sie „Sophia“. Unterstützen Sie die li- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem bysche Küstenwache. Sorgen Sie – wie die Australier – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dafür, dass jeder, der es versucht, die Botschaft bekommt: You will never make your way to Europe. – Wenn diese Vier Minuten reichen nicht für eine Abhandlung zur Botschaft angekommen ist, wird der Strom nach Liby- Komplexität der Migrationsfrage an europäischen Gren- en und anderswo sehr schnell versiegen, weil sie wissen, zen. Sie reichen aber für die einfache Frage der Rettung dass sie keine Chance haben, über das Mittelmeer nach menschlichen Lebens, denke ich. Europa zu kommen, und erst recht keine Chance, dort zu Es ist politisch immer klug, sich von der sperrigen und bleiben. oft auch schmerzhaften Wirklichkeit irritieren zu lassen. Lassen Sie uns dann eine vernünftige Entwicklungs- Das haben einige Mitglieder dieses Hohen Hauses, mich politik in den Ländern machen, aus denen diese Men- eingeschlossen, unterstützt von anderen, auch weiterer schen kommen, um sie vor Ort zu unterstützen – und Fraktionen, getan und die „Sea-Watch“ vor einigen Ta- nicht erst, wenn sie sich in Lebensgefahr gebracht haben gen besucht. und ihr Leben riskiert haben. Wer von Ihnen will denn (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem das verantworten, was mit denen passiert, die kein Glück BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hatten? Da hatten wir leider keine Schiffe; das hat nicht funktioniert. Ich möchte das nicht verantworten. Viele in Wer das getan hat, kehrt als jemand anderes wieder diesem Hause oder die meisten möchten das auch nicht, und sieht neu. Wer erlebt hat – das sind gar nicht die glaube ich. großen Momente –, wie dieses Schwanken da ist, und das nur ein paar Stunden, wer erlebt hat, wie eine junge (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Zyniker!) arabische Frau mit ihrem Rest von Privatheit sich und Noch einmal: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Neh- ihr Kind in dieser eigentlich unwürdigen Situation vertei- men Sie die Kontrolle über das Mittelmeer wahr. Schi- digt, wer erlebt hat, wie junge afrikanische Männer cken Sie die Menschen unmittelbar nach In-See-Stechen (B) noch in der Zwölfmeilenzone zurück an Land. (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Genau! Män- (D) ner!) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Damit wird keine einzige Fluchtursache beseitigt! hoffnungslos, aber auch mit dem Mut der Verzweiflung Keine einzige!) nach Wegen ihrer Zukunft suchen und sich nicht scheu- en, sogar ins Wasser zu springen und ihr Leben zu riskie- Damit wird klar zum Ausdruck gebracht, dass der Weg ren, wer gesehen hat, wie der erbärmliche Rest von Hab- übers Mittelmeer verschlossen ist. Sie werden erleben, seligkeiten mühsam zusammengekehrt und verpackt ist, dass der Flüchtlingsstrom innerhalb von wenigen Wo- oder wer sieht, wie einzelne Helfer versuchen, an diesem chen versiegt. unwirklichen, aber doch wirklichen Ort die Menschen- (Michel Brandt [DIE LINKE]: Das kennen würde zu verteidigen, der kann nicht mehr so reden, wie wir schon!) Sie, Herr Hampel, eben geredet haben. Helfen Sie dann den Menschen vor Ort, und zwar mit (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem einer wirklich vernünftigen Entwicklungshilfe. Das wäre BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. die Alternative dazu. Gyde Jensen [FDP]) Ihr Antrag dient nur einem: Kriminelle reich zu ma- Er kann auch nicht so schreiben, wie die unzähligen chen und Ihre Schleuserfreunde von den Hilfsorganisati- Hassbriefe formuliert sind, die mich erreicht haben. Ich onen ebenfalls zu beschäftigen. Das lehnen wir ab, meine empfehle all denjenigen, die so schreiben, einfach einmal Damen und Herren. die Komfortzone hinter ihren Rechnern zu verlassen und sich selber die Situation vor Ort anzuschauen. Ich danke Ihnen schön. (Beifall bei der AfD – Tobias Pflüger [DIE (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem LINKE]: War Zeit! – Matthias W. Birkwald BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) [DIE LINKE]: Abmarsch! – Zurufe vom Daher danke ich auch für die Fragestellungen, die die- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Pfui!) ser Antrag aufwirft, auch wenn ich denke, dass er von der Fülle der Aspekte her überkomplex und in der Antwort Vizepräsidentin Claudia Roth: unterkomplex ist. Deshalb empfehle ich eine Reduktion Nächster Redner in der Debatte: Helge Lindh für die auf die essenzielle Frage der Lebensrettung. SPD-Fraktion. Wir brauchen schnellstmöglich, sofort, die Rettung (Beifall bei der SPD) menschlichen Lebens. Deshalb danke ich auch ausdrück- 8682 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Helge Lindh (A) lich dem Auswärtigen Amt für die Hartnäckigkeit, mit Gyde Jensen (FDP): (C) der in diesem Fall wieder einmal für eine Lösung ge- Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen kämpft wurde. und Kollegen! Der Antrag der Linken wurde mit heißem Herzen geschrieben. Das verdient Anerkennung. Doch er Wir brauchen sichere und legale Fluchtwege. wurde auch mit heißem Kopf geschrieben und hat mit der (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem politischen Realität daher nicht viel zu tun. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Wir brauchen gewiss keine Kriminalisierung von pri- Die libysche Küstenwache verdient ihren Namen vaten Seenotrettungsorganisationen. nicht. Das stimmt. Wir dürfen auch nicht so tun, als (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem könnten wir all unsere Verantwortung an nordafrikani- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sche Regime delegieren. Das wäre zynisch. Sie fordern zu Recht, dass die EU und die Bundesre- Wir brauchen sehr wohl eine europäische, möglichst eine publik sich nicht gemein machen dürfen mit denjenigen, öffentlich koordinierte Seenotrettung. die für menschenunwürdige Zustände in den Flücht- Wir brauchen Hinsehen und Offenheit. lingscamps verantwortlich sind. Das stimmt auch. Wir brauchen Kommunen, Gemeinden hier und in Aber indem Sie die Rechtswirklichkeit verdrehen, Europa, die auch aufnehmen können, wenn sie aufnah- helfen Sie den Menschen nicht. Sie reden hier von einem mebereit sind. Recht auf Asyl. Doch es geht eigentlich um die Seenot- rettung, darum, die Menschen nicht mehr im Mittelmeer Wir brauchen außerdem – das gehört auch zur Wahr- ertrinken zu lassen. Die Seenotrettung ist eine humani- heit – einen schonungslosen Blick auf die Situation in täre Pflicht, eine Verantwortung, der Europa gemeinsam Libyen. Die Detention Centers sind alles, aber nicht Orte gerecht werden muss. Das Asylrecht hingegen beruht auf der Menschenwürde. Es gibt reichlich Dokumentationen einem individuellen Verfahren. Das hat nichts mit der über Vergewaltigung als Waffe. Pflicht zu tun, jemanden aus dem Wasser zu holen. Anders als Sie es dargestellt haben, ist die libysche Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta gewährt kein Seenothilfe weiß Gott nicht, weder personell noch logis- automatisches Recht auf einen Asylstatus. Das finden Sie tisch noch humanitär, eine Annäherung an das, was wir auch nicht in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der als Standards an Seenothilfe haben. Das gilt es auszu- Menschenrechte. Auch in Artikel 33 der Genfer Flücht- lingskonvention steht es nicht. (B) sprechen. (D) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Am meisten enttäuscht mich aber Folgendes: Wenn BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie schon von einem Asylrecht im Zusammenhang mit Seenotrettung sprechen Wir fordern zum jetzigen Zeitpunkt nicht, anders als in diesem Antrag gefordert, einen Abbruch der Kooperati- (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Schon ein- on, auch nicht in der Sicherheitsfrage. Aber wir müssen mal den Antrag gelesen?) diese bittere Wahrheit deutlich aussprechen. – ja, ich habe den Antrag gelesen –, Deshalb appelliere ich an alle in diesem Raum, dass (Harald Weinberg [DIE LINKE]: Nein, das wir, so groß auch unser Hunger ist, unsere Differenzen in glaube ich nicht!) der Migrationsfrage, die fundamental sind, auszutragen, diesen Hunger in dieser Frage nicht stillen und gerade dann sprechen Sie doch wenigstens auch davon, wie Sie die Seenotrettung nicht dem Fraß unserer Parteipolitik sich ein europäisches Asylverfahren tatsächlich genau vorwerfen, sondern dass wir helfen, dass wir das nackte vorstellen, damit alle Beteiligten wissen, welches Han- Leben, auf das die Menschen im Mittelmeer verworfen deln welche Folgen hat. Das würde Probleme tatsächlich sind, verteidigen und dass wir die Würde, die bei die- lösen. sen Menschen täglich angetastet wird, ihres gelebten und Dazu kommt: Sie wollen Instrumente europäischer hoffentlich noch zukünftigen Lebens weiter verteidigen Flüchtlingspolitik nicht verbessern, sondern sie einfach und sie nicht weiter antasten lassen. Das ist mein Appell aufkündigen. Wenn Sie für die Betroffenen wirklich an Sie. etwas erreichen wollen, müssen Sie doch mit Partner- ländern zusammenarbeiten. Dann müssen Sie Koopera- Vielen Dank. tionen schmieden. Wir brauchen hier mehr Diplomatie, (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem nicht weniger Diplomatie. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Michel Brandt [DIE LINKE]: Mit wem? Mit der libyschen Küstenwache?) Vizepräsidentin Claudia Roth: Anstatt auf Diplomatie zu setzen, fordern Sie einfach, Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächste Rednerin in der auf EU-Ebene etwas durchzudrücken. So funktioniert Debatte: Gyde Jensen für die FDP-Fraktion. Europa eben nicht. (Beifall bei der FDP) (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8683

Gyde Jensen (A) Deutschland kann nicht einfach 27 freien Ländern etwas tigt, gefoltert? Oder möchte jemand allen Ernstes infrage (C) diktieren. So wird es nicht laufen. stellen, dass man einen Menschen retten muss, wenn er droht zu ertrinken? Dass man nicht einfach vorbeifahren, So verstehen wir Freie Demokraten Europa auch wegsehen und den Menschen sterben lassen kann, das ist nicht. Wir wollen ein Europa auf Augenhöhe. doch vollkommen klar. Und genau um diese Frage geht (Beifall bei der FDP) es heute. Ich komme zur Haltung der Bundesregierung. Liebe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bundesregierung, Sie beziehen beim Thema Seenotret- bei der SPD, der FDP und der LINKEN) tung nicht wirklich Position. Sie haben kein Konzept zur Gestaltung der Flüchtlingsfragen dieser Zeit, keines, das Meine Fraktion zeigt sich solidarisch mit der zivilen über die ängstliche Abschottung Europas hinausgeht. Mit Seenotrettung, und zwar aus drei Gründen. Ihrer Abwehrhaltung verwirken Sie jegliche Gestaltungs- ansprüche in der Politik. Ich sagte es bereits in der Aktu- Erstens. Wir teilen die zumeist von Konservativen ge- ellen Stunde im letzten Jahr zu Herrn Seehofer – leider pflegte Lesart nicht, dass die Seenotrettung ein Pull-Fak- war er damals auch nicht anwesend –, und ich wiederhole tor ist und mit der Arbeit der Seenotretter Menschen erst es heute: Entwickeln Sie bitte endlich eine konstruktive motiviert werden, über das Mittelmeer zu fliehen. Das europäische Haltung in der Seenotrettung, und machen ist wissenschaftlich und in der Realität widerlegt. Wir Sie einen konstruktiven Vorschlag für eine echte europä- wissen das aus vielen Gesprächen mit den betroffenen ische Migrations- und Asylpolitik. Menschen selbst, Wir brauchen als ersten Schritt endlich einen Mecha- (Armin-Paulus Hampel [AfD]: Ach so! Ja, nismus zur Ad-hoc-Verteilung, an dem sich möglichst klar!) viele EU-Staaten beteiligen. Wir können doch nicht jedes Mal neu verhandeln, bevor Menschen in Not geholfen dass es die schiere Verzweiflung der Menschen ist, die wird. Fehlende Regeln sind nicht Schuld der Ertrinken- nach Libyen geflohen oder dort zu Flüchtlingen gewor- den, sie sind ein Versagen von Politik. den sind, die sie dazu bringt, über das Mittelmeer zu flie- hen. Wir müssen endlich von einer europäischen Grenze sprechen, wir müssen Frontex ausbauen und mit hoheit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lichen Befugnissen ausstatten sowie Operationen gegen Schleuserkriminalität und -netzwerke wie die Operation Zweitens. Wir wissen: Weniger Seenotrettung bedeu- Sophia stärken. tet nicht weniger Flüchtlinge. Weniger Seenotrettung (B) heißt schlichtweg, dass mehr Menschen im Meer ertrin- (D) Die wochenlange Unsicherheit, der die Flüchtenden ken. auf dem Mittelmeer ausgesetzt sind, ist beschämend und ein Armutszeugnis für das humanitäre Erbe Europas. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Ulli Nissen [SPD]) Drittens. Wir zeigen uns solidarisch mit der zivilen Wenn wir in Europa etwas erreichen und unseren Werten Seenotrettung; denn es gibt sie nur deshalb, weil die Eu- gerecht werden wollen, müssen wir gemeinsam vorange- ropäische Union sie selbst eben nicht organisiert. hen. Die Mittelmeerroute darf nicht länger zur Lotterie zwischen Tod und Einwanderung nach Europa sein. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vielen Dank. Die stetigen Versuche, einzelne Personen oder ganze Or- (Beifall bei der FDP und der SPD) ganisationen zu kriminalisieren, sind genau deshalb ein schäbiger Akt. Menschen, die andere vor dem Ertrinken Vizepräsidentin Claudia Roth: retten, sind keine Schlepper. Sie sind Heldinnen und Hel- Vielen Dank, Gyde Jensen. – Nächste Rednerin: Luise den. Denn was könnte bitte wertvoller sein als ein Men- Amtsberg für Bündnis 90/Die Grünen. schenleben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Luise Amtsberg Liebe Kolleginnen und Kollegen, Italien hat damals vor Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe vier Jahren mit der Rettungsoperation Mare Nostrum Kolleginnen und Kollegen! Müssen wir ernsthaft noch über 150 000 Menschen in einem Jahr gerettet. Niemand mal darüber reden, wie schlimm die Zustände in Libyen wäre vor vier Jahren auf die absurde Idee gekommen, die sind? italienische Regierung des Schleppertums zu bezichti- (Norbert Kleinwächter [AfD]: Nein!) gen. Genau hierin zeigt sich die Schieflage der jetzigen Debatte. Oder stellt hier wirklich jemand infrage, dass es unzu- mutbar ist, in den dortigen Lagern interniert zu sein, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fernab jeder Menschenwürde, misshandelt, vergewal- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) 8684 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Luise Amtsberg (A) Es grenzt wirklich schon an Arbeitsverweigerung und Italien ist auch Leoluca Orlando, der Bürgermeister von (C) Fahrlässigkeit, wie sich die deutsche Bundesregierung Palermo, oder der Bürgermeister von Neapel, der Neapel derzeit verhält. zu einem sicheren Hafen erklärt hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- bei der SPD und der LINKEN) KEN) Und genauso wenig, wie Salvini für ganz Italien spricht, Statt nach einer verbindlichen und dauerhaften Lösung spricht Horst Seehofer im Übrigen für ganz Deutschland. mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- suchen, provoziert sie auch noch. Als die „Sea-Watch 3“ SES 90/DIE GRÜNEN) vor wenigen Wochen nicht in den Hafen von Malta ein- laufen durfte, war die Reaktion vom BMI folgende: Wir Und wer könnte das besser verdeutlichen als die 32 Städ- wollen, dass fair verteilt wird, und wir nehmen erst auf, te und Gemeinden in Deutschland, die sich selbst zu si- wenn andere Staaten mitmachen. – Okay. Aber wissen cheren Häfen erklärt haben, Sie, was? Sie nehmen derzeit nicht einmal einen Bruch- teil der von Italien oder Spanien aus Seenot geretteten (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Menschen auf, nicht einmal einen Bruchteil! Wissen Sie SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) eigentlich, was für ein peinliches und für den Zusammen- von Regensburg nach Kiel, in Düsseldorf oder in Halle halt schädliches Bild von der Europäischen Union Sie an der Saale, Kommunen, die sich nicht wie der Innen- mit solchen Aussagen nach außen abgeben? minister wegducken. Und deshalb, Herr Innenminister – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie sind heute leider wieder nicht hier –: Blockieren und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) verhindern Sie nicht, sondern unterstützen Sie. Der Wille zur Aufnahme ist da, also machen Sie den Weg frei für Abseits davon: Was hätten Sie denn gemacht, wenn die Kommunen. Das wäre das Mindeste, aber noch lange Sie keine Verbündeten gefunden hätten? Hätten Sie tat- nicht alles, was Sie tun können. sächlich nicht aufgenommen? Ich kann es mir nicht vor- stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder Vizepräsidentin Claudia Roth: -bemerkung des Kollegen Mrosek von der AfD-Frakti- (B) on? Vielen Dank, Luise Amtsberg. – Nächster Redner: (D) Alexander Radwan für die CDU/CSU-Fraktion.

Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe mich wirklich zusammengerissen, die Rede Ihres Kollegen zu ertragen, und belasse es dabei. Nein, Alexander Radwan (CDU/CSU): danke. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir hatten heute schon bei anderen Themen mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sich wiederholenden Anträgen zu tun. Das gilt auch für sowie bei Abgeordneten der SPD und der diesen Tagesordnungspunkt. Wir diskutieren über dieses LINKEN) Thema sehr gerne aus Sicht des Innenministers. Es gilt Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie nichts getan das Prinzip der Humanität und Ordnung bei der Zuwan- hätten. Und das ist, was diese ganze Situation so uner- derung und in der Flüchtlingspolitik. Das betrifft natür- träglich macht: dass europäische Regierungen aufgehört lich auch die Thematik, wie wir mit Seenotrettung und haben, an Verhandlungstischen über den Umgang mit mit dem Elend auf dem Mittelmeer umgehen. dieser Situation zu reden. Denn verhandelt wird nicht Meine Vorrednerin hat gerade den Bundesinnenminis- mehr am Tisch, sondern auf dem Mittelmeer und auf dem ter zitiert bzw. erwähnt. Lassen Sie mich, Frau Präsiden- Rücken von echten Menschen, die ausharren und hoffen tin, zwei Zitate vorlesen. Das erste Zitat lautet: müssen, dass es nicht zu lang dauert, bis einer blinkt und nachgibt. Aber, meine Damen und Herren, das ist keine Ich finde … dass wir uns vor allem um die küm- Politik, das ist Poker. Das geht so nicht. mern müssen, denen es am schlechtesten geht, und das sind nicht die, die so eine Flucht finanzieren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN können, die auch die Schlepper bezahlen können, sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf sondern das sind die, die vor Ort sind. vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist Horror!) Das ist kein Zitat des Bundesinnenministers, sondern das ist ein Zitat der Fraktionsvorsitzenden der Linken. Was wir nicht vergessen sollten – und das ist manch- mal auch wohltuend –: Viktor Orban allein ist nicht Un- Ein anderes Zitat: garn, Matteo Salvini allein ist nicht Italien. Tatsache ist: Es kommen gerade nicht diejenigen (Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE über das Meer, die unsere Hilfe dringend brauchen, LINKE]) sondern vor allem junge Männer, die Schlepper be- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8685

Alexander Radwan (A) zahlen können. Tatsache ist auch, dass die meisten Wir müssen uns die Frage stellen: Wie können wir (C) in Europa bleiben, obwohl sie keinen Anspruch auf den Menschen eine Perspektive geben, damit sie sich gar Asyl haben. Das kann kein gutes System sein. Für nicht erst in Gefahr begeben? Wir müssen vor Ort ent- niemand. Die Seenotretter sind Teil des Kalküls der sprechende Perspektiven eröffnen und für Unterstützung Schlepper. sorgen, damit sie sich gar nicht erst auf den Weg machen. Bundesminister Müller ist einer jener herausragenden (Beifall bei der AfD) Menschen in der Bundesregierung und in Europa, die Das ist kein Zitat des Bundesinnenministers, das ist ein eine solche Politik betreiben. Zitat von Herrn Palmer. Also tun Sie nicht so, als wenn (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. unsere Sicht eine singuläre wäre. Vielmehr gibt es par- Armin-Paulus Hampel [AfD]) teiübergreifend eine Analyse, die dem Sachverhalt ge- recht wird. Natürlich müssen wir die Mittelmeeranrainer in die Pflicht nehmen, auch wenn es mit nordafrikanischen (Michel Brandt [DIE LINKE]: Es wäre gut, Ländern nicht einfach ist, ob mit Ägypten oder gar Li- wenn Sie zum Antrag kommen! – Weitere Zu- byen; aber jetzt so zu tun, als müssten wir das alles ab- rufe von Abgeordneten der LINKEN und des brechen, würde genau das Gegenteil hervorrufen. Darum BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist es dringend notwendig, hier weiter dicke Bretter zu – Wir sind gerade mittendrin. Regen Sie sich nicht auf. bohren und mit diesen Ländern in Kontakt zu bleiben. Sie müssen sich mit Ihrer Fraktionsvorsitzenden ausei- Meine Damen und Herren, wir müssen den Schleppern nandersetzen, nicht mit mir. Sie hat das gesagt. das Handwerk legen, und wir müssen das auf europäi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und scher Ebene entsprechend vorantreiben. Die humanitäre der AfD) Katastrophe im Mittelmeer kann man nicht dadurch be- siegen, dass man noch mehr Anreize gibt, überzusetzen und sich auf die Flucht zu begeben, sondern nur dadurch, Vizepräsidentin Claudia Roth: dass man den Menschen klar sagt: Wir helfen euch vor Herr Radwan, erlauben Sie eine – – Ort, wir stützen euch vor Ort. (Beifall bei der AfD – Zurufe von der LIN- Alexander Radwan (CDU/CSU): KEN) Nein, nein. Es ist zutiefst inhuman, den Menschen etwas vorzugau- Vizepräsidentin Claudia Roth: keln, nach dem Motto: Sie können über die entspre- (B) chende Maßnahme nach Europa kommen und hier blei- (D) Egal von wem? ben. – Doch dann müssen wir sie zurückschicken, oder sie kommen auf dem Weg um. Das ist inhuman. Das ist Alexander Radwan (CDU/CSU): etwas, was wir zutiefst ablehnen. Darum lehnen wir Ih- Genau. ren Antrag ab. Besten Dank. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der AfD sowie bei Abgeordneten Gut. der CDU/CSU)

Alexander Radwan (CDU/CSU): Vizepräsidentin Claudia Roth: Meine Damen und Herren, es geht um die Frage, wie Vielen Dank, Herr Radwan. – Das Wort zu einer Kurz- wir Not und Elend im Mittelmeer verringern können. Ein intervention hat der Kollege Manuel Sarrazin. Ansatz ist: Wir retten die Menschen, bringen sie am bes- ten gleich hierher und führen die entsprechenden Verfah- ren durch. Aber ich teile nicht die Ansicht, dass ohne die Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seenotrettung die Not noch größer wird. Herr Kollege Radwan, Sie haben den Herrn Palmer zi- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tiert und das hier so dargestellt, als ob damit eine Partei- NEN]: Wo ist eigentlich der Seehofer?) meinung der Grünen dargestellt würde. Deswegen möch- te ich Sie gerne fragen, ob Sie persönlich dieses Zitat von Vielmehr führt die Seenotrettung zu einem Pull-Faktor Herrn Palmer, das Sie vorgetragen haben, richtig finden für die Menschen, weil sie sehen, dass so die Möglichkeit oder ob Sie es ebenso wie ich und alle anderen Mitglieder besteht, nach Europa, am besten nach Deutschland zu meiner Fraktion für grundfalsch und unwürdig halten. kommen. Die Menschen werden noch mehr aufs Mittel- Dieses von Ihnen vorgetragene Zitat von Herrn Palmer meer getrieben. Meine Damen und Herren, nach meiner hat mit der Politik meiner Partei und meiner Fraktion Auffassung ist das zutiefst inhuman. überhaupt nichts zu tun und auch nichts mit der Realität in diesem Land und mit dem Sterben im Mittelmeer. Das (Beifall bei der AfD sowie des Abg. Dr. Johann ist die Frage an Sie. Finden Sie, dass Herr Palmer recht David Wadephul [CDU/CSU] – Harald hat, Weinberg [DIE LINKE]: Da kommt der rich- tige Beifall!) (Zurufe von der AfD: Ja!) 8686 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Manuel Sarrazin (A) oder finden Sie wie ich, dass Herr Palmer in dieser Frage Menschen auch noch die letzte Hoffnung nehmen sol- (C) absolut und abgrundtief falsch liegt? len. Menschen, die anderen Menschen helfen, die andere Menschen retten, verdienen unseren tiefsten Respekt und Danke. unsere tiefste Anerkennung. Ich will das heute ausdrück- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – lich hier im Deutschen Bundestag bekunden. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem NEN]: Das weiß eigentlich auch jeder inzwi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. schen!) Gyde Jensen [FDP])

Alexander Radwan (CDU/CSU): Nicht jeder, der vom afrikanischen Kontinent nach Europa kommen will, wird das können, und nicht jeder, Ich könnte jetzt natürlich auch auf Herrn Kretschmann der in Europa ankommt, wird hier bleiben können. Dazu verweisen, aber das liegt mir jetzt nicht. Ich hoffe, dass braucht es schnelle und rechtsstaatliche Verfahren, im meine Äußerungen nicht zu einem Parteiausschlussver- Sinne aller Beteiligten. Aber es ist doch trotzdem un- fahren gegen den Kollegen Palmer führen. Er ist einfach denkbar, dass man auch nur auf die Idee kommen kann, Mitglied Ihrer Partei. Er gewinnt Wahlen und gewinnt deshalb Menschen im Mittelmeer zur Abschreckung – auch Wähler für Sie. Ich habe letztendlich sowohl die oder aus welchen Gründen auch immer – ertrinken zu Fraktionsvorsitzende Wagenknecht als auch Herrn Pal- lassen. Der Herr Kollege Lindh hat das schon deutlich mer zitiert, um das breite Meinungsspektrum in den Par- gemacht. Wir haben hier nicht die Zeit, umfassend über teien, das auch in Ihren Parteien vorhanden ist, darzu- ein Migrationskonzept zu diskutieren – das kann man an stellen. anderer Stelle machen –: Wir brauchen legale Zuwande- (Luise Amtsberg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungswege, um Migration zu steuern. Wir brauchen die NEN]: Einzelmeinung!) Rettung von Schiffbrüchigen. Wir brauchen dann schnel- le Verfahren, an deren Ende es zwei Möglichkeiten gibt: Das zeigt letztendlich, dass dieses Problem nicht einfach entweder die schnelle Rückführung in Staaten, die auf- und eindimensional zu lösen ist, sondern sehr viele As- nahmebereit sind – das ist doch das reale Problem –, oder pekte hat. Ich bin froh, dass diese Aspekte auch in Ihren die sofortige Integration. Parteien gesehen werden. (Lachen bei der AfD – Abg. Armin-Paulus Besten Dank. Hampel [AfD] meldet sich zu einer Zwischen- (Beifall bei der AfD sowie des Abg. Patrick frage) Schnieder [CDU/CSU]) (B) Heute geht es aber um die Seenotrettung. Das Ziel (D) muss – da teile ich das, was im Antrag der Linken steht – Vizepräsidentin Claudia Roth: eine europäisch abgestimmte, staatlich organisierte See- Vielen Dank. – Jetzt kommt der letzte Redner in dieser notrettung sein. Debatte. Das ist Frank Schwabe für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) (Beifall bei der SPD) Aber solange es die eben nicht gibt, so lange brauchen wir eine private Seenotrettung. Sie ist nicht nur legitim, Frank Schwabe (SPD): sondern sie ist auch notwendig. Im Übrigen brauchen wir Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren! auch die Rettung durch Handelsschiffe. Alles, was dort Wenn wir aus der deutschen Geschichte etwas gelernt ha- passiert, darf auf gar keinen Fall von uns kriminalisiert ben sollten, dann, dass die höchsten Mauern – und wahr- werden. scheinlich auch das breiteste Meer – vielleicht die Zahl (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der der Menschen, die sie am Ende überwinden, verringern LINKEN) können, aber nie Menschen davon abhalten werden, es zu versuchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fin- de den Gedanken schlimm genug, dass zurzeit jährlich Vizepräsidentin Claudia Roth: Hunderte, Tausende Menschen im Mittelmeer jämmer- Herr Schwabe, erlauben Sie eine Zwischenfrage? lich ertrinken. Einige Kolleginnen und Kollegen – das ist schon er- Frank Schwabe (SPD): wähnt worden –, Herr Grundl, Herr Pflüger, Herr Lindh Nein, danke. – Die ganze Sache mit den sicheren Hä- und meine Wenigkeit, waren stellvertretend für eine frak- fen funktioniert natürlich nur, wenn wir Druck auf die tionsübergreifende Arbeitsgruppe, die wir zum Thema Anrainerstaaten des Mittelmeeres ausüben, Menschen Seenotrettung haben, auf der Sea-Watch 3. Wir haben aufzunehmen. Aber sie werden das nur dann tun, wenn die Menschen getroffen, um die es geht. Wir haben die sie wissen, dass die Menschen weiterverteilt werden Menschen berührt, und die Menschen haben uns berührt nach einem transparenten, temporären, aber belastbaren mit ihren Geschichten. Wir haben gesehen, in welch ab- Verteilmechanismus. Es darf doch nicht sein, dass wir surder Situation sich die Menschen befunden haben und beim nächsten, schon absehbaren Fall erneut ein unwür- wie sie gelitten haben. Ich finde es schlimm genug, dra- diges Geschachere auf dem Rücken leidender Menschen matisch genug, dass Menschen sterben müssen; aber ich sehen. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen. An dieser Stelle finde den Gedanken gänzlich unerträglich, dass wir den will ich im Gegensatz zu anderen, die es kritisiert haben, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8687

Frank Schwabe (A) das Auswärtige Amt ausdrücklich loben. Wer weiß, wie b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine (C) das hinter den Kulissen gelaufen ist, weiß auch, welche Leidig, Andreas Wagner, Dr. Gesine Lötzsch, Arbeit Tag und Nacht, auch am Wochenende, dort geleis- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE tet wurde, um eine Lösung herbeizuführen. LINKE (Beifall bei der SPD) Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr schritt- Wir müssen jetzt die Chance nutzen, gemeinsam mit der weise einführen Europäischen Kommission eine dauerhafte Lösung zu Drucksache 19/1359 finden. Ich finde, das verdient die Unterstützung dieses Überweisungsvorschlag: Hauses. Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Damit dieser Verteilmechanismus funktioniert – auch Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit das will ich sagen –, brauchen die Länder, um die es geht, Ausschuss für Tourismus zum Beispiel Malta, einen Vertrauensbeweis, dass am Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- Ende die Menschen nicht bei ihnen bleiben, sondern wei- munen terverteilt werden. Da habe ich eine klare Erwartung an Haushaltsausschuss das Bundesinnenministerium, auch was den akuten Fall c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid betrifft: Die Menschen, die jetzt gerettet wurden, dürfen Remmers, Jörg Cezanne, Dr. Gesine Lötzsch, nicht monatelang wegen Verfahrensproblemen auf Malta weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE bleiben. Damit würde man die Bestrebungen, die es gibt, LINKE eine dauerhafte Lösung zu finden, unterminieren. Hardware-Nachrüstungen statt Fahrverbote Ich will zum Schluss sagen, dass auch ich solche Zu- schriften, von denen Helge Lindh gesprochen hat, be- Drucksache 19/6195 kommen habe, unsägliche Zuschriften. Aber die Mehr- Überweisungsvorschlag: heit der Zuschriften und sonstigen Rückmeldungen war Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) ermunternd. Auch diejenigen, die bei Migrationsfragen Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ansonsten vielleicht skeptisch sind, haben mir gesagt: Ausschuss für Wirtschaft und Energie Aber bei einem sind wir uns sicher, wir wollen die Men- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- schen dort nicht ertrinken lassen. – Ich glaube, das ist munen eine Verpflichtung für uns alle. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Vielen Dank. die Aussprache 27 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen Widerspruch. Ich werde die Debatte aber erst eröff- (D) der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- nen, wenn alle Kolleginnen und Kollegen Platz genom- NISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. men haben. Gyde Jensen [FDP]) Ich wünsche gute Besserung. Er ist erkrankt. Deswegen spricht jetzt, wie Sie gleich erkennen Vizepräsidentin Claudia Roth: werden, nicht Florian Pronold, sondern die Parlamen- Vielen Dank, Frank Schwabe. – Ich schließe die Aus- tarische Staatssekretärin Schwarzelühr-Sutter. – Frau sprache mit der mir erlaubten Bemerkung, dass ich be- Schwarzelühr-Sutter, Sie haben das Wort. dauere, dass das Bundesinnenministerium heute, bei die- ser Debatte, nicht anwesend war. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei NISSES 90/DIE GRÜNEN) der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nu- kleare Sicherheit: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Drucksache 19/4616 an die in der Tagesordnung aufge- Die Bundesregierung hat am 15. November letzten Jah- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein- res den Entwurf eines Dreizehnten Gesetzes zur Ände- verstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a bis 12 c auf: Er liefert bundesweit einheitliche Maßstäbe für die Ver- hältnismäßigkeit von Verkehrsverboten. Er dient auch a) Erste Beratung des von der Bundesregierung der Umsetzung des vom Koalitionsausschuss im Oktober eingebrachten Entwurfs eines Dreizehnten Ge- letzten Jahres beschlossenen „Konzepts für saubere Luft setzes zur Änderung des Bundes-Immissions- und der Sicherung der individuellen Mobilität in unse- schutzgesetzes ren Städten“. Dieses Konzept dient dem Interessensaus- Drucksachen 19/6335, 19/6927 gleich von Fahrzeughaltern und Bewohnerinnen und Be- wohnern der Innenstädte. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Betroffen können die Interessen der Besitzer von mit- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur unter gerade einmal dreieinhalb Jahre alten Euro-5-Die- Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- selfahrzeugen sein. Diese gehören jetzt wahrlich nicht munen zum alten Eisen und sind auch kein Schrott. Aber ge- 8688 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter (A) nauso wenig dürfen wir das Recht auf saubere Luft für antun, wenn Sie Ihnen das Auto und damit ihre Freiheit (C) eine Familie aus den Augen verlieren, die das ganze Jahr wegnehmen. über an einer hochbelasteten Straße wohnt. Sie steht eben nicht nur an der Ampel, sondern wohnt an einer solchen (Beifall bei der AfD) Straße wie etwa der Hügelstraße in Darmstadt. Daraus Allein in Stuttgart betrifft das Fahrverbot 72 000 Men- ergibt sich klar: Deutschland muss schnellstmöglich den schen mit ihren Familien. Grenzwert für Stickstoffdioxid einhalten, und zwar mög- lichst ohne Fahrverbote. (Zuruf des Abg. Oliver Krischer [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]) Wir müssen auch Haltern, die nicht die Möglichkeit haben, ein neues, sauberes Fahrzeug zu erwerben, einen Zu allem Überfluss sind Fahrverbote auch völlig Ausweg anbieten. Da halten wir die Hardwarenachrüs- nutzlos. Das Regierungspräsidium erwartet, dass das tung für eine richtige und wichtige Maßnahme. Damit Fahrverbot in Stuttgart nur zu einer Absenkung um nachher tatsächlich auch die Autos, die diese Hardware­ 4,6 Mikrogramm führt, also gerade einmal um lächerli- nachrüstung haben und deren Stickstoffdioxidemissio- che 7 Prozent. In der Praxis hat sich wie zum Beispiel nen unter 270 Milligramm pro Kilometer liegen, in die in Hamburg gezeigt, dass die Stickstoffdioxidwerte nach Städte einfahren dürfen, brauchen wir diese Änderung Einführung der Fahrverbote nachweislich sogar noch ge- des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. stiegen sind.

Klar ist aber natürlich auch, dass wie bei der Nach- Aber seien Sie froh, dass Sie Weihnachten überlebt ha- rüstung bei Bussen und Kommunalfahrzeugen auch für ben. Adventskranz, vier Kerzen: über 140 Mikrogramm. Pkw die Stickstoffoxidemissionen im realen Betrieb ent- (Ulli Nissen [SPD]: Jetzt kommt gleich wie- scheidend sind. Auch für die gibt es die Ausnahmen, um der die Zigarette!) dann in die Städte einfahren zu dürfen. Am Ende bleibt es Aufgabe der lokalen Behörden, unter Berücksichtigung Weihnachtsbaum, 20 Kerzen: über 700 Mikrogramm. der Gegebenheiten und Möglichkeiten vor Ort über die Einmal Spaghetti mit Tomatensoße auf dem Gasherd: Notwendigkeit von Fahrverboten zu entscheiden und über 1 300 Mikrogramm. Aber seien Sie unbesorgt: In Fahrverbote so weit wie möglich zu vermeiden. Es ist Deutschland wird so gewissenhaft gemessen, dass es wie hierbei entscheidend, dass natürlich die Stickstoffdio- in Oldenburg auch ganz ohne Autos nur mit Marathon- xidemissionen der Dieselfahrzeuge umgehend wirksam läufern ganz sicher zu einer Grenzwertüberschreitung gesenkt werden. kommt. (B) Ich glaube, wir werden am 30. Januar dieses Jahres (Heiterkeit und Beifall bei der AfD) (D) voraussichtlich eine Anhörung dazu haben. Wir sind alle gut beraten, wenn so schnell wie möglich die Hardware­ Ich weiß, dass Sie den Vergleich nicht mehr hören nachrüstung kommt, damit es eben keine Bürger gibt, können oder nicht mehr hören wollen, weil er Ihnen so die nachher nicht mit ihren Autos in die Städte einfahren schön die ideologische Maske vom Kopf reißt und jedem können, aber eben auch die Bürger, die an stark befahre- da draußen ganz offensichtlich vor Augen führt, wie Sie nen Straßen leben, saubere Luft haben. die Menschen über den Tisch ziehen: Beim Rauchen ei- ner einzigen Zigarette Herzlichen Dank. (Ulli Nissen [SPD]: Jetzt ist die Zigarette (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wieder dran!) der CDU/CSU) atmen Sie 50 000 Mikrogramm Stickstoffdioxid ein. Eine Schachtel entspricht also 1 Million Mikrogramm Vizepräsidentin Claudia Roth: Stickstoffdioxid. Wenn das also stimmen würde, was Sie hier insbesondere auf der linken Seite immer wieder be- Vielen Dank, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. – haupten, hätten Marlene Dietrich, Liz Taylor und Marlon Nächster Redner: Marc Bernhard für die AfD-Fraktion. Brando die Dreharbeiten für keinen einzigen Film über- (Beifall bei der AfD) lebt. (Heiterkeit und Beifall bei der AfD) Marc Bernhard (AfD): Das alles zeigt, dass der 40-Mikrogramm-Grenzwert Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! Nach fast genau das ist, als was ihn führende Mediziner bezeich- einem Jahr Diskussion um Fahrverbote endlich ein ers- nen: grober Unfug und ideologische Panikmache. ter zaghafter Lichtblick für die Menschen, aber leider ein völlig unzureichender. Ihnen ist schon klar: Den (Beifall bei der AfD) Menschen in Stuttgart helfen Sie damit kein bisschen. Oder beweisen Sie uns doch ganz einfach das Gegenteil, Stuttgart ist die erste Stadt mit einem flächendeckenden indem Sie endlich der von uns seit einem Jahr beantrag- Fahrverbot. Die Werte liegen dort mit 61 Mikrogramm ten erstmaligen wissenschaftlichen Überprüfung der Stickstoffdioxid knapp über Ihrer Ausnahmeregelung. Grenzwerte zustimmen. Irgendwie bekommt man den Eindruck, Sie haben nicht wirklich verstanden, was Sie den Menschen da draußen (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8689

