Ein kleines JA und ein großes NEIN

Sein Leben von ihm selbst erzählt

Im Anhang: Ulrich Becher · Der große Grosz und eine große Zeit

Mit zahlreichen Abbildungen

Schöffling & Co. Schutzumschlag unter Verwendung der Federlithographie Selbstporträt (für Charlie Chaplin) von George Grosz, 1919. Kunstmuseum , Kupferstichkabinett (Photo: Martin P. Bühler)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...... 7 I In Pommernland ...... 11 II Ein Blick in das dreizehnte Zimmer ...... 35 III Ich weiß schon, was ich will ...... 45 IV Königliche Kunstakademie ...... 68 V Germanisches ...... 92 VI Nur hinein ins volle Menschenleben ...... 110 VII Die Entdeckung des Gemeinen Grosz ...... 128 VIII In der Heimat, in der Heimat – ...... 146 IX Kunst und Wissenschaft ...... 163 X Von deutscher Republik ...... 181 XI Rußlandreise 1922 ...... 193 XII Mit wem ich umging ...... 223 XIII Ein Märchen ...... 244 Erste Auflage 2009 XIV Luftveränderung ...... 266 © Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, XV Wie ich ein amerikanischer Illustrator werden wollte 291 Frankfurt am Main 2009 XVI Abstecher auf der Goldsuche ...... 306 Copyright © 1955 by George Grosz / The Estate of George Grosz XVII Deutsche Dichter und Denker ...... 329 Die deutsche Erstausgabe erschien 1955 im Rowohlt Verlag in 1946 erschien A Little Yes and a Big No bei The Dial Press XVIII Amerika ist ein weites Land ...... 346 in New York, translated by Lola Sachs Dorin XIX Der Maler betritt sein Atelier ...... 362 Der Abdruck von Der große Grosz und eine große Zeit erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Erben nach Ulrich Becher Für die Werke von George Grosz © VG Bild-Kunst, Bonn 2009 Ulrich Becher · Der große Grosz und eine große Zeit ...... 365 Alle Rechte vorbehalten Satz und Lithographie: Reinhard Amann, Aichstetten Bildnachweise ...... 381 Druck & Bindung: Pustet, Regensburg ISBN 978-3-89561-332-6

www.schoeffling.de Vorwort

er tag ist neblig, neblig und verhangen, wie manchmal unser DGedächtnis. Wenn ich von dem Berg, auf dem ich stehe, hin- untersehe in das Tal meiner Vergangenheit, so ist es, als blickte ich mitten im Winter aus meinem Atelierfenster. Ich sehe nur wallen- den Nebel, milchige, gespenstige Formen, Baumskelette, als wären es immer Skelette gewesen, als hätten sie niemals Blätter getragen, niemals geblüht. Zeit habe ich, und Ruhe auch. Der elektrische Ofen brennt; das heisere Heulen der Nebelhörner vom Sund her, das ich so liebe, soll mich begleiten auf meiner Wanderung durch eine fast schon nebel- haft gewordene Erinnerungswelt. Erinnerungen kann man Gott sei Dank nicht photographieren. Hier in Amerika aber will der Leser alles scharf und photographisch eingestellt haben. Es ist ein pragmatisches Land. Man liebt die Fak- ten und die Akten. Wenn ich nun im folgenden hie und da etwas weniger »photographisch« werde, so liegt das nicht nur daran, daß mir so manche Dokumente, Briefe, Ausschnitte und Aufzeichnun- gen mitsamt dem Dachboden des Berliner Hauses, wohin ich sie zur Aufbewahrung gab, durch Bomben zerstört wurden. Nein, um ehr- lich zu sein: auch wenn ich alles Material hier vor mir hätte – Noti- zen aus dem ersten Weltkriege, Briefe, Pässe, Familienphotogra- phien, Liebesbriefe, eben alles, was sich im Lauf eines bewegten Lebens an einem festsetzt wie Muscheln an einem Schiffskiel –, selbst dann würde ich es nicht so gebraucht haben, wie man es hier erwartet. Ich will und kann kein Interview mit mir selbst schreiben. Dies ist der Versuch einer Autobiographie – und der Leser soll wissen, daß ich das, was ich nicht sage, auch nicht sagen will…

7 Ja, ich liebe das Halbdunkel. Und bitte, verwechselt das Halb- und erlebte ich wie in einem Traum – und so erscheint mir der dunkel nicht mit dem Verschwommenen oder Verwaschenen. Denn Traum heute manchmal realer als die Wirklichkeit. auch wenn es dunkelt, bleibt die ewig menschliche Form greifbar Nun suche ich mich zurechtzufinden in den tief unter mir wal- und fest. lenden nebligen Tälern meiner Vergangenheit. Es mußte manches Vieles hat man vergessen. Aber Vergessen – das muß festgestellt verhüllt bleiben, weil es von vornherein zur Verhüllung bestimmt werden – ist nicht immer nur ein Zeichen von Gedächtnisschwä- war. Und Schatten stehen neben Lichtern, Scharfes neben Unschar- che. Der Schleier der Vergangenheit ist ein wohltätiger Schleier, fem, Süßes neben Bitterem. der das Antlitz der Zeit gut kleidet. Die moderne aufklärerisch- Ja, ich war ein Fragesteller, denn Neugier ist eine menschliche wissenschaftliche Unsitte, diesen verhüllenden Schleier wegzu- Eigenschaft. Aber im Gegensatz zu anderen Neugierigen, die mit reißen, um die Häßlichkeiten, Risse, Abgründe und Krankhaftig- Etiketten, Fakten und Daten zufrieden sind, war ich es nicht. Ein keiten zu zeigen, verweise ich ins 19. Jahrhundert zurück. Für Faktum war ja nur so etwas wie ein Korken, der munter dahinhüpft mich ist das Geheimnisvolle so geheimnisvoll wie immer, und ein auf bewegter See. Ich sah den Korken, und er war nur ein Korken. gewisser Zug zum Mystisch-Grüblerischen ist so recht ein Erbteil Von mir aber glaubte ich, ich sei ein Taucher – bis ich merkte, daß meiner Rasse. man nicht besonders tief tauchen kann… Wenn ich am sogenannten Fortschritt zweifle, so liegt das an mei- Ich möchte es nicht versäumen, an dieser Stelle meinem lieben ner Lebenserfahrung. Lebte ich doch in einer Zeit, in der die süßes- Freunde und Nachbarn Ernest Ashton herzlich zu danken für allen ten Menschheitsverbrüderungsphrasen gedruckt und zugleich Rat und Beistand bei der Bearbeitung meiner Aufzeichnungen. Massenkriege geführt wurden, wie in solchem Ausmaß nie zuvor in der Geschichte unseres Planeten. Es war Komfort und Selbstmord G. G. im größten Stil. New York Für meine Vorfahren war die Welt voller Geister. Gräser, Wind und Erde waren belebt von unsichtbaren Kräften, die noch nicht wissenschaftlich katalogisiert waren. Und die unbekannten Natur- gewalten enthielten dieselben Schrecken wie heutzutage die Atom- bombe, deren Formel man zu kennen glaubt. Meine Vorfahren saßen geängstigt und voller Furcht auf den Ästen ihrer Bäume, Steine in den Fäusten, als der Mönch Bonifatius daran ging, die »heilige Eiche« umzuhauen. Er fällte den heiligen Baum mit seiner dem heiligen Gott geweihten Axt. Nichts geschah. Nur die ewige Furcht blieb bis zum heutigen Tage. Vielleicht war auch ich niemals ganz aufgeklärt. Vielleicht hätte ich mich mehr von der Höhensonne der exakten Wissenschaft und Statistik bestrahlen lassen sollen. Aber so bin ich nun mal, im sechs- ten Jahrzehnt meines Lebens. Vieles, was ich tat und erlebte, tat

8 I In Pommernland

uf meinen vater besinne ich mich nur undeutlich. Er starb, Aals ich sechs Jahre alt war. Wir wohnten damals in der kleinen Stadt Stolp in Hinterpommern, und mein Vater bewirtschaftete als Kastellan und dienender Bruder die dortige Freimaurerloge. Das schöne Logenhaus lag dem Gymnasium gegenüber an einer ruhigen, guten Straße, hinten schloß sich ein großer Garten mit Tennisplätzen an, und in einem zweiten, mehr verwilderten Gar- ten ein geheimnisvoller runder Teich voller Kaulquappen und Frösche. Dieser Teich war von abendlichen Legenden umgeistert; man erzählte sich, er habe keinen Grund – ein schauriges, unend- liches Loch also, von Entengrütze bewachsen, verschilft und ein Mückenparadies. Daß er doch nur ein bescheidenes Teichlein war, wurde erst klar, als er später zugeschüttet wurde und da- mit auch die Wasserkobolde und tanzenden Nachtgelichter verschwanden, mit denen unsere Phantasie ihn ausgeschmückt hatte. Es war schön und gemütlich oben bei meinem Vater. Auf dem großen Teppich, neben dem behaglich glühenden und wärmenden amerikanischen Dauerbrandofen, lag ich vergraben in die sensatio- nellen Illustrationen vom russisch-japanischen Kriegsschauplatz oder von den mutigen Kämpfen der deutschen Schutztruppe im afrikanischen Busch. Wöchentlich einmal kamen die Hefte, die in dem sogenannten Journallesezirkel vereint waren: die »Garten- laube«, »Über Land und Meer«, die »Fliegenden« und die »Meg- gendorfer Blätter« und die »Deutsche Romanzeitung«. Aber nichts ging mir über die »Leipziger Illustrierte«, die eben jene wunderbaren Zeichnungen von den damaligen Kriegsschauplät-

11 zen brachte – und Krieg gab es ja nun einmal immer irgendwo in war. Solch einen Malkasten mit Komfort einmal selbst zu besitzen einem fernen Lande. und gleicherweise zu benutzen, war fortan mein sehnlichster Diese Darstellungen entzündeten meine Phantasie. Mein Vater Wunsch. Schon diese farbig beschrifteten Tuben, die große Krem- zeichnete selbst ein wenig auf den großen Kartenbogen, die fast serweißtube und wie ein Däumling daneben die kleine, fette über den ganzen viereckigen Tisch gespannt wurden und auf denen Krapplacktube, dann die ovale Palette, die ich einmal sogar selbst die Skatspieler am Abend den Stand ihrer Partie notierten. Ich er- wie ein Maler in die Hand nehmen durfte, die langstieligen Bor- innere mich noch, wie ich, auf seinem Schoß sitzend, unter seiner sten- und Haarpinsel, die kellenartigen Messer und die Fläschchen Hand allerlei Getier entstehen sah: Männchen, Pferde und Solda- mit den harzigen Malmitteln – es war ein Genuß, das zu betrach- ten – er hatte als junger Mensch den Siebzigerkrieg mitgemacht ten, und zuzusehen, wie es gebraucht wurde! und war bei der Belagerung von Paris dabeigewesen. Mein Vater Mein Vater muß eine schalkhafte Ader gehabt haben. Einmal er- hatte dunkles Haar und blaue Augen. Er trug einen Schnurrbart schreckte er meine Schwester Martha und ihre Freundinnen durch und am Kinn eine »Fliege« — eine Barttracht, die aus den Achtzi- ein auf eine Harke gehängtes Nachthemd. Er ließ dieses Gebilde gerjahren stammte und noch nicht ganz unmodern geworden war. auf- und untertauchen, und es gab ein großes Gekreische, denn Ich hatte es gern, in seiner Nähe zu sein und zuzusehen, wie er mit von weitem glaubte man in der mondlosen Nacht einen jener Geis- Flaschen und Gläsern hantierte. Denn er mußte das Büfett für den ter gesehen zu haben, von denen die Freimaurerlogen ja angeblich Abend zurechtmachen, und ich liebte die Formen und Etiketten wimmeln. Überhaupt war das Haus, in dem die Freimaurer ihre der Flaschen, freute mich über die bunten Bilder auf den Zigarren- geheimen Zeremonien abhielten, leicht verschrieen. Die Straßen- kisten und versuchte auch wohl, manches nachzuzeichnen. jungen nebenan, mit denen ich gelegentlich sprach, sagten mir, es Ein adliges Fräulein malte einmal auf unserer Veranda im Gar- sei in den oberen Räumen nicht ganz geheuer – nicht gerade von ten. Sie kopierte allerdings bloß – ein Stilleben, Pfirsiche und Geistern, aber ein Sarg sei da aufgestellt, darin läge ein Skelett, und Pflaumen –, aber ich war entzückt. Die Art, wie sie den schmelzi- das sei der frühere Meister vom Stuhl. Und ebenso wisse jeder gen Tau auf den blauen Pflaumen wiedergab, wenn auch nach Vor- Freimaurer genau Tag und Stunde, wann er sterben müsse… lage, schien mir höchste Kunst. Ich dachte noch nicht daran, Maler Das gab meiner Phantasie Nahrung und Richtung. Das obere zu werden, aber ich hätte zu gerne so etwas auch gekonnt. Die Illu- Stockwerk zu betreten war uns verboten, bis auf ein paar soge- sion, etwas so Natürliches hervorzuzaubern, gefiel mir. Und diese nannte Gesellschaftsräume. Doch ich beschloß, auf eigene Faust Freude an einer Art richtiger, runder Imitation hat mich nie verlas- der Sache mit dem Sarg nachzuforschen. Eines Tages, als mein sen; setze ich mich heutzutage vor ein Stilleben, so sehe ich mich Vater hinaufging, schlich ich ihm auf Strümpfen heimlich nach – immer wieder im Geiste auf jener Veranda, wo die naturgetreuen und landete ziemlich unsanft, von einer kräftigen Backpfeife be- Pfirsiche und Pflaumen unter den geschickten Händen des adligen fördert, auf den untersten Stufen im ersten Stock. Fräuleins entstanden. Gerne hielt ich mich auf dem Boden auf. Von der Mitte aus Bei ihr sah ich zum ersten Mal in meinem Leben richtige Öl- konnte man durch die Öffnung, unter der der riesige, altertümliche malerei, mit wirklichen Tubenfarben. Es war ein großes Erlebnis. Kronleuchter hing, in den großen Bankett- und Tanzsaal hinab- Immer wenn ich daran denke, habe ich den würzigen Lavendel- sehen; da wurde alles ein wenig schief und klein, aber lustig ver- und Terpentingeruch in der Nase, der unsichtbar um ihre Tätigkeit zerrt, mit einem gewissen Schwindelgefühl dabei: mein Gott, wenn

12 13 jetzt der ganze Kronleuchter herunterfällt –! Schön waren auch die kulisse aus Asphalt und Stein, und ich sehnte mich nach Stolp, nach großen Wohltätigkeitsbasare mit den im Garten aufgestellten Bu- Wald, Wiese, Fluß und heuduftenden Sommertagen. Meine Mutter den, den vielen lustigen, feingekleideten Damen und dem Feuer- und meine Tante nähten für einen Großunternehmer Blusen – eine werk spät in der Nacht. Der Logengarten war überhaupt wunder- damals häufig ausgeübte Beschäftigung, die bei viel Arbeit nicht bar, er hatte noch etwas von den alten Parks, wie man sie um die gerade viel Geld einbrachte. Die Zeiten waren zwar billig, aber Dreißiger- und Vierzigerjahre des letzten Jahrhunderts anlegte. Geldsorgen gab es jetzt immer, wenn es auch zum Notwendigsten Etwas Nobles war da zu spüren, ein Zurückgehen auf alte, große reichte. Gartenkultur. Ich liebte die Statuen – billige Abgüsse nur nach Ab und zu besuchte uns meine große Schwester und nahm mich griechischen Vorbildern –, die so schön aus dem Laub herausblick- in eine Konditorei mit oder zu Aschinger. Die damalige Bierquelle ten. Da begruben wir unseren Kanarienvogel. Die Paradiesäpfel am Oranienburger Tor, mit dem kristallenen, spiegelnden Würst- lagen auf der Erde herum, und ich sammelte sie in einer Zigarren- chenpavillon in der Mitte und der blau-weiß karierten Würstchen- kiste; die anderen wurden zu Gelée eingekocht. Manchmal gab es ausgeberin, kam mir wie ein Feenpalast vor. Nicht weit von uns, in kleinere Überschwemmungen, bei denen ich mit meinem Freund der Chausseestraße, lag auch die sogenannte Maikäferkaserne, und Seifert selbstgemachte Borkenboote flottmachte, Häfen baute und gelegentlich sah man dieses berühmte volkstümliche Infanterie- Kontinente und Inseln im Wasser aufsteigen ließ. Auf einem ver- regiment mit klingendem Spiel vorbeimarschieren. Da ich aus wilderten Rasenstück baute ich aus Zweigen, Gras und Moos ein Stolp fast nur Husaren kannte, gefielen mir diese anders unifor- richtiges Zelt. Da lag ich stundenlang. Die Sonne schien, um mich mierten Soldaten sehr. Wir wohnten in einem richtigen Proletarier- war eine warme, grüngoldige Dämmerung, und ich träumte von viertel, aber das wurde mir damals nicht recht bewußt. Die Straße Abenteuern in der Art des guten Gustav Nieritz, den ich eben ge- war voller Kinder und wimmelte von Leben, bei Goldacker gab es lesen hatte – wobei ich genau so unendlich gut und brav sein wollte herrlich duftendes Brot, und ein Laden mit Kolportageliteratur in wie seine jugendlichen Helden. der Auslage ließ mich wollüstig erschauern – über einen eigentüm- Heute habe ich manchmal Sehnsucht nach jenem – wie soll ich lichen Schauer vor solch dramatischen Mord- und Titelbildern bin sagen – großen, entschwundenen Garten meiner Kindheit. Das Le- ich nie ganz hinweggekommen. ben war sorglos. Jeden Sommer fuhren wir nach Stolpmünde, dem Ich freundete mich mit einem recht intelligenten Nachbarssohn eine dreiviertel Stunde entfernten kleinen Ostseebad. Ein Vetter an, der viel las und mich in die Volkslesehalle mitnahm. Franz Küg- von mir kam zu uns, sein Vater war in eine Anstalt gebracht wor- ler, so hieß jener ferne Freund, sprach bereits von Haeckel und sei- den, und wir zogen nun einen der vier Söhne mit auf – aber ich in nen damals vielgelesenen »Welträtseln«. Er hatte überhaupt ein meiner Jungenwelt sah von Sorgen nichts … reges Interesse für Naturwissenschaften und war auf das »Neue Als mein Vater starb, zog meine Mutter mit uns nach . Wir Universum« abonniert. Mich regte all das sehr an und machte mich wohnten dort in der Wöhlertstraße nahe dem Wedding, einem irgendwie gut – das heißt voll guter Vorsätze – und dabei gleichsam Kohlenplatz gegenüber; das übliche Schild mit den schwarzen, ge- erstaunt über die Erfindungskraft der Menschen und die Mannig- kreuzten Hämmern erscheint mir noch manchmal wie ein pessi- faltigkeit ihrer Technik. Es war in Franz auch etwas von einem mistisches Denkzeichen. Hinter der geteerten Brandmauer war Sterngucker; es war etwas in ihm, was mich anzog und hinauszog der übliche Durchblick auf den Hinterhof, die graue Großstadt- aus einer gewissen Enge und Eingeschlossenheit. Es war, als bekä-