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: den dann, mit welchen Maßnahmen sie den Grenzwert (C) Danke schön. – Nächster Redner für die CDU/ erreichen wollen –, haben wir Regelungen vorgesehen. CSU-Fraktion: Karsten Möring. Sie besagen: Euro‑6-Fahrzeuge sind dort von poten- ziellen Fahrverboten ausgenommen. Euro‑4- und Eu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ro‑5-Fahrzeuge sind ausgenommen, wenn sie durch eine Ulli Nissen [SPD]) Nachrüstung den Wert von 200 Mikrogramm Stickstoff- dioxid pro Kilometer unterschreiten. Um das zu gewähr- Karsten Möring (CDU/CSU): leisten, braucht es eine Zulassung der Nachrüstung durch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! das Kraftfahrt-Bundesamt. Die technischen Vorausset- Lieber Herr Bernhard, im Grunde haben Sie keine Ah- zungen dafür, die Festlegung der Verfahren zur Prüfung nung von dem, was Sie gesagt haben. und zur Zulassung, hat das Bundesverkehrsministerium im Dezember letzten Jahres auf den Markt gebracht. Die- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der se sind bekannt. Außerdem nehmen wir in solchen Fällen SPD und der LINKEN) kommunale Busse, Fahrzeuge, die dort fahren müssen, Ich komme auf die Punkte zurück, die Sie hier so ins Lä- und Ähnliches mehr aus. Damit wollen wir erreichen, cherliche ziehen wollen und die es nicht verdient haben, dass die Grenzwerte in absehbarer Zeit ohne Fahrverbote lächerlich gemacht zu werden. eingehalten werden. Aber zunächst einmal kurz zum Sachverhalt, um den Um es ganz klar zu sagen: Wir ändern keine Grenz- es geht. Wir haben vor knapp einem Jahr ein Bundes- werte, sondern wir bestimmen ein Verfahren zum Um- verwaltungsgerichtsurteil bekommen, das in einem letz- gang mit diesen Grenzwerten in der Praxis. Dieser Ge- tinstanzlichen Urteil einen Rahmen gesetzt hat, in dem setzentwurf entlässt uns nicht aus der Verpflichtung, alles festgelegt wird, dass es zur Einhaltung der Grenzwerte zu tun, um diese Grenzwerte zu erreichen. wohl Fahrverbote geben kann, dass aber bei deren An- Jetzt einmal ganz kurz zu der Diskussion über die ordnung die Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden Berechtigung solcher Grenzwerte: Die Deutsche Gesell- muss. Wir haben eine Reihe von Gerichtsverfahren und schaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin, in der Urteilen erlebt, in denen Fahrverbote erlaubt wurden und sich die Lungenärzte in Deutschland zusammengefunden in denen das Gericht in seiner Begründung eine Abwä- haben, hat Ende letzten Jahres eine umfangreiche Studie gung vorgenommen hat; eine Abwägung, die wir so für vorgelegt, nicht zielführend halten. (Judith Skudelny [FDP]: Nein, nein, das war Wir sind der Auffassung, dass es aufgrund der Ent- keine Studie, das war ein Positionspapier!) (B) wicklungen und aufgrund der Maßnahmen, die die Bun- (D) desregierung in dem „Programm Saubere Luft“ vorge- in der sie sagt, dass ein Grenzwert von 40 Mikrogramm sehen hat, möglich ist, die Grenzwerte in aller Regel pro Kubikmeter medizinisch nicht zwingend zu begrün- einzuhalten, auch ohne auf Fahrverbote zurückzugreifen. den ist. Sie hat damit aber keinen Freibrief ausgestellt; Deswegen beraten wir heute in erster Lesung ein Gesetz, denn sie sagt – und sie weist das mit zahlreichen Studien das diese Grenzwerte näher beschreibt. Es legt fest, dass nach –, dass Luftschadstoffe grundsätzlich krankheits- wir, soweit Grenzwerte von 40 Mikrogramm um nicht erregend und gesundheitsbelastend für die Bevölkerung mehr als 10 Mikrogramm überschritten werden, in der sind, und zwar in unterschiedlichem Maße, je nachdem, Regel keine Fahrverbote brauchen, um schnellstmöglich ob gesunde oder vulnerable Bevölkerungsgruppen be- den Grenzwert von 40 Mikrogramm zu erreichen – auf- troffen sind. Daraus ergibt sich zwingend, dass wir alles grund einer ganzen Reihe von Maßnahmen. Softwareup- dafür tun müssen, diese Luftschadstoffe – es geht nicht dates haben wir schon durchgeführt. Auf der Grundlage nur um Stickstoffdioxid, sondern auch um andere – zu des „Programms Saubere Luft“ fördern wir die Elektrifi- reduzieren. zierung des Verkehrs, die Nachrüstung von ÖPNV-Bus- Natürlich fällt kein Mensch tot um, wenn er die Ker- sen mit Abgasreinigungssystemen, die Digitalisierung zen an einem Adventskranz anzündet oder einen Gasherd des Verkehrs mit verkehrslenkenden Maßnahmen, die bedient. Darum geht es auch gar nicht. Es geht schlicht Hardwarenachrüstung von schweren Kommunalfahr- und einfach darum, dass die gesundheitliche Beeinträch- zeugen – Müllabfuhr, Straßenreinigung und Ähnlichem tigung dazu führt, dass sich die Lebenszeit verkürzt bzw. mehr – das Krankheitsrisiko steigt. (Oliver Luksic [FDP]: Die Müllabfuhr ist Luftschadstoffe sind nicht der Hauptrisikofaktor für schuld!) die Gesundheit. Sie stehen in Deutschland an zehnter und die Hardwarenachrüstung von Handwerker- und Lie- Stelle der Risikofaktoren – weltweit an fünfter. Das zeigt, ferfahrzeugen. dass es bei uns relativ gut aussieht. Es kann aber halt bes- ser werden, und das ist unsere Verpflichtung. Das wollen Wenn diese Maßnahmen umgesetzt werden – das ist wir durch gesundheitliche Vorsorge erreichen, und das das Ziel dieses Gesetzes –, dann bleiben allerdings im- gehen wir hiermit an. mer noch ein paar Gebiete in deutschen Städten übrig, in denen der Grenzwert von 50 Mikrogramm überschritten Dasselbe gilt für die Diskussion um die Standorte. wird. Dafür gilt dieses Gesetz dann nicht. Aber auch für Jeder, der ein bisschen von Physik versteht, weiß, dass die Gebiete, in denen dann Fahrverbote möglich sind – sich die Emission – egal ob Schall oder Schadstoff – bei sie sind nicht zwingend; die Behörden vor Ort entschei- wachsender Entfernung zur Emissionsquelle verdünnt, 8690 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Karsten Möring (A) und zwar deutlich. Deswegen ist auch klar, dass die Wer- ben. Auch die Windrichtung und die Exposition spielen (C) te an den Hauptverkehrsstraßen am höchsten sind und in eine Rolle. den Nebenstraßen deutlich sinken. Die durch den Ver- kehr verursachte punktuelle Belastung wird darüber hi- Daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die naus durch eine Hintergrundbelastung ergänzt. Grenzwerte Quatsch sind, ist völliger Unsinn. Daraus ergibt sich aber nicht das Recht, zu sagen: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Weil wir die Verkehrsteilnehmer am leichtesten greifen der FDP – Zuruf von der AfD: Wenn den gan- können, sollen die dafür sorgen, dass wir die Grenzwerte zen Tag kein einziges Auto fährt!) erreichen. Deswegen bleibt es dabei: Wir werden die Zielsetzung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- erreichen, und zwar weitestgehend ohne Fahrverbote, ordneten der SPD und der FDP) weil wir uns für die Gesundheit der Bevölkerung einset- zen. Wir müssen hier eine Abwägung vornehmen und uns fra- gen, was schwerer wiegt – ich sage es jetzt einmal fik- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tiv –, drei Jahre länger ein Nichterreichen des Grenzwer- ordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- tes von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter, den wir auch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sehen die Ge- schon 40 Jahre vorher nicht erreicht haben, oder massive richte aber anders!) Eingriffe durch Fahrverbote und Werteverluste der Fahr- zeuge, die wir bestimmten Verkehrsteilnehmern zumu- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten. Bei dieser Abwägung wird doch eigentlich klar, dass Vielen Dank, Karsten Möring. – Nächste Rednerin für der Schaden, den wir durch die Fahrverbote verursachen, die FDP-Fraktion: Judith Skudelny. in keinem Verhältnis zu der zwar vorhandenen, aber ge- ringen gesundheitlichen Beeinträchtigung steht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Judith Skudelny (FDP): Letzter Punkt. Seit Jahrzehnten verringern sich sämt- liche Luftschadstoffe in Deutschland. Wir haben jetzt die Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin! Liebe vorläufigen Zahlen von 2018, und ich nenne einmal ein Große Koalition! Sie haben es gesagt: Erst seit Februar paar Beispiele aus Nordrhein-Westfalen: letzten Jahres ist klar, dass Fahrverbote kommen werden. Und schon knapp ein Jahr später liegt dieser Gesetzent- In meiner Heimatstadt Köln hat die durchschnittliche wurf vor. (B) Belastung am Hotspot Clevischer Ring in der Zeit von (D) 2013 bis 2015 zwar zugenommen – das war nämlich Man kann das verstehen: Gesetzentwürfe dauern ihre genau die Zeit, in der der Umgehungsverkehr nach der Zeit. Sie haben in den letzten Monaten ja auch viel zu tun Sperrung der Leverkusener Brücke für den Lastwagen- gehabt – das aber nicht im Bereich der Bildung und nicht verkehr durch die Stadt fuhr –, sie ist aber in der Zeit im Bereich der Digitalisierung. Mir fehlt auch das Ein- von 2013 bis heute von 61 auf 59 Mikrogramm pro Ku- wanderungsgesetz, das Sie angekündigt haben, und auch bikmeter zurückgegangen. In der Turiner Straße ist sie den Soli haben Sie nicht abgeschafft, wie versprochen. von 48 auf 42, in Köln-Chorweiler von 27 auf 24 und (Christian Dürr [FDP]: Was machen die die in Köln-Rodenkirchen von 31 auf 29 Mikrogramm pro ganze Zeit?) Kubikmeter gesunken. Aber gut, Sie haben sich gestritten. Da kann man natür- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich keine Regierungsarbeit machen. Nun ja, heute liegt NEN]: Und in Ehrenfeld? Und in Nippes?) der Gesetzentwurf zum Bundes-Immissionsschutzgesetz In der Corneliusstraße in Düsseldorf – ein weiterer auf jeden Fall vor, und das ist ja schon einmal gar nicht Hotspot in Nordrhein-Westfalen; ich muss kurz nach- so schlecht. schauen, wo das hier steht – ist der Rückgang noch deut- Das Problem ist aber tatsächlich, dass die Grenzwerte licher. nach wie vor nicht nachvollziehbar sind. Im Jahr 2008 Wenn Sie damit argumentieren, dass die Werte auch wurde auf europäischer Ebene ein Grenzwert festgelegt – steigen, wenn diese Fahrzeuge einmal nicht fahren, übrigens von der Mehrheit dieses Hauses auch getragen –, dann verstehen Sie nicht, wie der Durchschnittswert von der bei näherer Betrachtung heute eigentlich nicht mehr 40 Mikrogramm pro Kubikmeter zustande kommt. Wir genau nachvollziehbar ist. Was mir in Ihrem Gesetzent- haben Tagesschwankungen, wir haben jahreszeitliche wurf fehlt, ist der Grund, warum Sie den Grenzwert jetzt Schwankungen. um 10 Mikrogramm erhöhen. Warum sind es eigentlich 10 und nicht 20, 30 oder 40 Mikrogramm mehr? Es steht (Zuruf von der AfD: Gar nicht fahren!) dort kein einziges Wort dazu, warum jetzt von der Politik ein neuer Grenzwert für die Luftschadstoffe festgesetzt Auch wenn wir 40 Mikrogramm pro Kubikmeter im Jah- worden ist. Die über 100 000 von Fahrverboten Betrof- resmittel unterschreiten, gibt es Tage und Stunden, an fenen haben ein Recht darauf, zu wissen, warum Sie den denen wir Spitzenwerte von 200 Mikrogramm pro Ku- Grenzwert um 10 und nicht um 30 Mikrogramm erhöhen. bikmeter erreichen. Das liegt am Klima, am Wetter und daran, dass wir eben auch eine Hintergrundbelastung ha- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8691

Judith Skudelny (A) Ein weiteres Manko dieses Gesetzentwurfs ist, dass werden. Dann ist es zwar immer noch kein toller Gesetz- (C) Private und Kommunen eben nicht gleichbehandelt wer- entwurf. Das ist aber immerhin besser als nichts. den. In schwierigen Zeiten, dann, wenn Geld auf dem (Beifall bei der FDP) Spiel steht, haben die privaten Anbieter und die Men- schen in Deutschland das Recht, auf Augenhöhe mit dem Staat zu agieren. „Auf Augenhöhe“ heißt, unter den glei- Vizepräsidentin Claudia Roth: chen Rahmenbedingungen. Schaut man in Ihren Gesetz- Vielen Dank, Frau Skudelny. – Nächste Rednerin: entwurf, dann sieht man, was kommen wird, beispiels- Ingrid Remmers für die Fraktion Die Linke. weise, dass im Bereich der Abfallentsorgung 80 Prozent (Beifall bei der LINKEN) der Nachrüstkosten übernommen werden, was aber an- scheinend nicht für die privaten Anbieter gilt. Ingrid Remmers (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe

Vizepräsidentin Claudia Roth: Bürgerinnen und Bürger! Es sind noch einige da. Die Erlauben Sie eine Zwischenfrage? – Gut. Herr Möring. Bundesregierung ist nicht vollzählig anwesend. Unter anderem fehlt Herr Minister Scheuer; ich muss trotzdem Karsten Möring (CDU/CSU): dort ansetzen. An Verkehrsminister Scheuer kann man sehen, wie Sie es schaffen, sich im Zeitraffer in selbst Vielen Dank, dass Sie die Zwischenfrage zulassen, geschaffenen Problemen festzufahren. Der Verkehrsmi- Frau Skudelny. – Würden Sie mit mir übereinstimmen, nister hat schon jetzt genug Material für eine ganze Co- dass auch sämtliche Privaten, die von der Belastung medy-Serie geliefert. Die „heute-show“ profitiert ja ganz betroffen sind, davon profitieren, wenn es durch die erheblich von diesen unfreiwillig komischen Vorlagen. öffentliche Förderung von Kommunalfahrzeugen und Ähnlichem mehr gelingt, die Werte, die wir anstreben, (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Leider zu unterschreiten? wahr!) Beste Grüße von hier aus an Herrn Welke und die Re- Judith Skudelny (FDP): daktion! Herr Möring, das würde nur stimmen, wenn tatsäch- (Beifall bei der LINKEN) lich beide gleichbehandelt würden. Wenn aber die Städte und Kommunen, die für die Luftreinhaltepläne zuständig Leider findet der spezielle Humor des Verkehrsminis- sind, quasi gleichgeschaltet sagen: „Die privaten und die ters vor einem sehr ernsten Hintergrund statt. Auch wenn kommunalen Fahrzeuge dürfen nur dann und dann ein- er mit dem Argument der Verhältnismäßigkeit ständig (B) (D) fahren“, dann kommt genau das, was Sie mit Ihrer Frage davon ablenken will: Es geht um die Gesundheit der ansprechen, eben nicht vor. Bevölkerung, und die ist nicht verhältnismäßig. Stick- oxide führen zu einer Vielzahl vorzeitiger Todesfälle und Wir wollen uns nicht auf die Kommunen verlassen, schwerer Erkrankungen. Mit Stickoxiden ist nicht zu sondern wir wollen dass die Bundesgesetzgebung schon spaßen, und genau deshalb kassiert er vor Gericht eine eine Gleichbehandlung vorsieht. Das wäre aus unserer Niederlage nach der anderen. Es ist gut, dass die Justiz Sicht ein verlässlicher Weg für die Privaten, um weiter- nicht bereit ist, das bisherige Versagen der Bundesregie- hin auf Augenhöhe mit den kommunalen Anbietern kon- rung einfach hinzunehmen. kurrieren zu können. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Nicht hinzunehmen ist auch der Angriff der Bundesre- Genau das wollen wir im Gesetzgebungsprozess jetzt gierung auf die Zivilgesellschaft. Sie kehrt nämlich Ursa- auch weiterverfolgen. Herr Möring, als Serviceoppositi- che und Wirkung um. Verursacher der Dieselkrise ist die on sage ich Ihnen: Wenn Sie diese Änderung hinkriegen, Autoindustrie, nicht die Deutsche Umwelthilfe. stehen wir da natürlich an Ihrer Seite. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Das Letzte – und das finde ich das Entsetzlichste an neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Sache – ist, dass das Kraftfahrt-Bundesamt im No- Ich will das noch einmal ganz klar sagen: Die Linke vember 2018 eine Kaufempfehlung für Fahrzeuge einer dankt der Deutschen Umwelthilfe ausdrücklich für ihre bestimmten Euro-Klasse mit rausgegeben hat. Die Men- Arbeit; denn sie deckt damit das Versagen der Bundesre- schen sollen umrüsten und sich modernere Fahrzeuge gierung auf und zwingt diese zum Handeln. Dies tut sie kaufen, am besten – aktuell – einen Euro 6. In diesem nicht etwa, weil sie Autofahrer bestrafen will, sondern Gesetzentwurf steht aber, dass Sie nicht einmal für den weil die Regierung ihrer Verantwortung partout nicht ge- Euro‑6-Diesel eine Mobilitätsgarantie geben können. Sie recht werden will. können doch nicht im November Fahrzeuge anpreisen, wenn Sie in Ihren Gesetzentwurf reinschreiben, dass die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- künftig vielleicht auch nicht mehr fahren dürfen. NIS 90/DIE GRÜNEN – Judith Skudelny [FDP]: Nein, sie sieht sich als Beifahrer!) (Beifall des Abg. Christian Dürr [FDP]) Stattdessen versucht man weiter, mit billigen Tricks Das verstehen die Menschen draußen nicht, und deswe- über die Runden zu kommen, so auch heute mit dem gen muss das im Gesetzgebungsverfahren noch geändert uns vorliegenden Gesetzentwurf. Sie versuchen, den 8692 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Ingrid Remmers (A) Grenzwert für Stickoxide von 40 auf 50 Mikrogramm krank machen oder ob Grenzwerte, egal wie hoch sie (C) hochzusetzen. Bei der Gelegenheit sollen auch gleich sind, nötig sind. Euro-6-Fahrzeuge pauschal von Fahrverboten ausge- nommen werden. Dabei überschreiten auch diese den (Karsten Hilse [AfD]: Doch! Darüber müssen Grenzwert im Durchschnitt um das Sechsfache. Wieso wir reden!) nimmt man also Euro-6-Diesel pauschal von Fahrverbo- Das ist alles vielfach bewiesen, selbst wenn der Letzte ten aus? das noch nicht kapiert hat. Für mich ist jedenfalls klar: (Bernhard Loos [CDU/CSU]: Wer erzählt Jeder Mensch hat ein Recht auf saubere Luft, denn so was?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das kann ich Ihnen sagen: weil sonst gar keine Fahrzeu- und zwar vor allem empfindliche Menschen, Kinder und ge mehr übrig blieben für Ihre grandiose Tauschprämie. Kranke. Das zu regeln, ist die Aufgabe des Bundes-Im- Wenn wir beispielsweise die Blaue Plakette bekämen, missionsschutzgesetzes, und es regelt völlig klar, was zu dann müssten Sie einen Grenzwert für die Vergabe fest- tun ist. legen. Das wäre der Moment der Wahrheit. Dann käme nämlich für alle sichtbar ans Licht, dass auch die meisten (Zuruf von der FDP: Jetzt hören Sie doch mal neuen Fahrzeuge diesen Wert nicht einhalten. So reiten auf, den Leuten Angst zu machen!) Sie sich und die Autoindustrie mit jeder Pseudomaßnah- me immer weiter in die Krise. Stattdessen will die Bundesregierung heute über eine angebliche Klarstellung in diesem Gesetz verhandeln. Die Justiz hat übrigens postwendend auf Ihren Ge- Danach sollen Fahrverbote in der Regel unverhältnis- setzentwurf reagiert. Das Berliner Verwaltungsgericht mäßig sein in Städten, in denen der Grenzwert um satte hat in seinem aktuellen Urteil zu Fahrverboten schon 25 Prozent überschritten wird. Ich frage mich: Was ist vorweggenommen, dass dieser Gesetzentwurf rechtlich daran unverhältnismäßig? Es ist völlig berechtigt. nicht haltbar sei und Sie sich bei Ihrer geplanten Erhö- hung des Grenzwertes nicht auf die Rechtsprechung des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundesverwaltungsgerichtes stützen können. Sie wollen hier also einen Gesetzentwurf verabschieden lassen, der Herr Möring, bei allem Respekt, aber Ihre Begrün- vor Gericht bereits gescheitert ist. dung eben – – Herr Möring, ich würde Sie gerne noch einmal ansprechen. Dagegen wehren sich auch die Bundesländer, Indus- trie- und Handelskammern und viele andere. Sie plädie- (B) ren ebenfalls für eine Hardwarenachrüstung auf Kosten Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) der Autoindustrie, wie es auch in unserem Antrag steht. Herr Möring, Sie werden gerade angesprochen. Es ist kein Wunder, dass die Menschen das Vertrauen in die politischen Institutionen verlieren. (Karsten Möring [CDU/CSU]: Pardon!)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Kommen Sie bitte zum Schluss. Ihre Begründung eben ist aus meiner Sicht ein echt starkes Stück. Sie sagen nämlich, dass Ihnen die Abwä- Ingrid Remmers (DIE LINKE): gung der Gerichte nicht gefallen habe und Sie deshalb Ja. – Letzter Satz: Hören Sie auf mit diesen Taschen- eingreifen. Das können Sie gerne noch einmal nachlesen. spielertricks. Dann müssten wir hier auch nicht disku- Also, das wäre echt ziemlich heftig, würde ich sagen. tieren, ob ein Gesetz ein Gesetz ist oder vielleicht doch nicht unbedingt eingehalten werden muss. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihre angebliche Klarstellung sorgt nur für Verwirrung. Dieser Gesetzentwurf wird die Fahrverbote auf keinen Fall verhindern. Das Bundesverwaltungsgericht hat, wie Vizepräsidentin Claudia Roth: Sie gesagt haben, glasklar geurteilt: Wenn einzig Fahr- Vielen Dank, Kollegin Remmers. – Nächste Rednerin: verbote helfen, um die Luft schnellstmöglich sauber zu Dr. Bettina Hoffmann für Bündnis 90/Die Grünen. bekommen, dann müssen diese Fahrverbote auch umge- setzt werden, und zwar weil das EU-Recht das zwingend (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorschreibt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Bernhard Loos [CDU/CSU]: Das ist gar nicht wahr! – Judith Skudelny [FDP]: Da gab es das Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir soll- Gesetz noch nicht!) ten hier eigentlich besser darüber reden, wie wir saubere Luft in unsere Städte bekommen können. Wir müssen Auch die zweite Regelung, die gerade angesprochen nicht darüber sprechen, ob Stickoxide und Feinstaub wurde und die Frau Skudelny meiner Ansicht nach falsch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8693

Dr. Bettina Hoffmann (A) dargestellt hat, ist merkwürdig: Alle Euro-6-Pkw sollen Betrachtet man das Ganze sachlich, stellt man fest, (C) pauschal in den Fahrverbotszonen fahren dürfen. dass man eigentlich nur an Symptomen herumdoktert, deren Ursache man einst selbst schuf: Wir haben keine (Judith Skudelny [FDP]: Warum liest nie- sachliche Debatte über die Sinnhaftigkeit von Fahrverbo- mand weiter?) ten geführt. Wir haben keine sachliche Debatte über die Das wäre sozusagen ein Freifahrtschein, obwohl unter Festlegung der Grenzwerte geführt. Wir haben genauso anderem der ADAC gezeigt hat, dass viele ältere Eu- keine sachliche Debatte über die tatsächlichen gesund- ro-6-Diesel dafür zu dreckig sind. heitlichen Auswirkungen der Stoffkonzentrationen ge- führt, und wir haben auch keine sachliche Debatte über (Christian Sauter [FDP]: Wollen Sie die jetzt die Standorte der Messstationen geführt. Das könnte ich auch noch enteignen, oder was? – Bernhard noch eine ganze Weile so fortführen. Loos [CDU/CSU]: Was sollen denn die Leute fahren?) Was wir dagegen haben, sind jede Menge Emotionen und auch viel Geschrei und diesen Gesetzentwurf, der Auch diese Ausnahme wird schlicht unwirksam sein, ganz am Ende dann doch das Einzelfallschlupfloch für wenn ein Gericht ein Fahrverbot dieser Autos als nötig Verbote offenlässt und zudem weiter auf Softwareup- ansieht, um das Recht auf saubere Luft durchzusetzen. dates setzt. Eigentlich haben wir auch – oder besser: das Dieser Gesetzentwurf ist eine Nebelkerze. Die Bun- Umweltbundesamt und infolgedessen das Bundesum- desregierung wiegt damit Tausende Bürgerinnen und weltministerium – ein Gutachten von Herrn Wachtmeis- Bürger in der falschen Sicherheit, dass für ihre Eu- ter, der ganz explizit von diesen Softwareupdates abrät. ro-6-Diesel nie Fahrverbote gelten werden oder dass ihre Aber weil man das bisher nicht veröffentlichte, muss Stadt nie mit einem Fahrverbot belegt wird. Platzt dieser man weiterhin kein Wort darüber verlieren. Wie das Gut- ungedeckte Scheck, wird dies zu Politikverdruss führen, achten in der Zwischenzeit in die Hände der Deutschen Umwelthilfe gelangte, juckt keinen. Aufklären will das (Bernhard Loos [CDU/CSU]: Ja, wegen der seitens der Regierung auch keiner; das habe ich sogar vielen Verbote der Grünen! Genau deshalb! schriftlich bekommen. Wegen der Verbote!) Dann haben wir noch das ZDF, das unlängst in „Fron- und das ist wahrscheinlich der schlimmste Aspekt an die- tal 21“ einen perfide manipulativen Bericht ausstrahlte, sem Entwurf. der den Bürgern suggerieren sollte, dass das Nachrüsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) so furchtbar einfach und total billig sei und dass diese bö- sen Automobilisten ja ganz vorsätzlich schmutzige Autos (B) Umweltministerin und Verkehrsminister simulieren verkaufen würden. (D) hier sozusagen Handlungsfähigkeit, obwohl sie gar nicht handlungsfähig sind. Dabei liegt die Lösung doch auf der (Ulli Nissen [SPD]: Was reden Sie denn da Hand: für einen Unfug!) (Bernhard Loos [CDU/CSU]: Wo ist die Lö- Dass in diesem Beitrag die DUH mit im Wagen saß, ist sung?) geschenkt. Solange wir über solche Beiträge sprechen und solange wir so reale Beispiele wie in Hamburg, in Führen Sie die Blaue Plakette ein! Sorgen Sie dafür, dass Oldenburg oder jetzt auch jüngst in Berlin mit den Aus- die Dieselfahrer entschädigt werden und dass die Auto- wirkungen der Tempo-30-Zone dafür haben, dass das al- industrie diese Kosten übernimmt! Wenn Sie das endlich les keinen Effekt zeige, führen wir eine Scheindebatte. umsetzen würden, müssten wir hier nicht einmal im An- Das kostet einen Haufen Steuergeld und Zeit. Schluss mit satz über diesen Gesetzentwurf reden. diesem Murks! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der LINKEN – Bernhard Loos [CDU/ NEN]: Und was schlägt der Mieruch vor?) CSU]: Keine Lösung!) Vizepräsidentin Claudia Roth:

Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank. – Die letzte Rednerin in dieser Debatte Vielen Dank, Bettina Hoffmann. – Nächster Redner: ist Ulli Nissen für die SPD-Fraktion. Mario Mieruch. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. [CDU/CSU]) Mario Mieruch (fraktionslos): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Änderung des Bundes-Immissions- Ulli Nissen (SPD): schutzgesetzes soll nach dem Willen der Bundesregie- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rung Fahrverbote verhindern. Es finden demnach weitere Kollegen! In meinem Wahlkreis beschäftigt kaum ein Regularien Eingang in Vorschriften und Gesetze, von de- Thema die Menschen so wie die drohenden Fahrverbote nen wir traditionell ja eh schon kaum welche haben. So für Dieselfahrzeuge. Sie werden diese Sorgen sicherlich klopfen sich die einen auf die Schulter, während den an- auch kennen. Klar, erhöhte Stickoxidemissionen sind deren erneut apokalyptischer Untergangsschweiß übers negativ für die Gesundheit der Menschen. Deshalb müs- Gesicht läuft. sen diese reduziert werden. Technische Nachrüstungen 8694 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Ulli Nissen (A) führen zu einer deutlichen Absenkung, innerorts bis zu von der SPD wollen, dass alle Autohersteller die Kosten (C) 70 Prozent, außerorts sogar bis zu 90 Prozent. dafür vollständig übernehmen. Gut 38 000 Kfz-Meister- betriebe stehen bereit; sie sagen: Wir können nachrüs- Das Thema Nachrüstung wurde im CSU-Verkehrsmi- ten. – Lassen wir diese Kfz-Meisterbetriebe an die Arbeit nisterium lange stiefmütterlich behandelt. Der Druck auf gehen. die Autohersteller war nicht besonders ausgeprägt. Für mich war es eher ein Werfen von Wattebällchen. Auch Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. deshalb haben wir viel Zeit verloren. Im Herbst hat die Bundesregierung Nachrüstungsfördermaßnahmen für (Beifall bei der SPD) Kommunalfahrzeuge wie Busse und Müllfahrzeuge be- schlossen. Deren Nachrüstung alleine reicht aber nicht Vizepräsidentin Claudia Roth: aus. Natürlich müssen Nachrüstungen auch bei allen an- Vielen Dank, Ulli Nissen. – Ich schließe die Ausspra- deren Fahrzeugen erfolgen. che. (Beifall bei der SPD) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen Ziel ist, die Luftreinhaltewerte durch diese Maßnahme auf den Drucksachen 19/6335, 19/6927, 19/1359 und einzuhalten und die Luftqualität zu verbessern – ein 19/6195 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- wichtiger Beitrag für den vorsorgenden Gesundheits- schüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstanden. Dann schutz. sind die Überweisungen so beschlossen. Wie geht es den Menschen, die von drohenden Fahr- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: verboten betroffen sind und nachrüsten wollen? Viele sind Beratung des Antrags der Abgeordneten Enrico zu Recht empört, dass bisher wohl nur VW und Daimler Komning, Tino Chrupalla, Armin-Paulus bereit sind, die Nachrüstung mit etwa 3 000 Euro zu un- Hampel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion terstützen. Sie haben ihre Dieselfahrzeuge gekauft, weil der AfD ihnen – auch im Prospekt – die Umweltfreundlichkeit versprochen wurde. Rechtssicherheit für Unternehmen – Aufträ- ge durch verhängte Ausfuhrstopps durch die BMW verärgert die Menschen ganz besonders. Dank Bundesrepublik übernehmen an Herrn Marinoff aus meinem Frankfurter Wahlkreis für seinen Hinweis auf eine Sendung des Fernsehmagazins Drucksache 19/7039 „Frontal 21“. Dort wurde nachgewiesen, dass BMW in Überweisungsvorschlag: den USA – und eben nicht in Deutschland – die saubere Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) (B) Hardware schon seit 2008 serienmäßig einbaut. Auswärtiger Ausschuss (D) (Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Genauso ist Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für es!) die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Diese Teile stehen auch im offiziellen BMW-Ersatzteil- katalog, bestellbar frei Haus, aber nur in den USA. Dies Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Enrico ist aus meiner Sicht ein schäbiges Handeln und macht Komning für die AfD-Fraktion. deutlich: BMW will neue Fahrzeuge verkaufen und lässt (Beifall bei der AfD) damit seine Bestandskunden im Stich. Das geht gar nicht.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN) Enrico Komning (AfD): Zum Glück gibt es deutsche Nachrüstfirmen, die für fast Frau Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! jedes Fahrzeug eine gute Lösung haben. Die Bremer Lürssen-Gruppe hat mit Saudi Arabien 2013 Verträge über die Lieferung von Küstenwachbooten für Das Kraftfahrt-Bundesamt hat jetzt endlich die Nach- 1 Milliarde Euro geschlossen. Diese Verträge wurden rüstrichtlinie vorgelegt. Nun können die Nachrüster han- von der Bundesregierung genehmigt. Seit dem Jahr 2015 deln. Das Interesse des KBA an Nachrüstung scheint werden diese Boote auf der Peene-Werft in Wolgast in nicht besonders groß zu sein; vielleicht kommt auch des- Vorpommern gebaut. Knapp die Hälfte der Boote wur- halb erst so spät die Richtlinie. Im November bekamen de inzwischen ausgeliefert. Weiteren acht Booten wurde die betroffenen Fahrzeugbesitzer vom KBA ein Schrei- im März letzten Jahres die Ausfuhrgenehmigung erteilt. ben, in dem nur auf Umtauschaktionen hingewiesen wur- Diese Ausfuhrgenehmigung hat die Bundesregierung im de, pikanterweise mit den Hotlines von BMW, Daimler November wegen des Khashoggi-Mords ausgesetzt, und und VW. Aus meiner Sicht war dies ein Verkaufsförder- sie hat diese Aussetzung ganz aktuell, im Januar, verlän- programm dieser drei Hersteller. Höflich ausgedrückt, ist gert. Die Folge ist Kurzarbeit für die meisten Werftmitar- das sehr schräg, liebe Kolleginnen und Kollegen. beiter und eine mehr als unsichere Zukunft für die Werft (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der und die Region. LINKEN) Dafür trägt die Bundesregierung die politische Verant- Wir wollen mit der Änderung des BImSchG erreichen, wortung; denn nicht erst seit dem Mord ist Saudi-Arabi- dass nachgerüstete, nachweislich saubere Fahrzeuge von en ein unsicherer Kantonist. Der Mord ist nur ein Vor- möglichen Fahrverboten ausgenommen werden. Nur wand. Schon im Koalitionsvertrag haben Sie sich über dann werden die Menschen ihre Pkws nachrüsten. Wir den Exportstopp verständigt, offensichtlich ohne Rück- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8695

Enrico Komning (A) sicht auf die Folgen; denn die Betroffenen stehen nun im aufatmen, ihre Angst hinter sich lassen und wieder zur (C) Regen. Das ist, meine Damen und Herren, keine verant- Tagesordnung übergehen. wortungsvolle Politik. Die Lösung für die Boote liegt doch auf der Hand. Wir (Beifall bei der AfD) haben es vorhin gehört: Wir erleben im Mittelmeer eine Handeln Sie verantwortungsvoll! Die Menschen in Vor- fortgesetzte humanitäre Katastrophe, ausgelöst von Ihrer pommern haben einen Anspruch darauf. Sie haben mit menschenfeindlichen sogenannten Willkommenspolitik. den fortgesetzten Genehmigungen einen echten Vertrau- Sie haben Anreize für Menschen gesetzt, ihr Leben auf enstatbestand gesetzt. Die Werftarbeiter konnten darauf dem Mittelmeer aufs Spiel zu setzen. Die Schlepperin- vertrauen, dass ihre Arbeit auch zu Ende geführt wird. dustrie boomt. Diese Boote im Dienste der Küstenwa- Verträge sind einzuhalten, und bei Vertragsstörungen chen der afrikanischen Mittelmeeranrainerstaaten haftet der Störer. Dass das so ist, hat Ihnen unlängst das (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Von Liby- Bundesverfassungsgericht bei den Laufzeitverkürzungen en, nicht?) der Kernkraftwerke ins Stammbuch geschrieben. Eine Kompensationspflicht besteht hier erst recht; denn für können dazu beitragen, mit Menschen überfüllte, kaum den Ausfuhrstopp kann das Unternehmen nichts. Nein, seetaugliche Kähne an der Überfahrt zu hindern. Sie tragen die Verantwortung, umso mehr, als es mal wie- der die strukturschwachen ländlichen Räume sind, die in (Beifall bei der AfD – Alexander Ulrich [DIE die Röhre gucken; denn Siemens, Rheinmetall und wie LINKE]: Schämen Sie sich!) sie alle heißen sind von dem Ausfuhrstopp gar nicht be- troffen. Die Mittelmeerroute könnte geschlossen werden, Tau- sende von Menschenleben könnten gerettet werden. Die Sie reden doch immer von europäischer Einheit! Wo in Wolgast gebauten Schiffe sind dafür geeignet und sind denn die Absprachen mit Frankreich, mit Großbri- ausgerüstet. Stimmen Sie unserem Antrag zu. Auf die- tannien oder mit Italien? Nein, wenn es um das Auspa- se Weise könnten wir tatsächlich zwei Fliegen mit einer cken der Moralkeule geht, werden Sie auf einmal ganz Klappe schlagen. unilateral deutsch, zulasten unserer heimatlichen deut- schen Wirtschaft. Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Alexander Ulrich [DIE Insgesamt stehen etwa 1 800 Arbeitsplätze auf dem LINKE]: Flüchtlingsabwehr mit Waffenge- Spiel, bei der Werft und ihren Zulieferern. Die Peene-­ walt!) (B) (D) Werft hat überragende Bedeutung für die Wirtschaft in der Region, für die dortige Gesellschaft und auch für die Vizepräsidentin Claudia Roth: dortigen Steuereinnahmen. Ein Viertel der Einnahmen der Stadt Wolgast hängen daran. Da können Sie sich Ihre Vielen Dank. – Nächster Redner in der Debatte: Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ dann Philipp Amthor für die Fraktion der CDU/CSU. auch getrost sparen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) Gleich werden sie kommen, die Sprechblasen: Philipp Amthor (CDU/CSU): ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Die sind doch schon da!) Ja, die aktuelle Lage der Peene-Werft führt zu massiven Verunsicherungen und zu Sorgen, zu Sorgen bei Mit- Die Bundesregierung tut etwas. Sie kümmert sich. Sie arbeitern, die vor Weihnachten in Kurzarbeit gegangen prüft die Übernahme der Boote usw. – Sie, meine Damen sind, zu Sorgen bei deren Familien, zu Sorgen bei der und Herren von der Bundesregierung, prüfen die Werft Stadt Wolgast in meinem Wahlkreis, die ohnehin von und die Region zu Tode. Struktureinschnitten gebeutelt ist, und zu Sorgen in mei- ner vorpommerschen Heimat um die Zukunft dieses tra- (Beifall bei der AfD) ditionsreichen Unternehmens. Deswegen ist es mir als Seit November – seit November! – besteht der Ausfuhr- direkt gewähltem Abgeordneten ein wichtiges Anliegen, stopp, und nichts ist passiert. Handeln Sie, und zwar so- hier heute klar Stellung zu diesem Thema zu beziehen. fort, und bitte anders als bei unserer Automobilindustrie, die Sie ja gerade gegen die Wand fahren. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will eigentlich nicht schon wieder Zeit aufwenden, um die Fehler in ei- (Beifall bei der AfD) nem AfD-Antrag zu sezieren. Mit Ausgleichszahlungen ist es nicht getan. Das hilft (Zuruf von der AfD: Dann lassen Sie es!) der Werft nicht. Die fachlich gut ausgebildeten Werftar- beiter werden abwandern, und dann kann Wolgast im Aber ich werde es Ihnen nicht ersparen, weil ich nicht wahrsten Sinne des Wortes die Schotten dichtmachen. bereit bin, zu akzeptieren, dass Sie hier falsche Behaup- Nein, übernehmen Sie die Küstenwachboote, und zwar tungen verbreiten und dass Sie den Leuten in Vorpom- alle. Dann können die Menschen in der Region wieder mern eine Hoffnung geben, die keine Hoffnung ist. Mit 8696 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Philipp Amthor (A) falschen Fakten werden Sie sich nicht zum Anwalt mei- und das Geld der deutschen Steuerzahler im Mittelmeer (C) ner Heimatregion machen lassen. versenken. Wir wollen das nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ordneten der SPD – Lachen des Abg. Stefan ten der SPD) Keuter [AfD]) Es geht weiter mit der Wirtschaftspolitik. Friedrich Wir lehnen Ihren Antrag aus insgesamt vier Gründen Lürssen, der Eigentümer der Peene-Werft, ist ein Fami- ab: Erstens erleben wir hier ein inszeniertes Schauspiel. lienunternehmer mit Format und Haltung. Der braucht Zweitens ist Ihr Antrag juristisch schief. Drittens ist er nicht den Staat als treuhänderischen Verwalter. Das, was außenpolitisch unprägnant. Viertens ist er wirtschaftspo- er braucht, sind solide politische Bedingungen. Dafür litisch fragwürdig. werden wir arbeiten. Er braucht eines sicherlich nicht: Sie als vorgeblichen Anwalt der Interessen der Peene-­ (Marc Bernhard [AfD]: Aber er hilft den Werft; dem werden Sie nicht gerecht. Menschen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Meine Damen und Herren, zur Inszenierung: Lieber Die Show, die Sie hier veranstaltet haben, löst keine Herr Kollege Komning, ich habe in meiner Heimatzei- Probleme. Deswegen will ich lieber den Blick darauf tung gelesen, dass Sie die Peene-Werft hier im Deutschen werfen, wie man jetzt mit der Peene-Werft umgehen soll- Bundestag retten. Dann, habe ich gedacht, schau ich mir te. den Antrag mal an. Ich kann Ihnen sagen: Bis zur Zeitung hat er es geschafft, ins Sekretariat des Deutschen Bun- (Stefan Keuter [AfD]: Ja, wir hoffen es!) destages noch nicht. Das zeigt sehr deutlich, wo Sie den Meine Damen und Herren, es ist ganz klar: Der größ- Schwerpunkt setzen. Sie wollen eine Inszenierung auf te Widerstand gegen den Export der Küstenschutzboote dem Rücken der Mitarbeiter der Peene-Werft, wir wollen kommt nicht aus meiner Fraktion, Sacharbeit. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Leider!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie sondern aus einer anderen Regierungsfraktion, und zwar der Abg. Claudia Müller [BÜNDNIS 90/DIE zum Teil mehr aus Ideologie denn aufgrund von Fakten. GRÜNEN]) Deswegen ist es mir wichtig, in der Diskussion heute drei Punkte klarzustellen: Ich sage Ihnen auch: Die juristischen Argumente, die (B) Sie hier anbringen, sind wirklich unterirdisch. Ich habe (Karsten Hilse [AfD]: Was ist jetzt Ihre Lö- (D) keine Lust, Ihnen hier noch einmal eine juristische Nach- sung!) hilfelektion zu erteilen. Sie wollen das gar nicht lernen, Erstens. Die Patrouillenboote sind keine Panzer; es und den Menschen in Vorpommern bringt es nichts. sind Polizeiboote. Sie sind weniger bewaffnet als die (Lachen des Abg. Marc Bernhard [AfD]) Schiffe unserer Bundespolizei und werden nicht für Seeblockaden genutzt. Herr Nouripour, auch wenn Sie Aber das, was Sie hier zum Vertrauensschutz erzählen, anderes behaupten, dazu sind sie auch gar nicht geeignet. ist Unsinn. Sie blenden das Vergaberecht in Deutschland Zweitens. Anlass für die Exporteinschränkung war und alle Regeln, die es für öffentliche Haushalte gibt, nicht der Fall Khashoggi. Anlass für die Exportein- völlig aus. Das ist ärgerlich. Was ich Ihnen hier vortra- schränkung war zuallererst der Jemen-Konflikt. Ich freue ge, ist keine Rechtsmeinung; das ist die Rechtslage. Sie mich in diesem Zusammenhang, dass es jetzt erste zarte sollten das zur Kenntnis nehmen, statt auf der Grundlage Schritte auf dem Weg zu einem Friedensprozess für den von falschen rechtlichen Fakten mit den Menschen zu Jemen gibt. diskutieren. (Karsten Hilse [AfD]: Was hat das mit den (Stefan Keuter [AfD]: Herr Amthor, sagen Schiffen zu tun?) Sie es!) Drittens ein ganz wichtiger Punkt. Die Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag zu einer europäisch har- Außenpolitisch ist es genauso schief und oberfläch- monisierten Rüstungsexportpolitik bekannt. lich. Sie schlagen vor, die Schiffe an die Küstenwache in Nordafrika zu geben. Das klingt ja durchaus schlau. (Karsten Hilse [AfD]: Kommen Sie, sagen Sie es endlich!) ( [AfD]: Ist es auch!) Das ist ein richtiges Ziel. Aber wenn wir europäisch Aber vielleicht hätten Sie bei erster Recherche zur harmonisieren wollen, dann geht das nicht durch einen deutschen Sonderweg, dann brauchen wir Bewegungs- Kenntnis nehmen können, dass etwa Libyen von Italien freiheit. fünf Küstenschutzboote geschenkt bekommen hat, Pa­ trouillenboote, die jetzt ungenutzt in tunesischen Häfen Auf der Grundlage dieser drei Fakten ist es durchaus liegen, weil es in Libyen gar kein Personal gibt, das diese richtig, darüber nachzudenken, ob und inwieweit dieser Hochtechnik bedienen kann. Ihr Vorschlag geht fehl. Ich Auftrag durchgeführt werden kann. Aber ja, ein bloßes sage Ihnen eines: Sie wollen den Fleiß der Peene-Werft Hinterfragen des Exportmoratoriums wird nicht alle Pro- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8697

Philipp Amthor (A) bleme auf der Peene-Werft lösen. Dafür brauchen wir Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Greifbares, Greifbares für die maritime Wirtschaft in un- Vielen Dank, Philipp Amthor. – Nächster Redner: serem Land. ­Hagen Reinhold für die FDP-Fraktion. (Karsten Hilse [AfD]: Ja, genau!) (Beifall bei der FDP)