14 15 men unsere unbewußten Träume mehr Wirklichkeit, wenn unsere sonderbaren Namen Butterbrodt, unser erklärter Todfeind war. Gedanken, durch populäre Artikel und Zeichnungen genährt, da- Oft beschritten wir gegen ihn und seine Getreuen den Kriegspfad, hinschwebten – weit fort, hoch über die Kohlenhöfe, ameisenhaft und mehr als einmal wurde ihm ein blutiger Tod nebst dazugehöri- wimmelnden Straßen und gedrängten Wohnungen hinweg. ger Strafverschärfung (kopfüber in einen Ameisenhaufen gehängt Eines Tages wendete sich unser Schicksal. Wir zogen wieder und dergleichen) zugedacht. Unsere Einbildung war so mächtig, nach Pommern. Auf Reisekoffer gebettet, die Nacht über dösend, daß wir sogar einen richtigen Marterpfahl für ihn bereitgestellt fuhren wir nach meinem geliebten Stolp zurück. Durch gewisse hatten. Wenn Butterbrodt mit seinem kleinen Eselsgespann daher- Beziehungen und Empfehlungen konnte meine Mutter das Offi- kam, war er regelmäßig die Zielscheibe unserer Geschosse. »But- zierskasino der dort stationierten Fürst-Blücher-Husaren zur Be- terbrodt frisch geschmiert!« riefen wir hinter den Bäumen hervor. wirtschaftung übernehmen. Die direkte drückende Sorge um das Seinen Esel malträtierte er gottsjämmerlich, und da wir dieses in tägliche Brot hatte vorerst ein Ende. unserer Gegend damals selten verwendete Zugtierchen sehr gern Fasse ich meine Jugendzeit in Stolp zusammen, so kann ich wohl hatten, übten wir unbewußt im Sinn eines höheren Ausgleichs ge- sagen, sie war im großen ganzen eine glückliche. Ich lebte unbehel- rechte Vergeltung an seinem Peiniger. ligt und frei, und da meine Mutter den lieben langen Tag in Küche Vor mir taucht die Stolpe auf, jener kleine Fluß, der durch Stolp und Keller zu tun hatte (nebenher wurden viele Kochfräulein aus- fließt und an dem unser Haus lag. In unserer kindlichen Phantasie gebildet), so wuchs ich gänzlich auf eigene Faust und ungezwun- war sie der Hudson oder der St. Lorenzstrom und der See Glim- gen heran. Welch schöne Zeit wir hatten! Mit meinen Freunden merglas. Manchmal trieben Flöße flußab dem kleinen Ostseehafen streifte ich umher, im nahen Walde und am Flusse, der direkt an zu. Wir fuhren barfuß kilometerweit mit. Dann wurden die Baum- unserer Wohnung vorbeizog. Auf der Bleichwiese spielten wir stämme unter uns zu Planken eines Marryatschen Freibeuterscho- Trapper und Indianer. Im Zeichen Lederstrumpfs und Karl Mays ners, und zischend schlugen die Geschosse unserer Schleudern ins beschossen wir uns gegenseitig mit Luftbüchsen und selbstge- Wasser. Gelegentlich fielen wir selbst hinein. Einmal kam ich bei machten Katapulten. Auf einer der mächtigen, uralten Weiden – solch einem Abenteuer direkt unter die glitschigen Floßstämme die Bleichwiese war mit solchen grotesken Bäumen bestanden – und wäre sicher ertrunken, wenn ich nicht in letzter Minute noch in hatten wir einen regelrechten Hoch- und Jagdsitz eingebaut, von einer Lücke zwischen zwei Flößen hätte auftauchen können. Meine dem aus wir zum Schrecken der wäscheaufhängenden Dienstmäd- kurz zuvor erworbene Fähigkeit, beim Tauchen die Augen aufzu- chen wie richtige Raubritter oder Indianer die Umgebung beunru- machen, rettete mir damals das Leben. Einen gelinden Schreck higten. Die nassen Laken oder gar die schönen langen Unterhosen hatte ich aber doch bekommen, und zu Hause erwartete mich eine gaben unserer Phantasie die nötige Anregung, und eine berühmte derbe Standpauke, als ich total durchweicht und matt ankam. Schlacht gegen die Unterhosen steht mir noch lebhaft vor Augen, Wälder, Wiesen und diesige Moornächte steigen auf, Tümpel denn sie kostete mich meinen teuren Henrystutzen, den der und kleine Teiche. Mit Botanisiertrommel und Einmachegläsern freundlichgrimmige Kasinosergeant Arndt mir zum Geburtstag ausgerüstet, fingen wir dort Molche und allerhand Lurchgetier für geschenkt hatte. unsere Aquarien. Blumen und Pflanzen wurden gepreßt und säu- Wir Indianer und Piraten waren der Terror eines benachbarten berlich im Herbarium geordnet – nur um später in irgendeiner kleinen Gutes, dessen Verwaltungsinspektor, ein Mann mit dem Bodenkammer zu verstauben? Nein, nicht ganz.

16 17 Zu alledem wirkte das Vorbild unseres ulkigen, beliebten Natur- Küche gebracht und aufgestellt, und mein Vetter und ich badeten geschichtslehrers Marquardt. Mit ihm strichen wir oft durch Wald zusammen, um Wasser und Heizung zu sparen. Dies endete meis- und Feld; sein unmoderner Pelerinenmantel wehte wie eine Fahne tens in einer kleinen Überschwemmung – zum Verdruß meiner des unermüdlichen Forschers über unseren kleinen Expeditionen Tante, die mit einem nassen Lappen dazwischenfuhr –, und die ins Reich der Frösche, Insekten und Mücken, aber auch der Tränen mischten sich mit dem Teich auf dem Fußboden. Schmetterlinge. Und er wurde nicht müde, einen an Humanismus Es ist gut, wenn man in einer kleinen Stadt aufwächst, so halb auf und Humboldt geschulten Geist auf seine Schüler zu vererben. dem Lande. Überall ist die Natur nah, Felder und Wiesen beginnen Ich entsinne mich weidenbestandener Bäche, aus denen wir hinter den Häusern, und der Wind, so scheint es mir, weht kräftig Neunaugen griffen. Die wurden zu Hause in Essig und Olivenöl und frisch von der See herein. Für einen heranwachsenden Jungen eingemacht und schmeckten so herrlich sauer und waren ganz ohne gerade das Richtige. Asphaltdecke und Steinplatten isolieren dich Gräten. Man saß am Ufer der Stolpe mit selbstgefertigter Angelrute, noch nicht von der darunterliegenden Erde. Eine jetzige Vorliebe die Büchse mit Regenwürmern neben sich, und wartete listig und von mir für Gräser und Halme und für die vom ewigen Winde be- voller Geduld auf den Anbiß eines Ukeleis, eines handgroßen Fisch- wegten Sandmassen der Dünen, ja eine Fähigkeit des Sichversen- chens, das in der Pfanne gebraten wurde und besser schmeckte als kens in scheinbar kleine Dinge mag von jenen Kindheitseindrücken der größte und schönste, den man auf dem Fischmarkt kaufen herrühren, obwohl die große, gewaltige Stadt der mechanischen konnte. Spielzeuge und Maschinen schon wie ein sagenhaftes, abenteuer- Und die herrlichen, heißen, unschuldigen Sommertage, wo wir liches Stück Wirklichkeit am Horizont schattenhaft auftauchte. mit ins Heu fahren und mithelfen durften und hinterher todmüde Durch meinen Vetter, der Dekorationsmaler werden wollte (er in die karierten Bauernkissen sanken und traumlos schliefen, bis hatte ein vorzügliches Zeichen- und Maltalent, wurde dann auch um fünf der Hahn krähte. Die Sträucher hingen voller Johannis- später in Berlin ein ganz nett bekannter Kunstgewerbler), kam ich und Stachelbeeren, und wir lasen sie darunterliegend von den zu dem Chefdekorationsmaler des Unternehmens, in dem mein Zweigen und füllten unsere Bäuche, bis sie aufschwollen wie Zep- Vetter die Stubenmalerei von der Pike auf lernte. Dieser Herr hieß peline und wir dalagen wie die Wanderer im Schlaraffenlande, Grot und wohnte im Haus nebenan. Er hatte in München auf der nachdem sie sich durch den großen Kuchenberg durchgegessen. Es bekannten Schule des Wilhelm von Debschitz studiert, trug sich ging an der Sägemühle vorbei; angenehm harzig roch das frisch wie ein richtiger Kunstmaler mit großem, schwarzem Schlapphut aufgestapelte Holz, und die Kreissäge brummte wie eine große und blondem Spitzbart und besaß außerdem eine Originalzeich- Hummel in den wolkenlosen, schulfreien Julinachmittag. nung von Albert Weisgerber, den er sehr verehrte und auf den er Mit selbstgeschnittenen Binsen, die wir in zwei Pakete teilten auch oft hinwies. (Weisgerber zeichnete damals für die Münchner und mit einem Stück altem Gurt verbanden, lernten wir ohne Leh- »Jugend« Karikaturen in einem knapp andeutenden, kühnen rer und ohne Badehose schwimmen und paddelten und sprangen Schwarzweißstil und wurde später bekannt als eine der wenigen wie die Frösche im Wasser der Stolpe herum. Und jeden Sonnabend großen neuen Malbegabungen. Sein »Absalom« wurde viel be- gab es ein Seifenbad, wozu das Wasser auf dem großen Küchenherd wundert; seine Malerei schloß sich an die jüngeren Franzosen an, heißgemacht wurde; die Badewanne, eine altertümliche Zink- vor allem Cézanne war sein Vorbild. Leider fiel er schon in den er- wanne, wurde aus dem Verschlag in das große Zimmer neben der sten Wochen des ersten Weltkrieges.)