Und wie das geht, kann man von dieser Regierungskoa- Hagen Reinhold (FDP): lition lernen. Sehr geehrte Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen (Lachen bei der AfD) und Herren! Es ist schön, dass mir Philipp Amthor doch noch ein paar Aspekte des Antrages überlassen hat, um Ich schaue meinen Kollegen Eckhardt Rehberg als sie genauer zu betrachten und festzustellen, was daran Chefhaushälter meiner Fraktion an und denke auch an vielleicht nicht stimmt. Johannes Kahrs von der SPD. Herr Komning, ich war schon ein bisschen enttäuscht, als ich den Antrag gelesen habe. Sie schreiben von (Zuruf von der AfD: Oh!) 48 Booten, deren Auftrag vereinbart wurde. Das ist schon – Da können Sie stöhnen, aber das ist Sachpolitik. mal falsch. Soweit ich weiß und auch andere wissen, ist ein Auftrag über 33 Boote und 1 Trainingsboot erteilt; (Lachen bei der AfD) das ist Fakt. Es sind nicht 48 Boote. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Beide haben im Bundeshaushalt die Grundlage dafür ge- CDU/CSU – Philipp Amthor [CDU/CSU]: So legt, dass fünf Korvetten des Typs K130 beschafft wer- ist es!) den können. Ich freue mich darüber, dass ein Teil dieser Korvetten in Wolgast gebaut werden wird und dies die Was Sie meinen, ist eine Voranfrage aus dem Jahre 2008. Werft stabilisieren wird. Da sieht man schon, wie Sie Ihre Anträge schreiben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Sie sprechen in Ihrem Antrag von einem Ausfuhrver- ordneten der SPD) bot. Wir sollen als Bundestag sogar feststellen, wie wir damit jetzt umgehen. Ein Ausfuhrverbot gibt es über- Hinzu kommt, dass wir natürlich prüfen – Herr haupt nicht. Bis jetzt ist vereinbart worden – Sie müssen Komning, das Prüfen gehört nun einmal zu einem Rechts- mal schauen, wie sensibel die deutsche Wirtschaft, die staat; das sollten Sie zur Kenntnis nehmen –, wie wir die im Export tätig ist, mit dem Thema umgeht –, dass man überlegt, wie es mit den Aufträgen weitergeht. Aber die (B) Boote verwenden können. Anders, als Sie es behaupten, (D) legt die Bundesregierung die Hände kein Stück in den Ausfuhrgenehmigung ist noch nicht zurückgenommen Schoß. Auch in Zukunft wird es Beschaffungsbedarf bei worden. Eine Ausfuhr ist auch nicht verboten worden. unseren Sicherheitsbehörden geben: bei der Bundespoli- Verantwortungsvolle Wirtschaftsunternehmen – übrigens zei, beim Zoll und bei der Marine. nicht nur die Peene-Werft, nicht nur die Lürssen-Grup- pe; das betrifft auch andere – sind so sensibel, dass sie Ich kann Ihnen sagen: Ich rede nicht nur im Bun- sagen: Wir warten ab und schauen zusammen mit unse- destag über die Peene-Werft, sondern befinde mich in rer Belegschaft, wie wir mit dem Thema umgehen. – Ich ständigem Austausch mit ihr und habe sie oft besucht. finde, das ist eine hervorragende Art und Weise, wie die Deswegen weiß ich: Für diese Vergabeverfahren ist die Wirtschaft, die im Export tätig ist, in Deutschland mit Peene-Werft gut aufgestellt. Wir werden daran arbeiten, dem Thema umgeht. Das sollte von uns allen eigentlich dass die Peene-­Werft ihre Chancen nutzen kann. Mit Anerkennung abverlangen und kein Draufprügeln, wie Friedrich Lürssen, der als Firmenunternehmer zu seiner Sie es machen. Verantwortung in dieser schwierigen Phase steht, bin ich in gutem Austausch, und als Wahlkreisabgeordneter (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten bin ich froh, dass wir die zarte Hoffnung haben, dass die der CDU/CSU) Kurzarbeit auf der Werft alsbald enden wird. Herr Komning, Sie sind doch Anwalt. Wenn Sie so vor Gericht gehen und so vorbereitet Ihre Klienten bedienen, Ich sage Ihnen, was die Bürger in Vorpommern von dann wird mir angst und bange angesichts derer, die Sie meiner Fraktion erwarten können: vertreten. Um Gottes willen! So einen Antrag kann man hier im Bundestag beim besten Willen nicht vorlegen, (Karsten Hilse [AfD]: Nichts! Gar nichts!) zustimmen kann man ihm auf jeden Fall nicht. korrekte und verlässliche Arbeit. Verunsicherung und (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten einfache Lösungen, die keine Lösung darstellen, über- der CDU/CSU) lassen wir gerne anderen Fraktionen. Ich bin froh, dass meine Vorpommern wissen, was die richtige Alternative Wir haben – das ist gesagt worden – 100 Leute, die ist, nämlich eine Alternative mit Fakten. Die werden wir in Kurzarbeit sind; bald sind es 150, auf einer Werft wählen. Vorpommern braucht Sie nicht! mit 300 Leuten. Im Umfeld von Wolgast sind es sogar 1 500 Leute, die von der Werft leben. Man denkt, das Herzlichen Dank. betrifft nur den Wahlkreis von Herrn Amthor und mein Bundesland. Dabei wird ganz vergessen: Wir haben auch (Beifall bei der CDU/CSU) Komponenten aus Süddeutschland, aus Baden-Württem- 8698 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Hagen Reinhold (A) berg, aus Bayern, die in diesen Booten verbaut werden. die Peene-Werft. Ich bin mir relativ sicher, so sensibel (C) Deshalb betrifft es noch deutlich mehr Menschen. wie jetzt mit dem Thema umgegangen wird, mit so viel Verantwortungsbewusstsein, dass es weitergehen wird. (Beifall bei der FDP) Ich traue es der Lürssen-Gruppe zu, dass sie eine Lösung Was ich mir von Herrn Amthor gewünscht hätte, wäre findet, die die Arbeitsplätze dauerhaft sichert. Da ist sie eine klare Aussage dazu, wie diese Bundesregierung wei- in den Gesprächen mit den Arbeitnehmerinnen und Ar- ter mit dem Thema umgehen will. Es ist ja schön, dass beitnehmern gut aufgehoben, sie ziehen auch mit an ei- man überlegt. Mit Ihrer Erlaubnis, Frau Präsidentin, zi- nem Strang; denn jeder weiß: Habe ich eine verlässliche tiere ich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Politik, dann kommt auch eine verlässliche Wirtschaft Kleine Anfrage, konkret die Frage, wie man mit den Rüs- hinterher, und das nutzt uns allen. tungsexporten nach Saudi-Arabien und den bestehenden Schönen Dank, meine Damen und Herren. Exportgenehmigungen umgehen will. Die Bundesregie- rung schreibt: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sie beobachtet und bewertet fortlaufend die Lage. Dabei wird die Bundesregierung sich mit ihren in- ternationalen, vor allem ihren europäischen Partnern Vizepräsidentin Claudia Roth: eng abstimmen und in Abhängigkeit davon agieren. Vielen Dank, Herr Reinhold. – Nächster Redner: Die Bundesregierung strebt dabei eine gemeinsame Frank Junge für die SPD-Fraktion. europäische Linie an. (Beifall bei der SPD) Spanien hat gerade einen großen Auftrag, mehrere Korvetten an Saudi-Arabien zu liefern, unterschrieben. Frank Junge (SPD): Spanien ist, soweit ich weiß, ein europäischer Partner, da Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- werden mir alle zustimmen. Da reden wir über Kriegs- gen! Sehr geehrte Damen und Herren! Guten Morgen, schiffe, hier reden wir über Polizeiboote für das Innen- AfD-Fraktion! Ich finde es bemerkenswert, dass Sie in ministerium, um das auseinanderzuhalten. Wenn ich mir dieser für die Wolgaster Peene-Werker und ihre Famili- das anschaue, dann brauche ich eine klare Aussage der en so wichtigen Angelegenheit heute endlich aufgewacht Bundesregierung: Wie stehen wir mit unseren europäi- sind. Ihr Antrag vermittelt das zumindest. schen Partnern zu Rüstungsexporten? (Enrico Komning [AfD]: Wir tun wenigstens Ich glaube, das ist es, worauf es ankommt: Verläss- etwas!) lichkeit in der Bundesregierung und Verlässlichkeit für (B) die Wirtschaft in Deutschland. Wir brauchen eine Bun- – Moment! – Während ehrlich meinende Politiker seit (D) desregierung, die klar und deutlich sagt, wie es weiter- vielen Monaten schon an einer wirklichen Lösung für die geht; was wir nicht brauchen, ist Unsicherheit. Wir reden 300 Beschäftigten der Lürssen-Werft und die gesamte hier über eine Werft, nicht über eine Bäckerei, wo man Region arbeiten, präsentieren Sie uns heute diesen An- heute Brötchen und morgen Kuchen backen kann. Diese trag. Er ist nicht nur fehlerhaft – das kam ja schon zur Werft kann sich mit Projektierung nicht so ohne Weiteres Sprache –, er ist zudem durchzogen von einem grundsätz- neuen Aufträgen zuwenden. Deshalb brauchen wir eine lich falschen Verständnis von klar geregelter Aufgaben- verlässliche Politik, und die schulden Sie als Bundesre- verteilung und Zuständigkeiten zwischen Bundestag und gierung. Bundesregierung. Ich komme darauf noch zu sprechen. Vor allem aber – auch das will ich von Anfang an unter- (Beifall bei der FDP) streichen – dient dieser Antrag einem einzigen Zweck: Und natürlich schuldet die auch Ihr Koalitionspartner; Der Öffentlichkeit vorzugaukeln, Sie würden sich um die da haben Sie völlig recht. Wir haben in Mecklenburg-Vor- Frauen und Männer der Peene-Werft kümmern, die nach pommern eine neue Ministerpräsidentin. Sie stellt sich dem Ausfuhrstopp in der Tat ein Problem haben und sich hin und sagt, sie kümmert sich um die Wirtschaft. Frau um ihre Zukunft sorgen. Das tun Sie bei weitem nicht. Schwesig muss sich auch einmal entscheiden, ob sie die (Beifall bei der SPD) Wirtschaft in ihrem Bundesland fördern will oder ob sie sich als stellvertretende Bundesvorsitzende weiter hinter Sie nutzen deren Situation lediglich aus, um auf dem Rü- die Programmatik der SPD stellt und jeden Rüstungsex- cken der Beschäftigten billigen Populismus zu betreiben. port vermeiden will. (Enrico Komning [AfD]: Das ist doch Un- (Philipp Amthor [CDU/CSU]: So ist es!) sinn!) Da braucht man eine Entscheidung; da reicht kein Rum- Ich will gerne begründen, warum ich das so sehe: geeiere im Bundesland. Da brauche ich eine klare Aus- sage. Erstens. Mit der Zuspitzung der Lage für die Peene-­ Werker und nach den Vorfällen um den Journalisten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Khashoggi und der dann getroffenen Entscheidung des der CDU/CSU) Bundessicherheitsrates, die Frau Merkel am Ende mit fe- derführend getroffen hat, Verlässliche Wirtschaftspolitik ist das, was dieses Land braucht. Darauf kommt es an, und die schulden Sie (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Die gemeinsa- als Bundesregierung. Dann gibt es auch eine Zukunft für me Bundesregierung!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8699

Frank Junge (A) den Export weiterer fertiggestellter Schiffe zu stoppen, gen. Ich finde, das ist etwas, das an dieser Stelle durchaus (C) haben sich zuallererst Frau Ministerpräsident Manuela Erwähnung verdient. Schwesig und ihr Parlamentarischer Staatssekretär Patrick Dahlemann sofort eingeschaltet (Beifall bei der SPD) (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Ach!) Während also verantwortungsbewusste Politiker schon lange Weichen stellen, Herr Komning, und han- und vor Ort vermittelt, dass sie nicht nur für Gespräche deln, war von Ihnen und von der AfD vor Ort überhaupt mit der Belegschaft, dem Betriebsrat und der IG‑Metall nichts wahrzunehmen. Wenn Ihre Landespartei und die Küste zur Verfügung stehen. AfD-Landtagsfraktion sozusagen vorziehen, an dieser (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Dann reden sie Stelle überhaupt nichts zu tun, dann deckt sich das nach mal mit Ihrer Fraktion! Sie sollten mal Ihre meinem Kenntnisstand mit dem, was Sie als Abgeord- Fraktion besuchen!) neter für die Region und was Herr Leif-Erik Holm als Abgeordneter aus Mecklenburg-Vorpommern für die Vielmehr haben sie gleichzeitig auch versucht, zusam- Peene-Werft da vor Ort getan haben. In einer Zeit, in der men mit der rot-schwarzen Landesregierung, zusammen 300 Beschäftigte Existenzangst haben, in der Wolgast vor mit Bundestagsabgeordneten von SPD und CDU nach der Situation steht, dass ein Viertel seiner Haushaltsein- Lösungen zu suchen, nahmen wegzubrechen droht, und die Region vor dem möglichen Verlust von circa 2 000 Arbeitsplätzen steht, (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Soll Frau haben Sie vorgezogen, die Hände in den Schoss zu legen Schwesig mal Ihre Fraktion besuchen!) und untätig zu sein. Deshalb frage ich Sie, wie Sie dazu wie mit der Situation umgegangen wird und wie Lösun- kommen, mit diesem Antrag hier heute zu vermitteln, Sie gen gefunden werden. Dabei ging es vor allen Dingen wären der große Kümmerer und würden sich für die Be- auch darum, zusammen mit der Lürssen-Gruppe andere schäftigten der Peene-Werft einsetzen. Abnehmer für die Schiffe zu finden, nicht nur für die, die fertig sind, sondern auch für die, die noch in den Auf- (Beifall bei der SPD – Enrico Komning [AfD]: tragsbüchern stehen. Wo ist Ihr Antrag? – Marc Bernhard [AfD]: Sie machen ja nichts! Nur reden! Sie sollen (Beifall bei der SPD – Enrico Komning [AfD]: Lösungen finden!) Sie suchen und prüfen immer nur ohne Ergeb- nis! Suchen Sie weiter!) Ich sage Ihnen, das hat damit überhaupt nichts zu tun. Vor dem Hintergrund will ich an dieser Stelle einfügen, Zweitens. Sie sprechen im Antrag von Rechtssicher- (B) dass ich ganz klar der Auffassung bin – dabei denke ich heit für Unternehmen und fordern als Lösung des Pro- (D) nicht nur an die Werft in Wolgast –, dass wir uns darü- blems – ich lese es vor –, dass die Bundesregierung die ber Gedanken machen müssen, ob wir den Überwasser- fertigen und die noch nicht gebauten Patrouillenboote schiffbau der Marine zur Schlüsseltechnologie erklären, übernehmen und in die Rechte und Pflichten des ur- sprünglichen Käufers eintreten soll. Dann könne die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Bundesregierung diese Boote vermarkten und an vier um damit sicherzustellen, dass wir hier zukünftig viel nordafrikanische Staaten vermitteln. Wie absurd ist das stärker als bisher unsere eigenen hervorragenden Kom- denn? Neben der Tatsache, dass es grundsätzlich nicht petenzen und Kapazitäten nutzen können. Aufgabe der Bundesregierung ist, als Verkaufsagentur für Rüstungsgüter aufzutreten, offenbaren Sie nach meinem Zurück zum konkreten Fall der Peene-Werft. Hier Dafürhalten damit totale Unkenntnis des öffentlichen Be- müssen mögliche Lösungen – das kam schon zum schaffungswesens. Für eine solche Vorgehensweise gibt Ausdruck – ausschreibungssicher, vergabe- und haus- es weder vergaberechtliche noch haushalterische Mög- haltsrechtlich korrekt und sauber sein. Vor diesem Hin- lichkeiten, Gesichtspunkte, Ansatzpunkte, an die man tergrund ist jedem klar, dass es in dieser Situation Zeit andocken könnte. Es fehlt faktisch jede Grundlage, so braucht, etwas Tragbares auf die Beine zu stellen. vorzugehen. Somit ist das, was Sie da propagieren, eine Mogelpackung und lässt sich einfach nicht umsetzen. (Enrico Komning [AfD]: Dann ist alles tot in der Region! Wie lange wollen Sie denn war- (Beifall bei der SPD – Marianne Schieder ten?) [SPD]: Unsinn ist es einfach!) Das, Herr Komning, ändert allerdings nichts daran, dass Ähnlich verhält es sich, wenn Sie in Ihrem Antrag da- verantwortliche Politik längst auf den Beinen ist und von ausgehen, dass der Bundestag der Bundesregierung nach Lösungen sucht. sozusagen per Beschluss vorschreiben kann, welche Rüs- (Marc Bernhard [AfD]: Wenn da alles dicht tungsgüter wohin geliefert werden sollen. Diese Heran- ist, braucht man nicht mehr gucken!) gehensweise ist weder durch die Geschäftsordnung noch durch das Grundgesetz gedeckt; auch das sollten Sie Zudem – das will ich auch sagen – hat die Landesre- eigentlich wissen. Danach ist nämlich klar geregelt und gierung mit der Bundesagentur für Arbeit dafür gesorgt, im Übrigen auch bundesverfassungsgerichtlich gestärkt, dass über ein Ausbildungs- und Weiterqualifizierungsin- dass die Bewertungs-, Abstimmungs- und Entschei- strument ein 10‑prozentiger Zuschuss zum Kurzarbeiter- dungsprozesse bei Rüstungsexporten zum Kernbereich geld dazugegeben wird, um den Lohnausfall aufzufan- und zur Eigenverantwortung der Bundesregierung gehö- 8700 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Frank Junge (A) ren. Auch das lässt sich nicht eben so mit einem Antrag sollten Sie ihnen vielleicht wirklich einmal sagen, dass (C) Ihrer Art vom Tisch wischen und außer Kraft setzen. auch die AfD diese Waffenexporte nach Saudi-Arabien eigentlich stoppen wollte. Davon ist aber jetzt nicht mehr Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum die Rede. Vielmehr schieben Sie den Ball woandershin. Schluss. Führt man sich all das vor Augen, dann wird nach meinem Dafürhalten klar, wie unehrlich dieser An- Es ist doch wirklich ein Stück weit pervers, dass auch trag ist und was die AfD an dieser Stelle in Wirklichkeit bei diesem Antrag wieder eine Verbindung zu Flücht- möchte. Das, was Sie hier als vermeintliche Lösung für lingen hergestellt werden muss und Sie sagen: Wir soll- die Lürssen-Werft und ihre Beschäftigten in den Raum ten die Schiffe weiterbauen und sie im Mittelmeer zur stellen, entpuppt sich bei näheren Hinsehen als Luftnum- Flüchtlingsbekämpfung einsetzen. mer . Das ist vor allem deshalb schäbig, weil Sie sozusa- (Enrico Komning [AfD]: Eine wunderbare gen mit den Sorgen der Peene-Werker spielen, um eige- Idee!) nes politisches Kapital daraus zu ziehen. Darum gehört dieser Antrag abgelehnt und in die Tonne. Ich finde, das ist moralisch zutiefst verwerflich. Schämen Sie sich, dass Sie auch dabei wieder diese Verbindung (Beifall bei der SPD) hergestellt haben.

Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD – Enrico Komning [AfD]: Da Vielen Dank, Frank Junge. – Nächster Redner: retten sie Menschenleben!) Alexander Ulrich für die Fraktion Die Linke. Wenn Sie sagen, man sollte die Schiffe eventuell an (Beifall bei der LINKEN) die sogenannte libysche Küstenwache weiterverkaufen, ist Ihnen dann eigentlich bewusst, dass die libysche Küs- Alexander Ulrich (DIE LINKE): tenwache gegen die Flüchtlinge auch mit Waffengewalt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vorgegangen ist? Wollen Sie tatsächlich diese Politik un- Die Debatte hat einen sehr starken Schwerpunkt auf terstützen? Schämen Sie sich, dass Sie auch dieses The- Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarktpolitik. Das gehört ma so verwerflich verwenden. natürlich dazu; aber wir sollten uns noch einmal klarma- (Beifall bei der LINKEN) chen, was eigentlich der politische Hintergrund ist. Das ist eine zutiefst moralische Frage. Der Hintergrund ist, Auch Sie, Herr Amthor, haben sich hierhingestellt und dass man die Waffenexporte nach Saudi-Arabien viel zu gesagt, das seien alles nur Polizeiboote. spät und erst durch den Fall Khashoggi eingestellt hat. (B) (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Das ist so! (D) Wir als Linke haben immer gesagt: Wir sind gegen Haben Sie sich die mal angeguckt?) Waffenexporte, insbesondere in Krisengebiete. Es wäre Auch dazu sage ich noch einmal klipp und klar: Die deut- viel früher notwendig gewesen, Waffenexporte zu stop- schen Schiffe werden von Saudi-Arabien eingesetzt, um pen. Wir hatten schon, als die Auftragsvergabe ursprüng- die Totalblockade vor der jemenitischen Küste umzuset- lich stattfand, kritisiert, dass man die Aufträge überhaupt zen. angenommen hat. Aber noch einmal: Es ist vollkommen richtig, dass man mit der Kopf-ab-Diktatur in Saudi-Ara- (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Das ist eine bien keine Geschäfte macht. Lüge! Dafür gibt es keine Belege! Das stimmt nicht!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Totalblockade trifft die Zivilbevölkerung am här- NEN]) testen. Deshalb sind das keine Polizeiboote. Es ist eigentlich ein Skandal – das sage ich auch in (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Das stimmt Richtung Bundesregierung, die mit dem Koalitionsver- nicht!) trag von einer restriktiven Waffenexportrichtlinie ausge- Vielmehr werden die Boote dafür eingesetzt, um der Zi- hen wollte –, dass auch noch im Jahr 2018 mit Saudi-Ara- vilbevölkerung zu schaden. bien 50 Milliarden Euro mehr Umsatz gemacht wurden als noch im Jahr zuvor. Deshalb sagen wir ganz deutlich: (Bernhard Loos [CDU/CSU]: Schwachsinn! – Wir wollen die Waffenexporte nach Saudi-Arabien nicht Philipp Amthor [CDU/CSU]: Das ist absolut nur jetzt, wegen des Falls Khashoggi, stoppen, sondern erfunden! Schämen Sie sich, so etwas hier zu wir wollen sie dauerhaft stoppen. Wir wollen mit Sau- behaupten!) di-Arabien auf diesem Gebiet keine Geschäfte machen. Deshalb ist es vollkommen richtig, dass diese Waffen (Beifall bei der LINKEN) nicht länger exportiert werden. Eigentlich hatte ich die AfD auch immer so verstan- (Beifall bei der LINKEN) den, dass sie es eigentlich begrüßt hat, keine solchen Ge- schäfte mehr zu machen. Aber in diesem Antrag ist davon Es ist relativ klar, dass insbesondere CDU und CSU nicht die Rede. Wenn Sie wirklich mit den Werftmitar- darauf setzen, dass, wenn der Fall Khashoggi aus der beitern im Kontakt sind – das kann ich nicht bewerten –, Öffentlichkeit verschwunden ist, man den Ausfuhrstopp möglicherweise wieder aufhebt und die Boote wieder ge- (Sonja Amalie Steffen [SPD]: Sind sie nicht!) liefert werden können. Ich appelliere hier an die SPD, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8701

Alexander Ulrich (A) da wirklich standhaft zu bleiben. Der Auslieferungsstopp Herstellungsgenehmigung damals nicht erteilt werden (C) ist ja jetzt noch einmal um zwei Monate verlängert wor- dürfen. Das haben wir damals auch deutlich zum Aus- den. Ich appelliere an Sie, wirklich den Koalitionsvertrag druck gebracht – auch immer wieder übrigens im direk- umzusetzen und mit Ihren Aussagen in der Öffentlich- ten Gespräch mit Lürssen. keit standhaft zu bleiben – auch wenn Ihre Ministerprä- Saudi-Arabien ist nicht erst seit November kein stra- sidentin etwas anderes will. Wir wollen keine Geschäfte tegischer Partner für Frieden und Stabilität in der Region in diesem Bereich mit Saudi-Arabien machen. Und wir mehr . Wenn die Bundesregierung jetzt, fünf Jahre später, wollen nicht, dass Sie nach zwei Monaten sagen, wir diese Fehleinschätzung mit sich wiederholenden befris- beenden den Ausfuhrstopp, damit wieder weitergeliefert teten Auslieferungsstopps korrigieren will, dann steht werden kann. Die CDU/CSU-Fraktion will das; aber wir sie selbstverständlich Lürssen gegenüber in der Verant- setzen hier auf die SPD und darauf, dass sie einmal das wortung. Die Bundesregierung darf sich hier auch nicht macht, was sie den Menschen versprochen hat. wegducken; denn aktuell schiebt sie mit diesem Morato- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der rium die endgültige Entscheidung nur immer wieder auf. SPD: Machen wir häufiger!) Genau das sorgt doch für Unsicherheit. Insgesamt haben wir als Linke immer gesagt: Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) brauchen einen Konversionsfonds, mit dem man genau Wie soll man denn planen? Wie soll man über mögliche solche Geschäfte absichern kann. Das wäre sinnvoll; Kompensationen, über mögliche andere Abnehmer ver- aber die Bundesregierung tut dafür nichts. Deshalb glau- handeln, wenn man nicht wirklich weiß, wie es weiter- ben wir, dass auch hier, bei der Werft, über Konversi- geht? Liebe Bundesregierung, treffen Sie hier endlich on geredet werden müsste, und zwar mit der IG Metall, eine klare Entscheidung! Entscheiden Sie endgültig über mit den Beschäftigten, mit dem Betriebsrat. Da müssen einen Widerruf der Genehmigung! wir endlich heran. Es gibt auch in der zivilen Schifffahrt Möglichkeiten, von denen die Peene-Werft profitieren (Zuruf von der AfD – Gegenruf der Abg. könnte. Das wäre der richtige Weg – nicht die Hoffnung, Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann dass man diese Kriegsgeräte irgendwann wieder verkau- [FDP] – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/ fen kann. CSU], an die AfD gewandt: Es ist unerträg- lich!) Vielen Dank. Und gehen Sie dann auch in die Verhandlungen mit (Beifall bei der LINKEN) ­Lürssen über die Kompensation für den tatsächlich ent- standenen wirtschaftlichen Schaden!

(B) Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Vielen Dank, Alexander Ulrich. – Nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen: Claudia Müller. Ich will aber auch Lürssen hier nicht aus der Verant- wortung nehmen. Jedes Unternehmen sucht sich seinen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Partner selber. Im Rüstungsbereich weiß man: Eine er- teilte Herstellungsgenehmigung zieht nicht automatisch Claudia Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): auch die Ausfuhrgenehmigung nach sich. Dessen ist man Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen sich bewusst. und Herren! Das Thema Peene-Werft zeigt geradezu ide- Wir müssen ganz klar sagen: Die Verbesserung der altypisch, wie die große Politik, also die Sicherheits- und sicherheits- und menschenrechtspolitischen Lage in Sau- Außenpolitik, und die Politik im Kleinen vor Ort, die di-Arabien ist in nächster Zeit leider Gottes nicht zu er- Kommunalpolitik, doch zusammenhängen. warten. Die rechtlichen Einschätzungen – ich wusste ja, Herr Komning, wenn Sie hier versuchen, uns De- Herr Amthor spricht vor mir – lasse ich gleich weg. Ich mokraten vorzuwerfen, wir würden das eine über dem will nur noch auf ein paar Punkte eingehen. anderen vergessen, dann sage ich: Das ist schlichtweg (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – gelogen. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Aha! Weil er ja die Rechtslage referiert hat!) Uns allen hier im Haus und ganz besonders allen Kol- – Er macht die Rechtslage, wir machen Wirtschaft. leginnen und Kollegen aus Mecklenburg-Vorpommern ist die Bedeutung der Peene-Werft als einzigem großen (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Arbeitgeber im produzierenden Gewerbe in dieser Re- Philipp Amthor [CDU/CSU]: Da hätten Sie gion, die immer noch von Bevölkerungsrückgang, über- bis zum Ende zuhören müssen, Frau Müller!) durchschnittlicher Arbeitslosigkeit bei gleichzeitigem Fachkräftemangel gekennzeichnet ist, bewusst. Ich sage Herr Komning, Sie sind schon im letzten Jahr mit die- Ihnen auch: Wir nehmen die Verantwortung für diese Re- sem Thema durch die Presse gezogen. Im letzten Jahr! gion wahr, egal was Sie behaupten. Da frage ich mich aber: Warum kommt der Antrag so spät, wenn er scheinbar seit November oder Dezember Ich sage aber ganz klar: An diesem Schlamassel ist fertig war? Warum lag er dem Parlament erst so spät vor? auch die Bundesregierung mit schuld; denn sie hat diese Sie haben bereits im letzten Jahr Interviews gegeben, Unsicherheit verursacht. Aus grüner Sicht hätte schon die in denen Sie gesagt haben, Sie wollen den Antrag noch 8702 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Claudia Müller (A) 2018 einbringen. Das haben Sie nicht geschafft. Aber und von der rechten Seite Unwahrheiten bekommen – (C) warum bekommen Sie es nicht hin, ihn dann hier zeitnah auch Dinge, die man jetzt nicht unbedingt braucht, um es einzubringen? einmal ganz vorsichtig zu sagen.

(Marc Bernhard [AfD]: Sitzungswoche!) Wir alle sind uns doch hoffentlich über die Fraktions- Dieser Antrag und insbesondere die Interviews, die grenzen hinweg einig, dass das heimtückisch geplante Sie drumherum geben, zeigen mal wieder auf perfide Art Mordkomplott gegen Jamal Khashoggi im saudi-arabi- und Weise, wie Sie dieses schwierige sicherheits- und schen Generalkonsulat in Istanbul nicht ohne Reaktion wirtschaftspolitische Thema nutzen, um Hetze zu ver- bleiben durfte, sowohl international wie auch national. breiten und gegen Flüchtlinge zu hetzen. Diese Tat war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die deutsche Bundesregierung war (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu einer eindeutigen Reaktion aufgefordert, und die Bun- sowie bei Abgeordneten der SPD und der desregierung hat politisch klar gehandelt. Es werden der- LINKEN) zeit grundsätzlich keine Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüstungsgütern nach Saudi-Arabien erteilt, und die Das haben Sie in Interviews getan, das lässt sich nach- Bundesregierung wirkt auch auf die Inhaber von gültigen lesen. Es lässt sich nachlesen, wie Sie dieses Thema mit Einzelgenehmigungen ein, mit dem Ergebnis, dass aktu- der Hetze gegen Flüchtlinge verbinden. Dazu muss man ell grundsätzlich keine Ausfuhren von Rüstungsgütern ganz klar sagen: Hier entlarven Sie sich. Es geht Ihnen von Deutschland nach Saudi-Arabien stattfinden. nämlich null um die Menschen in Wolgast. Es geht Ihnen darum, Hass zu verbreiten. Und das lehnen wir ganz klar Dazu ist noch anzumerken, dass die in Rede stehen- ab. den Patrouillenboote wirklich keine Angriffswaffen sind; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon rein technisch ist das nicht möglich. Deshalb ist sowie bei Abgeordneten der SPD und der die Behauptung meines Vorredners völlig falsch, dass die LINKEN – Zuruf von der AfD: Was?) Boote gewissermaßen zu einer Seeblockade benutzt wer- den, sonst hätte es nämlich gleich von Anfang an gar kei- ne Genehmigung für die Ausfuhr gegeben. Auch wir von Vizepräsidentin Claudia Roth: der CDU/CSU stehen dazu, dass Menschenrechte im- Vielen Dank, Frau Kollegin Müller. – Es gab hier ge- mer – ohne Wenn und Aber – vor Wirtschaftsinteressen rade eine kleinere Diskussion, eine kleinere Kontroverse. stehen, auch bei einem Exportweltmeister Deutschland. Es geht darum, welche Kommentare geäußert werden, wenn Kolleginnen am Redepult sind, und zwar Kollegin- Zunächst dachte ich ja wirklich, dass es Ihnen von der (B) nen unterschiedlichster Fraktionen. Da wir hier oben das AfD bei dem hastig auf die heutige Tagesordnung gesetz- (D) akustisch nicht wahrnehmen konnten ten Antrag wirklich um konkrete und sachliche Hilfen für betroffene Menschen in Mecklenburg-Vorpommern, die (Dr. [AfD]: Wir auch nicht!) bedrohten Arbeitsplätze, die Peene-Werft der Lürssen-­ – Sie kommen ja von Ihnen, Gruppe sowie den Wirtschaftsstandort Deutschland geht. Darüber hätten wir sachlich diskutieren können und (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Nein!) müssen. Aber weit gefehlt! Wie ich bei der Lektüre des aus Ihrer Fraktion –, bitte ich, dass das im nächsten Äl- dann gestern übermittelten dünnen Anträgchens feststel- testenrat thematisiert wird. Wir können es hier oben nicht len musste, geht es Ihnen nämlich nicht um die Frage, nachvollziehen, aber es sollte im Ältestenrat thematisiert ob die Peene-Werft die Auslieferung der fertigen Boote werden. möglicherweise gerichtlich erzwingen könnte. In einem ähnlichen Fall übrigens war Rheinmetall im Jahre 2014 (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der mit einer Klage im Zusammenhang mit der Ukraine-Kri- FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ se gerichtlich gescheitert. Es geht Ihnen auch nicht um DIE GRÜNEN – Britta Haßelmann [BÜND- die Frage, ob das Unternehmen einen Schadenersatz ein- NIS 90/DIE GRÜNEN], an die AfD gewandt: klagen kann oder will; es geht Ihnen auch nicht um den Was haben Sie denn wieder gesagt über unse- Vertrauensschutz. re Rednerin? Abfällige Kommentare? – [SPD], an die AfD gewandt: Sie Erstens. Jeder weiß, dass Rüstungsexporte anderen, sollten sich schämen!) auch politischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen als der Export von einem Sack Reis. Letzter Redner in dieser Debatte: Bernhard Loos für die CDU/CSU-Fraktion. Zweitens. Die infragekommenden Patrouillenboote (Beifall bei der CDU/CSU) fallen unter das Kriegswaffenkontrollgesetz. § 7 sieht dabei eine jederzeitige Widerrufsmöglichkeit erteilter Genehmigungen vor. § 9 sieht vor, dass zudem diesbe- Bernhard Loos (CDU/CSU): züglich Entschädigungsregelungen möglich sind. Na- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und türlich gilt auch – das sehe ich als Unternehmer –, dass Kollegen! Ich will zunächst einmal von der Ideologie jedes Unternehmen, das insbesondere in diesem Bereich und von der Emotion die Stimmung ein bisschen senken einen Auftrag annimmt, sich sehr wohl Gedanken darü- und auf die reale Welt zurückkommen. Wir sind sicher- ber macht, wie es das absichert. Ich denke, dass es da lich nicht weitergekommen, wenn wir von den Linken durchaus die notwendigen Wege gibt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8703

Bernhard Loos (A) Aber um das geht es Ihnen gar nicht. Es geht Ihnen Bernhard Loos (CDU/CSU): (C) auch nicht um eine sinnvolle mögliche Alternativver- Eine gemeinsame europäische Linie ist nötig. wendung, und es geht Ihnen erst recht nicht um Hilfen für den Erhalt der Arbeitsplätze; denn davon habe ich in Danke. Ihrem Antrag nichts gelesen. Was Sie von der AfD aber (Beifall bei der CDU/CSU) jetzt in Ihrem Antrag machen, ist in meinen Augen ein- fach schäbig. Sie versuchen, die Angst der Mitarbeiter vor Arbeitsplatzverlust an der strukturschwachen Ost- Vizepräsidentin Claudia Roth: seeküste in parteipolitische Münze zu Ihren Gunsten Vielen Dank, Herr Loos. – Ich schließe die Ausspra- umzuwandeln. Es geht Ihnen ganz offensichtlich allein che. darum, zwei Themen – da muss ich meiner Vorrednerin Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf sogar zustimmen –, und zwar Rüstungsexportverbot und Drucksache 19/7039 an die in der Tagesordnung aufge- Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer, miteinander zu führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einverstan- verknüpfen. den. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Enrico Komning [AfD]: Genau! Richtig!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Das ist Populismus pur. Sie wollen nur Sand in die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Augen der Menschen streuen. Sie schlagen hier allen gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes Ernstes vor – ich zitiere –: zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes Die Bundesregierung übernimmt die Verantwor- Drucksachen 19/6334, 19/6926 tung für den Einsatz und/oder die Vermarktung der Überweisungsvorschlag: so übernommenen Patrouillenboote, z.B. indem sie Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) diese der tunesischen, marokkanischen, algerischen Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz und/oder libyschen Küstenwache zur Verfügung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit stellt, um die weitere Migration … zu unterbin- Ausschuss Digitale Agenda den … Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- munen Die Bundesregierung soll also gewissermaßen als Waffenhändler agieren; Deutschland soll aus der EU-Au- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für ßengrenzkontrolle ausscheren. Unfassbar! Nein, das ist die Aussprache 27 Minuten vorgesehen. – Ich bitte, zügig nicht einmal Populismus, sondern das ist für mich reine die Plätze zu wechseln, damit ich die Aussprache eröff- (B) Provokation, und das von der billigsten Sorte. nen kann. (D) Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat Arno (Beifall der Abg. Claudia Müller [BÜND- Klare für die SPD-Fraktion. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD) Selbst die Wirtschaft steht in dieser Frage hinter der Bundesregierung. Zum Beispiel: Der Vorsitzende des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Arno Klare (SPD): Hubert Lienhard, und der Hauptgeschäftsführer des Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und BDSV, Hans Christoph Atzpodien, haben in der „FAZ“ Herren! Keine Damen und Herren auf der Tribüne. Aber: die deutsche Wirtschaft dazu aufgerufen, der Linie der Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was wir hier jetzt Bundesregierung zu folgen. verhandeln, hat sehr viel zu tun mit dem vorletzten Ta- gesordnungspunkt, als wir nämlich zum Bundes-Immis- sionsschutzgesetz geredet und debattiert haben; denn das Vizepräsidentin Claudia Roth: Ganze leitet sich daraus ab. Anlass ist also die Änderung Kommen Sie bitte zum Schluss. des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. In der Tat gibt es aus dem Urteil zu Stuttgart und Bernhard Loos (CDU/CSU): auch zu Düsseldorf zwei Dinge, die uns das Bundes- Ich stimme Herrn Bundeswirtschaftsminister Peter verwaltungsgericht zwar nicht aufgetragen, aber schon Altmaier völlig zu, wenn er in der „SZ“ sagt – ich zitie- sehr nahegelegt hat: Wir müssen die Verhältnismäßig- re –: keit definieren. Das tun wir mit der Änderung des Bun- des-Immissionsschutzgesetzes. Aber wir müssen natür- Es hat keine Folgen positiver Art, wenn nur wir die lich auch – weil Fahrverbote ja, wie es im Urteil heißt, Exporte nicht weiter durchführen, aber gleichzeitig rechtlich und faktisch nicht ausgeschlossen sind oder andere Länder diese Lücke füllen. teilweise sogar notwendig werden – den Gebietskörper- schaften, die über die Fahrverbote zu befinden haben, die Auch ich würde daher einen dauerhaften Alleingang Kontrollmechanismen einräumen, die es möglicherweise Deutschlands in dieser Frage für schwierig halten. geben kann. Da gibt es ja mehrere Varianten. Man kann sich vor- Vizepräsidentin Claudia Roth: stellen, dass man Autos einfach händisch, sozusagen Kommen Sie bitte zum Schluss. analog kontrolliert. Es gibt natürlich auch einen tech- 8704 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Arno Klare (A) nisch-digitalen Abgleich der Nummernschilder. Wie notwendig ist, wegen einer Ordnungswidrigkeit verfolgt (C) immer man es macht: Es entstehen immer Datensätze, werden? Das heißt: Wie kann man sicherstellen, dass nur und das muss eben auch geregelt werden. Dann ist man die Daten gespeichert werden, die einen Regelverstoß in diesem Zielkonflikt: Auf der einen Seite will man die dokumentieren? Das muss man technisch prüfen; inso- Kontrolle ausüben, um eventuell auch Ordnungswidrig- fern gibt es viele Möglichkeiten, auf die man dort zu- keiten zu verfolgen, und auf der anderen Seite müssen rückgreifen kann. natürlich auch der Datenschutz und die Datensicherheit gewährleistet sein. Noch ein Hinweis: Es war auch mal strittig, ob in Fahrzeugen installierte Dashcams zur Beweisführung he- (Kirsten Lühmann [SPD]: Sehr richtig!) rangezogen werden können. Auch dazu gibt es ein Urteil Schauen wir in andere Länder. Wie machen die das? des BGH: Ja, das ist möglich. – Insofern hat man schon Amsterdam, Utrecht, Rotterdam – das sind jetzt nur drei einen Fingerzeig, wie man eventuell mit diesen Kontroll- Städte; es sind noch mehr, Maastricht und andere – ma- möglichkeiten umgehen kann. chen einen Fotoabgleich. Das heißt, die Fahrzeuge wer- Für uns ist klar, dass wir die gerade von mir gestellten den fotografiert, und in dem Moment wird abgeglichen: Fragen im jetzigen parlamentarischen Verfahren geklärt Darf der in die Stadt einfahren oder nicht? Die Citymaut haben wollen. Wir wollen das Ganze so datenarm wie in London, Stockholm und Oslo wird genauso kontrol- möglich und so effektiv wie notwendig. liert; genauso macht man das dort. Übrigens: Budapest, Lissabon und Madrid haben auch Kameras aufgestellt. Danke. Mit dieser Auflistung ist auch klar: Die haben das viel eher gemacht, als wir darauf gekommen sind. Also immer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu sagen: „Wir würden alles sperren“, stimmt nicht. Das der CDU/CSU) älteste Fahrverbot, das es gibt, wurde in den 80er-Jah- ren des vorigen Jahrhunderts – verblüffenderweise in Athen – ausgesprochen. Wir sind da eher Nachzügler. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Kirsten Lühmann [SPD]: Hört! Hört!) Für die Fraktion der AfD hat der Kollege Dr. Dirk Spaniel das Wort. Jetzt kann man sich natürlich anschauen: Welche an- deren Modelle gibt es? – „Section Control“ zum Bei- (Beifall bei der AfD) spiel, das in Niedersachsen gerade im Probebetrieb läuft. Auch dort wird bei der Einfahrt ein Foto der Rückseite Dr. Dirk Spaniel (AfD): (B) des Fahrzeugs gemacht. Das Foto wird verschlüsselt, und (D) erst, wenn zu schnell gefahren wurde, wird das System Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- sozusagen scharf geschaltet. Die anderen Fotos sind alle ren! Ich komme ja aus Stuttgart, weg, die Daten sind sofort verschwunden. (Michael Donth [CDU/CSU]: Man hört’s gar Das heißt, man müsste, wenn man ein solches Gesetz nicht!) erarbeitet, überprüfen, wie man zu einer Regelung findet, bei der möglichst wenig Daten gesammelt werden, aber und viele Bürger dort und anderswo glauben: Die Fahr- die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten möglich ist. verbote in unseren Städten kommen nicht, weil sie nie- mand kontrollieren kann. Jetzt habe ich mal überlegt: Könnte die Verschlüs- selung, die bei „Section Control“ läuft, in irgendeiner (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weise helfen, die Fotos zu verschlüsseln? Das muss man NEN]: Nie im Leben kommst du aus Stutt- noch mal prüfen; wir haben ja ein Verfahren mit erster gart!) und zweiter Lesung und dazwischen Anhörungen. Da würde ich zum Beispiel einem Gutachter oder Berater Mit dieser Gesetzesänderung wollen Sie nun die Einhal- die Frage stellen: Ist das eine Hilfe? – Sicherlich wäre es tung flächendeckender Fahrverbote kontrollieren. Dieses eine Hilfe, wenn der Abgleich zwischen dem fotografier- Gesetz legitimiert Sie, Fotos zu machen, und zwar von ten Nummernschild und dem Zentralregister beim Kraft- jedem Auto und seinem Fahrer, das in die betroffenen fahrt-Bundesamt in Flensburg sozusagen in Echtzeit von- Städte hineinfährt. Die Daten des Fahrzeugs werden mit stattenginge und dann die Freigabe erfolgte oder nicht. dem Kraftfahrzeugzentralregister abgeglichen. Wenn das Niederländer können das ganz offensichtlich; das ist in Fahrzeug registriert ist und die Einfahrt nicht erlaubt ist, Amsterdam so; denn wenn Sie dort mit einem Fahrzeug gibt es einen Bußgeldbescheid. in die Innenstadt fahren, mit dem Sie nicht hineinfahren dürfen, wird Ihnen auf der Anzeigetafel angezeigt: Stopp! Was passiert eigentlich mit Fahrzeugen, die nicht in Sie fahren unberechtigt ein. – Die Niederländer gleichen Deutschland registriert sind? das also in dem Moment ab. Wenn jemand hineinfährt,­ der einfahren darf, entsteht überhaupt kein Vorgang und (Beifall bei der AfD) damit keine Datensammlung. In einer undefinierten Übergangsphase können ausländi- Eine entscheidende Frage ist also: Ist es technisch sche Fahrzeuge – also auch solche, die nicht der Euro-4- möglich, das in Echtzeit zu machen, um möglichst wenig Norm entsprechen oder darunter liegen – in unsere Städte Daten zu haben, womit nur die, bei denen es tatsächlich hineinfahren, ohne belangt zu werden. Aus Sicht der AfD Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8705