18 19 Jener Chefdekorationsmaler Grot sah von mir eine Art Bilder- bei Dekorationsmalern beliebten Werk »Hundert dekorative Vor- geschichte. Ich hatte einen Wissenschaftsmann dargestellt, der ein bilder«… Das war natürlich gut, und man konnte sicher von ihm Abenteuer mit einem Walfisch zu bestehen hatte. Im Verlauf der lernen. Er selbst nannte sich einen »Linienstilisten«. Geschichte wurde er verschluckt und kam nach allerlei Komi- Um zu verstehen, was dieses Wort bedeutete, muß man sich den schem – mir erschien’s halt so –, er kam also hinten wieder damals so häufig anzutreffenden »Jugendstil« vorstellen: Lilien- heraus… All das war wohl aus zweiter Hand, ich gebe es zu, aber stengel und Japan irgendwie gemischt. Alle Linien schwangen, nicht etwa kopiert. Von dem Schweizer Töpffer wußte ich noch bogen, krümmten und verrenkten sich, liefen wieder voneinander gar nichts. Nur Wilhelm Busch kannte ich gut und liebte ihn sehr, fort und krümmten sich abermals halbrund, bis das Ornament zu- hatte deshalb auch eigene Verse, die sich richtig reimten, fein säu- standegebracht war. Es war eine wahre Spaghetti-Orgie der Linien. berlich in Rundschrift in einem kleinen Schul-Oktavheftchen un- Überall sah man Tunkpapiere, eine Art sich fort und fort in Spi- ter die Bilder geschrieben und sie mit etwas Buntstift auskoloriert. ralen bewegendes, durch Öl auf Wasser hervorgerufenes Motiv. Wie es so kam, fand Herr Grot mich begabt genug, um an einem Koloman Moser bestimmte von Wien aus diesen »Stil« – doch all kleinen zeichenpädagogischen Kurs teilzunehmen, der immer das und vieles andere wußte ich nicht, als ich an Grots Zeichenkurs Sonntag vormittags stattfand und von dem mir mein Vater schon teilnahm. viel erzählt hatte. Grot hatte sich frei nach dem berühmten modernen Münchner Mein Kunstverständnis war natürlich nicht sehr entwickelt, Lehrerpaar Depschitz-Kunowski ein Zeichensystem ausgeklügelt, nährte ich doch meinen Bildhunger nur aus den bereits erwähnten das mir jedenfalls ganz und gar vertrackt und kompliziert erschien. Familienzeitschriften und waren es doch meistens die nicht immer Nach dem richtigen lebenden Kopfmodell, meist einem alten hochkünstlerischen Darstellungen sensationeller Ereignisse, die Mann, suchte man die »Form«. Die Form suchen, das hieß mit dem mich anzogen. Nun war alles anders und neu für mich. Grot hatte, Bleistift, nicht zu weichgradig, immerzu auf dem Papier umher- wie gesagt, eine kleine Sammlung, hauptsächlich Kunstblätter aus kreisen und herumfahren wie ein verrücktgewordener Radfahrer, der »Jugend« und so. Mit Staunen besah ich seine Mappen. Ja, so lange, bis schließlich aus lauter Kreisereien und ovalen Formen alles war mir neu. Grot war auch der erste, der mich auf Gottes eine Art Natureindruck herauskam. Dieses Manöver war eben das freie Natur hinwies, wofür ich ihm ewig dankbar bleibe. Er selbst »Aufsuchen« der Form… Was da eigentlich im Spiel war – eine ging oft an freien Tagen in die Natur hinaus und nahm Land- längst verschollene Barocktradition des Bellangé oder eine Art schaftsstücke auf, meistens in einer Art Temperatechnik. unverstandener Kupferstichtechnik oder was sonst –, das blieb Ich muß hinzufügen, daß in diesem Dekorationsmaler noch ein dunkel. Natürlicherweise dachte ich, man solle möglichst mit einer winziges Stück einer großen Tradition lebendig war. Es war ja einzigen Linie beginnen, aber hier wurde ein sonderbarer Umweg noch Sitte, Blumengirlanden oder Landschaften mit schwimmen- gewählt; und ich nahm alles mit stummer Andacht und ohne Wider- den Schwänen in die feineren Treppenhäuser zu malen – ja, ein spruch hin, fuhr wie ein Wilder im Kreise herum und war zufrieden, kleines Stückchen der großen Dekorationstradition eines Tiepolo, wenn mich Herr Grot belobte. wenn auch noch so gering, wurde da sichtbar. Und als ein rechter, Außerhalb dieses Kurses – den außer mir nur noch ein künstle- ehrlicher Handwerker holte Herr Grot sich die Anregungen für risch veranlagter Offizier (natürlich heimlich und in Zivil), ein seine Dekorationen lieber direkt von der Natur als aus dem damals Forstadjunkt, eine jüngere und eine ältere Dame und mein Vetter

20 21 besuchten – ging ich meine eigenen Wege. Ich suchte sozusagen im oberen Stock des Kasinos; da hingen Hunderte von kleinen und meine Form auf eigene Faust. Einer meiner Lieblinge war zum Bei- größeren Aquarellen, alles Uniformbilder oder reine Kostümdar- spiel der damals berühmte, berüchtigte Eduard Grützner, dessen stellungen. Auch Ölbilder hingen da, die Waffentaten der Blücher- Velhagen & Klasing-Künstlerbiographie ich zu Weihnachten be- husaren verewigend; eine Reiterattacke von C. Röchling blieb mir kommen hatte. Ich konnte mich nicht satt sehen an seinen lange in Erinnerung. In der Zeit des Russisch-Japanischen Krieges Mönchs- und Trinkszenen. Abends, wenn draußen die Schnee- kritzelte und zeichnete ich selbstverständlich Schlachten mit vielen flocken so beruhigend herunterstoben, da saß ich oft im engen Reihen kleiner Soldaten, sowie die Seeschlacht vor Port Arthur mit Vorderzimmerchen bei der Petroleumlampe und zeichnete mit den unter so schönem Schaumspritzen einschlagenden Granaten. hartem, scharf gespitztem Bleistift ein Grütznersches Gemälde ab, Einen unauslöschlichen Eindruck machten auf mich die Greuel- indes über mir die Regimentsmusik einen dröhnenden Cake-Walk panoramengemälde auf den Jahrmärkten und Schützenfesten. Es zum Liebesmahle der Husarenoffiziere aufspielte. Ich saß und saß, gab da jeweils eine Bude mit zwei Galerien, darin in Mannshöhe hörte nichts und zeichnete, bis die dumme Lampe zu blaken anfing Löcher zum Durchblick auf die dahinter aufgehängten, links und und am Verlöschen war. Noch im Traum war ich mit hartem Blei- rechts unten von einer Lampe beleuchteten Bilder. Oft gaben auch stift bei den essenden und trinkenden Mönchen – von Abe Holz- wirkliche Gegenstände, geschickt beleuchtet und trickmäßig an- manns damals so berühmtem Cake-Walk »Smoky smokes« einge- geordnet, dem Gemälde größere Realität; man schritt sozusagen wiegt. selbst ins Bild hinein. Die perspektivische Illusion war immer Dann wiederum entwarf ich kühne, freiere Kompositionen. enorm lebendig. In jener Zeit ohne Kino befriedigten diese Panora- Denn ich liebte auch die großen Historienmaler, und die Bücher men das stets vorhandene Menschenbedürfnis nach Bildphantasie, waren ja immer voll von allerlei gewaltigen geharnischten und womit das Bedürfnis nach Kunst und Aktualität zusammentraf. militärischen Darstellungen. Freie Kompositionen nannte ich sie. Wer Drama und Aktion liebte – und das tun nun mal die meisten Vielleicht, vielleicht würde ich auch einmal die jetzt noch kleinen Leute –, kam hier recht auf seine Kosten. Figuren mit Riesenpinseln und wahren Kübeln von Farbe auf eine Noch heute lebt in mir ein starkes Erinnern an diese im großen Riesenleinwand malen? Bei solchen Gedanken wurde ich ganz hin- ganzen und bei allen Beleuchtungstricks doch recht primitiven gegeben, weich und zufrieden. Donnerwetter, so ein Maler zu wer- Schauerstückmalereien. Trotz ihrer rohen Mache und malerischen den, war schon eine Sache. Etwas überkam mich da vom Glück des Mängel waren die Bildrollen außerordentlich einprägsam und Schaffens, etwas durchaus Jungenhaftes und Unschuldiges. Viel- drückten häufig das Gegenständliche sehr lebendig, einfach und leicht träumte genau gleichzeitig mein Freund Heini Blume von suggestiv aus. Heute noch halte ich diesen Typ der Kunst und, einer großen Expeditionsfahrt den Nil hinauf, inmitten von Kroko- wenn man will, der Greuelberichterstattung in seinem Wirkungs- dilen und wilden Muselmännern – ein kühner Livingstone… kreis für etwas ganz Richtiges und in seiner Art Ideales. Mir Meistens zeichnete ich Ritterszenen mit hochgelegenen, roman- scheint, daß darin noch eine alte, gesunde Tradition des Anschau- tischen Burgen und Zugbrücken im Hintergrund. Ich zeichnete ungsunterrichts für die breiteren Volksmassen lebte, ein immerhin Pferde und alte Bellinghusaren am Wachtfeuer, aber auch romanti- noch Kunst enthaltender Anschauungsunterricht, der heute im sche Wanderburschen, Abschied nehmend von der Mühle im Tal Zeitalter der – wie zum Beispiel beim Film – zerlegten Visionen am Waldesrand. Die Soldatenszenen hatten ihren Ursprung meist seinen besseren Sinn verloren hat und kaum wiederauferstehen