Dr. Dirk Spaniel (A) ist allein das schon eine unverschämte Diskriminierung Oliver Luksic (FDP): (C) deutscher Autofahrer gegenüber Autofahrern aus dem Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Ausland. ren! Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu erlassen, (Beifall bei der AfD – Alexander Ulrich [DIE dann ist es notwendig, kein Gesetz zu erlassen. LINKE]: Jawohl! Und wieder haben wir (Beifall des Abg. Armin-Paulus Hampel ein Thema, wo die Ausländer schuld sind! – [AfD]) Marianne Schieder [SPD]: Die sind schuld an der schlechten Luft! Das hatte ich mir doch Was Montesquieu gesagt hat, sollte immer Richtschnur gedacht! – Kirsten Lühmann [SPD]: Was politischen Handelns sein. Wenn es irgendein Gesetz ist mit den Ausländern, die ein Fahrzeug in gibt, das davon betroffen ist, dann ist es dieses, weil es Deutschland zugelassen haben?) einen massiven bürokratischen Aufwand bedeutet, weil es ein massiver Eingriff in die informationelle Selbstbe- Ganz ehrlich: Wissen Sie eigentlich noch, welche In- stimmung und absolut unverhältnismäßig ist. Die Län- teressen Sie vertreten? Mit diesem Gesetz streben Sie der wollen es nicht. Die Kommunen wollen es nicht. Die maximale Kontrolle der Bürger an, und es werden Zig- Bürger wollen es nicht. Deswegen ist es gut und richtig, tausende unserer Bürger mit ihren Autos aus unseren dass der Bundesrat hier ein Stoppzeichen gesetzt hat. Städten effektiv ausgesperrt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie können sich das hier vielleicht nicht vorstellen: der LINKEN) Viele in diesem Land wollen und können nicht 30 Kilo- meter bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad zur Arbeit Zum einen müssen wir festhalten, dass es, anstatt jetzt fahren, und die Menschen in diesem Land wollen sich alle Bürgerinnen und Bürger zu überwachen, sinnvoller das von Ihnen auch nicht diktieren lassen. wäre, endlich einmal etwas zu tun, um Fahrverbote zu verhindern, also zum einen für ein Moratorium bei den (Beifall bei der AfD – Zuruf von der AfD: Grenzwerten zu sorgen und zum anderen die EU-Spiel- Bravo!) räume bei der Umsetzung der Bundes-Immissionsschutz- Wir brauchen weder Fahrverbote noch die hier vorge- verordnung so auszunutzen, dass wir nicht anders mes- schlagene Orwell-ähnliche Überwachung der Bürger, um sen, als es im Rest von Europa geschieht, und für saubere die EU-Vorgabe zur Luftreinhaltung einzuhalten. Luft durch Digitalisierung des Verkehrs, mehr ÖPNV und natürlich auch durch eine Hardwarenachrüstung, die Ich zeige Ihnen jetzt noch einmal in Stichpunkten funktioniert, zu sorgen. Da passiert nichts. auf, wie man das Problem der Fahrverbote einfach und vernünftig lösen kann. Wir fordern: Nutzen Sie endlich Stattdessen wollen Sie mit diesem Gesetzentwurf jetzt (B) die Toleranzen für die Standorte der Messstationen aus! alle Bürgerinnen und Bürger überwachen – übrigens (D) Dazu brauchen wir gar kein EU-Gesetz zu ändern. Jede nicht nur in den Städten; Verkehrsminister Scheuer will Landesregierung kann das sofort umsetzen. jetzt auch noch alle Autofahrer auf Autobahnen überwa- chen. Das ist der falsche Weg, und den lehnen wir voll Die Grenzwerte für Stickoxide müssen nach wissen- und ganz ab, meine sehr geehrten Damen und Herren. schaftlichen Kriterien bewertet werden. Und weil das etwas dauern wird: Übernehmen Sie doch vorläufig die (Beifall bei der FDP) Stickoxidgrenzwerte aus den Vereinigten Staaten für die Es ist ein massiver Eingriff in die informationelle europäische Ebene! Selbstbestimmung; der Bundesrat hat das klar festgehal- (Beifall bei der AfD – [CDU/ ten. Da haben übrigens auch die Vertreter der SPD anders CSU]: Ist gut, Herr Trump!) gesprochen, als wir es heute gehört haben. Und Karlsruhe sagt ganz klar, dass eine anlasslose massenhafte und Wenn Sie diese Vorschläge umsetzen, gibt es keine dauerhafte Überwachung dann nicht verhältnismäßig Fahrverbote in diesem Land. Und Sie sehen: Es geht ganz ist – und das ist hier der Fall –, wenn es um eine Ord- einfach. Wir brauchen diese Gesetzesänderung nicht. nungswidrigkeit geht. Wegen einer 20-Euro-Ordnungs- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Es gibt widrigkeit wollen Sie jetzt hier ein bürokratisches Mons- auch keinen Klimawandel!) trum aufbauen, das keine digitale Innovation ist, wie es die Bundeskanzlerin gesagt hat, sondern ein massiver Machen Sie endlich Politik für die Bürger in diesem unnötiger Apparat. Zur Not werden wir das in Karlsruhe Land und nicht nach Ihren Ideologien! prüfen lassen. Ich bin sicher, dass das so, wie es heute Vielen Dank. beschlossen werden soll, keinen Bestand haben wird. (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder (Beifall bei der FDP) [SPD]: Oje, oje, oje!) Zum Zweiten geht es um Bürokratiekosten. Die Kom- munen, die Bundesländer sagen doch ganz klar, sie wol- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: len das nicht – und trotzdem wollen Sie diesen Quatsch Die Rede von Kollegen Steffen Bilger geht zu Pro- hier einführen. Herr Klare verteidigt es ja wenigstens tokoll.1) – Jetzt kommt für die FDP der Kollege Oliver noch – im Gegensatz zur Bundesregierung. Wie soll das Luksic. gehen? Die Fragen zu den Kosten sind nicht beantwortet. Man muss dieses System errichten; die Kommunen, die 1) Anlage 2 Länder sollen es dann überwachen. Unsere Behörden – 8706 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Oliver Luksic (A) unsere Sicherheitsbehörden – haben was anderes zu tun, Einführung einer blauen Plakette – Sie kennen sie alle – (C) als das nachher noch auszuwerten. Lassen wir sie sich für im Straßenbetrieb saubere Autos. doch lieber um die wichtigen Sachen kümmern: um die Kriminalitätsbekämpfung – und nicht um die Krimina- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. lisierung von Autofahrern, meine sehr geehrten Damen Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Herren. NEN]) (Beifall bei der FDP) Diesen Weg wählen Sie aber nicht, weil dabei – ich habe es heute schon erwähnt – offenbar würde, dass Deswegen ist es absolut notwendig, dass auch der selbst Euro-6-Diesel im Schnitt den Grenzwert noch im- Deutsche Bundestag wie der Bundesrat diesen Gesetz- mer um das 6-Fache überschreiten. entwurf ablehnt. Tun wir endlich etwas zur Verhinderung von Fahrverboten, statt Autofahrer massenhaft in Städten (Oliver Luksic [FDP]: Sie können doch nicht und morgen auf den Autobahnen zu überwachen. Das ist genug verbieten! Reden Sie mal mit Arbeit- der falsche Weg. Das ist eine unnötige Bürokratie, die nehmern!) kein Mensch braucht. Deswegen muss dieser Gesetzent- wurf dringend abgelehnt werden. Erst mit Euro 6d-TEMP befinden wir uns auf halbwegs sicherem Grund. Und das wollen Sie verstecken. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) Um zu zeigen, wie überflüssig Ihre Datenkrake ist, will ich mal die drei Fälle von Fahrverboten unterschei- den. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Für die Fraktion Die Linke spricht die Kollegin Ingrid Erstens: Umweltzonen wie in Stuttgart. Wir haben Remmers. lange ausführliche positive Erfahrungen mit der blauen Plakette. (Beifall bei der LINKEN) Zweitens: streckenbezogene Fahrverbote wie in Ham- burg. Auch hier ist die blaue Plakette überhaupt kein Pro- Ingrid Remmers (DIE LINKE): blem; sofort sichtbar, ohne irgendeine Datenabfrage. Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! – Bürge- rinnen und Bürger sind keine mehr da. – Der vorliegende Drittens: Allein auf Autobahnen, wie demnächst auf (B) Gesetzentwurf zur Kontrolle von Fahrverboten zeigt ein- der A 40 in Essen, ist dies etwas schwieriger. Ihr Versa- (D) mal mehr, wie sehr das Verkehrsministerium mit seinen gen hat uns leider in die Situation gebracht, dass Gerich- Maßnahmen neben der Spur liegt. Statt eine einfache, te selbst auf Autobahnen, die durch Stadtgebiete führen, mit den Umweltzonen bereits längst erprobte und einge- Fahrverbote anordnen mussten. Hier wäre die Kontrolle spielte Lösung zu wählen, kommt Herr Scheuer mit der eine Überforderung für die Polizei und eine starke Behin- Schrotflinte des Kennzeichenscanners um die Ecke. derung des Verkehrs. Das muss man zu Recht ablehnen. Aber für den Bereich der Autobahnen führen Sie gerade Reden Sie eigentlich mal mit Ihren Kolleginnen und die E-Vignette ein. Da hätten Sie doch gleich die Kon- Kollegen? Wenn ich mir die Kritik des Bundesrates an trolle der Schadstoffklasse einbeziehen können. Möglich Ihren Gesetzentwürfen anschaue, dann habe ich den Ein- wäre auch, einen RFID-Chip mit der blauen Plakette zu druck, dass Sie die klugen fachkundigen Menschen vor verbinden. Dieser könnte verschlüsselt Kennzeichen und Ort gar nicht zurate ziehen. Die erheblichen datenschutz- Abgasklasse enthalten. rechtlichen Bedenken der Landesregierungen teilen wir ausdrücklich. Sie bessern zwar jetzt vermeintlich nach Dies zeigt: Es gibt einfache, wenig aufwendige Lö- mit kürzeren Löschfristen, aber dieser Gesetzentwurf ist sungen, die sparsam mit Daten umgehen. Sie stellen ei- und bleibt vor allem eins: für die Fahrverbotskontrollen nen erheblich geringeren Eingriff in das Grundrecht auf völlig überflüssiger Quatsch, für den Datenschutz aber informationelle Selbstbestimmung dar. ein gefährlicher Eingriff. Bei der ganzen Diskussion sollten wir nicht vergessen, (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- dass sich die große Mehrheit der Bevölkerung – anders neten der AfD) als etwa die Autoindustrie und ihre Helfer – gesetzestreu Mein Eindruck ist, Sie versuchen, hier die Dieselde- verhält. Daher sollten wir bei der Kontrolle der Einhal- batte zu nutzen, um technisch im Bereich innerer Sicher- tung von Fahrverboten wirklich den Ball flach halten und heit aufzurüsten. uns stattdessen auf die Quellen der Luftverschmutzung konzentrieren, und das sind die Dieselautos. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Die Verschwörungsthe- Wir sagen es Ihnen schon seit langem – die Mehrheit orie! Ui, ui, ui!) der Bundesländer sieht es auch so –: Wir brauchen die technische Nachrüstung auf Kosten der Autoindustrie, Unter dem Deckmantel des Umweltschutzes wollen Sie und zwar jetzt. Alles andere ist Bockmist. eine neue Technologie zur Massenüberwachung in den Verkehr bringen. Eine einfache Lösung dagegen wäre die (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8707

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Es gibt die Technik nicht. Der Bund will das auch (C) Nächster Redner: der Kollege Stefan Gelbhaar, Bünd- nicht bezahlen. Die Bundesregierung will hier nur Akti- nis 90/Die Grünen. vität simulieren. Das ist eine Farce. Deswegen verstehe ich auch, dass Staatssekretär Bilger heute nicht zum Pult (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommt und das erklärt oder gar verteidigt, sondern sei- ne Rede zu Protokoll gibt und sich einen schlanken Fuß Stefan Gelbhaar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): macht. Sehr geehrter Präsident! Sehr geehrte Damen und Dabei gibt es eine einfache datenschutzkonforme und Herren! Dieser Gesetzentwurf kommt jetzt recht harmlos günstige Antwort: die blaue Plakette. Wie bei der grü- daher, aber die Bundesregierung will damit erneut sys- nen Plakette kann man allgemeine Verkehrskontrolle tematisch bestehende Gesetze und rechtskräftige Urteile machen. Man kann den ruhenden Verkehr kontrollieren. zum Schutz der Gesundheit torpedieren. Das ist eine sinnvolle Lösung. In einem ersten Akt wurde von der Bundesregierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) frei nach dem Motto „Was nicht passt, wird passend ge- macht“ der europäisch festgelegte Grenzwert für Stick- Statt sich auf diese einfache Lösung einzulassen, schaffen oxide infrage gestellt: Wenn man 25 Prozent drüberliegt, Sie lieber überkomplexe und teure Regelungen mit Aus- dürfe das doch keine Konsequenzen haben. – Dabei wur- nahmen von Ausnahmen für Ausnahmen. Meine Damen de dieser Grenzwert von der Bundesregierung selbst mit und Herren, das ist eine Blockade der Bundesregierung beschlossen – ziemlich irre. gegenüber gesetzlichen und gerichtlichen Vorgaben, und das muss ein Ende haben. (Kirsten Lühmann [SPD]: Das stimmt nicht!) Vielen Dank. In einem zweiten Akt hat sich das Bundesverkehrsmi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nisterium dazu entschieden, die Deutsche Umwelthilfe sowie bei Abgeordneten der LINKEN) mundtot machen zu wollen. Dabei klagt diese lediglich geltendes Recht ein, und zwar erfolgreich. Ich frage mich, wann der nächste missliebige Verein derart unter Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Druck gesetzt wird. Mit Verlaub: Das ist Orban-Style. Der nächste Redner ist der Kollege Mario Mieruch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mario Mieruch (fraktionslos): Und nun zum heutigen dritten Akt. Schon beim Quer- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen (B) lesen dieses Gesetzentwurfes waren die groben Daten- und Herren! Lieber Kollege Luksic, volle Zustimmung. (D) schutz- und Grundrechtsverstöße nicht zu übersehen. Mit dem Gesetzentwurf werden Millionen von Bundes- Wir Bündnisgrüne haben deswegen ein Gutachten des bürgern kriminalisiert wegen des Verdachts auf poten- Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages in Auftrag zielle Luftverschmutzung. gegeben, und das hat diesen Verdacht bestätigt. Trotzdem hat das Bundesverkehrsministerium nicht gleich beige- Die Debatte über den Sinn der ganzen Maßnahmen dreht. Erst der Bundesrat musste ebenfalls diese Beden- und den Einfluss von Umweltlobbys, so sie denn über- ken anmelden. haupt jemals geführt wurde, ist noch gar nicht zu Ende, da schafft die Regierung mit diesem Entwurf – zumin- Ich sage es mal so: Der jetzt nachgebesserte Entwurf dest versucht sie es – Fakten. Das Interessante daran ist: ist ein bisschen weniger schlecht als der erste Versuch. Während die CDU den Bürgern erzählt, sie wolle die Viele praktische Fragen bleiben nämlich offen: Wie sol- Finanzierung der DUH auf den Prüfstand stellen und len Fahrzeuge mit ausländischen oder gefälschten Kenn- Fahrverbote vermeiden, handelt sie mit diesem vorlie- zeichen kontrolliert werden? Wer entwickelt eigentlich genden Entwurf wieder einmal gegenteilig und bereitet die notwendigen Überwachungssäulen? Wie lange dauert den Boden für ideologische Kontrollfantasien. Ganz in das eigentlich? Was kosten Aufbau und Instandhaltung? EU-Manier – Zitat –: Es stellt sich die Folgefrage: Meint das Bundesverkehrs- ministerium dieses Gesetz überhaupt ernst? Ich sage Ih- Wir beschließen etwas, stellen das dann in den nen: Nein, meint es nicht. Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Auf- Ich möchte aus einer Antwort der Bundesregierung stände, weil die meisten gar nicht begreifen, was auf eine Anfrage des Kollegen Luksic zitieren: da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Bei den StVG-Regelungen im Gesetzentwurf han- Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt. delt es sich um ein Angebot, die Kontrollmöglich- Ja, wenn Herr Juncker mal nicht unter Ischias leidet, sagt keiten vor Ort zu verbessern, nicht um die bundes- er spannende Sachen. weite Einführung eines bestimmten Verfahrens. Das Schlimmste an diesem Entwurf: Sie schaffen da- (Ingrid Remmers [DIE LINKE]: Ah!) mit einen Präzedenzfall. Unter Missachtung der Grund- Sie schreiben dort „ein Angebot“. Meine Damen und rechte führen Sie ein System der Dauerbeobachtung ein, Herren, das ist ziemlich lächerlich. das morgen auch für andere Anlässe missbraucht werden kann. Sie schaffen einen Präzedenzfall für all jene Ideo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) logen, die sich dann auf diese Entscheidung berufen kön- 8708 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Mario Mieruch (A) nen und, wie wir gelernt haben, ganz sicher auch werden. Erstens. Freifunk-Initiativen sind weit mehr als techni- (C) Sie schaffen einen Präzedenzfall für jene Umweltlob- sche Serviceanbieter, Provider. Sie sind gesellschaftlich bys, deren Agenda Sie damit eigentlich bestätigen und aktive Vereine, die darüber hinaus für ihre Nachbarschaft unterstützen. Das heißt dann nicht mehr „Abhören unter freies Internet zur Verfügung stellen, aber auch über Freunden“ – das war gestern –, das heißt dann künftig Wissen diskutieren, es weitergeben. Die Breminale, der „Ausspähen für den Klimawandel“. Hessentag in Rüsselsheim und das Musikfestival Open Ohr in Mainz sind Beispiele dafür, dass das Engagement Vielen Dank. dieser Gruppen und Initiativen wirkt und einen Nutzen (Beifall des Abg. Christian Sauter [FDP]) bringt. Zweitens. Die Menschen in Freifunk-Initiativen be- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: schäftigen sich auch mit politischen Vorhaben auf EU- Die Rede der Kollegin Daniela Ludwig können Sie und Bundesebene. Sie nehmen am gesellschaftlichen und aufmerksam im Protokoll nachlesen.1) politischen Diskurs teil, und sie fördern und gestalten diesen Wandel aktiv mit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Marianne Schieder [SPD] – Zurufe von der Drittens. Die Freifunk-Initiativen leisten auch einen CDU/CSU: Bravo!) wertvollen Beitrag zur Aus- und Weiterbildung. Sie tra- gen zur Integration, vor allen Dingen auch zur Teilhabe Ich schließe die Aussprache. am digitalen Leben und zur Bildung und Förderung des technischen Verständnisses in der Bevölkerung bei. Viele Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf den von Ihnen, von uns haben ja gerade erst erfahren müssen, Drucksachen 19/6334 und 19/6926 an die in der Tages- wie es bei uns oder auch in der Breite um die IT-Sicher- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich heit steht und dass man beim Datenschutz auf der Höhe sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Über- der Zeit sein muss. Da hilft auch technisches Verständnis. weisung so beschlossen. (Beifall bei der FDP) Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: Viertens. Es handelt sich um Initiativen aus der Mitte Beratung des Antrags der Abgeordneten Jimmy der Bevölkerung. Sie sind Teil der Zivilgesellschaft. Ins- Schulz, Frank Sitta, Grigorios Aggelidis, weite- besondere ihr soziales Engagement bei der Ausstattung rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP von Geflüchteten- und Obdachlosenunterkünften in ganz Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Frei- Deutschland mit Freifunk verdient Unterstützung. (B) funk-Initiativen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) Drucksache 19/6490 der SPD) Überweisungsvorschlag: Obwohl die Anerkennung der Gemeinnützigkeit einer- Finanzausschuss (f) seits hinreichend begründet wäre und andererseits kaum Ausschuss Digitale Agenda (f) finanzielle Einbußen für den Staat mit sich brächte, gibt Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz es keine einheitlichen Regeln durch die Finanzbehörden. Ausschuss für Wirtschaft und Energie Die fehlende klare Zuordnung zum Katalog des § 52 Ab- Federführung strittig gabenordnung macht es für die Vereine schwierig, die Gemeinnützigkeit erfolgreich zu beantragen – manche Interfraktionell sind 38 Minuten vorgesehen. – Es gibt bekommen sie, manche nicht. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Deswegen war ich sehr erleichtert, dass im Bundesrat Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für ein guter Gesetzentwurf eingebracht wurde. Er musste die Fraktion der FDP der Kollege Manuel Höferlin. nach der Bundestagswahl aufgefrischt werden, damit er (Beifall bei der FDP) auch in dieser Legislatur vorgelegt werden kann. Das ist im November geschehen. Ich bin froh, dass der Kollege Jimmy Schulz hier mit uns einen entsprechenden An- (FDP): Manuel Höferlin trag einbringt. Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Schleswig-Holstein – übrigens Länder, in denen wir an Kollegen! Ich freue mich sehr, dass wir heute in diesem der Regierung beteiligt sind, aber mit Partnern verschie- Haus endlich über die Anerkennung der Gemeinnützig- denster Farben –, alle sind sich eigentlich einig. Es gibt keit von Freifunk-Initiativen sprechen können. Ich bin sozusagen einen partei- und fraktionsübergreifenden selbst Freifunker. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass Konsens. Im Prinzip ließe sich dieser Antrag hier eigent- für die Vereine die Anpassung der Abgabenordnung not- lich sofort abstimmen, weil wir uns offensichtlich einig wendig und hilfreich ist. sind. (Beifall bei der FDP) (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deshalb kurz eine Zusammenfassung, um was es ei- NEN]: Warte mal ab!) gentlich geht. Ich lese zum Beispiel eine Pressemitteilung der Kolle- gen Zimmermann und Binding, in der sie sagen, dass sie 1) Anlage 2 die Initiative von Bundesfinanzminister Olaf Scholz zur Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8709

Manuel Höferlin (A) Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk unter- Um ehrenamtliches Engagement auch steuerlich zu (C) stützen. Das klingt erst mal gar nicht so schlimm – wenn fördern, enthält § 52 Absatz 2 Satz 1 der Abgabenord- nicht der Satz folgen würde: „Die SPD-Bundestagsfrak- nung einen umfangreichen Katalog von Zwecken, die als tion setzt sich für eine zeitnahe Umsetzung ein.“ Es hat gemeinnützig anerkannt werden können. Der Aufbau und mich sofort stutzig gemacht, dass man das reinschreibt. der Betrieb eines Freifunknetzes fallen zurzeit jedoch Heißt das jetzt – wie üblich bei der GroKo –, dass es dann noch nicht unter diesen Katalog gemeinnütziger Zwecke. erst mal länger nichts wird? Das ist meine Befürchtung. Deswegen bitte ich Sie einfach, diesem Antrag wohlge- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sonnen gegenüberzustehen. Wir könnten diesen Antrag NEN]: Es wird Zeit!) nicht nur in den Ausschuss überweisen – übrigens am Doch was ist Freifunk eigentlich? Mit Erlaubnis des liebsten in den Digitalausschuss, denn es geht um ein di- Präsidenten zitiere ich von der Internetseite hamburg. gitales Thema –, freifunk.net: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Vision von Freifunk ist die Verbreitung freier des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Tabea Netzwerke, die Demokratisierung der Kommunika- Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da tionsmedien und die Förderung lokaler Sozialstruk- gehört er auch hin! Ja! – Fritz Güntzler [CDU/ turen. Durch die Vernetzung ganzer Stadtteile wol- CSU]: Es geht doch um die Abgabenordnung! len wir der digitalen Spaltung entgegenwirken und Das ist ein Finanzthema!) freie unabhängige Netzwerkstrukturen aufbauen. sondern ihn auch als Parlament beschließen und dem Fi- Konkret hat sich also Freifunk zum Ziel gesetzt, of- nanzminister eine Hilfestellung geben, damit wir mög- fene, kostenlose WLAN-Netze einzurichten und diese lichst schnell das Gesetz bekommen, das er vorlegen miteinander zu verbinden. Dies ermöglicht einen freien möchte. Er kann übrigens einfach den Gesetzentwurf Datenverkehr in ganzen Städten und Regionen, innerhalb des Bundesrates übernehmen, weil da alles Notwendige des Freifunknetzes. Alle Freifunkgeräte bilden dabei ein drinsteht. sogenanntes Mesh-Netzwerk. Das bedeutet, dass alle Ge- räte innerhalb des Freifunknetzwerkes direkt miteinander (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anke kommunizieren können und somit ein eigenes Netzwerk Domscheit-Berg [DIE LINKE]) bilden. Freifunknetze werden komplett von ihren Nut- Nehmen wir den Antrag doch zum Anlass, unser Land zern geschaffen. Jeder Anwender ist zum gleichen Teil ein bisschen digitaler zu machen, die Zivilgesellschaft an dem Projekt beteiligt, und die Beteiligten betreiben zu stärken und das Engagement und Vorangehen im di- das Netzwerk auf eigene Kosten. Zuwendungen an Frei- (B) gitalen Leben zu unterstützen! Lassen Sie uns das doch funk-Initiativen in Form von Spenden sollen zukünftig (D) einfach gemeinsam machen! Darauf freue ich mich im steuerlich geltend gemacht werden können. Ausschuss. Meine Damen und Herren, schon in der letzten Le- Herzlichen Dank. gislaturperiode haben wir im Bereich Digitalisierung beim Thema der offenen WLAN-Hotspots einen großen (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Anke Schritt nach vorn gemacht. Domscheit-Berg [DIE LINKE] und Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nee!)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Natürlich war dies nur ein Punkt von vielen. So lag Der Kollege Uwe Feiler ist der nächste Redner für die eine Ursache für den geringen Ausbau der öffentlichen CDU/CSU-Fraktion. WLAN-Hotspots bisher darin, dass potenzielle Anbieter von WLAN-Internetzugängen aufgrund von Haftungsri- (Beifall bei der CDU/CSU) siken durch eine unklare Rechtslage verunsichert waren. Dem konnten wir mit dem Dritten Gesetz zur Änderung Uwe Feiler (CDU/CSU): des Telemediengesetzes entgegenwirken, indem wir die vielkritisierte Störerhaftung auf Unterlassung für Inter- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und netzugangsanbieter mit dem Gesetzestext rechtssicher Kollegen! Das ehrenamtliche Engagement der Bürgerin- abgeschafft haben. nen und Bürger in unserem Land mit all seinen Tätigkeits- feldern ist Ausdruck von Verantwortungsbereitschaft und (Beifall des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) von Solidarität mit der Gemeinschaft. Entscheidend für Die Abmahnkosten im Zusammenhang mit der Störer- den Zusammenhalt einer demokratischen Gesellschaft haftung können nun nicht mehr geltend gemacht werden. ist, ob die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, sich durch freiwilliges oder unbezahltes Engagement für das Ge- Doch wir können und wollen uns jetzt nicht auf den meinwohl einzusetzen. In Anbetracht der Herausforde- bisherigen Erfolgen ausruhen und sollten unter anderem rungen der aktuellen Zeit ist das selbstlose Engagement durch die Unterstützung von Freifunk-Initiativen dazu von Menschen aller Generationen von immer größer beitragen, dass Deutschland flächendeckend mit WLAN werdender Bedeutung, und man kann gar nicht oft genug versorgt wird. Danke sagen. (Beifall des Abg. [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) CSU]) 8710 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Uwe Feiler (A) Hierbei bedeuten die sogenannten lokalen Bürgernet- Und das scheint auch in Zeiten der Digitalisierung noch (C) ze eine deutliche Verbesserung der Infrastruktur. Es gibt gut zu funktionieren; denn mittlerweile finden sich Men- allerdings auch gewisse Grenzen. Ein sachlicher Grund schen zusammen, die sich in Freifunk-Communities en- für die Gewährung steuerlicher Vorteile fehlt zum Bei- gagieren. Über 500 Initiativen, Vereine und Gruppen gibt spiel, wenn nichtbegünstigte Unternehmen vergleichbare es davon. Ziel ist jeweils, ortsbezogene WLAN-Netze Produkte anbieten. Aus Wettbewerbsgründen ist es daher zur kostenlosen Nutzung für alle zu schaffen. Hier bau- erforderlich, den Förderzweck auf unentgeltliche Tätig- en also Bürger auf lokaler Ebene Netze und schließen keiten zu beschränken. dabei so manche Lücke in der Infrastruktur. Aber leider Unter bestimmten Voraussetzungen können bereits verheddern sich diese Bürger, die sich um freies WLAN, heute Körperschaften, die sich im Freifunk engagieren, also um Freifunk, kümmern, oft in der Bürokratie: Die steuerlich begünstigt werden. Als gemeinnützige Zwecke Freiwilligenarbeit wird erschwert durch nicht angepass- kommen hierbei die Förderung von Volks- und Berufsbil- te bzw. unklare gesetzliche Regelungen. Es gibt unter- dung oder die Förderung mildtätiger Zwecke in Betracht. schiedliche Handhabungen durch regionale Behörden. Die Praxis, meine Damen und Herren, hat allerdings ge- zeigt, dass die gemeinnützigkeitsrechtliche Beurteilung Es geht hier um die Einstufung der Gemeinnützig- die Wirklichkeit nicht vollumfänglich abdeckt. Daher ist keit für Freifunk-Initiativen. Die Abgabenordnung an- nun eine Ergänzung der Katalogzwecke in § 52 Absatz 2 zupassen, ist die Lösung; das haben die Vorredner auch Satz 1 der Abgabenordnung um eine neue Nummer 26 – schon gesagt. Wir sagen alle das Gleiche – so habe ich „Freifunk-Netze“ – geplant. Dadurch wird eine Steuer- das Gefühl. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode begünstigung wegen Gemeinnützigkeit auch für Frei- sollten hier im Bundestag die rechtlichen Grundlagen ge- funk-Initiativen in der Rechtsform einer Körperschaft, schaffen werden. Dazu kam es aber nicht. Nun liegt ein also zum Beispiel Vereinen, ermöglicht. Gesetzentwurf des Bundesrates vor, die Abgabenordnung entsprechend zu ändern. Der heute behandelte Antrag der Neben der Anerkennung der Gemeinnützigkeit von FDP bezieht sich konkret darauf, die Einrichtung und Freifunk, meine Damen und Herren, haben wir im Be- Unterhaltung von Freifunknetzen in den Katalog der ge- reich der Gemeinnützigkeit einige weitere Punkte er- meinnützigen Zwecke im Sinne des § 52 Absatz 2 Satz 1 kannt, die wir verbessern wollen und müssen. So sollen der Abgabenordnung aufzunehmen. So einfach ist das. auch die Entbürokratisierung des Ehrenamtes sowie eine Mit dieser einfachen Maßnahme und unserer hoffentlich bessere Förderung von bürgerschaftlichem und ehren- baldigen gemeinsamen Entscheidung hier im Deutschen amtlichem Engagement vorangetrieben werden. Bundestag wird es endlich Rechtsklarheit geben. Dann Wir dürfen uns bei einer gesetzlichen Änderung der können sich immer mehr Bürger auch finanziell einbrin- (B) Abgabenordnung nicht nur auf den Punkt „Gemeinnüt- gen. Denn Spenden für Freifunkprojekte werden steuer- (D) zigkeit“ beschränken. Daher wollen wir die steuergesetz- abzugsfähig sein. Wobei sich der Finanzminister ruhig lichen Änderungen, die diesbezüglich zur Umsetzung zurücklehnen kann: Hier geht es um Peanuts. des Koalitionsvertrags erforderlich sind – natürlich ein- schließlich der Förderung des Freifunks –, in einem kom- Ganz wichtig ist, dass wir mit einem Ja zur Änderung plett neuen Gesetzentwurf bündeln. Dann sind wir einen der Abgabenordnung auch ein deutliches Zeichen in weiteren großen Schritt vorangekommen, und das nicht Richtung der Digitalisierung setzen. Denn was Einrich- nur für unsere wichtigen Freifunk-Initiativen, sondern tungen zugestanden wird, die sich für Kunst und Kultur, für alle ehrenamtlich engagierten Menschen in Deutsch- Brauchtum, Sport und Jugendhilfe einsetzen, muss auch land. Sie sehen, meine Damen und Herren: Die Große Initiativen zugestanden werden, die sich darum küm- Koalition handelt. mern, Basisarbeit für die Digitalisierung zu leisten, somit Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. der Daseinsvorsorge zu dienen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der AfD) ordneten der SPD) Meine Damen und Herren, als Alternative für Deutsch- land sind wir glühende Verfechter des Ehrenamtes und Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: des Engagements von Bürgern. Und vorliegend stimmt Für die AfD-Fraktion hat der Kollege Uwe Schulz das der Hauptzweck, nämlich die Ausweitung des Kommu- Wort. nikationsnetzes durch Freiwillige, also durch Mitbür- (Beifall bei der AfD) ger, die das mal einfach so nebenbei machen. Auch die Nebeneffekte sind stark. Bürger jeden Alters können sich engagieren, ihr technisches Wissen erweitern, An- Uwe Schulz (AfD): wendungen erproben, diese weiterentwickeln. Es gibt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Digi- eine tolle Chance für Tüftler und Denker. MINT ist das talisierung ist zwar in aller Munde, aber sie ist lange noch Stichwort. Was die Schulausbildung kaum leistet – der nicht auf breiter Fläche in Deutschland angekommen – Bürger nimmt es hier praktisch in die Hand. Ganz neben- ganz einfach, weil die Grundvoraussetzung fehlt oder bei kommt es zu einem persönlichen Austausch und dem lückenhaft ist, nämlich die Netzversorgung. Zusammenwirken in einer Gruppe. Analoge Kommuni- Man sagt ja: Wenn sich drei Deutsche treffen, dann kation, meine Damen und Herren, mitten in der Digitali- suchen sie sich vier weitere und gründen einen Verein. – sierung ist doch etwas Schönes. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8711

Uwe Schulz (A) Die AfD stimmt für die Überweisung an den Aus- Mitglied im Finanzausschuss und muss an dieser Stelle (C) schuss Digitale Agenda. ausnahmsweise sagen: Es ist ein Gemeinnützigkeitsthe- ma. Deswegen ist es auch im Finanzausschuss richtig Danke. angesiedelt. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Es ist nicht oft der Fall, dass ich dieser Meinung bin. Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dr. Jens Aber ausnahmsweise ist es in diesem Fall im Finanz- Zimmermann das Wort. ausschuss richtig. Allerdings sind wir gut darin, im Aus- schuss Digitale Agenda mitzuberaten. Das werden wir an (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dieser Stelle auch tun. der CDU/CSU) Wichtig ist aber, dass wir in dieses Paket auch weitere Gemeinnützigkeitstatbestände mit aufnehmen, zur För- Dr. Jens Zimmermann (SPD): derung bürgerschaftlichen Engagements. Deswegen ist Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- es, glaube ich, gut, dass die Bundesregierung in der Ge- ren! Was nützt eigentlich der Gemeinschaft, und welche genäußerung zur Bundesratsinitiative jetzt all das auch Aktivitäten sollten wir deswegen steuerlich fördern? angekündigt hat. Wir werden da auch Druck machen, Diese einfache Frage – das stellt man fest – verändert damit es nicht länger dauert als nötig. Ich bin sicher: Wir sich ganz offenbar von Zeit zu Zeit. Denn wenn man ein- werden das hinbekommen und werden damit auch dafür mal in die lange Liste von Dingen schaut, die wir steu- sorgen, dass die Freifunk-Initiativen, die jetzt Bedenken erlich fördern, weil wir glauben, dass sie gemeinnützig haben, was die Gemeinnützigkeit zum 1. Januar 2019 sind, sieht man: Darin stehen zwar Dinge wie das Ama- angeht, am Ende auch über Planungssicherheit verfügen, teurfunken; aber so etwas wie Freifunken taucht dort meine Damen und Herren. nicht auf. – Das ist eigentlich überraschend. Deswegen ist es in meinen Augen absolut richtig, dass wir uns als (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gesetzgeber dieses Themas annehmen und dass auch die der CDU/CSU) Bundesregierung bereit ist, einen Gesetzentwurf einzu- Insofern freue ich mich darüber, dass wir hier den bringen, um die Gemeinnützigkeit für die Freifunk-Initi- großen Konsens im Deutschen Bundestag beim Thema ativen einzuführen. Freifunk hinbekommen haben. Danke noch einmal al- (Beifall bei der SPD) len Freifunkerinnen und Freifunkern für ihre Initiative! Denn sie ist wirklich für die Gemeinschaft nützlich. (B) Der Kollege Höferlin hat schon gesagt, dass diese (D) Geschichte wahrscheinlich eine Geschichte voller Miss- Danke schön. verständnisse ist; sonst hätten wir es schon viel länger (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geschafft. Wenn ich die Reden hier richtig interpretiere, der CDU/CSU) sind wir an dem mittlerweile doch relativ selten gewor- denen Punkt, dass das ganze Haus eigentlich dafür ist, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dass die Gemeinnützigkeit für Freifunk-Initiativen ge- währt wird. Nächste Rednerin für die Fraktion Die Linke ist die Kollegin Anke Domscheit-Berg. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Die Union war schon immer dafür!) (Beifall bei der LINKEN) Das ist sehr zu begrüßen; denn die Menschen, die sich Anke Domscheit-Berg (DIE LINKE): in diesen Initiativen einbringen, leisten in meinen Augen wirklich ein gutes Werk für die Gesellschaft. Sie bauen Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und die Netze auf. Davon haben wir gesprochen. Kollegen! Eigentlich basiert das Internet auf dem Grund- prinzip des Dezentralen. Digitale Monopole verletzen Ich finde es super, dass auch die AfD eine ehrenamtli- aber dieses Grundprinzip und brachten uns schon viele che Initiative unterstützt, die für Flüchtlingsheime Inter- Nachteile: Sie drücken sich um Steuerzahlungen und ma- net bereitstellt. chen auf Kosten vieler eine Handvoll Menschen unvor- stellbar reich. Unser aller Daten sammeln und verscher- (Zurufe von der CDU/CSU: Nein! – Ach!) beln sie an Dritte, damit wir deren Waren kaufen oder Am späten Abend kommt hier im Deutschen Bundestag um demokratische Prozesse wie Wahlen zu beeinflussen. also doch noch Erkenntnis. Es ist doch schön, das einmal Marktgetriebene Geschäftsmodelle sozialer Netze, die mitzuerleben, meine Damen und Herren. negative Inhalte bevorzugt verbreiten, vergiften das Kli- ma in unserer Gesellschaft. Aus all diesen Gründen sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Zentralisierung und Monopolisierung ein strukturelles ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Problem mit unerwünschten sozialen Folgen. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Haben die gar nicht bedacht!) (Beifall bei der LINKEN) Wir haben aber nicht nur das Thema Freifunk, sondern Mehr Dezentralität in der digitalen Gesellschaft ist daher das Thema Gemeinnützigkeitsrecht insgesamt. Ja, ich eine gute Sache – erst recht, wenn sie sich mit Gemein- bin zwar digitalpolitischer Sprecher, aber ich bin auch wohlorientierung paart. 8712 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Anke Domscheit-Berg (A) Freifunk als Gemeinschaftsnetzwerk frei nutzbarer nen auch der Freifunk gehört, aus dem aktuellen Bundes- (C) WLAN-Router ist ein Puzzleteil im Gesamtbild einer ratsvorschlag zu übernehmen. Wir brauchen diese tech- digitalen Gesellschaft, die genau das ist: dezentral und nologieneutrale Definition, damit die Gemeinnützigkeit gemeinwohlorientiert. Je enger dieses Netz geknüpft ist, auch auf zukünftige Zugangstechnologien anwendbar ist umso mehr Menschen können auf das Wissen der Welt und man nicht jedes Mal neu dafür kämpfen muss. zugreifen und sich miteinander vernetzen. Teilhabe an der digitalen Gesellschaft wird so auch denen ermög- Im Namen der Linksfraktion möchte ich den Frei- licht, die sich vielleicht keinen eigenen Internetanschluss funkerinnen und Freifunkern Danke sagen: Danke für leisten können. Freifunkerinnen und Freifunker demo- Akrobatik auf Dächern und Balkonen, für WLAN in kratisieren so das Netz und setzen das Grundrecht auf Flüchtlings- und Obdachlosenheimen, auf Schulhöfen Internetzugang einfach mal um. und auf Bahnsteigen – an über 45 000 Zugangsstationen in Deutschland. Ihr seid großartig. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Gemeinsam errichten sie eine Gemeingutinfrastruktur NIS 90/DIE GRÜNEN) des Internets, die völlig unabhängig ist, die allen gehört Im Übrigen bin ich der Auffassung – leider immer und bei vielen Knotenpunkten quasi ausfallsicher ist. noch –, dass Informationen zum Schwangerschaftsab- Freifunker teilen ihr Wissen. Sie schulen interessierte bruch nichts im Strafgesetzbuch verloren haben. § 219a Menschen, und von Router zu Router schicken sie In- gehört abgeschafft. formationen, selbst dann, wenn das Internet mal nicht funktioniert. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Diese soziale und unkommerzielle Alternativwelt der neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Freifunker ist eigentlich viel zu wenig bekannt. Ich hoffe, dass sich das ändert und Freifunkerinnen und Freifunker keine Steine mehr in den Weg gelegt bekommen, son- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dern dass wir ihnen rote Teppiche ausrollen und ihnen Die nächste Rednerin für Bündnis 90/Die Grünen, die das Knüpfen eines flächendeckenden Freifunknetzes in Kollegin Tabea Rößner. ganz Deutschland erleichtern. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) NIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Daran kann sich übrigens auch jeder beteiligen. Mitma- Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen ist nämlich ganz einfach. Auch in meinen Wahl- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge- kreisbüros in Oranienburg, Brandenburg an der Havel ehrter Kollege Feiler, lassen Sie uns eine Zeitreise in den und Bad Belzig gibt es Internet per Freifunk. Sommer 2017 machen. Da waren Sie schon, soweit ich Gerade jetzt, wo Egoismus und Ausgrenzung Kon- weiß, Mitglied dieses Hauses. Da stand schon mal ein junktur haben, braucht es eine starke Gegenbewegung von uns mit angeschobener Vorschlag des Bundesrats hin zu Öffnung und zum sozialen Teilen, selbst mit Men- zu Freifunk auf der Agenda. Union und SPD hatten den schen, die man gar nicht kennt. Es braucht mehr Einsatz Gesetzentwurf aber immer wieder verschleppt, sodass er für das Gemeinsame, das uns alle verbindet. am Ende der Diskontinuität zum Opfer fiel. So viel zum großen Fortschritt. (Beifall bei der LINKEN) Egal, was Sie heute hier beteuern: Wenn Sie damals Deshalb sollten digitale Graswurzelinitiativen, die dem den Beschluss im Bundestag nicht blockiert hätten, dann Gemeinwohl dienen, stets gefördert und niemals behin- hätten wir die Gemeinnützigkeit von Freifunk längst. dert werden. Viele Jahre lang aber behinderte die Störer- haftung alle Freifunker, da ihnen hohe Strafen drohten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenn Nutzer ihrer Internetzugänge mal ein Lady-Ga- sowie bei Abgeordneten der FDP) ga-Lied herunterzogen. Die Störerhaftung ist inzwischen abgeschafft. Die nun beantragte Anerkennung der Ge- Und es ist ein Trauerspiel, dass seitdem wieder zwei Jah- meinnützigkeit von Freifunkvereinen würde ihnen vieles re ins Land gezogen sind, ohne dass etwas passiert ist. erleichtern, zum Beispiel die Infrastruktur für den Aus- Deswegen verstehen Sie sicher meine Skepsis, wenn hier bau ihres unkommerziellen Netzes durch Spenden oder und heute wieder tolle Sonntagsreden gehalten werden Förderprogramme zu finanzieren. und alle beteuern, wie toll Freifunk und die Ehrenamt- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- lichen sind und dass man ja die Unterstützung von Frei- NIS 90/DIE GRÜNEN) funk auch in den Koalitionsvertrag geschrieben habe. Aber: Da steht ja so einiges Schöne drin, was auf Um- Ich hoffe, die Bundesregierung nimmt den vorliegen- setzung wartet. den Antrag zum Anlass, endlich zu handeln und dabei die technologieneutrale Bereitstellung offener und freier Und Freifunk im Koalitionsvertrag hin oder her: Bis- Kommunikationsnetzwerke ohne Gegenleistung, zu de- her haben Sie das Thema selbst noch nicht angepackt. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8713