22 23 wird. Mir scheint sogar, es hatte sich manches, was man heute Elemente und des kleinen Menschenflohs inmitten der Weltordnun- Volkskunst nennt, in diesen verstaubten und vergessenen Schau- gen. Das proletarische Element, die Brutalität der ewigen direkten budenbildern erhalten. Jetzt, da Neuheiten suchende Kunstmän- Aktion – ja das konnte man hier genießen. ner und snobistische Sammler diese fast ausgestorbenen Malereien Es war 1910, und man war noch nicht abgestumpft und zynisch. hie und da wiederentdecken, legt man auch hier die Kunstzentime- Starben einmal ein Arbeitsloser oder gar zwei im Asyl für Obdach- ter- und -millimetermaßstäbe an; doch dies waren eben Bilder für lose an Methylalkohol oder vergiftetem Hering, so regte sich die ein Volk, das, ohne hohe künstlerische Ideale zu brauchen, ganz ganze deutsche Presse darüber auf, so schmerzempfindlich war gesund Erzählend-Gegenständliches von der Kunst erwartete. Da- man. Die paar Attentate auf damalige zaristische Machthaber in her waren die Darstellungen derb und grobschlächtig, sicher auch Rußland wurden als ganz ungeheuerliche Ereignisse angesehen. von den Herstellenden ohne jede bewußt künstlerische Absicht Daß so etwas bei uns möglich sein würde, konnte sich niemand verfertigt. Aber vielleicht durch die Abwesenheit irgendwelcher vorstellen. Um so größer war die Wirkung auf mein kindliches Problematik hatten diese Bilder etwas, was an ganz ursprünglich Gemüt, wenn ich dergleichen im Bilde sah… Menschliches anklang, etwas Rührendes gleichsam, wie es oft den Bilder haben eine unerklärliche Magie. Das Konterfei des Le- Arbeiten begabter Dilettanten anhaftet. bens wurde, wie heute häufig der Film, für das Leben selbst ge- Ja, so denke ich heute, in einer Zeit, wo für jeden Maler drei bis nommen. Man identifizierte sich mit seinen Helden, man nahm vier Erklärer und Kunsthistoriker benötigt werden – ja, diesen Bil- sozusagen in der Phantasie aktiv an den Darstellungen teil und dern fehlte eben alles Theoretische, blutarm Erhabene. Im Gegen- wurde selbst zu einer der kleinen Figuren. Vielleicht hatte das, was teil, Blut spielte auf den meisten eine große Rolle. Für moderne Ju- ich hier so ausführlich schildere, einen Einfluß auf mein späteres gend- und Volkserzieher wären sie nichts gewesen. Aber man darf Leben und Reifen – wer kann das sagen? Viele haben ja alles ver- nicht vergessen, daß damals ein streng auf öffentliche Sittlichkeit gessen. Und warum packte es gerade mich? War ich auserwählt, bedachtes Regime herrschte und alles direkt Blutrünstige nach Schrecklichkeiten zu bestehen, und zeigte mir eine höhere Macht, außen hin verpönt war. Zum Beispiel waren die heute in aller Öf- wenn auch auf primitive Weise, Schrecken, Blut und Mord im fentlichkeit stattfindenden Boxkämpfe damals aus humanitären voraus? Mir war das verborgen. Ich war nur entzückt davon, wie Gründen verboten oder nur in privaten, fast geheimen Klubs ge- heutzutage viele Jungens von amerikanischen »comic strips« ent- stattet. Alles, was wir heute erleben, was dann später so grausige zückt sind. Wir waren allesamt davon entzückt: von der weiten Wirklichkeit wurde, kam erst während des Krieges und danach Welt, von Piraten oder gar von Kriegen gegen schlechte, hinter- zum Vorschein. Die heute so selbstverständliche Rohheit des öf- hältige Eingeborene, die womöglich mit vergifteten Pfeilen fentlichen Lebens war noch durch eine gemildert aristokratische schossen. Mit einem Wort, es war nicht die Welt der Fabriken, Regierung niedergehalten. Es war trotz allem noch etwas von nicht der Kontore, nicht eine rechnende, sitzende Tätigkeit, die einem alten, durch große Dichter und Denker geheiligten Huma- uns begeisterte. Es war ein schöner Tagtraum, und dieser währt ja nismus lebendig; die Zeit der Konzentrationslager, der Massen- bei vielen, besonders bei künstlerischen Menschen das ganze erschießungen und des Rassen- und Klassenhasses war noch nicht Leben lang. angebrochen – aber so ahnte ich sie, so spürte ich in diesen Bildern Wie viele Menschen wohnen denn in uns? Einer oben, einer in schon etwas von den Schrecken und von der Zerstörungslust der der Mitte, einer im Keller? Vielleicht auch einer gefesselt irgendwo

24 25 in einem verriegelten Kabinett? Ich mißtraue der Psychologie und ersten Futuristen sah, wieder an die Oberfläche kam (»der Mensch der Psychoanalyse. Man erklärt und erklärt, man versucht hinter ist wie ein See«, sagt Winnetou, der rote Gentleman, in einem das Geheimnis des Menschenherzens und der menschlichen Triebe Buche Karl Mays), nämlich der Sinn für die Darstellung von Zeit- zu kommen – und da sage ich: Man kann den Dämon des Men- lichem, von Wirklichkeiten dieser Welt. Und es ist bezeichnend, schen wohl andeutungsweise beschreiben, aber sezieren kann man daß später eines meiner ersten Ölbilder eine damals sehr aktuelle ihn nicht. Natürlich lernen wir und haben durch jahrtausendalte Mordtat darstellte. Auch heute noch beschäftigt mich oft der Traditionen auch die Wissenschaft ein wenig vervollkommnet, Gedanke, Bilder in solcher Panoramenmanier zu malen. Bin ich aber dann zahlen wir auf einer anderen Seite. Unser Wissen ist da vielleicht der kleine Junge, der seine Jugend zurückzaubern sicherlich seitenlang brillant; bis zum künstlichen Herzen und zur will? Television sind wir vorgedrungen. Aber das ist auch alles. Der Dä- Wenn ich wieder einmal solche gemalten Schauer- und Schrek- mon bleibt: Schmerzen, Tod, Liebe, Haß. Jede Generation hat es kensszenen in einer herumziehenden Schaubude gesehen hatte, neu zu erleben. Was ist meine Erfahrung, soweit sie nicht rein beschlich mich hinterher immer ein vages und unheimliches Ge- Mechanisches betrifft, für einen anderen Menschenfloh? fühl vor dem unbekannten Grauen und Verbrechertum einer noch Um auf jene Panoramenbilder zurückzukommen: verdammt unentdeckten Welt, die vor mir lag wie hinter Schleiern. Ich war packende Darstellungen fallen mir ein, zum Beispiel ein Brand in entzückt, aber auch betroffen. Für mich steckte in all diesen son- der Pariser Untergrundbahn. Aus einem engen Tunnel, einer Röhre derbaren gemalten Attentaten, Warenhausbränden, Verbrecher- des Todes, wälzen sich rauchvermischte, zinnoberrote Flammen. jagden, Hinrichtungen, Naturkatastrophen, Rebellenerschießun- Dutzende kleiner, angesengter Menschenflöhe drängen voller gen, Schiffsuntergängen und Eisenbahnzusammenstößen die Todesfurcht zur Ausgangstreppe, während ein zerquetschter Hau- Romantik einer noch nicht betretenen Welt voll großer Gefahren fen, niedergetreten von den Flüchtenden, in den Waggontüren und und blutiger Abenteuer. Aber die Melodie und Dramatik, die ich auf dem Bahnsteig herumliegt wie abgebrannte Streichhölzer. Aus so liebte, war nicht ohne Furcht. Jene Welt, so schien es mir, war in Zweckgründen, der besseren Übersichtlichkeit wegen, waren all unserer kleinen hinterpommerschen Stadt nicht zu erleben – denn diese Darstellungen mit viel Horizont komponiert. Die Menschen ein kleiner, talentierter Junge weiß noch nichts von dem weißen sahen vor den Ereignissen, die sie so grausig überwältigten, ganz Chinesen und seiner Reise um sein Zimmer. klein und insektenhaft aus, wie sie es ja in Wirklichkeit sind. Schau- Ich las in jener Zeit einen Haufen sogenannter Schauerromane erlich schön war auch ein anderes Bild: der Ausbruch des Mont von einem Typ, der längst ausgestorben ist. Man nannte sie mit Pelé. Der feuerspeiende Berg, die deutlich erkennbar in der Luft Recht Hintertreppenromane, denn die hundertheftelangen Ge- herumwirbelnden Menschlein, die hochgeschleuderten Häuser, schichten wurden meist über die Hintertreppe von einem Kolpor- das kochende Meer mit den brennenden Segel- und Dampfschif- teur an Dienstmädchen und Hauspersonal verschlissen. Man fen, der dunkelbraun-blaue Himmel, die rotbeleuchtete, tropische mußte sich immer durch Quittung verpflichten, alle hundert Hefte Landschaft mit den von Furcht geschüttelten Palmen – schrecklich abzunehmen. Das einzelne Heft kostete 10 Pfennig und war mit war es, aber wundervoll anzusehen. einem aufregenden Bild geschmückt, graphisch und im Sujet den Ja, ich denke doch, ich wurde da beeinflußt, wenn auch kaum oben beschriebenen Panoramen durchaus ebenbürtig. Hier war bewußt. Hier wurde etwas in mir angeregt, was später, als ich die Volksliteratur, modernisierte primitive Heldensage; die sogenann-

26 27 ten »Gebildeten« lasen so etwas natürlich nicht. Auch viele Auf- romane, die die Dienstmädchen nachher wohl für ein paar Pfen- klärer und Weltverbesserer liefen Sturm gegen solche Literatur, nige hier verkauft hatten – voller Fett- und Talglichtflecke, Spuren von der es hieß, sie verderbe Verstand, Geschmack und Charakter. ihrer ehemaligen Leserinnen. (Die hohe Literatur soll das zwar auch schon getan haben, und »Haß und Liebe oder zwei Frauen unter einem Dache«… »Räu- vielleicht begann es überhaupt mit dem Lesen und Schreiben und berhauptmann Zimmermann, der Freund der Armen, der Schrek- dem gedruckten Wort. Dies nebenbei; ich bin, wie gesagt, kein ken der Tyrannen«… »Dornröschen oder die Verfolgung um die Weltverbesserer.) Erde«… »Fünfundzwanzig Jahre lebendig begraben oder Dolch, Ich las viele Romane dieser Gattung. Meist verschaffte ich sie Kreuz und Liebe«… »Die Wilddiebe oder die Räuberbraut vom mir aus einer kleinen, obskuren Leihbibliothek, die einer schrulli- Bayrischen Wald«… Schöne Titel waren das. Ich las alle Hefte, die gen alten Frau gehörte. Vorne hatte sie eine Art Schreibwaren- ich kaufen konnte. Auch borgten wir literaturbeflissenen Freunde laden: in verstaubten Pappkästen lagen Federn, Bleistifte, Tinten- sie untereinander aus. In der Handlung waren sie einander immer wischer, Schulmaterial, Ausschneide- und Modellierbogen, Hefte ziemlich ähnlich, aber für mich fiel diese Unzulänglichkeit nicht aller Art. Der Hinterraum war vollgestopft mit billigen Büchern ins Gewicht. Je roher und unwahrscheinlicher die Handlung, desto und alten, primitiv mit Bindfaden verschnürten Paketen jener mehr erbaut war ich über die tollkühnen, manchmal ans Märchen- Schauerromane. Klara Menning saß mit Brille und Krückstock hafte grenzenden Abenteurer- und Räubergeschichten. Großartig, und regierte in ihrer amüsanten Höhle wie die leibhaftige Hexe aus wie der Räuberhauptmann Zimmermann, mit einer Hand an die Grimms Märchen. Wie diese zog sie auch die Kinder an, und man- Plattform des Gefängnisturms geklammert, mit der anderen seine cher Hans geriet in ihren Bann. Es war ein fabelhafter Laden, zu eben gerettete Geliebte haltend, unter sich den Abgrund mit dem ebener Erde und doch wie in einem unaufgeräumten Bodenzim- reißenden Elbestrom, ruhig die Häscher über sich abziehen ließ – mer. Alles lag durcheinander. Überall lag Staub. Die alte Gaslampe, wobei diese, ohne es zu ahnen, ihm noch auf die anklammernde die immer brannte und deren Strumpf summte wie eine Katze, gab Hand traten…! dem Ganzen ein Rembrandthalbdunkel; das erhöhte die Gemüt- Ein anderer Roman aus hundert Heften hieß »Geheimnisse der lichkeit und ermunterte einige von uns zu kleineren, harmlosen Freimaurer«. (Ich hatte ja einige Jahre wirklich in einer solchen Entwendungen. Ein Hampelmann hing am Türrahmen, ein weißes Loge gelebt, was jedoch meinen Appetit keineswegs schmälerte.) Pappskelett neben einem buckligen Bajazzo. Groteske Masken In diesem Roman wurde ein geheimen Zwecken dienendes Zim- lagen oben im zerrissenen Karton, ein falscher Bart neben Schiefer- mer beschrieben; trat ein nicht gewünschter Gast über die tafeln und Schwamm oder bunt umwickelte Schieferstifte in einem Schwelle, so sausten, durch einen raffinierten Mechanismus ausge- Glasbehälter. Es war eine Art wunderbarer, phantastischer Müll- löst und angetrieben, von links und rechts zwei blitzende stählerne haufen. Im Schaufenster lag noch Christbaumschmuck von vor Skelette auf den Eindringling zu, deren tödliche Umarmung ihn vielen Jahren. Dann war da ein großer, schwarzblauer Kater, der am Eintreten hinderte. Die Helden, ein kleinerer und ein größerer überall auftauchte und von dem das Gerücht ging, er könne wie Junge, drangen um Mitternacht durch einen geheimen Keller in die eine Fliege an der Decke entlanglaufen. Da gab es große, lange, finstere Loge ein; der ältere warf geistesgegenwärtig seine blitz- feine, gehäkelte Silberfäden für den Weihnachstbaum – oder waren schnell ausgezogene Jacke zwischen die Skelette und war gerettet. es uralte Spinnweben? Ja, und da gab es all die Hintertreppen- Ich sah mich selbst dabei mit einem Freund, und ein gelinder

28 29 Schauer kitzelte mich angenehm, während wir in meiner Phantasie ter Menschen mir über Sonntag Modell saß. Und mein Schul- solche Abenteuer bestanden. freund Hodapp verfaßte sogar ein Theaterstück, in dem Nick Einen Fortsetzungsroman, betitelt »Wenzel Kummer, der Carter und der berüchtigte Verbrecherkönig Carruthers ein recht Schrecken des Böhmerwaldes, oder die Geheimnisse der Kasemat- gefahrvolles Erlebnis mit einem privaten elektrischen Stuhl hatten. ten der Festung Brünn« wollte ich für meine Bibliothek erwer- Auch zu dieser Szene machte ich mehrere von besagten Titelblät- ben. Der Kolporteur, der mich kannte, war mit Abzahlung zufrie- tern angeregte Zeichnungen in schwarzer Tusche. den, doch konnte ich nur bis zum 35. Heft zahlen, dann war mein Die literarische Qualität dieser Hefte entsprach der der alten Geld aus. Im stillen weinend, mußte ich die schwer erworbenen Schauerromane. Es war gute, alte Dumasschule. Mit dem Film ver- 35 Hefte wieder zurückgeben. Es war meine erste Berührung mit glichen, der heute ja vielfach das ewig vorhandene Bedürfnis nach einem modernen ökonomischen Gesetz… Hintertreppenliteratur befriedigt, war ihr Niveau etwa das eines Meinem Freund Erwin verdrehte diese Lektüre vollkommen durchschnittlichen, in Hollywood erzeugten Abenteurerfilms. den Kopf. Sich als Banditenführer fühlend, mit einem uralten Ter- Später tauchte noch eine ganze Menge ähnlicher Geschichten in zerol bewaffnet, bedrohte er an einer verschwiegenen Stadtmauer- gleicher Aufmachung auf; ich erinnere mich hauptsächlich an eine ecke eine harmlose alte Frau auf dem Wege zum Markt. Aus dum- Serie über Sherlock Holmes. (Nachdem der Londoner Verlag sei- mer Angst gab sie ihm ihr Portemonnaie und zeigte ihn an. Erwin nes eigentlichen Autors Conan Doyle Krach schlug, hieß Sherlock hatte schon 50 Pfennig in Mohrenköpfen und Schlagsahne ange- auf der Titelseite der bunten Hefte nur mehr schlicht »Der Mei- legt, als er gefaßt wurde. Er flog, als schändlicher Jugendverderber sterdetektiv«; das charakteristische, charaktervolle Porträt mit der gebrandmarkt, aus der Oberrealschule und mußte, von allen ver- karierten Reisemütze und der Pfeife war allerdings beibehalten achtet, schließlich Kommis im Kaufhaus Müllerheim werden. worden.) Der unbekannte Autor, der diese Erzählungen für die Erwin hatte mir nahezu meine gesamte Bibliothek beim Sechs- reifere Jugend und für manchen Erwachsenen schrieb, muß ein tol- undsechzig abgenommen, so rächte sich sein Glück im Spiel. ler Hecht gewesen sein. Mir fällt eine seiner Geschichten ein: »Das Zu jener Zeit kam aus Amerika eine ganz neue Sorte schaurig- Menschenschlachthaus von Soho«. Fing gleich furchtbar un- schöner Abenteuerhefte. In den kleinen Papierwarengeschäften heimlich an: In einem kleinen Gasthaus in Soho findet ein Student hingen sie, mit Klammern an einer Schnur befestigt, quer vor dem in der Mittagssuppe eine menschliche Fingerspitze mit Nagel. Auslagefenster. Jeder Band war in sich abgeschlossen, kostete Nur Sherlock Holmes kann dieses Rätsel lösen, kommt auch allerdings 20 Pfennig, doch in Anbetracht des größeren Formats schließlich einer ganz nichtswürdigen Verbrecherbande auf die und vor allem des farbigen Umschlags – das war ganz neu und sehr Spur, die tatsächlich – wie der geniale Sherlock bald herausbe- anreizend – zahlte man gerne den höheren Preis. Die erste Serie kommt – ihre ins Dunkel des Hyde Park gelockten Opfer erst zu dieser Hefte hatte den kühnen Kundschafter und Indianertöter betäuben und dann nach fremdländischem Ritual (die Bösewich- Buffalo Bill zum Helden. Dann kam der übermenschlich schlaue ter sind oft Ausländer) zu schlachten pflegt, um sie schließlich als und jeder Gefahr siegreich trotzende Detektiv Nick Carter an die Hammelkoteletten, Beinfleisch oder frische Wurst in bestimmten Reihe. Seine Heldentaten in der Unterwelt begeisterten mich zu kleinen Restaurants abzusetzen. Toll. Aber bevor Holmes, der einigen dramatisch bewegten Zeichnungen, wobei mein Vetter Meisterdetektiv, den Hauptverbrecher unschädlich machen kann, Martin für die besonders schwierige Darstellung modern gekleide- kommt er um ein Haar in die peinliche Situation, die unheimliche