Tabea Rößner (A) Erst die von Grünen und auch FDP aus Schleswig-Hol- ist ein Szenario, das wir nicht wollen, und deswegen dan- (C) stein angeführte Initiative und der neuerliche Vorstoß im ke ich der FDP für ihren Vorstoß. Bundesrat haben wieder Schwung in die Sache gebracht. Dort fand der Antrag übrigens eine breite Mehrheit. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]) Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Ach so?) Die Anerkennung der Gemeinnützigkeit von Freifunk Warum ist die Unterstützung von Freifunk so wichtig? ist sinnvoll und überfällig. Der Gesetzentwurf ist einfach, Viele haben schon vieles gesagt. Freifunker sind Visio- klar und leicht umzusetzen. Deswegen fordere ich Sie näre. Sie teilen ihr Wissen und ihre Ressourcen. Hinter auf: Kommen Sie aus dem Knick, und ermöglichen Sie ihrer Arbeit stecken Einsatz und Leidenschaft. Sie wer- endlich freie Netze! den aktiv, kommen runter vom Sofa und klettern rauf auf Kirchtürme und Rathausdächer. Sie verbinden Dörfer Vielen Dank. und Stadtteile und schaffen gesellschaftliche Netzwerke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ihr Engagement für freie Netze, freie Software, Nach- barschaftsinitiativen, für digital Abgehängte im Interesse des Gemeinwohls verdient Lob, Anerkennung und Un- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: terstützung. Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Sebastian Brehm. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Stattdessen macht ihnen eine veraltete Abgabenordnung ihr digitales Ehrenamt unnötig schwer. Sebastian Brehm (CDU/CSU): All das hat sich inzwischen rumgesprochen, und des- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wegen kann ich heute nur sagen: Guten Morgen, FDP! Vielleicht schaut auch jemand im Livestream zu, falls Schön, dass Sie jetzt bei dem Thema auch mit an Bord WLAN da ist. Ich muss ehrlicherweise zugeben: Bei der sind. Vorbereitung meiner Rede hätte ich gerne auf eine Frei- funk-Initiative zurückgegriffen, weil mir das Bundes- (Manuel Höferlin [FDP]: Wir haben doch vor tags-WLAN dreimal abgeschmiert ist. Man sieht also, zwei Jahren miteinander verhandelt in Rhein- wie wichtig die ganze Angelegenheit ist. land-Pfalz!) (B) Was gibt es Schöneres, als als Finanzpolitiker und (D) Wir Grüne sind in den vergangenen Jahren, als Sie noch Steuerberater jetzt um knapp 23 Uhr eine steuerpoliti- im Bildungsurlaub waren, Marathon gelaufen, haben im- sche Debatte über die Regelungen der Abgabenordnung mer und immer wieder Initiativen vorgelegt und auf die führen zu dürfen. Das ist nämlich kein Thema der Digi- Bedeutung von Freifunk hingewiesen. Und jetzt springen talisierung, sondern ein Thema des steuerlichen Verfah- Sie auf den letzten Metern mit Ihrem Antrag auf den fah- rensrechts und der Abgabenordnung. renden Zug. Late to the party, könnte man sagen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Manuel Höferlin [FDP]: Wenn Sie es nicht besser wüssten, Frau Kollegin! – Thomas Noch dazu geht es um das schwierige Thema Ver- Jarzombek [CDU/CSU]: Es gibt keine Koali- einssteuerrecht, um den dritten Abschnitt des zweiten tion in der Opposition!) Teils der Abgabenordnung, um die §§ 51 ff. der Abga- benordnung. Das ist letztlich steuerpolitisches Hochreck Allerdings: Ich fürchte, der Zug wird ordentlich ins zu später Stunde. Wenn man nämlich in die Vorschriften Stocken geraten. Zwar gibt es seit vergangener Woche hineinschaut, stellt man fest, dass das alles gar nicht so die Zusage der Bundesregierung, sich des Themas end- einfach ist, wie Sie das hier so pauschal sagen. lich anzunehmen. Ich sehe aber schon Folgendes kom- men: Die Koalition wird den Gesetzentwurf des Bun- Es gibt unglaublich viele Vorschriften im Vereinssteu- desrats nicht übernehmen, sondern lange brauchen, um errecht, sei es die Unterscheidung zwischen einem ide- einen eigenen Vorschlag zu erarbeiten. Da quetscht sie ellen Bereich, Zweckbetriebe, Vermögensverwaltung dann eine Reihe weiterer Punkte mit hinein, und wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb. All diese Fragen müssen natürlich bei einer solchen Diskussion zunächst (Uwe Feiler [CDU/CSU]: Wichtige Punkte!) einmal ordentlich durchdekliniert werden. die mit Freifunk nichts zu tun haben. Darüber entsteht dann eine große Kontroverse, die Befassung verschiebt (Manuel Höferlin [FDP]: Das haben wir sich immer wieder, und siehe da: Plötzlich sind Neuwah- schon vor vier Jahren gemacht!) len, und das Ganze fängt wieder von vorne an. All das müssen übrigens die Vereinsvorstände und (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das habt Schatzmeister bei der Einreichung der entsprechenden ihr selber mit in der Hand!) Steuererklärung wissen. Hinzu kommen ertragsteuerli- che und umsatzsteuerrechtliche Fragestellungen. Eine Am Ende haben alle das Nachsehen, vor allem die Frei- pauschale, einfache Antwort nach dem Motto „Wir ma- funker, die Sie doch eigentlich unterstützen wollen. Das chen das ganz schnell“ gibt es im Steuerrecht leider nicht. 8714 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Sebastian Brehm (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie beantragen ja, Ich glaube, wir brauchen ein Gesetz, das entbürokrati- (C) die Bundesratsinitiative zur Änderung der Abgabenord- siert, das den Vereinen die Arbeit erleichtert. Ich habe ja nung zwecks der Anerkennung der Gemeinnützigkeit gerade beschrieben, wie kompliziert dieser Teil der Ab- von Freifunk-Initiativen zu unterstützen. Diese Steu- gabenordnung ist. erbefreiung ist gemäß Abgabenordnung nur nach ganz (Zurufe der Abg. Tabea Rößner [BÜND- bestimmten Voraussetzungen anzuerkennen, eben den NIS 90/DIE GRÜNEN]) in § 52 Absatz 2 Abgabenordnung genannten. Und da werden detailliert 25 Beispiele genannt, zum Beispiel – Sie wissen ja auch nicht, wie kompliziert das ist. – Der Förderung von Wissenschaft und Forschung, von Kunst Punkt ist: Wir müssen diese Kompliziertheit und die und Kultur, von Sport, von Naturschutz, von Tierschutz. steuerlichen Konsequenzen daraus für die Vereinsvorsit- Aber die Antwort auf die Digitalisierung ist in der Ab- zenden, für die Schatzmeister entsprechend entschärfen. gabenordnung – das ist richtig – bisher leider noch nicht Deswegen hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnah- enthalten. Deswegen beantragen Sie, die Freifunknetze me zu der Bundesratsinitiative ganz deutlich in dem Sin- als Nummer 26 aufzunehmen. ne Stellung bezogen, dass ein solcher Gesetzentwurf mit etwas mehr als nur einer zusätzlichen Nummer 26 in den Ähnlich wie bei der Diskussion zum Thema Zoll heu- nächsten Wochen ergeht. te früh brauchen wir Ihren Antrag aber nicht, weil alles schon umgesetzt ist und alles von der Regierungskoali- (Manuel Höferlin [FDP]: Noch eine Ausre- tion und von der Bundesregierung schon auf den Weg de!) gebracht worden ist. Dann werden wir im Finanzausschuss darüber diskutie- ren. Dort gehört das Thema auch hin, weil es sich um (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei Abge- eine Diskussion über das steuerliche Verfahrensrecht in ordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/ der Abgabenordnung handelt. Natürlich werden wir das DIE GRÜNEN) in den Wochen nach der Diskussion dann auch umsetzen. Für uns besteht kein Zweifel daran – das steht auch so im Wir halten Wort. Wir werden das umsetzen, was im Koalitionsvertrag –, Koalitionsvertrag steht. Darin steht, dass die Gemeinnüt- zigkeit von Freifunk-Initiativen von uns unterstützt wird. (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Deswegen werden wir das auch umsetzen. GRÜNEN]: Da steht es gut, gell?) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. dass die Freifunk-Initiativen einen positiven Beitrag in (Beifall bei der CDU/CSU) Sachen WLAN in Deutschland leisten. Es besteht auch (B) (D) überhaupt kein Grund, daran zu zweifeln, dass wir die Gemeinnützigkeit anerkennen wollen. Wir wollen die Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Gemeinnützigkeit von Freifunk-Initiativen in Deutsch- Die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt: land anerkennen, sowohl für den Betrieb als auch für die die Kollegin , SPD-Fraktion. Unterhaltung der WLAN-Netze, natürlich nicht für die (Beifall bei der SPD) gewerblichen Anbieter, sondern nur für diejenigen, die das Netz ohne Gegenleistung anbieten; so ist es ja auch in der Abgabenordnung geregelt. Saskia Esken (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Manuel Höferlin [FDP]: Das heißt ja auch Meine sehr geehrten Damen und Herren! Das offene Freifunk!) und freie Web ist in Gefahr, es ist höchste Zeit für eine Rettungsmission. – Das haben nicht die Freifunker ge- Aber warum hat das länger gedauert? Das wissen Sie: sagt, auch wenn sie es hätten sagen können, sondern Weil zunächst das Telemediengesetz geändert werden Tim Berners-­Lee, der Erfinder des World Wide Web, in musste. Das ist gemacht worden; es ging um die Ab- Lissabon. Berners-Lee sieht seine Idee tatsächlich be- schaffung der Störerhaftung. Wir hatten in Deutschland droht, und zwar von zwei Seiten: auf der einen Seite vom ja ein Gesetz, nach dem diejenigen, die das Netz anbie- wachsenden Überwachungs- und Kontrollbedürfnis des ten, letztlich in der Haftung waren für Urheberrechts- Staates und auf der anderen Seite von der immer weiter verstöße und anderes. Das haben wir abgeschafft. Jetzt um sich greifenden Kommerzialisierung des Netzes, das ist der Weg frei für die Gemeinnützigkeit der Freifunk-­ einst auf Freiheit, ­Offenheit und Dezentralität begründet Initiativen. Deswegen ist es, glaube ich, richtig, jetzt den wurde. Schritt zu gehen. (Unruhe) Ich glaube aber, es reicht nicht aus, dass wir bloß eine Hunderte von Freifunk-Initiativen in Deutschland – Nummer 26 in der Abgabenordnung hinzufügen. meine sehr verehrten Damen und Herren, die Unterstüt- (Manuel Höferlin [FDP]: Doch!) zer dieser Freifunk-Initiativen hören uns wahrscheinlich gerade zu; es wäre schön, wenn auch Sie zuhören wür- Wir wollen vielmehr einen größeren Wurf machen. den –, setzen genau da an. Sie organisieren freie, offene und lokale, dezentrale Netze, und zwar in Bürgerhand. (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Freifunk-Initiativen haben – wir haben es gehört – schon NEN]: Ich habe es doch gesagt!) zahllose Jugendhäuser, Schulen, Unterkünfte für ge- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8715

Saskia Esken (A) flüchtete Menschen, aber auch Rathäuser mit einem lo- Antrags nicht übel zu nehmen und sich unserem Vorha- (C) kalen Netz versorgt. Sie laden zum Mitmachen und Ge- ben anzuschließen. stalten ein. Dabei lernt man eine Menge über die Technik Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. des Netzes, aber auch über Themen wie Datenschutz und ‑sicherheit. Wir haben in den letzten Tagen erfahren, wie (Beifall bei der SPD) wichtig diese Kenntnisse sind. Damit leisten Freifunk-­ Initiativen unbestreitbar einen wertvollen Beitrag zur di- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gitalen Souveränität. Das alles machen Freifunker nicht Vielen Dank, Frau Kollegin. – Ich schließe die Aus- beruflich; das machen sie in ihrer Freizeit – ehrenamt- sprache. lich, wie man so schön sagt. Liebe Kolleginnen und Kol- legen, seien wir ehrlich: Gemeinnütziger geht es kaum. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 19/6490 an die in der Tagesordnung auf- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Allerdings ist die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Federführung strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und Es ist an der Zeit, dass wir das zivilgesellschaftliche der SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Engagement dieser Initiativen nicht länger nur in Sonn- Die FDP wünscht Federführung beim Ausschuss Digitale tagsreden wertschätzen. Es ist an der Zeit, dass wir Frei- Agenda. funker von bürokratischen Lasten befreien und für ihre Ich lasse zunächst abstimmen über den FDP-Vor- Rechtssicherheit sorgen, vor allem in Steuerfragen. Des- schlag, Federführung beim Ausschuss Digitale Agenda. halb ist es an der Zeit – die SPD setzt sich seit langem Wer stimmt dafür? – Das sind AfD, FDP und Die Linke. dafür ein –, dass wir die Gemeinnützigkeit von Freifunk-­ Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koalition sowie die Initiativen nicht nur politisch, sondern eben auch staat- Fraktion der Grünen. Enthaltungen? – Keine. Damit ist lich anerkennen. der Überweisungsvorschlag abgelehnt. (Beifall bei der SPD) Ich lasse abstimmen über den Überweisungsvorschlag In der vergangenen Legislatur – so viel muss zur ge- der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, also Feder- schichtlichen Wahrheit vielleicht noch beigetragen wer- führung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen den – ist unsere entsprechende Initiative am Widerstand Vorschlag? – Das sind die Koalition und die Grünen. Wer des Koalitionspartners, an der Verschleppung durch den stimmt dagegen? – AfD, FDP und Die Linke. Enthaltun- Koalitionspartner gescheitert. gen? – Keine. Damit ist der Überweisungsvorschlag an- genommen. (B) (Michael Donth [CDU/CSU]: Oh! – Weiterer Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf: (D) Zuruf von der CDU/CSU: Völlig falsch!) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Jetzt ist es uns aber gelungen, die Anerkennung der Ge- regierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften meinnützigkeit von Freifunk und ähnlichen vergleichba- Gesetzes zur Änderung des Allgemeinen Ei- ren Initiativen in den Koalitionsvertrag aufzunehmen; senbahngesetzes und wir werden das auch umsetzen. Drucksache 19/5421 (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Manuel Höferlin [FDP] – Manuel Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Höferlin [FDP]: Sie stellen ja den Finanzmi- schusses für Verkehr und digitale Infrastruktur nister!) (15. Ausschuss) Die FDP legt heute einen Antrag zu diesem guten und Drucksache 19/7084 wichtigen Vorhaben vor. Sie hat sich zwar nicht die Ar- Die Reden sollen alle zu Protokoll gegeben werden. beit gemacht, einen eigenen Antrag zu schreiben; aber Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.1) man kann sich ja durchaus an guten Beispielen orientie- ren. Wir kommen zur Abstimmung; es wäre schön, wenn Sie dazu noch hierblieben. Der Ausschuss für Verkehr (Manuel Höferlin [FDP]: Wir haben es im und digitale Infrastruktur empfiehlt in seiner Beschluss- Land schon gemacht!) empfehlung auf Drucksache 19/7084, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 19/5421 in der Sie bezieht sich auf den Gesetzentwurf des Bundesrats, Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die den die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ja auch dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen ausdrücklich begrüßt. Doch das allein reicht natürlich wollen, um das Handzeichen. – Das ist einstimmig. Der nicht. Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom- Liebe Freifunker, wir stehen zu unserem Wort. Wir men. verwandeln unsere politische Anerkennung eurer Ge- Dritte Beratung meinnützigkeit endlich in staatliche Anerkennung. Die Gesetzesinitiative, die unser Finanzminister Olaf Scholz und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem angekündigt hat, muss jetzt zügig ins Kabinett und dann Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Das zur Umsetzung kommen. Ich kann die Fraktion der FDP insofern nur einladen, uns die formale Ablehnung ihres 1) Anlage 3 8716 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) sind wiederum alle. Auch das ist einstimmig, keine Ge- Sabine Leidig (DIE LINKE): (C) genstimmen, keine Enthaltungen. Der Gesetzentwurf ist Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! angenommen. Liebe sonstige Interessierte zu später Stunde! Die Deut- sche Bahn AG ist in einer tiefen Krise. Wir wollen den Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a bis 21 d auf: Kollaps verhindern. Der unselige Privatisierungskurs a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine muss endlich beendet werden. Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Lorenz Gösta (Beifall bei der LINKEN) ­Beutin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Wir brauchen eine demokratische Bürgerbahn als Rück- grat für die sozialökologische Verkehrswende. Drohenden Kollaps verhindern – Deutsche Bahn AG demokratisch umbauen Aber der Reihe nach: Vor 25 Jahren ist die Deutsche Bahn als Aktiengesellschaft in eine privatrechtliche Form Drucksache 19/7024 gepresst worden – von der überwältigenden Mehrheit des Bundestages: CDU, CSU, SPD, FDP und Teilen der Grü- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) nen. Damals hat die Gruppe Die Linke/PDS dagegenge- Ausschuss für Wirtschaft und Energie stimmt. Danach war sogar geplant, Anteile an der Börse Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit zu verkaufen. Daraus ist zum Glück nichts geworden. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Aber was ist eigentlich aus den Versprechen der Bahn- richts des Ausschusses für Verkehr und digitale reform von 1994 geworden? Heute schlägt ein Rekord- Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der hoch bei den Schulden zu Buche, zugleich ein Rekordtief Abgeordneten Sabine Leidig, Bernd Riexinger, bei der Pünktlichkeit im Fernverkehr. Damals hat Bahn- Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und chef Dürr einen Ausbau der Schiene versprochen. Tat- der Fraktion DIE LINKE sächlich wurde das Schienennetz um fast 7 000 Kilome- ter gekappt, die Zahl der Gleisanschlüsse um 80 Prozent Offenlegung von neuen Gutachten zur Deut- reduziert, die Zahl der Weichen halbiert, und die Qualität schen Bahn AG der Infrastruktur – wir haben es heute Morgen gerade wieder gehört – wird täglich schlechter. Drucksachen 19/481, 19/2352 Statt der zugesagten langfristigen Perspektive für c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner ist die Zahl der richts des Ausschusses für Verkehr und digitale Beschäftigten im Schienenbereich von 340 000 auf (B) Infrastruktur (15. Ausschuss) zu dem Antrag der 180 000 Vollzeitkräfte fast halbiert worden. Berufe wur- (D) Abgeordneten Sabine Leidig, Bernd Riexinger, den entwertet. Die Zufriedenheit der Beschäftigten mit Dr. Gesine Lötzsch, weiterer Abgeordneter und der DB ist so niedrig wie nie zuvor, die Arbeitsbelastung der Fraktion DIE LINKE dafür umso höher. Die Personallücken können gar nicht schnell genug gefüllt werden. Ausstieg und Umstieg bei dem Bahnprojekt Stuttgart 21 Bahnhöfe sind die Visitenkarten der Bahn, erklär- te Heinz Dürr damals. Aber mehr als die Hälfte der Drucksachen 19/480, 19/3589 Bahnhöfe ist inzwischen verkauft. Über 90 Prozent der d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Torsten Bahnhöfe sind ohne Personal, viele unwirtlich. Mancher Herbst, Frank Sitta, Grigorios Aggelidis, weiterer Großstadtbahnhof gleicht einer Shoppingmall und steht Abgeordneter und der Fraktion der FDP im Zeichen von Immobilienspekulationen. Die zugesagte Entlastung der Steuerzahlerinnen und Digitalisierung der Schiene durch Verkauf Steuerzahler ist nicht eingetreten. Die staatlichen Zah- von Beteiligungen der Deutschen Bahn AG lungen für die Schiene sind heute wesentlich höher als vorantreiben vor der Bahnreform. Das kritisieren wir nicht. Aber es Drucksache 19/6284 hat nur beim Nahverkehr dafür auch den versprochenen Zuwachs gegeben. Beim Fernverkehr ist die Zahl der Überweisungsvorschlag: Fahrgäste kaum gestiegen, und beim Güterverkehr leistet Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) die Bahn heute weniger als 1990. Post und Stückgut zum Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Beispiel gibt es überhaupt nicht mehr im Transportport- Ausschuss Digitale Agenda folio. Haushaltsausschuss (Kirsten Lühmann [SPD]: Die Gesamtleis- Hierzu ist eine Beratung von 38 Minuten vorgese- tung ist gestiegen! Das wissen Sie auch!) hen. – Es gibt keinen Widerspruch. Die Zersplitterung der DB AG in Hunderte Gesell- Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin für die schaften hat viele parallele Strukturen mit hohen Kosten Fraktion Die Linke ist die Kollegin Sabine Leidig. – Bitte hervorgebracht. Die Unternehmensteile verfolgen sich schön. teils widersprechende Interessen. Spätestens jetzt ist die Krise nicht mehr zu verbergen. Nach über 20 Jahren wird (Beifall bei der LINKEN) endlich öffentlich – und zwar von allen – über grundle- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8717

Sabine Leidig (A) gende Strukturprobleme der DB Aktiengesellschaft ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben (C) sprochen. Die Arena für bessere Konzepte ist eröffnet. im Koalitionsvertrag erklärt, dass wir bis 2030 doppelt so viele Bahnkundinnen und Bahnkunden gewinnen Für uns ist das Ziel völlig klar: Die Bahn soll für uns und auch mehr Güterverkehr auf die umweltfreundliche alle einen Gewinn bringen, aber nicht Profit abwerfen. Schiene verlagern wollen. Dazu sieht der Koalitionsver- Das System Eisenbahn muss am Allgemeinwohl ausge- trag viele Maßnahmen zur Stärkung des Schienenver- richtet werden, an Zielen wie flächendeckender Versor- kehrs vor. gung und Klimaschutz. (Beifall bei der LINKEN) Einen Schwerpunkt im „Zukunftsbündnis Schie- ne“ bildet der Deutschland-Takt. Zur Umsetzung des Deshalb muss die Unternehmensform auf den Prüfstand. Deutschland-Takts wollen wir die notwendigen Aus- und Wir wollen die Deutsche Bahn in ein öffentliches Unter- Neubaumaßnahmen bevorzugt realisieren. Dies setzt er- nehmen zurückführen, hebliche, auch finanzielle Anstrengungen voraus. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die Investitionen in das Schienennetz erreichten 2018 beispielsweise als Anstalt des öffentlichen Rechts. Und ein Rekordniveau. Hieran müssen wir in den nächsten wir lehnen die Trennung von Netz und Betrieb ab, weil Jahren anknüpfen. Die Aktivitäten und Investitionen man eine enge Verzahnung braucht, damit möglichst vie- müssen vor allem dort erfolgen, wo ausreichende und le Bahnen auf einer passenden Infrastruktur fahren. nachhaltige Verkehrsnachfrage besteht oder sogar Eng- pässe vorhanden sind. Die Stilllegung unwirtschaftlicher (Martin Burkert [SPD]: Sehr gut!) Strecken schafft Spielraum, dass die Mittel dort einge- setzt werden, wo dies ökonomisch und ökologisch ge- Aber darüber soll nicht nur im Bundestag beraten boten ist. werden; wir fordern eine Bürger-Bahnkommission. Da- rin sollen alle vertreten sein, die ein wirkliches Interesse Streckenstilllegungen erfolgten da, wo kein ausrei- an der guten Entwicklung der Bahn haben; dazu zählen chendes Verkehrsaufkommen vorhanden war, wo die neben Bund, Ländern und Kommunen auch die Allianz Aufgabenträger im Schienenpersonennahverkehr keine pro Schiene, die Gewerkschaften, Umweltverbände, an- Leistungen mehr bestellt haben und wo auch Dritte die- dere Eisenbahnunternehmen oder Fahrgastverbände. Die se Strecken nicht betreiben wollen. Gleichwohl ist eine Perspektive und Erfahrung dieser Stakeholder ist unver- flächenhafte Erschließung in Kooperation mit Bus-Zu- zichtbar. bringerverkehr problemlos erreichbar. Eine Flächenbahn (Beifall bei der LINKEN) ist eben nicht wirtschaftlich und berücksichtigt nicht den Beförderungsbedarf im Personenschienenverkehr. (B) Auch etwas anderes ist unverzichtbar: Die Milliarden (D) aus der Maut müssen in den Ausbau der Eisenbahninfra- Um die Ziele des Koalitionsvertrages zu erreichen, struktur gesteckt werden statt in neue Autobahnen. treiben wir auch die Digitalisierung der Schiene aktiv voran. Dazu gehört unter anderem auch die Ausrüstung (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) mit ETCS. Bund und Bahn planen hier Investitionen, die Nur so kann Verkehr von der Straße auf die Schiene ver- allerdings auch einen erhöhten Finanzierungsbedarf zur lagert werden. Es ist höchste Zeit für eine klimagerechte Folge haben. Wir wollen die Bahn bei der Digitalisierung Umverteilung. unterstützen. Wir wollen, dass die Bahn effizient und wettbewerbsfähig aufgestellt ist. Wir wollen, dass die Danke. wirtschaftliche Situation der Bahn stabil ist und Investiti- onen in die Zukunft ermöglicht. (Beifall bei der LINKEN) Deshalb diskutieren wir aktuell sehr intensiv und er- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gebnisoffen alle möglichen Maßnahmen, um den Finanz- Ich erteile dem Parlamentarischen Staatssekretär Enak bedarf der Bahn zu decken. Eine mögliche Maßnahme Ferlemann das Wort. ist der Verkauf von Bahn-Tochtergesellschaften. Hier wollen wir sehr genau prüfen, welche wirtschaftlichen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Effekte diese Tochtergesellschaften für den Bahnkon- der SPD) zern mittelfristig bringen können und was eine Veräuße- rung bewirkt. Überstürzte Entscheidungen könnten dem Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Bahnkonzern langfristig wirtschaftlich schaden. Daher minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: wiederhole ich gerne: Wir haben ein starkes Interesse Geschätzter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und an einer wirtschaftlich stabilen und wettbewerbsfähigen Kollegen! Wir beraten heute Anträge der Fraktion Die Bahn. Linke und der FDP, letzterer klugerweise zur Digitalisie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- rung, und dann möchte Die Linke auch noch über das ordneten der SPD) Projekt Stuttgart 21 sprechen. Ich wundere mich, dass Frau Leidig gar nichts dazu gesagt hat, ganz entgegen Das ist unser Interesse als Eigentümer dieses Unterneh- ihren sonstigen Gewohnheiten. mens. Es ist unsere Verantwortung als Bundesregierung, einen funktionierenden Schienenverkehr sicherzustellen, (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ich kann in vier Minuten nicht alles machen!) ( [FDP]: Wohl wahr!) 8718 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann (A) und es ist unser Interesse, unsere Ziele aus dem Koaliti- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) onsvertrag zu erreichen. Für die AfD-Fraktion hat der Kollege Wolfgang Zum Bahnprojekt Stuttgart 21 wurden im Ausschuss ­Wiehle das Wort. die Themen sehr intensiv beraten. Im Ergebnis hat der (Beifall bei der AfD) Ausschuss zu beiden Anträgen der Linken ein ablehnen- des Votum empfohlen. Wolfgang Wiehle (AfD): Die geforderte Offenlegung von Gutachten der Deut- Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- schen Bahn AG zum Projekt Stuttgart 21 richtet sich gen! Der „Patient Bahn“ hat Zugrhythmusstörungen und nach den einschlägigen Rechtsvorschriften. Hier ist im- leidet an akuter Erschöpfung. mer im Einzelfall zu prüfen, ob eine uneingeschränkte Offenlegung beispielsweise die Rechte Dritter oder auch (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Ein Wort- Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse verletzt. Wir haben witz!) das intensiv geprüft, auch im Lichte des jüngsten Urteils Es ist gewiss notwendig, symptombezogen für eine kurz- des Bundesverfassungsgerichts vom 7. November 2017, fristige Besserung zu sorgen. Die Frühstücksbesprechun- und mit den Ressorts diskutiert. Wir erwarten bei einer gen zwischen Ministerium und Bahnvorstand in dieser Offenlegung der Gutachten Auswirkungen negativer Art Woche dienen offensichtlich diesem Zweck. Das zu tun, auf das Geschäftsergebnis der Bahn. Das ist nicht in un- ist nicht falsch, meine Damen und Herren, aber es reicht serem Interesse als Eigentümer, das kann nicht im fiska- nicht aus. lischen Interesse des Bundes sein. Die tieferen Ursachen der aktuellen Probleme der Um dem Informationsinteresse des Parlaments nach- Bahn liegen insbesondere in den Strukturen, die mit der zukommen, ist unser Anliegen, für Stuttgart 21 eine Bahnreform geschaffen wurden. Der bekannte Brand- größtmögliche Transparenz herzustellen. Wir haben brief aus dem Vorstand bestätigt das. 25 Jahre nach der Mitte 2018 mit einem umfassenden Bericht an die Aus- Bahnreform ist es deshalb Zeit, über eine Bahnreform 2.0 schüsse umfangreich zum Projekt berichtet. Das Projekt nachzudenken. Stuttgart 21 wird sehr intensiv vom Aufsichtsrat verfolgt, insbesondere auch von unseren Bundesvertretern in je- Die Fraktion Die Linke stellt mit ihrem neuesten An- nem Gremium. So haben wir gezeigt, dass unter ande- trag also in gewisser Weise die richtige Diagnose. Ihr rem bei einer weiteren Wirtschaftlichkeitsuntersuchung Therapieansatz, Kolleginnen und Kollegen der Linken, die Fortführung des Projekts gegenüber dem Abbruch liest sich aber wie eine Rolle rückwärts zur alten Behör- des Projekts deutlich wirtschaftlicher ist. Dabei wurde denbahn. Das kann nicht die Lösung sein. (B) (D) natürlich der bereits erreichte Projektfortschritt mit be- (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Dann haben rücksichtigt. Sie es halt nicht gelesen!) Im Juni 2018 fand im Ausschuss für Verkehr und di- Die Trennung von Netz und Betrieb, die Sie wieder auf- gitale Infrastruktur eine öffentliche Anhörung zu dem heben wollen, ist eine ganz zentrale Voraussetzung für Thema statt. Ausstieg und Umstieg bei dem Bahnprojekt den Wettbewerb auf der Schiene, der Vorteile für Kunden Stuttgart 21 wurden von Gutachtern unter verschiede- und Besteller bringt, wenn er vernünftig gestaltet ist. nen Gesichtspunkten bewertet. Im Ergebnis haben nicht nur die wirtschaftlichen Gründe, sondern auch die gro- Für die AfD-Fraktion ist die Bereitstellung des Eisen- ßen regionalpolitischen und vor allem stadtplanerischen bahnnetzes eine Aufgabe der Daseinsvorsorge, für die Vorteile überwogen. Die Anhörung hat gezeigt, dass ein der Staat die zentrale Verantwortung trägt. Hierfür sollten Ausstieg und Umstieg aus dem Projekt – erst recht vor eine Zusammenlegung der Unternehmensteile in diesem dem Hintergrund des erreichten Baufortschritts – nicht Bereich und eine engere Anbindung an den Eigentümer, sinnvoll ist. Seither sind der Projektverlauf und die Kos- also den Bund, ins Auge gefasst werden. tenentwicklung bei Stuttgart 21 weitgehend planmäßig. Im Bahnbetrieb ist inzwischen eine Vielfalt von Ei- Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kol- senbahnverkehrsunternehmen gewachsen. Die For- leginnen und Kollegen, ich bin zuversichtlich, dass wir derung nach Verstaatlichung, die in Nummer zwei des unsere Ziele zur Stärkung des Schienenverkehrs erfolg- Linken-Antrags steht, ist purer Sozialismus, aber kein reich umsetzen werden, dass wir die geeigneten Maß- sinnvolles Rezept. nahmen ergreifen werden, die Bahn wieder auf Kurs zu (Beifall bei der AfD) bringen und zukunftsfähig zu machen, und dass wir die Herausforderung der Digitalisierung der Schiene bewäl- Im Ausschuss werden wir uns mit diesem Antrag wei- tigen. Seien Sie versichert, dass wir die Gespräche mit ter auseinandersetzen. Die AfD-Fraktion wird ihm jeden- der Bahn sehr intensiv führen und auch fortsetzen und falls in seiner jetzigen Form nicht zustimmen. gemeinsam diese Ziele erreichen. (Zuruf von der LINKEN: Sehr gut!) Herzlichen Dank. Der FDP-Antrag, den wir jetzt auch beraten, zielt auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- den Verkauf von Beteiligungsunternehmen der Deut- ordneten der SPD – Matthias Gastel [BÜND- schen Bahn. Dadurch soll Geld für Investitionen frei NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber was schlagen werden. Aber dieser Therapieansatz könnte gewaltige Sie denn vor?) Nebenwirkungen haben. Nutzt es etwas, wenn eine ver- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8719

Wolfgang Wiehle (A) kaufte Arriva als neuer Konkurrent der Deutschen Bahn Kirsten Lühmann (SPD): (C) auf dem deutschen Markt auftritt? Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! ( [FDP]: Am besten kaufen wir Ich finde es spannend, dass der Koalitionsvertrag, den alles! Dann haben wir gar keine Konkurrenz!) wir beschlossen haben und in dem so viel Bahn drinsteht wie in keinem zuvor – was uns alle, die mit der Bahn zu Was hilft es, die Speditionstochter Schenker zu verkau- tun haben, sowohl Kundenverbände als auch Beteiligte, fen, wenn es dadurch für die Deutsche Bahn schwerer immer wieder versichern –, augenscheinlich zur Folge wird, ihren Kunden im Güterverkehr die Bedienung von hat, dass jetzt auch zunehmend die Oppositionsparteien Haus zu Haus anzubieten? dieses Thema entdecken und uns immer wieder mit An- trägen dazu beglücken. (Daniela Kluckert [FDP]: Die AfD: immer wieder Verstaatlichung!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Hier muss noch konkreter untersucht werden, welche CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/ Unternehmensteile wirklich abgestoßen werden können. DIE GRÜNEN]: Ho, ho, ho!) Das Geld für die benötigten Zukunftsinvestitionen Es gibt zwei Anträge, die wir heute beraten. Wir haben muss zum Teil aus anderen Quellen kommen. Darüber sie schon im Ausschuss gehabt, und die SPD hat da hin- werden wir in den Ausschussberatungen zu reden haben. reichend dargelegt, warum wir sie ablehnen. Die beiden Anträge der Fraktion Die Linke zu Stutt- Ich komme jetzt zuerst zu dem neu eingebrachten An- gart 21 haben die Behandlung in den Ausschüssen schon trag der Linksfraktion. Ich sage Ihnen ganz deutlich: Ja, hinter sich. In einer Anhörung wurde deutlich, dass Ih- Sie haben unseren Koalitionsvertrag aufmerksam gele- nen praktisch niemand mehr damit folgt, das Projekt jetzt sen und da einige Forderungen abgeschrieben. Zum Bei- noch abzubrechen. Um im Bild zu bleiben: Es wäre tö- spiel steht in unserem Koalitionsvertrag: richt, den Patienten während der Operation aus dem OP- Wir halten am integrierten Konzern Deutsche Saal zu fahren. Bahn AG fest. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das heißt aber nicht, dass hier alles im grünen Bereich Eine Privatisierung der Bahn lehnen wir ab. Das wäre. Die AfD-Fraktion wird daher auch in Zukunft sehr Schienennetz und die Stationen sind Teil der öffent- genau auf die Risiken achten. Außerdem verlangen wir, lichen Daseinsvorsorge. dass bei Projekten dieser Art Vorsorge für Kostensteige- (B) rungen von vornherein eingeplant wird. Wenn sich ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) Vorhaben dann als zu teuer erweist, darf es gar nicht erst der CDU/CSU) begonnen werden. Weiter haben wir vereinbart: (Beifall bei der AfD) Wir werden in den Satzungen der DB Netz AG, der Die Offenlegung der Gutachten zu S 21 fordert auch DB Station&Service AG sowie des Gesamtkon- die AfD. Wir haben Vorschläge zum Umgang mit recht- zerns volkswirtschaftliche Ziele wie die Steigerung lichen Problemen gemacht – der Herr Staatssekretär hat des Marktanteils der Schiene festschreiben und die sie erwähnt –, die Sie aber leider nicht aufgegriffen ha- Vorstände der Unternehmen auf die Erfüllung der ben. Deshalb werden wir auch diesem Antrag nicht zu- Ziele verpflichten. stimmen können, sondern wir werden uns enthalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Marianne Schieder [SPD]: Das ist aber mu- tig! Das zeugt von Haltung!) Kurzum: keine Privatisierung, sondern volkswirtschaftli- che Ziele. Dazu steht diese Koalition, liebe Kollegen und Meine Damen und Herren, die Probleme der Bahn Kolleginnen. werden uns noch häufiger beschäftigen. Die AfD fordert neben den kurzfristigen Maßnahmen gegen die Krisen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten symptome eine umfassende Diagnose und strukturelle der CDU/CSU – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Korrekturen durch eine Bahnreform 2.0. Für die Zukunft Ihr Partner sagt, die Aktiengesellschaft lässt es unseres Landes darf der Verkehrsträger Bahn nicht als nicht zu!) kränkelnder Patient daherkommen, sondern er muss zu einer vitalen Stütze werden. Auch die von Ihnen angesprochenen Wettbewerbs- nachteile der Schiene gegenüber der Straße bauen wir (Beifall bei der AfD) sukzessive ab. Wir haben damit angefangen, indem wir die Trassenpreise im Güterverkehr deutlich gesenkt ha- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ben. Wir geben so viel Geld wie nie zuvor in die Schie- Die nächste Rednerin ist die Kollegin Kirsten neninfrastruktur: Die Deutsche Bahn AG wird in diesem Lühmann, SPD-Fraktion. Jahr über 10 Milliarden Euro in ihre Infrastruktur inves- tieren. Daneben sind wir gerade dabei, eine neue Leis- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tungs- und Finanzierungsvereinbarung zu schließen; dort der CDU/CSU) werden wir noch mal deutlich aufstocken. 8720 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Kirsten Lühmann (A) Eines, liebe Kollegen und Kolleginnen, ist allerdings Herzlichen Dank. (C) klar: Wenn man so viel Geld investiert, dann heißt das viele Baustellen. Viele Baustellen bedeuten viele Engpäs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten se und Verspätungen. Darum werden wir in dieser neuen der CDU/CSU) Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung auch zusätz- liches Geld zur Verfügung stellen, um diese Baustellen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: kundenfreundlicher zu gestalten, damit es eben weniger Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Staus, weniger Verspätungen auf der Schiene gibt. Torsten Herbst. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP) der CDU/CSU) Ich komme jetzt zu dem Antrag der FDP. Sie möchten Torsten Herbst (FDP): gerne alles verkaufen, was nicht unbedingt zum Kern- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- geschäft der Bahn gehört. Erste Frage: Was ist Kernge- ren! Frau Lühmann, dass Sie lieber hinter den verschlos- schäft der Bahn? senen Türen des Ausschusses diskutieren wollen, ist mir (Dr. Christian Jung [FDP]: Das ist doch die klar: weil Sie ein Problem haben, Ihre Position ordentlich Frage aller Fragen!) zu begründen. Das ist hier schon mal angesprochen worden. Ich kann (Kirsten Lühmann [SPD]: Ich hatte nur vier auch integrierte Angebote machen, indem ich zum Bei- Minuten! Das ist auch schwierig!) spiel Bahnleistungen, aber gleichzeitig auch die erste und Meine Damen und Herren, es gab Zeiten, da konnte letzte Meile mit anbiete. Das ist ein Wettbewerbsvorteil, man nach der Bahn die Uhr stellen. Wenn man heute mit das ist sinnvoll. der Bahn unterwegs ist, ist das leider die glaubwürdigste Wenn ich etwas verkaufe, kann es allerdings nicht Ausrede fürs eigene Zuspätkommen. Ich finde, das kön- sein, dass ich das nur um des Verkaufens willen verkaufe, nen wir uns nicht länger leisten. sondern das muss auch einen Sinn ergeben. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Torsten Vertrauen, meine Damen und Herren, ist eigentlich die Herbst [FDP]: Das steht im Antrag!) wichtigste Währung, die ein Unternehmen haben kann, – In Ihrem Antrag steht, das möge man doch mal prü- und Vertrauen wird hier verspielt: Das Vertrauen der fen. Ja, Sie haben recht. Darum hat der Bahnvorstand uns Fahrgäste in die Leistungsfähigkeit der Bahn wird ver- (B) auch zugesagt, spielt. Ich habe den Eindruck, das Vertrauen der Bahn- (D) mitarbeiter in ihr eigenes Management, in ihren Vorstand (Dr. Christian Jung [FDP]: Sie sagen viel zu! wird verspielt. Und wie man seit dieser Woche weiß, Sie sagen sehr viel zu!) gibt es auch im Vertrauen zwischen der Bundesregierung dass sie schon dabei sind, das zu eruieren, Konzepte zu als Eigentümer und dem Bahnvorstand einen richtigen entwickeln und uns vorzulegen: Ergibt es Sinn, ergibt es Knacks. Das wird auch durch Symbolpolitik und hekti- keinen Sinn? – Gute Idee, haben wir aber schon umge- sche Frühstückstermine nicht geheilt, Herr Ferlemann. setzt. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich frage mich ernsthaft, wie man in der Öffentlich- Noch ein Letztes – Sie haben es bereits gesagt –: Wir keit den Eindruck erwecken möchte, dass man bei Früh- wollen das nur dann machen, wenn es Sinn ergibt; wir stücksterminen – in anderthalb Stunden bei vielleicht wollen es zeitnah machen. Da stellt sich natürlich die Orangensaft, Nutella, Croissants – alle diese Probleme Frage: Können wir einen Konzern wie Arriva sinnvoll löst, verkaufen in einer Situation des Brexits wie jetzt? (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Das stimmt Sie möchten gerne mit diesem Geld die Digitalisie- gar nicht!) rung der Schiene bezahlen. Ich finde das vom Prinzip her die im Moment das Chaos bei der Bahn verursachen. Das nicht schlecht. Allerdings haben wir als Bundesregierung ist keine Handlungsfähigkeit, das ist PR-Aktionismus, dazu schon ein Gutachten vorgelegt – am 18. September Herr Ferlemann. ist es der Öffentlichkeit vorgestellt worden –; das sieht 30 Milliarden Euro Invest auf 20 Jahre vor. (Beifall bei der FDP) (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren, die Situation ist frustrie- NEN]: Nicht einen Cent haben Sie in den rend: Wenn nur drei von vier Fernzügen der Deutschen Haushalt eingestellt! Nicht einen Cent!) Bahn noch pünktlich ankommen – und da ist ja alles rausgerechnet, was bis sechs Minuten Verspätung hat; Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Diese Summe werden wir da ist alles rausgerechnet, was überhaupt nicht erst los- mit Verkäufen nicht erreichen können; dafür brauchen fährt –, dann kann uns das doch nicht egal sein. wir eine solide Finanzierung. Daran arbeiten wir gerade. Gute Ideen; lassen Sie uns tiefer gehend im Ausschuss DB Cargo als Beispiel: Wir haben seit Jahren ein Wirt- darüber reden. Aber ich versichere Ihnen: Das haben wir schaftswachstum, und trotz dieses Wirtschaftsbooms alles schon auf dem Weg. „schafft“ es DB Cargo, von Jahr zu Jahr weniger zu Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8721