30 31 Fleischerei, in die er mittlerweile eingedrungen ist, selbst als Kote- Speisewagen hantierenden Kellners. Lustig winkte der Koch mit lett zu verlassen… seiner hohen weißen Mütze und dem flatternden Halstuch. Von Immer wieder sind es doch die gruseligsten Geschichten, die uns unserer jugendlichen Sehnsucht nach der weiten Welt begleitet, anziehen, die richtigen Ritter-Blaubart-Geschichten. Immer wie- verschwanden die gelbbraunen Waggons rechts um die Kurve. der ist es das verschlossene Zimmer oder der verbotene Schlüssel. Eines Tages, es war im August, wurden an den belebtesten Derart gewürzte Märchen verschlangen wir im selben Tempo wie Punkten der Stadt hohe Bretterzäune errichtet, die sich bald darauf die Kokosflocken, die wir dazu aßen und die mir die Zähne verdar- mit bunten Plakaten bedeckten. Wer es nicht schon aus der Zeitung ben. Mabel King, der weibliche Detektiv, Texas Jack und Kapitän oder gerüchtweise erfahren hatte, konnte da lesen, daß der größte Stürmer waren unsere heldischen Vorbilder. Gern hätten wir es Zirkus der Welt, der von Barnum & Bailey, im Anrollen war. Wie ihnen gleichgetan. Aber in der groben hinterpommerschen Wirk- ein Besuch aus Feenland war es, als die weißen, mit goldenen Or- lichkeit sah die Welt eben doch anders aus als in den Heften mit namenten und fremdländischer Schrift bemalten Pullmanwagen den schönen farbigen Umschlägen. auf ein Seitengeleise unseres kleinen Bahnhofs einfuhren. Den gan- Viele dieser schönen Geschichten spielten in Amerika, in einem zen Tag über strolchte ich auf dem Zirkusplatz herum. Überall gab romantischen Vorkriegsamerika. Ich weiß nicht, ob man diese Ju- es Interessantes und Neues zu sehen. Der Aufbau – es hieß, es solle gendlektüre für eine mir heute noch anhaftende Amerikaschwär- in drei großen Zelten zugleich gespielt werden – vollzog sich nach merei verantwortlich machen darf. Von dieser Lektüre angeregt, einem mir unverständlichen Plan des Zusammenwirkens außer- träumten wir damals wohl alle von fernen Landen – und Amerika ordentlich schnell und exakt, wie bei einem gut geordneten Spiel, war schon »all right«. wo jeder seinen Platz hat und seine Aufgabe genau kennt. Oft standen wir mit unseren Fahrrädern an den Schranken des Auch die Stadt selbst schien lebendiger als sonst. Viele Land- kleinen Bahnhofs und erwarteten die Durchfahrt (wöchentlich leute und Bauern waren hereingekommen, um sich den Betrieb einmal) des Expresszuges Paris–Petersburg. Es war immer eine anzusehen. Die exotischen Zirkustypen, die hier und dort im kleine Sensation. Während der Zug einige Minuten hielt, stiegen Stadtbild auftauchten, wurden neugierig betrachtet. Ich sah voller elegante, fremdländisch aussehende Reisende aus den Coupés, ver- Erstaunen eine offene Droschke vorüberfahren, in der merkwür- traten sich die Füße, kauften eine Zeitung oder ein paar Würst- dige Menschen mit verhüllten Köpfen saßen. In einem, der un- chen, tranken schnell im Stehen ein Glas Bier oder Kognak und förmig, ja geradezu ungeheuerlich dick war, erkannte ich von den verschwanden wieder. Dann zog die riesige Lokomotive an, und Plakaten her den dicksten Mann der Welt. Neben ihm saß ein im Anfahren zeigte sich manchmal hinter halb heruntergelassenem Mensch, dessen Gesicht mit einem schwarzen Tuch umwunden Fenster ein Frauengesicht von eigenartiger Schönheit – eine Schau- war; nach der Fülle widerspenstiger Haare zu schließen, konnte spielerin vielleicht, oder gar eine jener Tänzerinnen, wie wir sie nur das nur Lionel, der Löwen- und Haarmensch, sein. Der winzige von den unergründlich schönen Bromsilberpostkarten her kann- Herr auf dem Rücksitz, auch mit verhülltem Haupt, aber in gold- ten, die damals so modern waren. »Dining car, Compagnie inter- strotzender Uniform mit prächtigen Verschnürungen und Epau- nationale des wagons-lits«… langsam schwammen die schim- letten, war ganz sicher der damals als Abnormität so berühmte mernden Goldbuchstaben vorüber. Es glitzerte angenehm, immer General Tom Thumb. schneller, gerade sah man noch ein Stückchen eines gewandt im Diese Abnormitätenfuhre prägte sich mir scharf ein. Welchen

32 33 Jungen hätte solch Zirkusleben und -treiben nicht bezaubert? Was hätte ich darum gegeben, mit Seiltänzern und Jongleuren in die Welt zu ziehen und in einem der so reich mit Gold verzierten wei- ßen Wagen zu wohnen! (Selbstverständlich nicht als der, der ich war, sondern als weltberühmter Faßspringer oder Trapezkünstler.) II Ein Blick in das dreizehnte Zimmer Einen geheimnisvoll süßen Reiz übten die der Zeit entsprechend strammhüftigen und korsettierten Artistinnen aus. Hier konnte man die ganze fleischliche Pracht im Gegensatz zur damals alles s war ein heißer Spätseptembertag gewesen. Nachdem ich verhüllenden Mode ausgiebig mit dem Opernglas bewundern. Die Emeine Schularbeiten beendet hatte, ging ich zu einem Freund dickschenkligen Beine in den seidenen Trikots spielten in meiner von mir, der ziemlich nahe bei uns wohnte. Ich wollte mir ein See- Phantasie eine große Rolle. räubergeschichtenbuch holen, das er zum Geburtstag bekommen Verführerisch schön und geheimnisvoll erschien einem die Welt und auf das ich mich schon lange gefreut hatte. Es war schon dun- jenseits unserer Stadtgrenzen – die Welt der Städte und Länder, kel und die Gaslaternen in der Straße, in der mein Freund bei sei- von denen uns diese Artisten Kunde brachten. Nach einigen Tagen nen Eltern wohnte, beleuchteten die Häuserfassaden nur wenig. war der ganze Zauber vorbei, und die kleine Stadt kam mir vor wie Die Häuser lagen weiter zurück, hinter kleinen Gärten. Das mei- ein geplünderter Weihnachtsbaum, öder und leerer als vordem. nes Freundes lag noch weiter zurück, dort, wo die Straße aufhörte und Gärtnereien begannen. Es war noch eines jener alten, einstök- kigen pommerschen Häuser: man wohnte nicht gerade zu ebener Erde, aber die Fenster befanden sich ungefähr in meiner Schulter- höhe, das Dach lief seitlich spitzgieblig nach oben, und darauf war noch eine Art Vorbau, die Mansarde. Ich ging durch den Garten und schloß die hohe Holztüre hinter mir. Ich wollte durch den kleinen Hintereingang, den mein Freund und ich immer benutzten. Dieser Eingang grenzte an eine Art Baumschule, dahinter waren nur noch die langen Beete der Gärt- nerei und die Konturen der Gewächshäuser. Hier war es fast stock- dunkel an jenem Abend, und niemand war zu sehen. Ich bemerkte Lichtschein in zweien der Fenster; der Lichtschein war schwach, weil er nur durch zwei gegenüberliegende ausgesägte herzförmige Öffnungen kam, die sich in den soliden Holzfensterläden befan- den. Solche Holzfensterläden von außen zu schließen war hier nichts Ungewöhnliches, denn es wehte oft eine gar kräftige Brise von der Ostsee herein, und die Läden schützten gegen Wind und Wetter.

34 35 Ich glaubte, mein Freund sei zu Hause. Ich hielt ein wenig inne muß ungefähr vierzehn Jahre alt gewesen sein – halb noch ein und wollte gerade schon laut Hallo schreiend anklopfen und mich Kind, aber halb schon dabei, mich in einen Jüngling zu verpuppen. anmelden, bevor ich ins Haus ging, als mir der Gedanke kam: Sieh Ich dachte sofort an meine Freunde. Gespräche fielen mir ein, doch erst mal nach, ob überhaupt jemand im Zimmer ist! Als Junge zweideutige Bemerkungen, die sie gemacht hatten… hat man ja solche Anwandlungen. Ich dachte auch, ich könnte ihn Eine Frau dort im Zimmer! Etwas zog mich in dieses Zimmer so besser überraschen. Ich wollte einen uns bekannten Indianer- hinein. Wie mit kleinen glühenden Nadeln festgepiekt, von einer kriegsruf erschallen lassen, von dem wir beide kürzlich in einem mir noch unbekannten Leidenschaft getrieben, stand ich und be- ganz blutrünstigen Wildwestschmöker gelesen hatten. Das Haus obachtete die Frau. wurde mir bereits zur Blockhütte in der gerodeten Schonung nahe Sie trat jetzt mehr in den Lichtkreis der Lampe. Ich sah, wie sie der Prärie… einen halbgroßen Spiegel, der wahrscheinlich sonst über dem Es fügte sich, daß vor dem einen Fenster ganz zufällig eine große Waschtisch hing, gegen einen Kasten stützte. Dann nahm sie den Weinkiste stand. Ich schlich mich sehr leise an, sah schon meinen Lampenschirm ab, um besser sehen zu können. Ich bemerkte auf Freund über das französische Extemporale gebeugt sitzen oder bei dem Tisch einen jener damals gebräuchlichen kleinen Spiritus- der verhaßten Mathematikaufgabe. Ich stieg also, den Atem anhal- apparate, über denen man die Brennscheren heiß machte. Daneben tend, behutsam auf die Kiste. Es gab einen kleinen Quietschton. Ich lagen schon Kämme und eine Bürste, auch einige Haarnadeln. Fla- wartete und legte dann meine Augen an die Öffnung in der Holz- schen standen auf diesem Tisch – Haarwasser wohl, und Eau de lade. Innen hingen Gardinen vor den Fenstern, aber die waren ja in oder Parfüm – und eine Tube mit Handcreme. Eine Kaf- der Mitte geteilt, außerdem konnte man durch die großen Gardi- feetasse stand auf einer Zeitung, ein geschnitzter Kasten in Kerb- nenmuster bequem hindurchsehen. Eine große Petroleumlampe schnitzerei aufgeklappt daneben; innen war er blau ausgelegt, auf brannte und beleuchtete mit ihrem gelben, freundlichen Schein die kleinen Kissen darin lag Nähzeug und in den Kissen steckten Na- rote Plüschdecke auf dem Tisch und ringsum Teile des Zimmers. deln, einige davon eingefädelt. Seidengarnrollen, ein Fingerhut aus Ich merkte plötzlich, daß es nicht das Zimmer meines Freundes Metall, ein paar weiße, lose Korsettstäbe und etwas Gummiband, war. Natürlich – es war das nebenan. Ich hatte in der Dunkelheit rosafarben, vervollständigten dieses Stilleben. nicht recht gesehen. Dies mußte das Zimmer seiner Eltern sein, und Auf dem Bett ahnte ich, ohne es ganz sehen zu können, ein zwar das Schlafzimmer, denn die Lampe beleuchtete einen Teil der schwarzes, schillerndes Kleid. Hinten an der Wand stand der links von mir schräg gegenüber stehenden Betten. Waschtisch, darauf die Waschschüssel, daneben die Wasserkanne Eine merkwürdige Spannung erfaßte mich. Ich hatte das Gefühl, und ein Küchentopf mit heißem Wasser, denn ich sah den Dampf auf verbotenen Wegen zu wandeln. Vergessen waren die Indianer- aufsteigen. Richtig, der Spiegel war abgenommen – ich sah den bücher. Etwas Triebhaftes in mir ergriff mich wie eine Schwäche – Haken über dem Waschtisch und die hellere Tapetenstelle, wo er aber angenehm auch –, als ich plötzlich bemerkte, daß eine Frau im gehangen. Darunter hing eine Decke, auf der in bunter Stickerei, Zimmer war… Und zwar erkannte ich sogleich die Tante meines die Anfangsbuchstaben mit Ornamenten und Blumen verziert, Freundes, die aus der Großstadt gekommen war und im Geschäft stand: »Froh Erwache Jeden Morgen!« Die weiße Decke war an seines Vaters half. Eine unbegreifliche Lust der Neugier packte den Rändern halbmondförmig ausgezackt, die Zacken mit roter mich mit teuflischen Klauen. Alle guten Vorsätze waren dahin. Ich Seide bestickt. Neben dem Mahagoniwaschtisch hingen Hand-