Torsten Herbst (A) transportieren. Das ist keine befriedigende Situation, und Ich glaube, die Bahn muss auch intern einiges ma- (C) das können Sie auch nicht schönreden, Frau Lühmann. chen. Da gibt es ein Organisationschaos. Dass im Digi- talzeitalter nicht angezeigt werden kann, wenn ein Zug in (Beifall bei der FDP – Kirsten Lühmann einer falschen Wagenreihung einfährt, leuchtet mir nicht [SPD]: Das habe ich doch nicht getan! Von ein. Die neueste Strategie, die Pofalla-Wende, ist, dass Cargo habe ich gar nicht geredet!) der Zug gar nicht mehr sein Ziel erreicht, sondern vorher Ich habe den Eindruck, dass die Situation der Deut- wendet. Das wird wahrscheinlich nur noch getoppt von schen Bahn ein bisschen der unserer Fußballnational- der Pofalla-Quadratur: Da fährt der Zug aus der War- mannschaft ähnelt. Vor einigen Jahren ist jeder dieser tungshalle heraus und gleich wieder zurück; dann ist er Mannschaft mit Ehrfurcht und Anerkennung begegnet; garantiert nicht zu spät. mittlerweile ist es nur noch Mitleid, meine Damen und (Beifall bei der FDP) Herren. Das haben auch die vielen fleißigen Mitarbeiter der Bahn nicht verdient. Meine Damen und Herren, wir müssen als Bund in die Bahn investieren, aber ich sage auch: Es muss einen (Beifall bei der FDP – Kirsten Lühmann Eigenbeitrag geben. Deshalb macht ein Verkauf von Ar- [SPD]: Ich habe zu Ihrem Antrag geredet! Ma- riva und Schenker Sinn: weil mit dem, was wir daraus chen Sie das auch noch?) erzielen, zumindest ein Teil der Investitionen gestemmt Wir wollen eine Bahn, die wieder spitze ist, die Aus- werden kann, die wir bei der Digitalisierung dringend hängeschild dieses Technologiestandortes Deutschland brauchen, lieber eher als später. Wo soll das Geld dafür ist, die spitze ist, was Pünktlichkeit betrifft, spitze beim herkommen? Sie haben bisher keine schlüssige Antwort Kundenservice, spitze bei technischen Innovationen. Da darauf gegeben. reichen eben keine kosmetischen Korrekturen, da muss (Beifall bei der FDP – Kirsten Lühmann man über eine Bahnreform 2.0 nachdenken, meine Da- [SPD]: Aber doch nur, wenn es wirtschaftlich men und Herren. ist! Man kann es doch nicht verschleudern!) (Beifall bei der FDP) – Natürlich wirtschaftlich. Da unterscheiden wir uns übrigens von den Linken, die ja zurück zur Staatsbahn wollen. Sie wollen eine Art Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: volkseigenen Betrieb auf Rädern. Ich bin in der DDR Herr Kollege. groß geworden und kann Ihnen sagen: Das ist ein Irrweg. Sie landen damit in einer Sackgasse. (B) Torsten Herbst (FDP): (D) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Michael Meine Damen und Herren, ich komme zu meinem Donth [CDU/CSU]) letzten Satz. – Ich glaube, es müssen jetzt die Hausauf- Was wir brauchen, meine Damen und Herren, ist eine gaben gemacht werden; man kann es nicht länger auf die langfristige Investitionsoffensive, und zwar über die lange Bank schieben. Die Bahn kann den Fahrgästen und nächsten 10 bis 15 Jahre. Wenn unsere Nachbarn pro den Unternehmen ein hochattraktives Angebot unterbrei- Kopf und Jahr ein Vielfaches investieren, dann müssen ten. Aber dafür müssen Sie jetzt den Mut haben, die Wei- wir uns nicht wundern, dass wir zurückfallen. Das kann chen richtig zu stellen. man auch nicht in wenigen Jahren in Ordnung bringen. (Beifall bei der FDP) Herr Ferlemann, Sie präsentieren hier jetzt ganz neue Vorschläge. Sie sind, glaube ich, seit 2009 Parlamenta- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: rischer Staatssekretär. Was haben Sie eigentlich in den Für Bündnis 90/Die Grünen hat das Wort der Kollege letzten zehn Jahren gemacht? Vielleicht hätte man da Matthias Gastel. schon mal beginnen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir glauben, dass Kundenfreundlichkeit auch Wettbe- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Lie- werb braucht. Wir erleben das im Güterverkehr und im be Kollegen! Wenn Deutschland Rekordstaus aufweist, Personennahverkehr. Warum nicht auch im Fernverkehr? wenn die Verkehrsinfrastruktur sich immer maroder Ich glaube, es ist klug, das Netz aus dem DB-Konzern darstellt, wenn die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich herauszutrennen und dafür zu sorgen, dass die Anbieter steigen statt sinken, wenn immer mehr Fahrverbote in einen diskriminierungsfreien Zugang haben. Wenn wir Städten verhängt werden, weil die Luft immer noch zu nach Italien oder nach Tschechien blicken, sehen wir: schmutzig ist, wenn die Züge immer unpünktlicher wer- Dort funktioniert der Wettbewerb gut; die Kunden pro- den, dann, ja dann haben wir es mit jahrelangen, ja sogar fitieren von mehr Service und niedrigeren Preisen. Auch jahrzehntelangen Versäumnissen in der Politik zu tun. das könnte ein Ansatz sein, um mehr Kundenfreundlich- keit zu erreichen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP – Kirsten Lühmann Dann reicht es nicht, an der einen oder anderen Stell- [SPD]: Wir haben die Möglichkeit!) schraube ein bisschen herumzudrehen; dann brauchen 8722 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Matthias Gastel (A) wir eine Verkehrswende. Herzstück dieser Verkehrswen- brauchen eine Trendumkehr. Ein Mittelaufwuchs für die (C) de muss eine starke Bahn sein, Schiene ist aber im Haushaltsplan leider nicht zu erken- nen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jörg Cezanne [DIE LINKE] – Wir wollen auch Teile der Lkw-Maut-Einnahmen zu- Kirsten Lühmann [SPD]: Stimmt!) gunsten der Schiene einsetzen. Wir brauchen Program- me für Elektrifizierung, Streckenreaktivierung und auch eine Bahn, mit der die Menschen gerne fahren, eine Programme für die Sanierung von Bahnhöfen. Bahn, die auch höhere Anteile an Güterverkehr zuverläs- sig an den Zielort bringt. Steigende Fahrgastzahlen, steigende Gütermengen auf der Schiene, meine Damen und Herren, das zeigt: Mehr Dazu brauchen wir Änderungen bei der Deutschen Bahn ist gesellschaftlich gewünscht. Die Frage ist, ob Bahn. Sie muss sich auf das Kerngeschäft konzentrieren Sie das auch wünschen. Wenn Sie das wünschen, dann und von den Konzernteilen lösen, die dazu keinen Bei- müssen Sie auch etwas dafür tun, und das muss sich dann trag leisten. auch im Haushaltsplan zeigen. Infrastruktursparten innerhalb der DB zusammenzule- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen, kann ebenfalls Sinn machen, wobei wir als Grüne sowie bei Abgeordneten der LINKEN) der Meinung sind: Das ist der erste Schritt. Der zweite Schritt ist dann die Trennung von Infrastruktur- und Ver- kehrssparten. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Und die Deutsche Bahn AG braucht eine effektive Michael Donth. Kontrolle. Das ist nämlich derzeit leider nicht der Fall. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kirsten Lühmann [SPD]) Wir haben heute vom Bundesrechnungshof einen Bericht vorgelegt bekommen, der ziemlich deutlich sagt, was Michael Donth (CDU/CSU): in Deutschland Sache ist. Dieser Bericht zeigt massive Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fehlentwicklungen auf und macht deutlich, dass das Zielrichtung von zwei der drei Anträge der Fraktion Die nicht allein der Deutschen Bahn anzulasten ist, sondern Linke zur Bahnpolitik, über die wir heute hier beraten, dass wir es hier mit einem Versagen der Bundesregierung kann man in etwa so zusammenfassen – das wurde schon zu tun haben. Der Bundesrechnungshof stellt in seinem mehrfach angesprochen –: Drehen wir das Rad zurück, Bericht fest, dass die Rahmenbedingungen verschiedener zurück zur Staatsbahn, und schon wird alles gut! – Der (B) Verkehrsträger zulasten der Bahn gehen. Der Bundes- Staat soll das Ruder an sich reißen, der größte Bahnun- (D) rechnungshof spricht von ausufernden Auslandsgeschäf- ternehmer im Land werden und die Kontrolle über alles ten und bahnfremden Geschäften, die betrieben werden. selbst übernehmen. Der Staat als besserer Unternehmer! Er moniert die fehlende Strategie des Bundes in Sachen Da sieht man eben, wo die DNA der Linken steckt. Bahn, und er sagt, die Bundesregierung verhalte sich zu passiv. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Ja, aber schlecht kann das nicht sein!) All das ist leider richtig und zutreffend. Wir können dem nicht widersprechen. Die Hauptverantwortlichen für Ich will mich aber heute nicht im Detail mit diesen diese Bahnmisere sitzen hier auf den Regierungsbänken beiden Anträgen und auch nicht mit dem vierten Antrag, und auf den Stühlen der beiden Regierungsfraktionen, der von der FDP kommt, befassen, sondern mit Ihrem von Union und SPD. gefühlt 125. Antrag zum Ausstieg aus dem Projekt Stutt- gart 21. Aber wir alle sind ja geduldig und leidensfähig, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und deshalb haben wir am 11. Juni letzten Jahres im Ver- Man muss auch dazusagen: Da helfen keine eilends und kehrsausschuss auch eine öffentliche Anhörung zu die- hektisch einberufenen Frühstücksrunden, sondern da sem Antrag durchgeführt. muss politisch gehandelt werden. Da müssen die Regie- (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!) rungsfraktionen auch einmal sagen, was sie machen wol- len, und dürfen nicht nur der Deutschen Bahn Lösungen Dabei haben die Sachverständigen Ihre Behauptung, abverlangen. dass – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten aus dem Antrag – „viele essenzielle Sicherheitsfragen ... nach wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vor nicht geklärt“ seien, klar widerlegt. Gerade beim Brandschutz ist alles Erforderliche getan worden. Selbst Was wir brauchen, sind faire Wettbewerbsbedingun- der von Ihnen eingeladene Vertreter des Aktionsbünd- gen: beispielsweise bei der Umsatzsteuer. Wenn man mal nisses gegen Stuttgart 21, Hannes Rockenbauch, hat das den Vergleich zwischen Flugzeug und Bahn heranzieht, bestätigt. Er hat wörtlich gesagt: sieht man, was ungerecht ist. Die Abschaffung des Die- selprivilegs. Wir wollen die Trassenpreise auf das Grenz- All die technischen Details von Brandschutz bis kostenniveau senken, also niedrigere Trassenpreise und sonst was – ich glaube, das kriegen die am Ende ir- damit auch Spielräume für günstigere Tickets eröffnen. gendwie hin, die sind ja gut, und schön wird es auch. Bei der Infrastruktur wurden in den letzten Jahren Es sollte Ihnen von den Linken doch zu denken geben, massiv Straßen gebaut und Schienenwege stillgelegt. Wir wenn sogar Ihr Fachmann das sagt. Aber nicht nur er! Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8723

Michael Donth (A) Auch Matthias Lieb vom VCD hält einen Baustopp für Martin Burkert (SPD): (C) nicht realistisch, obwohl er eigentlich zu den Kritikern Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und von Stuttgart 21 gehört. Kollegen! Wenn der Weg schwierig ist, dann braucht man Schuhe, die nicht drücken. Wir stellen fest: Bei der Deut- (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen Bahn drückt der Schuh zurzeit an vielen Stellen. NEN]: Er ist aber für Veränderungen des Pro- jekts! Das ist wichtig!) Was ich zu Beginn gleich klarstellen will: Die Be- schäftigten sorgen an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr Die überwiegende Mehrheit der Sachverständigen in dafür, dass die Eisenbahn funktioniert – Berchtesgaden, der Anhörung hat sich gegen den von Ihnen gewünschten Frau Ludwig, nehmen wir momentan aus; das hat ande- Baustopp ausgesprochen. Es ist dabei deutlich geworden, re Gründe –, und deswegen darf man den Beschäftigten dass der bisherige Kopfbahnhof, der alte Bahnhof, auch diesen Schuh nicht anziehen. Deshalb gleich am Anfang: für die notwendige Entwicklung im Nahverkehr nicht Glückwunsch an die Gewerkschaften für diesen tollen geeignet ist und Stuttgart 21 hier sehr wohl für Verbesse- Tarifabschluss mit der Deutschen Bahn vor Weihnach- rungen sorgen wird. ten! Die Beschäftigten haben es verdient. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten NEN]: Oh! Oh!) der CDU/CSU) Bei den diskutierten Alternativlösungen fehlt es an Ebenfalls kurz vor Weihnachten hat der Bahnbeauf- einem Gesamtkonzept. All das, was von den Projektgeg- tragte der Bundesregierung, wie ich finde, einen sehr nern immer wieder als Alternative ins Feld geführt wird, emotionalen Auftritt gehabt und die Probleme mal offen mag vielleicht für die eine oder andere Frage eine interes- dargelegt. sante Lösung darstellen, es ist aber in der Gesamtschau (Dr. Christian Jung [FDP]: Das war eine kein schlüssiges oder umsetzbares Gesamtkonzept. Kriegserklärung!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lieber Enak Ferlemann, die Union führt das Ministerium Von den S‑21-Gegnern wird oft der Eindruck er- nun zehn Jahre. Jetzt müssen Lösungsvorschläge kom- weckt – auch Sie tun das mit der Formulierung „Um- men, die getragen werden können. Das erwarte ich von stieg“ –, dass mit K 21 – bzw., wie es neuerdings heißt: Ihrem Haus. Umstieg 21 – quasi sofort nach einem Baustopp begon- Und angesichts von 500 Millionen Euro Beraterkosten nen werden könnte. Nein, das hieße ganz klar: Gehe zu- innerhalb von vier Jahren kann ich nur appellieren: Der (B) rück auf Los! Bahnvorstand sollte endlich wieder auf seine Beschäftig- (D) ten hören – er hat nämlich hervorragende Mitarbeiterin- (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau!) nen und Mitarbeiter – und nicht Millionen für Berater Die Planungen, die Gutachten, die Bürgerbeteiligung, ausgeben! die Klageverfahren, die Finanzierungsverhandlungen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Plangenehmigungsverfahren: All das müsste neu der CDU/CSU) aufgerollt werden. Es würde mindestens vier, fünf, sechs oder vielleicht sogar sieben Jahre dauern, bis mit dem Wir wissen, wo der Schuh drückt. Qualität und Pünkt- Bauen begonnen werden könnte. So lange läge eine an- lichkeit sind im Keller. Es fehlt an Zügen und Personal. gefangene Großbaustelle mitten in Stuttgart brach. Das Demgegenüber stehen aber rund 10 Prozent Führungs- ist für die Stadt, die Region und auch für die Nutzer des kräfte – und zwar nicht im mittleren Management, son- Bahnhofs nicht nur utopisch; das ist blödsinnig. Und dern im gehobenen – und zu viele Zentralen. Auch das auch das wurde uns bestätigt: Ein solcher Baustopp käme sollte man sich einmal genauer anschauen. uns auch noch teurer. Das alles sind Symptome einer Reihe von Fehlent- (Beifall bei der CDU/CSU) wicklungen der vergangenen Jahre. Die Sparmaßnahmen unter Mehdorn – wir erinnern uns –, damals getrieben Um zum Schluss zu kommen: Ihre Lösung wäre ers- von einem möglichen Börsengang, wirken sich bis heute tens schlechter, führte zweitens zu einer noch viel spä- aus. Ich sage auch in Richtung des Hauses: Für mich ist teren Fertigstellung und wäre drittens auch noch teurer. das Projekt „Zukunft Bahn“ in vielen Teilen als geschei- Solche unausgegorenen Anträge zur Bahnpolitik lehnen tert anzusehen. wir ab. Die Versäumnisse in der Vergangenheit holen jetzt Vielen Dank. Herrn Lutz ein, der das ausbaden muss. Ein Beispiel da- für ist ein fehlendes Werke- und Instandhaltungskonzept. (Beifall bei der CDU/CSU) Ja, wir müssen überprüfen, ob die Strukturen noch pas- sen. Ja, wir müssen uns nach 25 Jahren Bahnreform – da- rüber werden wir dieses Jahr sicherlich noch viel reden –

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ansehen, was gut, aber auch was schlecht war. 25 Jahre: Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Martin Das ist eine lange Zeit. Burkert. Damit komme ich zu den Anträgen der Linksfraktion. (Beifall bei der SPD) Sie fordert, den Privatisierungskurs zu verlassen. Frau 8724 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Martin Burkert (A) Leidig, das ist doch längst geschehen. Der Börsengang die Partei mit der größten digitalen Kompetenz zu ver- (C) kann heute nicht mehr durchgeführt werden, weil wir da markten, in allen Ehren; aber hätten Sie, anstatt Ihre Au- etwas verändert haben. gen nur auf Twitter, Facebook und Instagram zu richten, auch mal einen Blick in den Koalitionsvertrag geworfen, Ich sage es deutlich – vor allem in Richtung der Frak- dann hätten Sie gemerkt, dass Ihr heutiger Antrag völlig tionen von Bündnis 90/Die Grünen und der FDP –: Mit unnötig ist. uns, der SPD, wird es keine Trennung von Fahrweg und Betrieb geben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der SPD – Ulli Nissen [SPD]: So ordneten der SPD – Matthias Gastel [BÜND- muss es sein, genau!) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was fehlt, sind die Taten!) Denn dadurch würde keines der augenblicklichen Pro- bleme gelöst werden. Im Koalitionsvertrag findet sich nämlich zum Beispiel auf Seite 78 folgender Absatz – ich zitiere –: Schauen wir uns in Europa um. Man findet kein Ei- senbahnunternehmen, bei dem das Trennungsmodell Wir wollen die Digitalisierung der Schiene, auch funktioniert hat – in keinem Land! auf hochbelasteten S-Bahnstrecken, vorantreiben und den Ausbau der europäischen Leit- und Sicher- Die FDP fordert in ihrem Antrag, die DB-Tochter Ar- heitstechnik ETCS, elektronischer Stellwerke und riva zu verkaufen. Darüber kann man natürlich reden. Umrüstung der Lokomotiven durch den Bund un- Ich sage aber: Wir brauchen natürlich dringend ETCS, terstützen. Die Automatisierung des Güterverkehrs Stufe 1 und Stufe 2; darüber haben wir im Ausschuss ge- und das autonome Fahren auf der Schiene wollen sprochen. Angesichts der jetzigen Situation in Großbri- wir durch Forschung und Förderung unterstützen. tannien und des bevorstehenden Brexits muss man aber sagen: Selbst wenn Sie einen Käufer haben, der das Geld (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf den Tisch legt, können Sie dieses Unternehmen der- NEN]: Im Haushalt ist nicht ein Cent einge- zeit nicht verkaufen. Da bin ich beim Staatssekretär. Man stellt!) darf hier nichts übertreiben und muss sich alles in Ruhe Es ist nicht nur so, dass wir im Koalitionsvertrag be- anschauen. reits mehr vereinbart haben, als Sie in Ihrem Antrag for- Zum Schluss will ich doch noch mal was zu Stutt- dern. Nein, das BMVI arbeitet bereits unerlässlich daran, gart 21 sagen: Ich kann es eigentlich nicht mehr hören diese Forderungen klar umzusetzen. und weiß nicht, wie oft wir noch darüber diskutieren wer- (Beifall bei der CDU/CSU – Christian Dürr (B) den, aber eines ist doch völlig klar: Wir wissen, dass der (D) Zeitpunkt für den Turnaround überschritten ist. Wenn wir [FDP]: Das merken wir! – Zuruf vom BÜND- heute aussteigen, wird es teurer, als wenn wir es fertig- NIS 90/DIE GRÜNEN): Und passieren tut bauen – trotz der Kostenkalkulationen. nichts!) (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Im Juli vergangenen Jahres hat unser Bundesverkehrs- NEN]: Aber finanziert ist es trotzdem nicht, minister das Zukunftsbündnis Schiene das Projekt! Wer zahlt das denn?) von Politik, Wirtschaft und Verbänden vorgestellt. In die- sem Gremium werden Vorschläge und Lösungsansätze Wir sollten das endlich mal begreifen und Stuttgart 21 erarbeitet, welche die Themenfelder Digitalisierung, Au- jetzt fertigbauen lassen. tonomisierung und Innovation – hören Sie von der FDP (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gut zu – bei der Bahn weiter vorantreiben werden. Darü- der CDU/CSU – Matthias Gastel [BÜND- ber hinaus investiert der Bund wiederholt Rekordmittel NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sorgt dafür, dass in den Ausbau und die Modernisierung der Bahn sowie das zu Ende finanziert wird?) in den Lärmschutz. Ich glaube, am Ende werden wir da einen tollen Bahnhof (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- haben. NEN]: Das ist ein Paralleluniversum!) Vielen Dank. Ich denke deshalb, dem Bundesverkehrsminister und dem Beauftragten der Bundesregierung für den Schie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nenverkehr, Enak Ferlemann, gebührt ein herzliches der CDU/CSU) Dankeschön für diese vorausschauenden Zukunftsinves- titionen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Christian Der letzte Redner zu diesem Punkt: der Kollege Jung [FDP]: Da hat der Minister die Rede Florian Oßner von der CDU/CSU-Fraktion. wieder selbst geschrieben! – Oliver Krischer (Beifall bei der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind im- mer noch bei der Deutschen Bahn!) Florian Oßner (CDU/CSU): Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und FDP, dass das Thema „Digitalisierung und Modernisie- Kollegen! Liebe Freunde der FDP, Ihr Bemühen, sich als rung der Schiene“ bei der Union in besten Händen ist – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8725

Florian Oßner (A) aber natürlich auch bei der SPD. Diese möchte ich fairer- zu bekommen, und eine äußerst positive Entwicklung, (C) weise natürlich nicht unerwähnt lassen. die wir heute hier nicht unerwähnt lassen sollten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuru- (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel fe von der SPD: Oh! Oh! – Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stand [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist bei schon vor Monaten in der Zeitung!) Ihnen gar nicht in guten Händen! Sie finan- zieren es nämlich nicht! Sie nehmen doch gar Oft wird ja ausschließlich negativ über die Deutsche nicht ernst, was Sie sagen! Das glauben Sie Bahn berichtet, was der Sache am Ende nicht gerecht selber nicht!) wird. Wir nehmen die Probleme, die es bei der Deutschen (Daniela Ludwig [CDU/CSU]: Genau! – Bahn gibt, definitiv sehr ernst. Klar ist, dass es noch viel Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/ zu tun gibt, um die Qualität, die Pünktlichkeit und die CSU]: Die reden jetzt alles schlecht! – Oliver Zuverlässigkeit des Systems zu verbessern. Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat die Rede geschrieben?) (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie müssen erst mal anfangen!) Zum Schluss. Um die ganzen Investitionen, die auch in Zukunft auf die Bahn zukommen werden, stemmen Wir arbeiten intensiv daran, die Engpässe im System zu können, prüft – auch hier im Sinne der FDP – der Schiene zu beseitigen. Vorstand bereits einen Verkauf von Arriva – das wurde (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heute schon mehrfach angesprochen –, der nach internen NEN]: Das merken wir!) Schätzungen zwischen 4 Milliarden und 4,5 Milliarden Euro einbringen könnte. Eine Einflussnahme der Bun- Die Bahn und das BMVI nehmen hier bereits eine desregierung, wie Sie sie in Ihrem Antrag fordern, liebe Vorreiterrolle ein, Kollegen von der FDP, ist somit nicht erforderlich, und deshalb müssen wir Ihrem Antrag auch nicht zustimmen. (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Eine Vorreiterrolle beim Frühstücken, Herzliches Dankeschön fürs Zuhören. ja!) (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias Gastel zum Beispiel beim digitalen Bauen und bei der Verwen- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber eine dung von Building Information Modeling, kurz: BIM. Meinung müssen Sie doch haben! Sagen Sie Die Vorteile liegen hier auf der Hand. Deutliche Qua- doch mal!) (B) litätssteigerungen, Kostenersparnisse und eine bessere (D) Termintreue werden durch die Verwendung von BIM er-

reicht. Das ist aus meiner Sicht eine tolle Sache. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vielen Dank, Herr Kollege Oßner. – Ich schließe die (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Aussprache. Kirsten Lühmann [SPD]) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Dass wir die Probleme bei der Deutschen Bahn ernst Drucksache 19/7024 und auf Drucksache 19/6284 an nehmen, zeigt sich auch daran, dass sich der Bundesmi- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- nister heute bereits zum zweiten Mal in einer Woche mit geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der dem Bahnchef Richard Lutz und den Vorstandsmitglie- Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. dern für Infrastruktur und Finanzen, Ronald Pofalla und Alexander Doll, getroffen hat. Tagesordnungspunkt 21 b. Wir kommen zur Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für Verkehr und digitale Infrastruktur zu dem Antrag der NEN]: Was zeigt das denn? Und was schlägt Fraktion Die Linke mit dem Titel „Offenlegung von neu- er vor? Hat er auch eine Idee?) en Gutachten zur Deutschen Bahn AG“. Der Ausschuss – Der Reaktion von Herrn Gastel entnehme ich, dass ich empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck- etwas Richtiges gesagt habe. sache 19/2352, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/481 abzulehnen. Wer stimmt für diese (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beschlussempfehlung? – Das sind die Koalition, die AfD NEN]: Es geht nicht nur um die Deutsche und die FDP. Wer ist dagegen? – Die Grünen und Die Bahn, es geht um das System!) Linke. Dann ist die Beschlussempfehlung angenommen. Positiv in diesem Zusammenhang ist die Meldung, Tagesordnungspunkt 21 c. Abstimmung über die Be- dass die Deutsche Bahn in diesem Jahr 22 000 zusätzli- schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr und di- che Mitarbeiter einstellen möchte. gitale Infrastruktur zu dem Antrag der Fraktion Die Linke (Matthias Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit dem Titel „Ausstieg und Umstieg bei dem Bahnpro- NEN]: Das war schon lange vorher bekannt! jekt Stuttgart 21“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- Das ist nichts Neues!) schlussempfehlung auf Drucksache 19/3589, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/480 abzuleh- Das ist aus meiner Sicht eine echte Chance für junge nen. Wer stimmt für diesen Vorschlag? – Das sind die Menschen in Deutschland, einen attraktiven Arbeitsplatz Koalition, die FDP und die AfD. Wer ist dagegen? – Die 8726 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Linke. Enthaltungen? – Die Grünen. Damit ist die Be- wir in diesen Tagen sehen. Das alles sind auch Ereignisse (C) schlussempfehlung angenommen. oder Abstimmungen gewesen, die davon gelebt haben, dass Daten verkauft und gezielt zu Werbezwecken ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: nutzt wurden, dass Social Bots installiert wurden, dass Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate dunkle Werbung, Dark Ads, gemacht wurde, bei der man Künast, Dr. Konstantin von Notz, Tabea Rößner, nicht erkennt, dass es sich um bezahlte Werbung handelt. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Damit wurde im wahrsten Sinne des Wortes Stimmung NIS 90/DIE GRÜNEN gemacht. Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiterentwi- Wir alle erleben ebenfalls, dass sich einige – auch ckeln – Nutzerrechte stärken, Meinungsfrei- in diesem Hause – nicht hinreichend von Angriffen auf heit in sozialen Netzwerken sicherstellen Menschen im Netz distanzieren, auf Menschen, die sich zum Beispiel für Flüchtlinge oder in Sozialprojekten Drucksache 19/5950 engagieren. Insbesondere werden auch Frauen ange- Überweisungsvorschlag: griffen, die aktiv sind. Gerade weil wir heute früh den Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Inneres und Heimat 100. Jahrestag der Einführung des Frauenwahlrechts be- Ausschuss für Kultur und Medien gangen haben, muss ich sagen: Ich hätte mir, ehrlich ge- Ausschuss Digitale Agenda sagt, selbst in meinen schlimmsten Albträumen niemals vorstellen können, dass Frauen in unserer Gesellschaft Interfraktionell ist vereinbart, 38 Minuten darüber zu zuhauf die Aussage im Netz über sich ergehen lassen beraten. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so müssen, die müsse man zur Kölner Domplatte schicken, beschlossen. damit sie dort durchvergewaltigt werden, und Ähnliches. Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist die Ich sage Ihnen deshalb an dieser Stelle: Wir müssen Kollegin Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen. nicht nur über das Netzwerkdurchsetzungsgesetz dis- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kutieren, sondern auch darüber, wie wir in diesem Land miteinander umgehen wollen. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kol- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- leginnen und Kollegen! Zu fast mitternächtlicher Stun- KEN und der Abg. Elisabeth Winkelmeier- de: Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist jetzt ein Jahr Becker [CDU/CSU]) in Kraft, und ich glaube, es ist an der Zeit für eine erste, (B) ehrliche Bestandsaufnahme. Das Gesetz hatte ja das Ziel, Ich möchte eines hinzufügen: Dies ist nicht nur Aufgabe (D) Hate Speech, Volksverhetzung und andere Delikte abzu- der Frauen, die sich dagegen wehren müssen. Insbeson- wehren. dere bei Androhung sexueller Gewalt ist dies auch Auf- gabe der gesamten Gesellschaft, also auch der Männer. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das kann Selbst als Grüne wird man mit Goebbels-Vorwürfen kon- ja nicht jeder so wie Herr Harbarth machen!) frontiert. Aber man muss ja nicht alles ernst nehmen. – Ich höre schon die Zwischenrufe von denjenigen, die es Es geht also um die Frage nach den grundsätzlichen damals eigentlich auch nicht wollten. Weichen für das digitale Zeitalter, bis hin zu effektiven Si- (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das cherheitsstrukturen. Wie wir wissen, wirkt Hate ­Speech. stimmt nicht!) Manche von uns – ich glaube, auch hier im Haus – haben sich längst Hornhaut auf der Seele zugelegt. Aber es geht – Nicht so ganz, Herr Jarzombek. ja nicht nur um uns. Wir bekommen Anrufe betroffener Wir haben schon im Sommer 2017 hier im Hause dis- Menschen, die sich irgendwo engagieren und fragen: kutiert und uns gefragt: Was passiert eigentlich in die- Was soll ich eigentlich tun? Wo kann ich mich wehren? – ser Gesellschaft? Was ist los? Welche Spannungen sind Sie erleben oft, dass die Staatsanwaltschaft, weil wir die da eigentlich entstanden? Ich glaube, wir brauchen jetzt Meinungsfreiheit ja zu Recht hochhalten, wieder mal ein eine grundsätzliche Debatte – nicht nur wegen all derje- Verfahren eingestellt hat, und fragen sich dann, wie sie nigen, die hier sitzen, sondern sowieso. Wie wollen wir zivilrechtlich vorgehen können. Diese Menschen wei- im digitalen Zeitalter eigentlich miteinander umgehen? chen letztendlich zurück, wenn sie keine Unterstützung Sind eine gute Kinderstube und Political Correctness ei- bekommen. Hier wird die Entscheidung getroffen, ob in gentlich was Schlechtes? Was sind unsere Kommunika- dieser Gesellschaft Zersetzung stattfindet oder nicht. tionsregeln? Brauchen sie ein Update? Wie schützen wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unsere Demokratie vor versuchter und gezielter Destabi- lisierung, oder müssen wir Fake News und ähnliche Din- Ich will Ihnen kurz sagen, was nach unserer Meinung ge einfach hinnehmen? jetzt passieren muss. Wir wissen: Auf der einen Seite sind die sozialen Netzwerke Marktplätze für Kommunikati- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) on und Vernetzung. Auf der anderen Seite sind sie aber Wir alle wissen, dass es nicht nur um das geht, was wir auch Treibstoffe für Populismus. Meines Erachtens müs- hier bei uns jetzt schon sehen. Schauen wir uns nur die sen wir jetzt eine Gesamtdebatte führen, und zwar über Wahlen in den USA oder die Ereignisse im Zusammen- Propaganda, Volksverhetzung und Cybergrooming. Das hang mit dem Brexit an. Er wird immer gruseliger, wie findet ja auch bei Onlinespielen statt, die aus mir uner- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8727

Renate Künast (A) findlichen Gründen in diesem Gesetz gar nicht berück- und Co – ohne juristische Ausbildung, dafür oft genug (C) sichtigt werden. Aber gerade das betrifft ja auch junge mit einer eigenen Agenda oder schlichter Willkür. Leute. Wir brauchen eine Gesamtdebatte und nicht das, was Sie vorhaben, nämlich in aller Seelenruhe die Trans- (Thomas Heilmann [CDU/CSU]: Wie kann parenzberichte der nächsten Runde auszuwerten und erst man einen solchen Blödsinn erzählen? Das ist dann eine Anhörung im Rechtsausschuss durchzuführen. doch Quatsch!) Ich meine, wir müssen jetzt die gröbsten rechtlichen Ge- Wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, hat die Bun- burtsfehler des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes beseiti- desregierung mit dem NetzDG auch auf Forderungen des gen. Iran und von China reagiert und Empfehlungen aus die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen beiden Ländern angenommen. Dann haben wir Zeit und Raum, um gemeinsam zu über- (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Das ist doch legen: Wie soll das Gesamtpaket aussehen? Was ist Ju- Blödsinn!) gendmedienschutz? Wie beziehen wir die Spiele ein? Das hat sie selbst beim UN-Menschenrechtsrat zugege- Ich will in einem Satz die gröbsten Fehler nennen. ben. Iran und China, tolle Vorbilder, wenn es um die Mei- nungsfreiheit geht! Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist um. (Beifall bei der AfD) Nicht umsonst hat der UN-Sonderberichterstatter Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): für die Meinungsfreiheit, David Kaye, seine Kritik am Es ist wirklich nur ein Satz. – Wir haben keine leichten NetzDG nun erneuert. Deutschland habe bei diesem Meldewege, keine vergleichbaren Transparenzberichte, Gesetz massiv gepatzt und private Firmen zu Richtern keine Clearingstelle und keinen ordentlichen, einfachen über Inhalte gemacht. Genau das haben wir von der AfD Rechtsweg. schon immer kritisiert – auch hier im Bundestag. (Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Das ist (Thomas Heilmann [CDU/CSU]: Alle Ihre überhaupt kein Lösungsansatz!) Prognosen sind nicht eingetreten! – Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Die AfD redet Genau an dieser Stelle kann ich Ihnen sagen: Das Netz- Quatsch! Das ist das Resümee dieser Debatte werkdurchsetzungsgesetz muss die Geburtsfehler los- bislang!) werden. Das ist die Basis für eine Grundsatzdebatte. (B) Aber lassen Sie es uns jetzt tun! Bereits im Dezember 2017 forderten wir in einem Ge- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) setzentwurf die ersatzlose Streichung des NetzDG. (Carsten Müller [Braunschweig] [CDU/ Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: CSU]: Damals falsch, heute falsch!) Die Rede von Carsten Müller geht zu Protokoll.1) Die Kollegen der Altparteien haben das abgelehnt. Gera- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und de SPD und Union finden immer noch, dass dieses Ge- der SPD) setz eine sehr gute Idee war. Die nächste Rednerin: Joana Cotar, AfD-Fraktion. (Thomas Heilmann [CDU/CSU]: Zehntausen- (Beifall bei der AfD) de Streichungen führten zu 700 Bescheiden!) Die Kosten der durch das NetzDG eingeführten Ver- Joana Cotar (AfD): folgungsbehörde werden auf 3,7 Millionen Euro jährlich Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen beziffert. Die Bundesregierung ging damals davon aus, und Herren! Über ein Jahr NetzDG, über ein Jahr Kampf dass der hohe Stellenbedarf unbedingt notwendig sei, um gegen die Meinungsfreiheit, über ein Jahr unzählige le- circa 25 000 Beschwerden und 500 Bußgeldverfahren gitime und zu Unrecht gelöschte Beiträge und gesperrte bewältigen zu können. Wie aus einer Kleinen Anfrage User und über ein Jahr, in dem wirklicher Hass und Be- der AfD-Fraktion allerdings hervorging, war bereits nach leidigungen in den sozialen Netzwerken nicht weniger einem Dreivierteljahr klar, dass die Zahl der Beschwer- geworden sind. den um das 50‑Fache niedriger liegt als in den Schätzun- gen des Bundesministeriums der Justiz und für Verbrau- (Beifall bei der AfD) cherschutz. Am 30. Juni 2017 haben unser damaliger Justizminis- ter Heiko Maas und die Kollegen der Altparteien hier im (Thomas Heilmann [CDU/CSU]: Ja, eben Bundestag eine Kernaufgabe des Staates an internationale weil das Gesetz viel besser ist, als Sie sagen! Konzerne abgegeben. Nun entscheiden nicht mehr Rich- So ein Tünnes!) ter über die Rechtswidrigkeit eines Beitrages und über Seit Inkrafttreten des Gesetzes ist noch kein einziges die Meinungsfreiheit, sondern Angestellte von Facebook Bußgeld gegen soziale Netzwerke verhängt worden.

1) Anlage 4 (Zuruf von der SPD: Was denn jetzt?) 8728 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Joana Cotar (A) In einem Arbeitszeugnis würde stehen: Sie haben sich Vielen Dank. (C) stets bemüht. Setzen! Sechs! (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD – Thomas Heilmann [CDU/CSU]: Das gilt für Ihre Rede! – Carsten Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Müller [Braunschweig] [CDU/CSU]: Sie sind Die Rede des Kollegen Dr. Johannes Fechner geht zu ja noch nicht mal in der Lage, ein Arbeitszeug- Protokoll.1) nis zu schreiben!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Übrigens: Das für die Bearbeitung dieser wenigen Be- schwerden angestellte Personal will das nun von Katarina Der nächste Redner ist für die FDP-Fraktion der Kol- Barley geführte Ministerium trotzdem nicht verringern. lege Manuel Höferlin. Es behauptet schlicht, die Bearbeitung dieser Fälle sei (Beifall bei der FDP – Thomas Jarzombek halt unerwartet schwierig. Es ist ja nur das Geld der Steu- [CDU/CSU]: Ich frage mich, ob der Kollege erzahler. Das lässt sich leicht zum Fenster herauswerfen. befangen ist!) Damit haben die Sozis jahrzehntelange Erfahrungen. (Beifall bei der AfD – Marianne Schieder Manuel Höferlin (FDP): [SPD]: So ein Unsinn!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin- Die im Juli 2018 vorgelegten Transparenzberichte der nen und Kollegen! Ja, die Grünen beschreiben es selbst: sozialen Netzwerke werden vom Bundesamt für Justiz Frau Künast, Sie sagen, Sie wollten sozusagen die größ- immer noch ausgewertet. Trotzdem lässt sich feststel- ten Geburtsfehler des Gesetzes beseitigen. Im allerletz- len, dass die gelöschten Beiträge kaum nach NetzDG, ten Punkt Ihres Antrags beschreiben Sie es eigentlich sondern meistens aufgrund der Gemeinschaftsstandards genau. Sie schreiben von „Inkongruenzen“ und einer gelöscht wurden. Das Gesetz ist also ineffizient, teuer, „Bund-Länder-Kompetenzverteilung“, die „nicht zweck- nutzlos und verfassungswidrig. mäßig“ ist. Ich bringe es mal auf den Punkt: Der Bund war für dieses Gesetz einfach nicht zuständig – Nun legen die Grünen einen Antrag vor, mit dem sie das Gesetz verbessern wollen. Ich musste ein we- (Beifall bei der FDP) nig schmunzeln; denn gerade die Grünen haben in den mit Ausnahme ganz weniger Punkte, etwa die Benennung letzten Wochen ja eher gezeigt, dass sie mit den sozialen des Zustellungsbevollmächtigten bzw. Empfangsberech- Netzwerken nicht umgehen können. Der Chef der Grü- tigten. Das kann der Bund regeln; dafür braucht man aber nen, Robert Habeck, hat Twitter und Facebook verlassen, kein eigenes Gesetz. Wir Freie Demokraten haben bereits (B) nicht weil er eventuell eigene Fehler eingestehen würde, 2017 mit dem Bürgerrechtestärkungs-Gesetz vorgeschla- (D) sondern weil Twitter an sich einfach aggressiv und böse gen, die richtigen Punkte in das Telemediengesetz zu sei. Die grüne Fraktionschefin Katharina Schulze sperrt integrieren und den Rest dort zu lassen, wo die Länder die Kommentarfunktion auf ihrem Profil, weil sie mit zuständig sind, und das von ihnen machen zu lassen. gerechtfertigter Kritik nicht umgehen kann. Mit den Grü- nen ziehen nach eigener Aussage Demokratie, Freiheit (Beifall bei der FDP) und Offenheit in die Parlamente ein. Genau mein Humor, Das bleibt der größte Geburtsfehler, aber das NetzDG ist meine Damen und Herren! in der Welt, und Sie haben einige Punkt aufgeworfen, de- nen man sogar zustimmen kann. (Beifall bei der AfD) Sie sagen zum Beispiel erstens: Sie möchten den Er- Zurück zu Ihrem Antrag. In 26 Punkten fordern Sie werb von Medienkompetenz vorantreiben. Das ist rich- nun die Verbesserung des NetzDG: benutzerfreundliche tig, und zwar unabhängig vom Alter. Zweitens wollen Melde-Tools, Clearingstellen, die Forschung zur Wir- Sie es Betroffenen flächendeckend ermöglichen, auf In- kung von Hate Speech, Desinformation und Social Bots, ternetwachen – so nennen Sie es; von mir aus auch durch ein Put-back-Verfahren, die Schaffung eines zusätzlichen andere Angebote – schnell und ohne große Hürden on- Gerichtsstandes, eine polizeiliche Internetwache usw. line eine Anzeige aufzugeben. Drittens wollen Sie eine Zugegeben, der Antrag enthält durchaus Punkte, denen Selbstverpflichtung der Werbewirtschaft bzw. der Digi- wir von der AfD zustimmen können. Aus unserer Sicht talwirtschaft gegen die Verbreitung von Desinformatio- bringt aber ein Herumdoktern an einem von Anfang an nen. Wenn jemand davon zuschaut: Wir unterstützen das völlig missratenen Gesetz nichts. Im Gegenteil: Es macht gerne. Legen Sie einfach los! alles komplizierter. Es gibt weitere unzählige Vorschrif- ten und Vorgaben, mehr Bürokratie, mehr Kosten für die Das alles hat aber nichts mit dem NetzDG zu tun. Das Bürger – und das alles für ein Gesetz, für das nur eines NetzDG war nicht nur ein Schnellschuss, für den der gilt: Es muss weg. Bund gar nicht zuständig war, sondern das NetzDG ist auch inhaltlich ein Desaster. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der FDP) In Deutschland liegt die Rechtsdurchsetzung in den Händen öffentlicher Gerichte, und dort soll sie auch blei- Es dient einfach in keinem Fall dazu, die Ziele zu er- ben. Die AfD wird dem Antrag daher nicht zustimmen reichen, die Sie auch in Ihrem Antrag beschreiben, liebe und sich weiter für die Meinungsfreiheit, die Netzfreiheit und die ersatzlose Streichung des NetzDG einsetzen. 1) Anlage 4 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8729

Manuel Höferlin (A) Grünen. Ich muss sagen: In einem Fall zum Glück auch In diesem Sinne können die Inhalte, die Sie teilweise (C) nicht! Denn Sie wollen eine – Zitat – „illegitime Be- zu Recht beschreiben, im NetzDG letztlich auch Geset- einflussung der öffentlichen Willensbildung“ durch das zeskraft erlangen. NetzDG verhindern. Ich frage mich: Wo hört die legiti- me Beeinflussung der Willensbildung auf, und wo fängt Herzlichen Dank. die illegitime an? Immerhin sind die Parteien an der Wil- (Beifall bei der FDP) lensbildung beteiligt. Es ist also ganz schwierig, mit dem Gesetzbuch unliebsame Meinungen zu bekämpfen. Das ist sicherlich der falsche Punkt. Wenn Sie jetzt rumoren, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: dann müssen Sie sich schon den Vorwurf gefallen lassen, Die Kollegin Anke Domscheit-Berg ist die nächste dass Sie in Ihrem Antrag mit schwammigen Formulie- Rednerin für die Fraktion Die Linke. rungen umgehen. Das ist einfach nicht gerechtfertigt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP) Wenn wir schon bei schwammig sind, sind wir auch Anke Domscheit-Berg (DIE LINKE): direkt wieder beim NetzDG. Die GroKo wartet ewig Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ab – jetzt schon wieder. Wir haben die Sachen vorgelegt Kollegen! Seit über einem Jahr gibt es das Netzwerk- bekommen, es wird wieder gewartet. Das Ministerium durchsetzungsgesetz, und noch immer hat die Bundes- möchte mit ungenauen Vorgaben irgendetwas auf den regierung keinerlei Erkenntnis darüber, ob es effektiv Weg bringen und stellt sich jetzt, da die ersten Auswer- gegen Hate Speech ist oder nicht. Eine externe Evaluie- tungen da sind, stumm und taub. Frau Barley, auf was rung soll frühestens nach drei Jahren erfolgen. Ohne eine warten Sie denn eigentlich? Die Transparenzberichte Evaluierung wird es aber wohl kaum eine Nachbesserung sind da. Sie zeigen ganz klar: Die Vorgaben sind zu un- des Gesetzes geben, obwohl die Erfahrungen der letzten genau. Das betrifft nicht nur die Transparenzberichte, zwölf Monate bereits gezeigt haben, dass sie dringend sondern auch die Meldewege. geboten ist. Werte Kollegen der Grünen, um noch einen weiteren (Beifall bei der LINKEN) Punkt Ihres Antrags anzusprechen: Sie schreiben, dass Von Nutzerinnen und Nutzern wissen wir, dass viele weitere Kriterien in die Transparenzberichte aufgenom- die Meldewege für rechtswidrige Inhalte undurchschau- men werden sollen. Es soll ein Monitoring geben, bei bar finden und dass sie ihnen juristische Kompetenzen dem man erkennt, wie es bei den Opfern aussieht, und es abverlangen, die kaum jemand hat. So muss man bei (B) soll eine Sortierung nach Alter, Geschlecht und Herkunft einer NetzDG-Meldung auf Twitter anklicken, gegen (D) erfolgen. Können Sie mir verraten, wie man das bewerk- welches Gesetz und gegen welchen Paragraf der bean- stelligen soll? Wollen Sie diese Daten jetzt bei jeder Mel- standete Inhalt verstößt. Diese Vorgehensweise wirkt als dung abfragen? Barriere und ist ohnehin völlig überflüssig; denn Twitter Auf der anderen Seite beschweren Sie sich, dass die hat uns im letzten Jahr im Ausschuss Digitale Agenda er- Meldewege zu kompliziert sind; sie sollen einfacher wer- zählt, dass sie sowieso nicht draufgucken und dass das den. Das geht jedenfalls nicht zusammen. Oder wollen für die weitere Behandlung gar keine Rolle spielt. Ob es Sie das direkt bei den Betreibern abfragen? Vielleicht stimmt oder nicht, weiß man nicht; die Transparenz hält soll man jetzt bei der Anmeldung zu einem sozialen sich in Grenzen. Netzwerk auch noch zwingend das Alter, das Geschlecht Auch für die Berichte, die nach dem NetzDG von den und seine Herkunft angeben, damit man das auch zuord- sozialen Netzwerken vorzulegen sind, gibt es im Gesetz nen kann, falls später eine Beschwerde kommt. nur sehr schwammige Vorgaben. Sie unterscheiden sich daher in Struktur und Detailgrad so erheblich, dass man Das hat jedenfalls nichts mit Datensparsamkeit zu tun, sie weder bewerten noch vergleichen kann. Nicht einmal die Sie sonst immer so hochhalten. Darüber sollten Sie die Anzahl der Meldungen kann man irgendwie beurtei- bei Ihrem Antrag also noch mal dringend nachdenken. len; denn wenn Nutzer schon den Eingang zum Melde- (Beifall bei der FDP) labyrinth nur schwer finden, werden wohl auch weniger Meldungen abgeschickt. Über das diesbezügliche Mel- Ja, ich kritisiere den Antrag, will aber auch ein paar deformular von Facebook wurden vermutlich deshalb Vorschläge machen. Es gibt einige wichtige Dinge, und im ersten Halbjahr 2018 nicht einmal 2 000 Meldungen die liegen auf dem Tisch. Einzelne Aspekte des NetzDG abgegeben. Bei Twitter und YouTube waren es im glei- kann man in das Telemediengesetz übernehmen. Das chen Zeitraum hundertmal so viel, obwohl Facebook viel haben wir vorgeschlagen. Ansonsten sollte das NetzDG mehr Nutzerinnen und Nutzer und ganz bestimmt nicht Rechtsgeschichte werden. weniger Hate Speech hat. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Wie erwartet, gab es Fälle, in denen Beiträge unge- rechtfertigt gelöscht wurden und Einsprüche gegen un- Die Dinge, die man zur Selbstregulierung einbringen gerechtfertigt gelöschte Inhalte nicht zu einer Wieder- kann, sollten wir denjenigen überlassen, die dafür zu- herstellung dieser Inhalte führten. Genauso gab es Fälle, ständig sind, nämlich den Ländern. Die sollen sich da- in denen gemeldete Inhalte stehen blieben, obwohl sie rum kümmern. Rechtsverstöße darstellten. 8730 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

Anke Domscheit-Berg (A) Vor allem gegen Overblocking können sich die Nut- Der nächste Redner: der Kollege Dr. Jens Zimmermann. (C) zerinnen und Nutzer nur schwer wehren; denn weil das NetzDG sich so unklar ausdrückt, passieren Fälle wie der (Beifall bei der SPD) folgende, den mir ein Rechtsanwalt beschrieb. Dr. Jens Zimmermann (SPD): Da Facebook den Beitrag seines Mandanten löschte Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, und ihn außerdem auch noch für vier Wochen gesperrt wir hatten eine ganz gute Debatte zum Netzwerkdurch- hat, erwirkte er vor dem Landgericht Berlin eine einst- setzungsgesetz, auch wenn Frau Kollegin Künast vorhin weilige Verfügung, nach der Facebook den gelöschten einen sehr großen Aufschlag gemacht hat und ich mir Inhalt wiederherzustellen hatte, weil er ganz klar von der lange gesagt habe: Das alles ist richtig – ich habe ganz Meinungsfreiheit gedeckt war. Dennoch verweigerte der viel genickt –, es stand nur kaum etwas davon in dem Zustellungsbevollmächtigte von Facebook die Annahme Antrag. dieser Gerichtsentscheidung; denn – jetzt wird es ganz lustig – er sei ja nur zuständig bei Gerichtsverfahren zur Ich glaube, Sie haben völlig recht: Wir brauchen diese Löschung von Inhalten nach NetzDG, aber nicht bei Ge- große Debatte über die Probleme, die wir im Netz nach richtsverfahren zur ungerechtfertigten Löschung von In- wie vor haben. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz ist aus halten nach NetzDG. genau so einer Debatte heraus entstanden. Wir haben ge- sagt: Es geht nicht so weiter, dass Hate Speech im Inter- Dieses absurde Theater, das in diesem Fall zur Ein- net verbreitet wird und dass Beiträge, die gemeldet wer- schränkung der Meinungsfreiheit geführt hat, liegt an un- den und mit denen ganz offensichtlich Inhalte gepostet sauberen Formulierungen im Gesetz, aber auch, glaube wurden, die eben nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt ich, an einer fehlenden Bußgeldbewehrung bei Nichtwie- sind, nicht runtergenommen werden. derherstellung ungerechtfertigt gelöschter Inhalte. Vor dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz haben vor al- Nach wie vor ist meine stärkste Kritik am NetzDG lem die großen amerikanischen Netzwerke die Hände in aber, dass die Bundesregierung ihre eigene Verantwor- den Schoß gelegt und nichts gemacht. Wenn wir einen tung im Kampf gegen Hate Speech und andere Formen ganz klaren Effekt des NetzDG sehen können, dann den, digitaler Gewalt nicht an US-Firmen delegieren darf. Sie dass diese Unternehmen massiv Mitarbeiterinnen und muss eigene Verantwortung übernehmen, Polizei und Mitarbeiter in Deutschland einstellen mussten, um diesen Justiz ausreichend ausbilden und personell so ausstatten, Themen nachzugehen, und das ist ein Erfolg. dass rechtswidrige Inhalte auch verfolgt werden; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der LINKEN) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ (B) DIE GRÜNEN) (D) denn, ehrlich gesagt, nicht die Löschung strafbarer In- halte führt zu einer Durchsetzung des geltenden Rechts, Dieses Gesetz – das war damals in der Debatte klar; sondern das schaffen Strafverfolgungsbehörden. die Debatten, die es auch innerhalb der Koalition gab, sind ja auch dokumentiert – war in dieser Form komplett Mit dem irreführend „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ neu, und deswegen haben wir damals auch die Evalua- genannten Gesetz wird es eher bei weniger Rechtsverstö- tion festgeschrieben. Es war, glaube ich, allen klar, dass ßen zu einer Verurteilung kommen; denn wenn ein Inhalt wir an dieses Thema mit Sicherheit noch einmal heran- gelöscht ist, zeigt ihn ja auch keiner mehr an. So macht gehen müssen. sich das Justizministerium einen schlanken Fuß und minimiert seinen eigenen Aufwand. Der Linksfraktion Ich kann sagen: Ja, wir müssen uns Gedanken ma- reicht so was nicht. chen, wie die Meldewege verbessert werden können. Frau Kollegin Domscheit-Berg hat es eben gesagt: Wir (Beifall bei der LINKEN) sehen – das kann man an den Zahlen ganz deutlich able- Im Übrigen – Sie ahnen es – bin ich immer noch der sen –, dass einige Netzwerke das offenbar deutlich besser Auffassung, dass Informationen zu Schwangerschafts- gelöst haben als andere – möglicherweise mit Vorsatz, abbrüchen nichts im Strafgesetzbuch verloren haben. möglicherweise auch nicht. Hier müssen wir Dinge klar- § 219a gehört abgeschafft. Und wenn Sie es nicht mehr ziehen. hören können: Helfen Sie, es umzusetzen. § 219a muss Wir haben daneben das Thema vor uns, dass es einen weg! Widerspruchsweg für den Fall geben muss, dass jemand Vielen Dank. meint, dass er zu Unrecht geblockt und sein Beitrag zu Unrecht gelöscht worden ist. Hier sehen wir ganz klar (Beifall bei der LINKEN) Handlungsbedarf, und ich bin mir sicher, dass wir diese Themen in der Koalition angehen werden. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Das Gesetz enthält aber natürlich auch Möglichkeiten, Der Kollege Dr. Volker Ullrich gibt seine Rede zu die von den Netzwerken bisher noch nicht voll ausge- Protokoll.1) schöpft wurden. Ich nenne nur das Thema Selbstregu- lierung. Hier müssen wir schauen, ob wir da zusätzliche (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Anreize bieten müssen oder ob die Netzwerke in den zwölf Monaten, seitdem das Gesetz gilt, vielleicht selbst 1) Anlage 4 entsprechende Erfahrungen gemacht haben – das höre Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 74. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2019 8731-8741

Dr. Jens Zimmermann (A) ich von dieser Seite zumindest –, sodass man dieses In­ Herzlichen Dank und gute Nacht! (C) strument in Kraft setzen wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Insofern, glaube ich, teilen wir das grundsätzliche An- der CDU/CSU) sinnen der Grünen, die eine Evaluation und Nachbesse- rung fordern. Ich muss aber sagen: Ich glaube, wir brau- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: chen so ein Gesetz. Seine einfache Abschaffung würde Vielen Dank. – Thomas Heilmann gibt seine Rede mit Sicherheit dazu führen, dass sich vor allem die Netz- 1) werke freuen würden, weil sie jede Menge dieser Mitar- ebenfalls zu Protokoll. beiterstellen wieder abschaffen würden und froh wären, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dass sie sich die Arbeit sparen können. Damit schließe ich die Aussprache. Das ist auch gesagt worden: Die überwiegende Mehr- heit der Inhalte, die geblockt oder gelöscht wird, wird Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nicht nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz geblockt Drucksache 19/5950 an die in der Tagesordnung aufge- oder gelöscht, sondern nach den Gemeinschaftsstan- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- dards. Das ist ein großer Unterschied. Ich sage aber auch: verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Vielleicht wäre es an der einen oder anderen Stelle wert, beschlossen. eine Diskussion darüber zu führen, was alles in diesen Gemeinschaftsstandards steht. Das Netzwerkdurchset- Wir sind am Schluss der heutigen Tagesordnung. zungsgesetz ist nämlich deutsches Recht, während die Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Gemeinschaftsstandards in vielen Fällen die amerikani- tages auf morgen, Freitag, 18. Januar 2019, 9 Uhr, ein. sche Weltanschauung widerspiegeln. Die Sitzung ist geschlossen. Das ist ein großer Unterschied und zeigt: Wir haben an diesen Stellen immer noch viel Diskussionsbedarf. Die (Schluss: 0.11 Uhr) Koalition ist aber bereit, an den Stellen, an denen es nötig ist, nachzubessern. 1) Anlage 4

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 8743

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Entschuldigte Abgeordnete Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes Abgeordnete(r) zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes (Tagesordnungspunkt 14) Bas, Bärbel SPD Daniela Ludwig (CDU/CSU): Wir stehen am Anfang Behrens (Börde), Manfred CDU/CSU eines Jahres, in dem eine Reihe von Fahrverboten, die im vergangenen Jahr von den Gerichten angeordnet wur- Bernstiel, Christoph CDU/CSU den, Realität werden könnten. Meine Fraktion stand und steht nach wie vor dafür, Fahrverbote zu vermeiden und De Ridder, Dr. Daniela SPD den Menschen in unserem Land die Mobilität zu ermög- lichen, die sie für ihre jeweilige individuelle Lebensfüh- Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ rung brauchen. Dazu gehört für die meisten Menschen DIE GRÜNEN das Auto – für den Weg zur Arbeit, um die Kinder in die Schule oder den Kindergarten zu bringen, um Einkäufe Dobrindt, Alexander CDU/CSU zu erledigen oder Verwandte und Freunde zu besuchen.

Elsner von Gronow, Berengar AfD Diese Mobilität wollen wir erhalten, und dafür ha- ben wir zahlreiche Maßnahmen auf den Weg gebracht, Gerster, Martin SPD die unter dem Titel „Sofortprogramm Saubere Luft“ zu- sammengefasst sind. Dazu gehören unter anderem die Held, Marcus SPD Förderrichtlinie Elektromobilität – BMVI –, das Förder- programm Elektro-Mobil – BMWi –, die Förderrichtlinie Herdt, Waldemar AfD zur Anschaffung von Elektrobussen im ÖPNV – BMU –, die Förderrichtlinie zur Digitalisierung kommunaler Ver- (B) Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ kehrssysteme – BMVI –, die Förderrichtlinie zur Nach- (D) DIE GRÜNEN rüstung von Dieselbussen im ÖPNV mit Abgasnachbe- handlungssystemen – BMVI –, Umschlaganlagen des Kolbe, Daniela* SPD Kombinierten Verkehrs – BMVI – und Finanzhilfen für Radschnellwege – BMVI. Lambrecht, Christine SPD Das waren jetzt stichprobenartig nur einige Maßnah- men, von denen ich überzeugt bin, dass sie in ganz erheb- Leutert, Michael DIE LINKE lichem Umfang zur Lösung des Problems beitragen, und zwar – gestatten Sie mir folgende Anmerkung – auch un- Magnitz, Frank AfD abhängig davon, dass wir mit dem Sofortprogramm die Stickoxid-Grenzwerte einhalten wollen. Die begonnenen Meister, Dr. Michael CDU/CSU Maßnahmen sind auch im Hinblick auf die Lebensquali- tät und eine Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur über- Mindrup, Klaus SPD aus sinnvoll. Müntefering, Michelle SPD Es kann niemand ernsthaft bestreiten, dass der Ausbau der Fahrradinfrastruktur und technische Verbesserun- Pronold, Florian SPD gen im ÖPNV grundsätzlich wünschenswerte Anliegen sind, und wenn man die Debatte um die Luft in unseren Reusch, Roman Johannes AfD Städten einmal sachlich betrachtet, kann man Folgendes feststellen: Unsere Luft ist in den vergangenen Jahren Schiefner, Udo SPD und Jahrzehnten deutlich sauberer geworden. Der durch- schnittliche Schadstoffausstoß ist, wenn man den Zeit- Schulz, Jimmy FDP raum 1995 bis 2017 betrachtet, über alle Schadstoffar- ten deutlich gesunken: Schwefeldioxidemissionen um Seestern-Pauly, Matthias FDP 98 Prozent, Feinstaubemissionen um 79 Prozent, Koh- lendioxidemissionen um 15 Prozent, Stickstoffoxidemis- Tauber, Dr. Peter CDU/CSU sionen um 58 Prozent. Theurer, Michael FDP Auch die Zahl der Städte mit Grenzwertüberschreitung bei Stickoxiden geht kontinuierlich zurück. Im Jahr 2016 *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes waren noch 90 Städte von Grenzwertüberschreitungen 8744 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) betroffen; im Jahr 2017 ist die Zahl auf 65 Städte ge- Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seiner Grund- (C) sunken. Wenn die Zahlen für 2018 vorliegen, werden wir satzentscheidung festgelegt, dass Fahrverbote nur dann sehen, dass es noch mal weniger Städte geworden sind. verhängt werden dürfen, wenn sie nach Abwägung und Einsatz aller milderen Mittel nicht zu vermeiden sind. Und weil gerade die Kollegen der AfD im Verkehrs- Das hat in der Folge dazu geführt, dass einige Verwal- ausschuss und auch hier im Plenum immer wieder gern tungsgerichte Fahrverbote in Städten verhängt haben, die Grundsatzfrage nach der Sinnhaftigkeit des Grenz­ die den Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter wertes stellen: Darüber kann man natürlich trefflich Luft überschreiten. Das erscheint aus unserer Sicht nicht streiten. Ja, der von der WHO empfohlene Grenzwert ist immer sinnvoll, insbesondere dann nicht, wenn die be- umstritten, und nicht alle Länder haben ihn daher über- troffene Stadt für die Vergangenheit bereits eine gewisse nommen. Das ist aber bei allen Grenzwerten so, ebenso Schadstoffreduzierung nachweisen kann und die Über- wie bei Stichtagen. Sie werden immer jemanden finden, schreitung nur knapp über dem Grenzwert liegt. der knapp drüber oder drunter bzw. einen Tag davor oder einen Tag danach liegt. Es ist nicht die Schuld der Gerichte, dass sie so ent- scheiden, wie sie entscheiden. Es fehlt ihnen schlicht und Und all diejenigen, die diese Grenzwertdebatte gern ergreifend an dem nötigen Entscheidungsspielraum, um führen und die Weltgesundheitsorganisation anzweifeln, auch Entwicklungen angemessen zu berücksichtigen, die müssen die Frage beantworten, wer denn aus ihrer Sicht eindeutig in die richtige Richtung zeigen. in der Lage ist, Grenzwerte festzulegen – und von dem alle – angefangen bei der Wissenschaft bis hin zur Poli- Aus diesem Grund ist es auch richtig, dass wir den tik – sagen: Ja, das ist jemand, dessen Expertise ich nicht Entscheidungsspielraum mit der jetzt anstehenden Än- infrage stelle. derung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erhöhen, sodass die Gerichte bei Werten zwischen 40 und 50 Mi- Unabhängig davon bringt es auch nichts, die Grenz­ krogramm pro Kubikmeter Luft in der Lage sind, auf wertdiskussion aus dem Jahr 2008 erneut zu führen. Fahrverbote zu verzichten. Das ändert nicht den zulässi- Technisch sind wir in der Lage, diesen Grenzwert zu er- gen Grenzwert und soll ihn auch nicht infrage stellen, es reichen. Also spricht grundsätzlich nichts dagegen, dies ermöglicht aber, auf positive Entwicklungen in unseren auch zu tun. Das muss aber sinnvoll passieren und nicht Städten angemessen zu reagieren. über Klagen und Gerichtsurteile. Dennoch wird es vermutlich nicht ausbleiben, dass in Die Menschen in unserem Land müssen sicher sein, der einen oder anderen Stadt bestimmte Dieselfahrzeuge dass die Maßnahmen, die ergriffen werden, nicht wahllos nicht mehr werden fahren können. Das ist von uns weder erfolgen und dass sie vor allem auch plausibel nachvoll- gewünscht noch gewollt, wir müssen aber die Kommu- (B) ziehbar sind. Dazu gehört zum Beispiel – und da verstehe nen dabei unterstützen, mit dem Problem sinnvoll umzu- (D) ich das Unverständnis der Bürgerinnen und Bürger – die gehen, und zwar so, dass eine Kontrolle technisch und Frage nach den Standorten der Messstationen. Diese sol- personell machbar ist, die gleichzeitig zu keiner zusätzli- len mindestens 25 Meter von der nächsten verkehrsrei- chen Belastung für die Autofahrer führt. chen Kreuzung entfernt stehen. Einige Messstellen hal- ten den Mindestabstand offenbar nicht ein. Hierzu bestehen grundsätzlich zwei gangbare Mög- lichkeiten: Gleichwohl werden auch die Werte von falsch ste- henden Messstellen in den Gerichtsprozessen für Fahr- Die erste Möglichkeit sind sogenannte Anhaltekontrol­ verbote verwendet. Das kann nicht Sinn und Zweck der len. Das heißt, die Verkehrsbehörden stoppen den flie- Maßnahme sein. Um eine valide und vor allem vergleich- ßenden Verkehr und kontrollieren anhand der Fahrzeug- bare Datenlage zu erhalten, ist es unabdingbar, dass die papiere händisch, ob das Fahrzeug in die Verbotszone Aufstellungsvorschriften auch eingehalten werden. Alles einfahren darf. Das Ganze ist denkbar unpraktisch – ins- andere wäre den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern besondere auf der A 40 in Essen – und würde im Ergeb- nicht vermittelbar. nis auch nur dazu führen, den Verkehr aufzuhalten und damit für noch mehr Staus und damit Umweltbelastung Die Verkehrsministerkonferenz vom 18. und 19. Ok- zu sorgen. tober 2018 hat mehrheitlich beschlossen, dass das Bun- desministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur Die zweite Möglichkeit sind technische Kontrollen, die bereits seit April laufende Überprüfung der Messsta- die nicht in den fließenden Verkehr eingreifen. Zur Um- tionen durch den Deutschen Wetterdienst fortsetzt. Die setzung dieser Möglichkeit bedarf es der Änderung des Aufstellung und Überprüfung der Messstationen liegt Straßenverkehrsgesetzes. allerdings im Aufgabenbereich der Länder und nicht des Wie stellen wir uns Kontrollen vor? Was wir nicht Bundes. machen werden, ist, alle Einfahrtsstraßen rund um eine Fahrverbotszone mit Kontrollbrücken, wie wir sie von Vonseiten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wer- der Mauterhebung kennen, oder mit stationären Tem- den wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass Messdaten pomessgeräten auszustatten, die jedes einfahrende Auto korrekt und zuverlässig erhoben werden. Es geht hier- erfassen und Verstöße automatisch melden, damit die bei nicht darum, bessere Messwerte zu erhalten, sondern zuständige Behörde entsprechende Bescheide erstellen richtlinienkonforme. Daran werden wir weiter festhalten, kann. und wir werden die Bundesländer dazu anhalten, eine entsprechende Überprüfung auch ernsthaft vorzuneh- Es geht nicht darum, Autofahrer zu bestrafen, sondern men. darum, die Umsetzung von Gerichtsurteilen zu ermögli- Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 8745

(A) chen. Die Erfassung soll daher nur stichprobenartig und Aber: Nur der Bund allein kann es natürlich nicht (C) nicht flächendeckend erfolgen, das heißt, die zuständige richten, sondern auch alle betroffenen Bundesländer und Behörde wird das Kennzeichen erfassen, um damit eine Städte müssen ihren Beitrag leisten. Nicht dass ein fal- Abfrage beim Kraftfahrt-Bundesamt zu den technischen scher Eindruck entsteht: Ich bin vielen Oberbürgermeis- Daten des Fahrzeugs zu ermöglichen. Hierbei erfolgt tern und Landesministern dankbar für ihren Einsatz, aber eine automatische Abfrage beim KBA; es erfolgt keine es sind schon Unterschiede festzustellen. Daher will ich automatische Fahrzeugerfassung. Der Unterschied ist noch einmal deutlich sagen: Alle müssen alles tun, um hier ganz wichtig. das Problem schnell zu lösen.

In diesem Zusammenhang wurden die Fragen des Da- Zur Problemlösung gehört auch die vorhin debattierte tenschutzes vielfach angesprochen, und auch der Bun- Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Städte desrat hat das in seiner Stellungnahme angemerkt. Diese mit Grenzwertüberschreitungen unter 50 Mikrogramm wollen wir sicher und zuverlässig klären. werden vor Fahrverboten geschützt. Damit setzen wir Ergibt die Erfassung, dass das Fahrzeug in die Ver- konsequent das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts botszone einfahren darf, werden die Daten in Echtzeit ge- um, das eben nun mal richtigerweise besagt, dass es un- löscht. Es dürfen nur Daten gespeichert werden, die der verhältnismäßig wäre, Fahrverbote zu erlassen in Städ- Kontrolle der Fahrverbote dienen. Die Datenerhebung ten, die kurz davor sind, die Grenzwerte einzuhalten. für andere Zwecke ist und bleibt ausgeschlossen. Die Datenübermittlung darf nur an die für die Überwachung Zudem bin ich froh, dass das Bundesumweltministeri- zuständige Behörde erfolgen. Verdeckte Kontrollen­ wer- um zugesagt hat, alle Messstellen zu überprüfen. Es geht den ausgeschlossen. Erhobene Daten müssen unverzüg- uns nicht darum, die Messstellen alle in den nächstgele- lich an die zuständige Behörde weitergeleitet werden. genen Park zu versetzen, sondern es geht darum, zu über- Gespeicherte Daten wollen wir nach zwei Wochen wie- prüfen, ob es Standorte gibt, die nicht den europäischen der löschen, unabhängig davon, ob bereits ein Verfahren Vorgaben entsprechen. Solche rechtswidrigen Messstel- eingeleitet wurde oder nicht. lenstandorte dürfen nicht zu Fahrverboten führen. Ich bin froh, dass unsere bereits im Frühjahr vergangenen Jahres Aus unserer Sicht ist das der richtige Weg, um die geäußerte Position nun Konsens in der Bundesregierung Umsetzung der Gerichtsurteile praktikabel zu ermögli- geworden ist. chen, ohne die Autobesitzer über Gebühr zu belasten. Ich will aber auch deutlich sagen: Die zuständigen Steffen Bilger, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Landesumweltbehörden sind aufgefordert, selbstkritisch minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Heute zu hinterfragen, ob sie vielleicht nicht doch in der Ver- (B) Abend debattieren wir über den Entwurf eines Neunten gangenheit Fehler bei der Aufstellung der Messstellen (D) Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes. gemacht haben. Wo Korrekturbedarf ist, sollte korrigiert Warum führen wir diese Debatte? werden. Und für die Zukunft muss gelten: Wir dürfen den In erster Linie führen wir diese Debatte, weil wir in Rahmen der europäischen Vorgaben durchaus ausnutzen Deutschland Probleme bei der Luftreinhaltung haben und müssen nicht strenger messen als der Rest Europas. und weil es – aus verschiedenen Grünen – zu Fahrver- Doch zurück zum Straßenverkehrsgesetz: Wo Fahr- boten in bislang zwei Städten gekommen ist. Wenn es verbote bestehen, müssen sie nun mal auch kontrolliert Fahrverbote gibt, müssen diese natürlich auch kontrol- werden können. Wir durften uns ja in den vergangenen liert werden können, und um Kontrollmöglichkeiten geht Wochen viel Kritik anhören. Ich will aber schon daran es bei der vorgeschlagenen Gesetzesänderung. erinnern, dass wir beispielsweise von der Umweltminis- Ich will aber erst einmal klarstellen, was das Wichtig- terkonferenz der Länder aufgefordert wurden, entspre- ste ist: Unser ganzer Einsatz sollte darauf konzentriert chende Möglichkeiten zu schaffen. Im Beschluss der werden, Fahrverbote zu vermeiden, bzw. wenn sie bereits Umweltministerkonferenz werden wir ausdrücklich auf- in Kraft getreten sind, sie so schnell wie möglich wieder gefordert, datenschutzrechtliche Rahmenbedingungen überflüssig zu machen. Dafür sollten alle Beteiligten alles für den „Einsatz automatisierter Überwachungseinrich- tun, und ich fordere insbesondere alle Landesregierun- tungen“ zu erlassen. gen und alle betroffenen Städte auf, alle Möglichkeiten zu nutzen, um die Luftreinhaltewerte schnell einzuhalten Dementsprechend schaffen wir eine rechtliche Grund- und Fahrverbote zu vermeiden. lage für die Länder, die dann noch immer selbst entschei- den können, wie sie Fahrverbote kontrollieren wollen. Die Bundesregierung tut viel, um den betroffenen Die nach Landesrecht zuständigen Behörden werden in Städten und damit den von Fahrverboten bedrohten An- die Lage versetzt, anlassbezogen unter Abruf der zu ei- wohnern und Autofahrern beizustehen. nem Kennzeichen im Zentralen Fahrzeugregister gespei- Wir unterstützen mit Fördermitteln in Milliardenhö- cherten technischen Daten des Fahrzeugs festzustellen, he – zur Umstellung auf Elektromobilität, zur Nachrüs- ob das Fahrzeug zur Verkehrsteilnahme in einem Gebiet tung von Bussen und kommunalen Fahrzeugen, zur bes- mit Verkehrsbeschränkungen berechtigt ist. Hierfür soll seren Verkehrslenkung, durch den Bau von Straßen, die der Gesetzentwurf die Möglichkeit eines automatisier- den Verkehr aus den Stadtzentren fernhalten, durch den ten Abrufs der beim Kraftfahrt-Bundesamt hinterlegten Ausbau des ÖPNV-Angebots mit Bundesmitteln, durch Fahrzeugdaten in Verbindung mit einer automatisierten die Förderung des Radverkehrs usw. Kennzeichenerfassung schaffen. 8746 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Selbstverständlich können Fahrverbote aber auch schen Richtlinientexte. Der Gesetzentwurf übernimmt (C) durch sogenannte Anhaltekontrollen durchgeführt wer- die Begrifflichkeiten aus der berichtigten deutschen den. Welche Form der Kontrolle genutzt werden soll, Fassung der Richtlinien, insbesondere in Bezug auf die entscheiden die jeweiligen Länder in Absprache mit den Ausnahmemöglichkeit vom Anwendungsbereich, und betroffenen Städten. kommt somit der Aufforderung der EU-Kommission nach. Damit machen wir unser nationales Recht wieder Wir haben den ursprünglichen Entwurf bereits an ei- EU-rechtskonform. nigen Stellen nachgebessert – so haben wir das in der Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme Wir von CDU, CSU und SPD haben die Eins-zu-eins- des Bundesrats deutlich gemacht –, und wir sind natür- Umsetzung von EU-Vorgaben im Koalitionsvertrag an lich offen für weitere Verbesserungsvorschläge im parla- mehreren Stellen als Ziel definiert, um Unternehmen mentarischen Verfahren. Zu den Nachbesserungen gehört Rechtssicherheit zu geben und um Bürokratie und lang- die Präzisierung, dass Kontrollen nur „stichprobenartig“ wierige Verfahren zu vermeiden. Deshalb unterstützen erfolgen dürfen. Die Regelung soll also keine flächen- wir die weitgehende Eins-zu-eins-Umsetzung der Richt- deckende Überwachung ermöglichen, sondern Städte, in linien durch den vorliegenden Gesetzentwurf. denen diese Möglichkeit angewandt werden soll, können an wechselnden Orten mit entsprechenden Geräten ein Und auch deshalb haben wir im Verkehrsausschuss Fahrverbot durch Bedienstete der zuständigen Behörde den Änderungsantrag der Koalition beschlossen, der die kontrollieren. Es wurde auch noch einmal verdeutlicht, Streichung von Absatz 2 des § 2b des Gesetzentwurfes dass es nicht um Videoaufnahmen geht, sondern um Ein- vorsieht, da er keine Grundlage im EU-Recht hat. Die zelaufnahmen. Richtlinien machen keine Vorgaben dazu, an welcher Stelle ein Übergang vom übergeordneten Eisenbahnnetz Ich freue mich auf eine konstruktive Debatte zu die- zu den vom Anwendungsbereich ausgenommenen Stre- sem Gesetzesvorhaben. Lassen Sie mich zum Abschluss cken erfolgt oder ob diese Strecke geteilt sein darf oder noch einmal betonen: Wenn es keine massiven Grenz- nicht. Wir sorgen deshalb mit unserer Änderung auch an wertüberschreitungen mehr gibt, dann gibt es keine Fahr- dieser Stelle für eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richt- verbote mehr, und wenn es keine Fahrverbote mehr gibt, linien und vermeiden eine Einschränkung oder Diskrimi- müssen wir auch nicht über die Kontrolle von Fahrverbo- nierung grenzüberschreitender Verkehrsangebote gegen- ten diskutieren. Also, arbeiten wir alle gemeinsam daran, über inländischen. dass wir schnell vorankommen und die bestehenden Pro- bleme bei der Luftreinhaltung lösen. Darüber freut sich insbesondere die Norddeutsche Eisenbahngesellschaft, welche die zugegebenermaßen verkehrstechnisch und europäisch recht unbedeutende (B) Bahnstrecke zwischen Niebüll – oder noch konkreter (D) Anlage 3 zwischen Süderlügum – in Schleswig-Holstein und Tön- der in Dänemark im Personennahverkehr betreibt. Zu Protokoll gegebene Reden Wir stimmen dem Gesetzentwurf unter der Maßgabe zur Beratung des von der Bundesregierung einge- unseres Änderungsantrages zu. brachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Än- derung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (Zusatztagesordnungspunkt 8) Gero Storjohann (CDU/CSU): Wir beschließen heu- te eine wichtige Änderung für den europäischen und na- tionalen Eisenbahnsektor. Mit dem Fünften Gesetz zur Michael Donth (CDU/CSU): Mit dem Fünften Än- Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes setzen derungsgesetz zum Allgemeinen Eisenbahngesetz passen wir entsprechenden EU-Richtlinien in unser nationa- wir ein paar wenige Regelungen dieses Gesetzes an. Es les Eisenbahnrecht um. Das zur Änderung vorliegende handelt sich hierbei um die Regelungen, die über die An- Allgemeine Eisenbahngesetz verpflichtet Eisenbahnge- wendung der umgesetzten EU-Richtlinien 2004/49/EG sellschaften, ihren Betrieb sicher zu führen sowie ihre und 2008/57/EG entscheiden. Diese Anpassung war not- Fahrzeuge, ihre Infrastruktur und ihr Zubehör in be- wendig geworden, nachdem die deutschsprachigen Fas- triebssicherem Zustand zu halten. Darüber hinaus ent- sungen der EU-Richtlinien wegen Übersetzungsfehlern hält es die Ermächtigungen zur Eisenbahnaufsicht, die berichtigt worden sind. In den neuen, nun korrigierten Rechtsgrundlagen für die Planfeststellung sowie die Re- Richtlinientexten sind die Begriffe „Regionalbahnen“ gelungen zum Erfordernis und zum Erhalt von Betriebs- und „Regionalbahnsysteme“ als Ausnahmemöglichkeit genehmigungen sowie der Sicherheitsbescheinigungen. vom Anwendungsbereich der Richtlinie nicht mehr ent- halten. Unser bislang geltendes Allgemeines Eisenbahn- Der Eisenbahnsektor konnte in den letzten Jahren eine gesetz enthält jedoch nach wie vor diese Begriffe als positive Entwicklung verzeichnen, im Personennahverkehr Ausnahmemöglichkeit, und Deutschland hat von die- wie auch im Güterverkehr. Jährlich werden in Deutschland ser Ausnahmemöglichkeit Gebrauch gemacht. Deshalb 2,5 Milliarden Menschen im Nahverkehr der Bahn trans- droht uns jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren vonsei- portiert sowie 3,5 Milliarden Tonnen Güter. Diese positive ten der EU-Kommission. Entwicklung wollen wir weiter unterstützen. Um dieses abzuwenden, ist Handeln also dringend Beim Eisenbahnverkehr handelt es sich um ein kom- geboten, und deshalb begrüße ich den Gesetzentwurf plexes und kompliziertes System. Auf der einen Seite ha- und die notwendige Anpassung an die korrigierten deut- ben wir Netze, die befahren werden, und auf der anderen Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 8747

(A) Seite haben wir die Betriebe, welche die Netze befahren. le dieser Auslandsanschlüsse: In den drei großen Häfen (C) Dieses System wird mit dem Gesetz positiv beeinflusst: Puttgarden, Kiel und Lübeck verlaufen die Schienen auf Durch die weitere Angleichung an die europäischen Vor- den Kaianlagen, teilweise sogar bis zu den Schiffsla- schriften wird ein weiterer Beitrag geleistet, einen euro- destellen, hier besteht die Gefahr, dass jahrzehntelange päischen Eisenbahnraum zu schaffen. Dieser europäische sichere Arbeit administrativ überfrachtet werden würde Eisenbahnraum soll zu einer Stärkung des Verkehrsträ- und die Seehäfen im Wettbewerb negativ beeinflusst gers Schiene im intermodalen Wettbewerb und somit zur werden könnten. Steigerung der Attraktivität des Verkehrsträgers Eisen- bahn führen. Noch eklatanter würde es die NEG in Niebüll treffen. Sie ist eine der sehr wenigen NE mit Anschluss an das Des Weiteren soll dieses Gesetz den Schienenverkehr Ausland und dazu die erste, die ETCS-Standards einge- im europäischen Vergleich noch wettbewerbsfähiger und führt hat. Obwohl ETCS die europäische Integration vo- auch zukunftsfähig machen. Denn auch die Stärkung des rantreiben sollte, würde hier genau das Gegenteil erreicht Schienenverkehrs bietet die Möglichkeit, unseren Ver- kehr umweltschonender zu gestalten. werden. Durch die Änderungen der Infrastruktur würde mit der zuvor drohenden Verschärfung verwaltungs- Besonders möchte ich auf unseren Änderungseintrag technisch der Aufwand überladen und damit eigentlich eingehen, denn dieser betrifft speziell mein Bundesland unmöglich gemacht werden, eine solche Strecke wei- Schleswig-Holstein. § 2b Absatz 2 traf in seiner ursprüng- terzubetreiben. Da diese Änderung aber durch unseren lichen Formulierung deutschlandweit exakt und lediglich Änderungsantrag nicht eintritt, kann das fruchtbare Zu- die singuläre Situation einer Strecke bei uns in Nordfries- sammenspiel der Landesbehörden mit den NE fortgesetzt land. Grundsätzlich eröffnet § 2b Absatz 1 AEG den vie- werden, um den steigenden Verkehrsbedürfnissen wie len Eisenbahninfrastrukturen mit lokaler oder regionaler auch Mobilitätsbedürfnissen gerecht zu werden sowie Bedeutung in Deutschland weiterhin die Möglichkeit, wirtschaftliche und infrastrukturelle Lösungen anzubie- ohne die Anwendung des EU-Rechts betrieben werden ten. zu können. In der ursprünglichen Fassung sollte aber in § 2b Absatz 2 der Weg der Ausnahme versperrt bleiben Folglich lässt sich also zusammenfassen: Es spricht für einige Strecken, da hier eine Extraanforderung an nichts gegen eine ersatzlose Streichung des § 2b Absatz 2 eine vorhandene Auslandsanbindung geknüpft wurde. samt seiner Begründung im Rahmen unserer Beratung Die nun im Änderungsantrag vorgenommene Streichung und Beschlussfassung. Vielmehr gewinnt das Gesetz dieses Absatzes hatte folgende Beweggründe: Qualitativ hierdurch an europäischem Format. Insofern können wir ging der Gesetzentwurf durch die Bedingung des „An- nun einen guten Gesetzentwurf verabschieden, und es ist schlusses an das Ausland“ ohne erkennbaren Grund und (B) hier somit heute im Bundestag ein sehr guter Tag für das (D) Bedarf über die eisenbahnrechtlichen Erfordernisse des Eisenbahnwesen in Deutschland. Europarechts hinaus. Die umzusetzende EU-Richtlinie fordert eine solche Bedingung nicht. Ja, grad im Gegen- teil ließe sich durch eine solche Regelung auf Basis des Martin Burkert (SPD): Wir brauchen im Schienen- europäischen Wettbewerbsrechts eine unergründbare verkehr leistungsstarke Züge. Denn störanfällige Züge, Diskriminierung von Eisenbahnunternehmen ableiten, die aus dem Verkehr gezogen werden müssen, führen zu die einen Anschluss mit dem Ausland haben. Verspätungen und Ärger bei den Bahnkunden. Außerdem gilt es, die Herstellungsprozesse zu beschleunigen. Wir Die weiteren Gründe für die Änderung der Bestimmun- brauchen also mehr Sicherheit beim Betrieb der Fahrzeu- gen zum Anwendungsbereich des AEG sind ausschließ- ge und eine schnellere Beschaffung. lich formaler Natur, sie stellen die EU-Rechtskonformität her. Materiell besteht bereits heute weitestgehende Inter- Bei der vorliegenden Novellierung des Allgemeinen operabilität. Die Sicherheit des Eisenbahnverkehrs ist Eisenbahngesetzes geht es darum, die Regelungen, die durch die Regelungen des § 4 AEG für alle Bahnen ver- über die Anwendung des umgesetzten europäischen pflichtend geregelt. Eisenbahnen – EVU oder EIU –, die Rechts entscheiden, an geänderte EU-Richtlinien anzu- durch die anstehende Gesetzesänderung nicht mehr unter passen. Die Ergänzung, dass ein Eisenbahnverkehrsun- die heutigen Ausnahmen fallen und somit neu in den An- ternehmen unabhängig von der Art seiner Sicherheitsbe- wendungsbereich der EU-Eisenbahnsicherheitsrichtlinie scheinigung zu umfassender Hilfeleistung verpflichtet und der EU-Interoperabilitätsrichtlinie fallen, sind von ist, ist dabei selbstverständlich ein wichtiger und neuer zahlreichen, kostensteigernden Konsequenzen betroffen. Zusatz. Insgesamt führt dies zu einer sprunghaften Kostenerhö- hung, die kleine und mittelständische Unternehmen uner- Die Verpflichtung für Eisenbahnverkehrsunterneh- träglich stark belastet. Die mittelständische Struktur der men, eine Sicherheitsbescheinigung zu haben, soll künf- Last-Mile-Netze gilt international als Erfolgsfaktor der tig daran anknüpfen, ,,ob das Unternehmen am Eisen- deutschen Eisenbahnlandschaft und muss von uns auch bahnbetrieb auf dem übergeordneten Netz teilnimmt“. weiter unterstützt werden. Der Begriff „übergeordnetes Netz“ wird neu in das All- Der nun durch unseren Änderungsantrag verbesserte gemeine Eisenbahngesetz eingeführt. Er dient der Um- Entwurf, der heute zu verabschieden ist, gliedert strikt schreibung derjenigen Eisenbahninfrastrukturen, für die EU-Rechtsvorgaben nach unter- und übergeordnetem die europäischen Vorschriften Anwendung finden, und Netz ohne zusätzliche Anforderungen wie der des Aus- umfasst grundsätzlich das gesamte regelspurige Eisen- landsanschlusses. Schleswig-Holstein verfügt über vie- bahnnetz. 8748 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) Ausgenommen vom Anwendungsbereich der Sicher- Wolfgang Wiehle (AfD): Heute Abend sind 27 Mi- (C) heitsrichtlinie sind dem Gesetzentwurf zufolge Unter- nuten Debatte über eine Änderung des Allgemeinen Ei- grundbahnen, Straßenbahnen und Stadtbahnfahrzeuge, senbahngesetzes angesetzt, die auf den ersten Blick einen ferner Eisenbahnverkehrsunternehmen, die auf funktio- sehr technischen Eindruck macht. Da fragt man sich als nal getrennten Netzen fahren und die nur zur Personen- Abgeordneter, ob sich die Debatte überhaupt lohnt. Gibt beförderung im örtlichen Verkehr, Stadt- oder Vorort- es vielleicht Hintergründe, die man auf den ersten Blick verkehr am Eisenbahnbetrieb teilnehmen. Des Weiteren gar nicht erfasst und die auch im Ausschuss nicht aufge- sollen jene Eisenbahnverkehrsunternehmen ausgenom- fallen sind? men werden, deren Fahrzeuge auf Eisenbahninfrastruk- Anlass für die Gesetzesänderung ist vor allem ein turen im Privateigentum verkehren oder die von ihrem Übersetzungsfehler im Text zweier EG-Richtlinien, Eigentümer oder Betreiber für den eigenen Güterverkehr durch den Missverständnisse rund um den Begriff „Re- oder für die Personenbeförderung zu nichtgewerblichen gionalbahn“ entstanden sind. Fehler passieren, und dann Zwecken genutzt werden. erfolgen Korrekturen; das ist keine Frage. Aber der Vor- Die Bestimmung musste geändert werden, da es zwei gang wirft ein Schlaglicht auf die extrem hohe Komple- Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommis- xität, die durch die Rechtsetzung in der vielsprachigen sion gab, weil Deutschland von den in der ursprüngli- EU und die zwingende Umsetzung durch Übernahme ins chen Richtlinie enthaltenen Ausnahmeregelungen für nationale Recht entsteht. „Regionalbahnen“ und „Regionalbahnsysteme“ in ei- Man sollte nicht glauben, dass eine solche Begriffs- ner Form Gebrauch gemacht hatte, die auf Kritik der korrektur folgenlos bleibt. Man spricht bei der Bahn nun EU-Kommission gestoßen war. Somit war es wichtig, für vom „übergeordneten Netz“ und von dem kleinen Rest, Rechtssicherheit zu sorgen, um möglichen Vertragsver- der nicht dazu gehört. letzungsverfahren vorzubeugen. Das Allgemeine Eisen- bahngesetz regelt den sicheren Betrieb auf der Schiene. Eisenbahn-Verkehrsunternehmen, die das übergeord- nete Netz nicht nur bis zum ersten erreichbaren Bahn- Allerdings sind im AEG noch einige Punkte offen, für hof befahren, brauchen nach den EU-Regeln eine Si- die vernünftige Lösungen gefunden werden müssen. Und cherheitsbescheinigung, und Lokführer, die dort fahren, in erster Linie geht es – wie so oft – darum, dass nicht die brauchen einen europäischen Triebfahrzeugführerschein. eigentliche Regelung, sondern die Umsetzung das Pro- Bislang profitierten Regionalbahnen hier von einer Aus- blem darstellt. So ist es nach wie vor ein Unding, dass nahme. das Eisenbahn-Bundesamt mit deutlich zu wenig Stellen Das erzeugt erheblichen Aufwand für die Ausstellung ausgestattet ist und seinen Aufgaben nicht ausreichend von Sicherheitsbescheinigungen und das Umschreiben (B) (D) nachkommen kann. Zusätzlich soll das EBA immer neue von Triebfahrzeugführerscheinen. Wenn das Verfahren Aufgaben übernehmen. stockt, droht ein Lokführer zwischenzeitlich dann auch Die Außenstellen des Eisenbahn-Bundesamtes sind mal ohne Fahrerlaubnis dazustehen. zu schlecht besetzt. Denn allein durch das Planungsbe- Fassen wir zusammen: Wie so häufig steckt der Teu- schleunigungsgesetz besteht ein enormer Mehrbedarf an fel im Detail. Im größeren Zusammenhang gedacht regt Manpower. dieser Vorgang zum Nachdenken über die Komplexität der EU-Bürokratie an. Für den Bürger und für kleine und Stellen, die jetzt kommen, müssen vor allem in die mittelständische Unternehmen, die keine eigene Rechts- Außenstellen des EBA. Aber der tatsächliche Bedarf an abteilung haben, ist diese bisweilen undurchschaubar Stellen beim EBA spiegelt sich auch im aktuellen Haus- geworden. Wie das Beispiel zeigt, verheddern sich bis- halt nicht wider. weilen sogar die EU-Bürokratie und Regierungen selbst in diesem Dickicht. Wir können die Personalsituation beim EBA so nicht dulden; denn die Baufreigaben hängen daran. Nehmen wir diese AEG-Änderung also auch als Mah- nung, bei der EU immer wieder Aufgabenkritik zu üben. Noch ein Beispiel: Im Jahr 2009 wurde das Wasser- Auf EU-Ebene darf nur das geregelt werden, was unbe- haushaltsgesetz geändert. Das bisherige Rahmengesetz dingt auf diese Ebene gehört und nicht von den Mitglied- wurde zu einem Bundesgesetz als sogenanntes Vollge- staaten selbst gelöst werden kann. setz, und der Bund war in der Folge in der Zuständigkeit. Dadurch griff dann die Allgemeinklausel nach § 4 Ab- Dr. Christian Jung (FDP): Das Fünfte Gesetz zur satz 6 AEG, und die Zuständigkeit war auf einmal beim Änderung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ist nichts EBA: für die WHG-Genehmigungen und die Aufsicht im weiter als die Angleichung an die EU-Richtlinie von Hinblick auf Errichtung, Änderung, Unterhaltung und 2008 und deren Folgerichtlinie 2016. Die Änderung des Betrieb der Betriebsanlagen und der Fahrzeuge von Ei- Gesetzes ist somit notwendig, und dem stimmen wir als senbahnen des Bundes. Freie Demokraten zu. Will man das EBA als umfassendes Kompetenzzen- Man hätte natürlich ohne Probleme die Angleichung trum für die Eisenbahnen des Bundes im Sinne von Ge- früher durchführen können. Aber die Verzögerung ist mit nehmigungen und Aufsicht „aus einer Hand“ für alle Blick auf das von Ihnen eingeschlagene langsame Tem- Bereiche etablieren, dann muss aber auch mehr Personal po, gerade im Bereich des Ausbaus der Schieneninfra- bewilligt werden. struktur, nicht weiter überraschend. Klar ist doch: Die Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 8749

(A) Bahn braucht eine zweite Reform. Und selten war die Sabine Leidig (DIE LINKE): Das Gesetz zur Än- (C) Zeit dafür so reif wie jetzt. Der Druck, die Bahn zu ver- derung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes nimmt eine bessern, war schon immer da, wird auch immer bleiben. Anpassung an das EU-Recht vor. Die Begriffe „Regio- Aber eine interfraktionelle Schnittmenge zwischen den nalbahnen“ und „Netze des Regionalverkehrs“ werden Positionen und Vorstellungen, was reformiert werden aus dem Allgemeinen Eisenbahngesetz gestrichen, da müsste, ist derzeit ebenfalls vorhanden. Jetzt ist die Zeit, sie nicht mehr in den EU-Richtlinien enthalten sind. Die gemeinsam eine Bahnreform 4.0 durchzuführen, und die- Bundesregierung will alle Ausnahmemöglichkeiten, die se Chance sollten wir gemeinsam nutzen. das EU-Recht bietet, ausschöpfen, um die Eisenbahnun- ternehmen möglichst wenig zu belasten. Deshalb wird Und wenn wir – wie heute – die Gesetzesgrundlage von sämtlichen Ausnahmemöglichkeiten Gebrauch ge- an die Vorgaben des vierten Eisenbahnpakets angleichen, macht. Konkret geht es darum, dass für regionale Bahn- warum sind wir dann nicht konsequent und trennen end- netze, auf denen der DB-Fernverkehr nicht fährt, die An- lich das Netz vom Betrieb? forderungen geringer sind bzw. sein sollen. Darin sind Wie sonst wollen Sie als Bundesregierung die Markt- sich Bundesregierung und Länder einig. Hierbei geht es liberalisierung ermöglichen und eine wettbewerbsfähige insbesondere darum, dass die Sicherheitsgenehmigung und finanziell robuste Bahn aufbauen? Ich spreche hier verzichtbar bleibt, die für das transeuropäische Verkehrs- nicht von der theoretischen Trennung, die Sie zuweilen netz erforderlich ist. Dazu heißt es im Gesetzentwurf: anführen, wenn Sie argumentieren, die Bahn sei verant- wortlich für den Betrieb, die Bundesregierung für das Die bundeseigenen Betreiber von Schienenwegen Netz und die Sicherstellung eines diskriminierungsfrei- haben schon heute eine Sicherheitsgenehmigung. en Zuganges. Notwendig ist die faktische Trennung und Nichtbundeseigene Eisenbahnen, deren Strecken somit die Herauslösung der DB-Netz-Unternehmen aus unmittelbar an ein ausländisches Netz angebunden der AG und deren Bündelung in einer Infrastrukturgesell- sind, verfügen ebenfalls über eine Sicherheitsge- schaft. nehmigung. Ob weitere Unternehmen einer sol- chen Genehmigung bedürfen, hängt davon ab, ob Wir alle stimmen dem Bundesminister zu, wenn die die Eisenbahninfrastruktur dem übergeordneten Zufriedenheit der Kunden als oberstes Ziel ausgegeben Netz zugeordnet wird. Diese Entscheidung fällen wird. Aber den bekundeten politischen Willen, die Schie- bei nichtbundeseigenen Eisenbahnen die jeweiligen ne kräftig zu stärken, müssen Sie selbst mit Forderungen Landesbehörden. und Visionen unterlegen. Die Bundesregierung muss als Eigentümer der Bahn selbst klarstellen, wie sie struktu- Die Länder hatten im Bundesrat keine Einwände ge- rell, operativ und personell die Zukunft der Deutschen gen den Gesetzentwurf. Nun hat die Koalition mit einem Änderungsantrag eine Klarstellung bezüglich der Defini- (B) Bahn sieht. Die Bahn muss als eigenständiges Unterneh- (D) men operieren können, ein Rückschritt Richtung Staats- tion des übergeordneten Netzes, die sich laut Begründung bahn sollte nicht erfolgen. Die Umstrukturierung des aber nicht im EU-Recht wiederfindet, gestrichen. Damit Vorstandes, des Monitorings und der Zusammenarbeit in zählen nun Strecken, die direkt Anschluss an das überge- den Gremien wird hier ein wichtiger Teil sein. ordnete Netz haben, nicht mehr automatisch zu diesem. Das erweitert den Entscheidungsspielraum der Länder. Wir müssen aber auch massiv investieren, zum Bei- Für mehr Strecken als in der alten Fassung dürften nun spiel in Bahnkurven oder in den Ausbau des 740-Me- die Anforderungen geringer sein. Dieser Änderung haben ter-Netzes, in Gleisanschlüsse, die Elektrifizierung oder wir nicht zugestimmt, weil die Reichweite und konkrete in funktionierende Ausweichstrecken. Nur – woher neh- Bedeutung für Strecken unklar ist. men Sie das Geld? Ich begrüße deshalb die Fördersum- men, die im Haushalt für die Bahn verplant sind. Aber Insgesamt aber begrüßen wir, dass die Regierung von es ist schlicht zu wenig, und die Investitionen stauen den Ausnahmen im EU-Recht weitestmöglich Gebrauch sich auf. Selbst beim Ausbau des Zugsicherungssystems macht, damit kleinere Netzbetreiber nicht durch unnötig ETCS sind wir zurück, dabei könnten wir allein hiermit viel Bürokratie belastet werden. eine Verbesserung erzielen. Genauso könnten wir die Ka- pazitäten verbessern, indem der ICE 4 als Doppelstock- Matthias Gastel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): variante ausgeschrieben wird. Übersetzungsfehler in den Richtlinien 2004/49/EG und 2008/57/EG machen Berichtigungen des Allgemeinen Legen Sie einzelne Unternehmenssparten zusammen, Eisenbahngesetzes notwendig. Die Begriffe „Regional- beispielsweise DB Schenker und DB Cargo! Nützen Sie bahnen“ und „Regionalbahnsysteme“ sind dadurch in die damit freiwerdenden Ressourcen und Synergieeffek- den Neufassungen der Richtlinientexte nicht mehr ent- te aus, um die Deutsche Bahn zu reformieren und end- halten. Mit den Begriffen „Regionalbahnen“ und „Re- lich das wahre Potenzial des Unternehmens abzurufen! gionalbahnsysteme“ waren Ausnahmemöglichkeiten Verkaufen Sie Unternehmensteile wie Arriva, um schnell verbunden, von denen Deutschland bisher Gebrauch eine Kapitalaufstockung zu erhalten! gemacht hat. Die deutsche Regelung des AEG musste Wir Freien Demokraten unterstützen Sie dabei und mithin an die neue Rechtslage angepasst werden. Aus diskutieren konstruktiv alle Vorschläge. Aber ohne klare bahn- und verkehrspolitischer Perspektive gibt es keinen Kante gegenüber den Verantwortlichen werden wir alle Anlass zur Kritik an den Anpassungen des Allgemeinen nichts erreichen. Und mit kurzen öffentlichkeitswirksa- Eisenbahngesetzes, die auf EU-Recht zurückgehen. Der men Verköstigungstreffen wie am heutigen Morgen so- Eisenbahnsektor hatte ebenfalls in verschiedenen Stel- wieso nicht. lungnahmen sein Einvernehmen mit den Änderungen 8750 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) zum Ausdruck gebracht. Dem Grunde nach ist für meine gierungsbeteiligung den Pakt für den Rechtsstaat vorbe- (C) Fraktion aus politischer Warte kein weiterer Erörterungs- haltlos unterstützen und unsere Justiz umfassend stärken. bedarf erkennbar. Für diese Unterstützung der Justiz bedarf es politischen Willens, jedoch keiner Neuregelung des NetzDG und auch keiner Schaffung eines zusätzlichen Gerichtsstan- des in der Strafprozess- und in der Zivilprozessordnung. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden Basis der grundsätzlich angekündigten Weiterent- wicklung des NetzDG kann nur eine Evaluation des Ge- zur Beratung des Antrags der Abgeordneten setzes sein. Das zuständige Bundesamt für Justiz (BfJ) Renate Künast, Dr. Konstantin von Notz, Tabea arbeitet derzeit intensiv an der umfassenden Auswertung Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Transparenzberichte der Plattformbetreiber. Gleich- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zeitig wertet es die Erkenntnisse der eigenen Tätigkeit Netzwerkdurchsetzungsgesetz weiterentwickeln – gemäß NetzDG aus. Diese Erkenntnisse müssen mit den Nutzerrechte stärken, Meinungsfreiheit in sozialen Rückschlüssen aus dem Dialog der Beteiligten ergänzt Netzwerken sicherstellen werden. Nur so kann die Basis für eine sachgerechte No- (Tagesordnungspunkt 24) velle des NetzDG erarbeitet werden. Die Forderung für eine Überarbeitung des Gesetzes zum jetzigen Zeitpunkt ist fachlich und sachlich falsch. Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Der vorgelegte Antrag zielt mit seinen 26 Forderungen dem Wenn die Erkenntnisse und Daten ausgewertet sind Titel nach auf die Fort- und Weiterentwicklung des Netz- und wir gesicherte Schlüsse zur bisherigen Wirkung des werkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG). Daher verleihe NetzDG ziehen können, wird die Koalition die erforder- ich zunächst meiner Freude darüber Ausdruck, dass die liche Initiative ergreifen. Doch bereits heute ist deutlich, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mittlerweile die Be- dass Forderungen des vorliegenden Antrags von den ak- deutung und die grundsätzliche Richtigkeit des Netz- tuellen Entwicklungen längst überholt sind. Die Freiwil- werkdurchsetzungsgesetzes anerkennt. Sie sind in ihrer lige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) Erkenntnis immerhin schon weiter als die anderen Oppo- hat im Dezember 2018 beim BfJ eine Anerkennung als sitionsfraktionen, die das Gesetz noch immer ganz oder in Einrichtung der Regulierten Selbstregulierung gemäß § 3 wesentlichen Teilen abschaffen und zum vorherigen Zu- Absatz 6 NetzDG beantragt. Gleichzeitig haben YouTube stand zurückkehren wollen. Dabei hat das letzte Jahr vor und Facebook angekündigt, die FSM nach erfolgreicher allem verdeutlicht, dass die von den Grünen noch 2017 Anerkennung durch das BfJ mit der Übernahme von Auf- und 2018 geäußerten Fundamentalkritiken und Schwarz- gaben nach dem NetzDG zu beauftragen. Auch den von (B) malereien über schwere Eingriffe in die Meinungsfreiheit Ihnen geforderten Dialog mit Diensteanbietern hat die (D) oder Gefahren eines massiven Overblockings durch das Bundesregierung längst im federführenden Justizminis- NetzDG schlichtweg falsch waren. Diese ungerechtfer- terium initiiert. Im September wurde der „Zukunftsdia- tigte Stimmungsmache hat nur eins bewirkt: Sie hat die log Soziale Netzwerke“ mit den beteiligten Kreisen er- Menschen unnötig verunsichert. Entgegen den damals öffnet, um die mögliche Weiterentwicklung des NetzDG gezeichneten Schreckensbildern sieht die Realität heute, zu diskutieren. Als CDU/CSU-Fraktion erwarten wir, ein Jahr und knapp drei Wochen nach Inkrafttreten des dass die Leitung des Justizministeriums diesen Zukunfts- NetzDG, ganz anders aus. Das Gesetz wirkt. Äußerun- dialog intensiv vorantreibt, um zeitnah aussagekräftige gen, die gegen Strafgesetze verstoßen, werden besser und Erkenntnisse zu gewinnen. Gleichzeitig muss das Minis- schneller aus den sozialen Netzwerken entfernt, Persön- terium den im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens 2017 lichkeitsrechte der User geschützt. auferlegten Verpflichtungen zum NetzDG schnellstmög- Auch wenn das NetzDG wirkt, ist es mit seinen In- lich nachkommen und beispielsweise den Vorschlag für strumenten stetig zu überprüfen. Die Unionsfraktion hat die Auditierung und Zertifizierung des Beschwerdema- bereits zum Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens im nagements endlich vorlegen. Juni 2017 hier im Deutschen Bundestag angekündigt, die Abschließend greife ich aus der Menge der Antrags- Entwicklungen zu beobachten, Schlüsse zu ziehen und forderungen noch zwei exemplarische Punkte heraus. An gegebenenfalls gesetzgeberisch aktiv zu werden. Seit- dieser Stelle wird deutlich, wie handwerklich ungenau her haben wir entsprechende Kriterien sowie konkrete und überzogen Ihr Antrag zum NetzDG ist. Als Union Ansatzpunkte für eine mögliche Weiterentwicklung be- teilen wir die Einschätzung, dass Social Bots eindeutig nannt. Dazu zählt etwa die Wiedereinstellung unrechtmä- gekennzeichnet sein müssen. Jeder User muss in der ßig gelöschter Inhalte über ein geregeltes Put-back-Ver- Lage sein, unmittelbar und eindeutig erkennen zu kön- fahren. Die Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke nen, ob er tatsächlich mit einem Menschen oder einem müssen darauf vertrauen können, dass entfernte Inhalte, Algorithmus interagiert. Wir sind uns weitgehend einig, die sich nachträglich als völlig rechtmäßig herausstellen, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um den offe- an bisheriger Stelle wiederhergestellt werden. In diesem nen und transparenten Meinungsbildungsprozess in der Punkt sind wir uns prinzipiell einig. digitalen Welt zu schützen. Solange Social Bots oder Als Unionsfraktion begrüßen wir ausdrücklich auch Fake News keine strafrechtlich relevanten Inhalte umfas- die Forderung des Antrags nach einer besseren personel- sen, gehören sie jedoch nicht zum Anwendungsbereich len und technischen Ausstattung der Strafverfolgungsbe- des NetzDG. Die Normen zu Social Bots sind im ande- hörden und Gerichte in den Bundesländern. Wichtig wäre ren Rahmen, möglicherweise im Telemediengesetz, zu in diesem Kontext, dass auch die Länder mit grüner Re- schaffen. Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 8751

(A) Überrascht hat mich die Forderung zu durch NGOs Mit den konkreten Ausgestaltungen des Netzwerk- (C) betreute Prozessstrukturen, die Aussagen als richtig durchsetzungsgesetzes ist uns ein gerechter Interessen- oder falsch zensieren sollen und für deren Kosten dann ausgleich gelungen. Hervorzuheben ist vor allem die Aus- auch noch die Diensteanbieter aufkommen. Überrascht gestaltung der Bußgeldvorschrift des § 4 NetzDG. Danach deshalb, weil es doch einst die Grünen waren, die hinter droht dem sozialen Netzwerk bei einer Fehlentscheidung jeder staatlichen Maßnahme im Netz Zensur gewittert im Einzelfall kein Bußgeld. Vielmehr geht es darum, sys- haben. Aber wir haben bei den Grünen und auch der FDP tematisches Versagen beim Löschen zu ahnden. Aufgrund bereits häufiger erlebt, dass im Moment der individuellen dieser Regelung haben sich die anfänglichen Befürchtun- Betroffenheit frühere Ideale schlagartig irrelevant wur- gen eines massenhaften präventiven Löschens durch die den. So hat Grünen-Kollege Habeck im aktuellen Fall sozialen Medien, um der Gefahr drohender Bußgelder des unbefugten Datenzugriffs bei Personen der Öffent- zu entgehen, nicht bewahrheitet. Die Mehrzahl der Be- lichkeit umgehend eine Cyberpolizei gefordert. Das fügt schwerden führte nach den ersten Transparenzberichten sich nahtlos in dieses Bild. gerade nicht zu einer Löschung. Dies zeigt, dass die so- zialen Netzwerke ein Prüfungsverfahren durchführen und Jetzt, da sich auch bei den Grünen immer stärker die sich ihrer Pflichten mehr und mehr bewusst werden. Ich Erkenntnis durchsetzt, dass die größte Gefahr für Rechts- denke, dass wir nach nunmehr eineinviertel Jahren durch- verletzungen im Netz nicht vom Staat, sondern von Drit- aus eine positive Bilanz ziehen können. ten ausgeht, freue ich mich ausdrücklich auf die ausführ- liche Debatte im Ausschuss. Ungeachtet dessen bleibt es natürlich weiterhin er- forderlich, über Verbesserungen des Netzwerkdurchset- zungsgesetzes zu reden. Im Hinblick darauf werden wir Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Wir haben es uns nicht umhinkommen, ein besonderes Augenmerk auf so- mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz nicht einfach ge- genannte Social Bots zu legen. Wie können wir darauf macht. Der Verabschiedung des Gesetzes ging eine brei- reagieren, dass Algorithmen mit vorgefertigten Antwor- te öffentliche Debatte voraus. Auch in unseren Reihen ten Beiträge kommentieren, Nutzer in fiktive Gespräche wurde sehr kritisch diskutiert. Aber selbst bei gegenläu- verwickeln oder sogar eigene Antworten schreiben und figen Auffassungen einte uns das Ziel, dass wir Belei- damit Debatten im Internet in eine bestimmte Richtung digungen, Verleumdungen und Hasskriminalität in so- lenken? Besonders gravierende Folgen haben „Social zialen Netzwerken nicht länger akzeptieren wollten. Zu Bots“, wenn durch sie Wahlen und Abstimmungen be- lange blieben Facebook und Co tatenlos und haben uns einflusst werden sollen. Es bestehen viele offene Fragen, mit leeren Versprechungen hingehalten. Dabei bestand und wir benötigen einen interdisziplinären Ansatz. Wie eine gesetzliche Löschpflicht von strafbaren Inhalten in ist es technisch möglich, auf „Social Bots“ zu reagieren? (B) sozialen Netzwerken schon lange vor Inkrafttreten des Welche rechtlichen Lösungen können wir anbieten? Der (D) Netzwerkdurchsetzungsgesetzes. Nach § 10 des Teleme- Vorwurf der Einschränkung der Meinungsfreiheit wird diengesetzes muss ein Plattformbetreiber bei der Kennt- auch hier erhoben werden, wenn Kommentare irrtümli- nis von rechtswidrigen Inhalten diese löschen, wenn er cherweise als „Social Bots“ gekennzeichnet werden. Es nicht selbst dafür verantwortlich gemacht werden möch- gilt zudem, für unsere Demokratie ganz grundsätzliche te. Ansonsten kann auch die allgemeine zivilrechtliche und wesentliche Fragen zu beantworten: Welchen Ein- Störerhaftung eine Löschpflicht statuieren. Allerdings fluss haben „Social Bots“ auf politische Debatten im In- scheiterte die Durchsetzung dieser individuellen Rechte ternet? Können dadurch Wahlen, wie vielfach angenom- am Aufwand einer persönlichen Geltendmachung und men, tatsächlich beeinflusst werden? nicht zuletzt an der strukturellen Übermacht der sozialen Netzwerke. „Social Bots“ stellen ein noch sehr junges Phänomen dar . Wissenschaft und Forschung stehen hier noch ganz Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde diese am Anfang. Bevor wir in Aktionismus verfallen, sollten bestehende mittelbare Löschpflicht nun auf ein breiteres wir die Ergebnisse aus diesem Forschungsfeld sowie eine Fundament gestellt. Verantwortung tragen nun diejeni- fundierte Evaluation des Gesetzes abwarten. Erst dann, gen, die eine Plattform zur Verfügung stellen und daher wenn neue, gesicherte Erkenntnisse aus der Fachwelt am effektivsten auf strafbare Inhalte reagieren können. vorliegen, sollte über eine weitere Einarbeitung in das Weder einer Behörde noch einem Gericht ist das – ins- Gesetz nachgedacht werden. Wir können aber bereits besondere im Hinblick auf die Schnelligkeit – in glei- heute an einem anderen Punkt ansetzen. Ich bin über- cher Weise möglich. Gerade für die Opfer ist es aber ein zeugt, dass „Social Bots“ nur dort ihre Wirkung entfalten hohes Gut, wenn diffamierende Aussagen, Videos, Fotos können, wo Unkenntnis herrscht und politisches Vertrau- oder Ähnliches schnellstmöglich aus dem Netz genom- en enttäuscht wurde. Es ist daher unsere Aufgabe, für mehr Medienkompetenzen in der Gesellschaft zu sorgen men werden. Mit der Einführung des Netzwerkdurchset- sowie den Menschen das Gefühl zu geben, dass Politik zungsgesetzes stand immer das schwierige Spannungs- anders als „Social Bots“ von Menschen für Menschen verhältnis verschiedener Grundrechte im Mittelpunkt. gemacht wird. Auf der einen Seite stehen die Persönlichkeitsrechte der Opfer . Sie haben Anspruch darauf, dass Beleidigungen, Verleumdungen und Hasskriminalität aus den sozialen Thomas Heilmann (CDU/CSU): Der Antrag der Netzwerken wieder entfernt werden. Auf der anderen Grünen klingt wie eine nachträgliche Rechtfertigung Seite steht das hohe Gut der Meinungsfreiheit, das es zu für ihre Haltung bei der Entstehung des Gesetzes. Da- wahren gilt. mals hatten Sie, lieber Konstantin von Notz, zum Bei- 8752 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019

(A) spiel im Deutschlandfunk wörtlich gesagt: „Das Netz- Die veröffentlichten Zahlen verdeutlichen eindrück- (C) werkdurchsetzungsgesetz richtet massiven Schaden an.“ lich den erheblichen Umfang von Beschwerden und Horrorszenarien kamen natürlich nicht nur, nicht mal in Löschungen und damit die Existenz und Bedeutung der erster Linie, von den Grünen, sondern von den betroffe- durch das NetzDG ins Visier genommenen Phänomene. nen Unternehmen. Diese wollten sich nämlich schlicht Und damit sind nicht nur die sogenannten Hass-Posts die Kosten sparen – trotz Milliardengewinnen. Und dann gemeint, sondern zum Beispiel auch die mangelnde Un- fühlte sich natürlich die AfD berufen, zu jammern. Auch terstützung der Strafverfolgungsbehörden durch einige heute hört man es wieder. Aber liebe Kolleginnen und soziale Netzwerke. Ebenfalls unterstreichen die Berichte, Kollegen von der AfD: Wenn Ihre Anhänger absichtlich wie auch seitens des BMJV hervorgehoben wurde, dass Gesetze verletzende Hetze verbreiten, dann braucht es das NetzDG zur Verbesserung der Beschwerdeoptionen, dafür eine Antwort des Rechtsstaats. Und ich bin froh, der Löschungen, der sogenannten Content-Moderation dass wir dazu eine schon im ersten Anlauf gut funktio- sowie allgemein zu erhöhten Investitionen in die Be- nierende Regulierung gefunden haben. kämpfung strafbarer Inhalte geführt hat. Denn: In ersten Ergebnissen zeigt das Netzwerkdurch- Wie bereits erwähnt, gibt es durchaus Themen beim setzungsgesetz überwiegend positive Wirkung. Die be- NetzDG, die wir uns genau anschauen wollen und auch fürchteten Horrorszenarien sind nicht eingetreten. sollten. Deshalb möchte ich abschließend und vielleicht zu Ihnen bei den Grünen etwas versöhnlich sagen, dass Aber zu den Fakten: Es gibt erste belastbare Aussagen es Bereiche in Ihrem Antrag gibt, die wir in der Tat als zum Beschwerdeaufkommen und zum Umfang der Lö- mögliche Änderungen des Gesetzes erwägen sollten. schungen von einzelnen sozialen Netzwerken, wenn man In der Kürze der mir zur Verfügung stehenden Zeit die neuerdings obligatorischen halbjährlichen Berichte kann ich natürlich nur Stichpunkte nennen: der Anbieter liest. Hiernach gingen bei Twitter im ers- ten Halbjahr 2018 insgesamt 264 818 und bei YouTube Erstens. Wir sollten darüber nachdenken, den Bewer- 214 827 Beschwerden von Nutzern oder Beschwerde- tungsrahmen des Beschwerdemanagements zu überprü- stellen ein. Bei Facebook gingen dagegen nur 886 Be- fen. Insbesondere sollten wir nicht nur Mechanismen zur schwerden ein, die 1 704 konkrete Inhalte benannten. Wo- Löschung von rechtswidrigen Inhalten beachten, sondern bei es mittlerweile nichts Neues mehr ist, dass Facebook auch die Mechanismen zum Schutz von legalen Inhalten. (mal wieder) negativ auffällt. Es ergibt sich der Verdacht, Dazu sollten Nutzer einen Anspruch auf Wiederherstel- dass die geringe Anzahl von Beschwerden bei Facebook lung fehlerhaft gelöschter Inhalte erhalten. auf dem komplizierten Verfahren zur Beschwerdeabga- be beruht – und dem parallelen Prozess gegen die soge- Zweitens. Rechtlich müssen wir klarstellen, dass so- genannte Over-The-Top-Dienste wie WhatsApp oder (B) nannten Community-Regel-Verstöße. Zu einer Löschung (D) oder Sperrung von Inhalten führten bei Facebook 218 der Skype, die nicht nur für Individualkommunikation ge- Beschwerden – das sind rund 25 Prozent. Twitter ergriff nutzt werden können, ebenfalls in den Bereich der „so- in 28 645 Fällen Maßnahmen (entspricht 11 Prozent), zialen Netzwerke“ und damit in den Geltungsbereich des und YouTube entfernte auf der Grundlage des NetzDG NetzDG fallen. 58 297 Inhalte (also circa 27 Prozent). Drittens. Wir sollten die NetzDG-Berichte aller sozi- alen Netzwerke sorgfältig analysieren. Insbesondere die Es gibt also keine automatische, rein vorsorgliche Ausgestaltung und Zulässigkeit von Facebooks Gemein- Löschung von Inhalten. Das befürchtete Overblock- schaftsstandards sollten wir gründlich in Bezug auf die ing ist nicht eingetreten. Auch das Bundesministerium Rechte der Nutzer überprüfen. Auch Ihrem Vorschlag, der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) hat kei- für eine Vereinheitlichung der Berichte zu sorgen, kann ne Erkenntnisse, die auf ein Overblocking hindeuteten. ich etwas abgewinnen. Besonders deutlich wird das, wenn man auf die Rolle des Bundesamtes für Justiz schaut, welches bekanntlich All das sollten wir gründlich diskutieren und danach Verstöße gegen NetzDG-Pflichten verfolgt. Bislang re- entscheiden. gistrierte das BfJ mit 704 bis November eingegangenen Am Ende müssen wir auch noch einmal darüber re- Meldungen weniger Beschwerden von Nutzern wegen den, wie wir international wirken. Deutschland hat mit mangelhafter Löschungen als erwartet. Das sind deutlich der Einführung des NetzDG eine Vorreiterrolle zur Be- weniger Beschwerden, als von einigen befürchtet, erwar- kämpfung von Hassrede übernommen. Bedenklich muss tet, vielleicht sogar erhofft worden waren. stimmen, dass der deutsche Ansatz in mehreren Staaten Natürlich ist das Gesetz noch nicht perfekt, und als pauschaler Beleg für eine viel zu weit reichende Re- 704 Beschwerden sind 704 Beschwerden zu viel (wenn gulierung der Medien bzw. der Meinungsbildung ange- sie denn berechtigt sind). Aus diesem Grund werden wir führt wird. Eine solche Beurteilung wird dem NetzDG diese Fälle analysieren und das NetzDG entsprechend freilich nicht gerecht; gleichwohl sollte auch diese Wahr- verbessern. Genau das hat die Koalition beschlossen, wie nehmung des Gesetzes im Zuge einer Novellierung be- Sie genau wissen. Warum hektisch etwas halb machen, dacht werden. wenn wir es in absehbarer Zeit mit vollem Wissensstand wesentlich besser machen können? Daher gibt es für Ih- Dr. Johannes Fechner (SPD): Hass und Hetze ha- ren Antrag jetzt und heute keinen Anlass – außer dass die ben in den sozialen Netzwerken in einem schlimmen Grünen davon ablenken wollen, dass ihr grundsätzlicher Ausmaß zugenommen. Deshalb war es richtig und wich- Widerstand unberechtigt war. tig, dass wir in der letzten Wahlperiode mit dem NetzDG Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 74 Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17 Januar 2019 8753-8757

(A) effektiv gegen strafbare Hetze im Netz vorgegangen wenn unsere Erwartungen durch die Berichte bestätigt (C) sind. Das NetzDG war eines der wichtigsten Gesetze der werden. letzten Wahlperiode. Dass die sozialen Netzwerke überhaupt über ihre Lö- Es war richtig und wichtig, zu reagieren, weil sozi- schungen berichten müssen, ist ein weiterer Fortschritt ale Netzwerke ihre Nutzerinnen und Nutzer eben nicht durch das NetzDG. Dadurch soll transparent werden, ausreichend vor Hass und Hetze, vor Beleidigungen oder wie die sozialen Netzwerke sich verhalten und ihr Lö- Volksverhetzungen oder gar noch schwereren Straftaten schungsverhalten öffentlich dokumentiert wird. geschützt haben. Allzu oft wurden strafbare Inhalte nicht Und ja, natürlich müssen die Transparenzberichte aus- gelöscht, und deshalb mussten wir reagieren, und das ha- sagefähig sein. Das war nicht bei jedem so der Fall, wie ben wir mit diesem NetzDG getan. Wir haben nicht zu- wir es uns wünschen, und deshalb haben auch wir bereits geschaut, wie Hass und Hetze sich im Netz immer weiter nach Vorlage der ersten Berichte gesagt, dass wir darüber ausbreiten. diskutieren müssen, ob wir bessere und vor allem ein- Nun beobachten natürlich auch wir, ob es Verbes- heitliche Standards für die Transparenzberichte brauchen serungspotenzial gibt. Wobei eines ausdrücklich fest- und wie diese aussehen können. zuhalten ist: Das von vielen sehr lautstark befürchtete Und auch wir sehen, dass die Meldeverfahren bei Overblocking gibt es nicht. Von einer ungerechtfertigten manchen sozialen Netzwerken zu kompliziert sind und Einschränkung der Meinungsfreiheit kann überhaupt kei- einfacher sein müssen. Denn wenn Nutzer in ihren Rech- ne Rede sein, und erst recht nicht von einer Privatisie- ten verletzt sind, dann muss es schnell und einfach ge- rung des Rechts. Nein, das NetzDG wirkt. hen, dass die Rechtsverletzung gelöscht wird. Das bestätigen auch die ersten Berichte über den Um- Damit haben die Bürger nicht nur Rechte, sie können gang mit Beschwerden: Erst durch das NetzDG haben sie dank der nach dem NetzDG zu benennenden Zustel- die sozialen Netzwerke endlich hinreichende Beschwer- lungsperson auch gegen die Netzwerke durchsetzen, destellen eingerichtet oder ihre bestehenden Stellen aus- und das in Deutschland. Damit helfen wir nicht nur den gebaut und verbessert. Das hätte es ohne das NetzDG Bürgern bei der Rechtsdurchsetzung, sondern machen nicht gegeben. nebenbei auch etwas für die Glaubwürdigkeit und das Vertrauen in unseren Rechtsstaat. Denn die Bürger wis- Und die Berichte zeigen, dass die gesetzlich vorge- sen jetzt: Auch im Netz sind sie Hass und Hetze nicht schriebenen Reaktionszeiten nicht zu kurz bemessen wehrlos ausgeliefert. sind. Das war ja einer der Kritikpunkte, dass die Prüfzei- ten für Straftaten zu kurz sind und die Netzwerke dann Kurzum, das NetzDG wirkt; die Berichte zeigen, dass (B) lieber einmal zu viel als zu wenig löschen; genau das die sozialen Netzwerke viel aktiver gegen Hass und Het- (D) ist nicht eingetreten. Die sozialen Netzwerke reagieren ze vorgehen. Aber für die grundlegenden Änderungen, überwiegend binnen 24 Stunden, und nur ein kleiner An- die die Grünen fordern, dafür ist es jetzt noch viel zu teil der Prüfungen dauerte länger als eine Woche. Dieses früh. Lassen Sie uns erst mal die ersten Erfahrungen ver- Ergebnis haben wir erwartet; dennoch freuen wir uns, nünftig auswerten und evaluieren. Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333