36 37 tücher auf einem Holzgestell, gleich daneben der tütenförmige durchzog, hier und da ein Schleifchen bindend. Sie griff nach der Schwammhalter aus weißem Zelluloid, oben mit einem roten Kaffeetasse, trank einen Schluck und beugte sich wieder über ihre Schleifchen. Ein Waschlappen hing wohl zum Trocknen über die Arbeit. Fertig damit, warf sie die weiße Hose auf das Bett zum Kante der Marmorplatte, mit der der Waschtisch bedeckt war. Un- schwarzen Kleid, stand auf, rückte den Stuhl mehr ins Dunkle terhalb, mehr im Dunklen, stand ein großer Eimer für das schmut- seitwärts und – es wallte heiß in mir auf – begann an ihrer Bluse zu zige Wasser – aus Porzellan, mit einem Deckel darauf und einem nesteln. Der damaligen Mode entsprechend, war es eine Bluse, die rohrumflochtenen Griff, der über zwei Porzellanknöpfe lief. Ne- bis unter den Hals ging und hinten oder seitlich mit kleinen ben dem Eimer sah ich einen geblümten Nachttopf, auch aus Por- Haken geschlossen wurde. Mein Gott, dachte ich, mein Gott – zellan und ornamental geprägt; ich mußte an einen großen, grünen und wurde ganz schwach, denn ich hatte noch niemals eine ent- Kohlkopf denken. kleidete Frau gesehen, außer auf Bildern, und das war ja doch nur Ich weiß nicht, warum sich mir all dies so haargenau einprägte. Papier… War es meine angeborene Beobachtungsgabe oder war es, weil Es war damals ganz anders als heutzutage. Die Frauen trugen meine aufgescheuchte Phantasie alles in Beziehung zu der Frau im Röcke, die bis auf den Boden gingen und oft sogar nachschleppten. Zimmer brachte? Es steht heute noch so lebendig vor mir wie da- In der Mitte waren sie eingeschnürt wie ein Diabolo; die Wespen- mals an jenem denkwürdigen Abend. Ich vergaß Gott und die taille war immer noch modern. Alles war verhüllt. Nacktes zeigte Welt. Mit meinen Augen sog ich unbeherrscht das Zimmer und man überhaupt nicht. Man durfte als wohlerzogene Frau nicht ein- alles in mich hinein… mal die Beine übereinanderschlagen, man durfte höchstens die Eine seltsam unheimliche Lust überkam mich. Meines Freundes Stiefel zeigen, aber nie den Ansatz des Beines. So war es jedenfalls Tante ging hin und her, trat in den Lichtkreis der Lampe, zog einen in den strengen und achtbaren bürgerlichen Familien. Vielleicht Stuhl heran, setzte sich und machte sich vor dem Spiegel, den sie aber lag gerade darin jener unbeschreibliche Reiz, das ganz zu näher heranrückte, an ihrem Gesicht zu schaffen. Sie drückte an sehen, was unter der Verhüllung lag: die eigentliche Haut –? einer kleinen Pustel herum, nahm dann ein Tüchlein und wischte, Ich weiß es nicht. Von heute aus klingt es einfach unvorstellbar, lehnte sich zurück, gähnte plötzlich und reckte die Arme. Begann daß Nacktheit damals unsere erwachende Phantasie so beschäf- dann wieder vorgebeugt am Ohrläppchen zu nesteln und wandte tigte. Komischerweise dachte ich, als ich mit heißen Backen am den Kopf ein wenig seitlich mir zu, während sie die Ohrringe Holzladen stand, an Hilda Giese und Alice Zöller – kleine Schul- abnahm und auf den Tisch legte. Sie nahm eine Haarnadel und mädchen in unserem Alter, denen wir gänzlich harmlos nachstie- kratzte sich damit auf dem Kopf. Von einem Impuls durchzuckt, gen –, und irgendwie mußte ich sie mit der Frau im Zimmer verglei- stand sie wieder auf und verschwand seitlich, wo halb aus dem chen. Nein, das waren ja noch gänzlich unentwickelte Backfische in Schein der Lampe ausgeschnitten eine Kommode stand. Ich hörte, Tennisblusen; sie hatten noch nicht die Diabolofigur der erwachse- wie eine Schublade etwas quietschend aufging, und gleich darauf nen Frauen, sondern sahen eigentlich bis auf die Röcke und Zöpfe kam die Frau mit einem weißen Wäschestück in der Hand zurück recht ähnlich aus wie wir. Das war gar nicht aufregend. Das war an den Tisch. Ich sah, daß es eine Frauenhose war. Sie zog den Ka- mehr albern, ein halb kindliches Gedalber, weiter nichts. Auch an sten näher und suchte darin herum. Hatte bald eine blaue Rolle den dicken Willi mußte ich denken, den Kegelaufsetzjungen, der feines Seidenband in den Händen, das sie durch kleine Löcher hin- mein etwas schmutziger Mentor in den menschlichen Dingen ge-

38 39 wesen, und an meinen Freund Gützkow, der mir einmal mit phan- nach unten zulaufend in hohe, vorne ausgeschweifte, merkwürdig tastisch-obszönen Ausschmückungen von einer nackten Frau er- klein erscheinende Knopfstiefelchen. zählte, die er in den Stolpmünder Dünen mit einem Opernglas All das hatte ich noch nie wirklich gesehen, mir nur immer wie- beobachtet hatte. der in meiner Phantasie ausgemalt. Sie bückte sich, hob die am Die Frau hatte mittlerweile ihre Bluse aufgemacht, und ich sah Boden liegenden Röcke auf – ihre vollen Frauenhüften traten einen entzückt in einen herzförmigen Schlitz. Die großen, vollen Brüste Augenblick hervor, der weiße Batist wie eine stramme Haut dar- waren durch die damalige Korsettmode hoch heraufgepreßt. Sie über – und warf nachlässig die Röcke über eine Stuhllehne. lagen wie zwei mollige Pfirsiche in einem Korbe, und der Korb Um mich war kein Laut. Wenn jetzt jemand gekommen wäre, war wie bei einem Südfruchthändler mit Spitzen verziert, denn das hätte er mich ohne weiteres erwischt, denn ich war völlig in erregte Hemd trug sie unter dem Korsett; so war es Sitte. Sie legte nun den Betrachtung versunken. Sie ging zum Waschbecken und wieder Rock ab. Er fiel wie ein Schale aus dem Bereich der Lampe in den zurück. Jetzt nahm sie die Arme nach rückwärts und hakte etwas kreisförmigen Schatten auf dem Teppich. Ein schillernder Unter- auf, hob die Beine und stieg aus der Batisthose. Das Hemd, ein rock folgte. Auch er sank zu Boden. Wie Häute, dachte ich, ver- wenig zerdrückt, rauschte herab wie ein weißer Wasserfall. Es war zaubert vom Anblick des Entpuppens. ziemlich lang. Sie hob die Hose auf und legte sie zu den Röcken Die Tante meines Freundes muß damals ungefähr 38 Jahre alt über die Stuhllehne. Nun stand sie im Hemd, Korsett und Unter- gewesen sein. Sie war eine sogenannte stattliche Frau, der von den taille da. Sie zog die Untertaille aus, und ein ziemlich stark ge- Männern damals bevorzugte Typ. Es wurde auch zuerst ein wenig schnürtes Korsett kam zum Vorschein; man sah förmlich das geredet, als der Vater meines Freundes sie ins Haus nahm: sie kam Fleisch an den Seiten hervorquellen trotz des reichlich weiten aus der Großstadt und wußte sich moderner und städtischer zu Hemdes. Nun legte sie die Arme über die Brust und begann mit kleiden, und in einer hinterpommerschen Kleinstadt war das schon sichtlicher Mühe – ich hörte sie fast atmen – die Haken an den verdächtig. Man wußte nichts Genaues; sie sollte eine Liebesaffäre weißbezogenen Fischbeinstäben aufzumachen. Das Korsett brach gehabt haben oder so, erzählte man, aber alles blieb Klatsch, nie- oben auseinander. Es öffnete sich und ließ die großen Brüste ein mals wurde wirklich Tatsächliches berichtet. Und sie benahm sich wenig herabfallend vorquellen, aber noch eingerahmt vom bänd- allen gegenüber immer tadellos, auch zu uns Jungens. chen- und spitzenverzierten Hemdausschnitt, der dreieckig nach Sie war eine volle Erscheinung, etwas über Mittelgröße, mit unten auslief. dunklem Haar, nicht direkt schwarz, aber ins Dunkle gehend. Das Das Korsett legte sie zu den anderen Kleidungsstücken. Nun Haar lag in einer Kronprinzessinnenfrisur um ihren Kopf… Ich war sie im Hemd. Sie zögerte ein wenig, strich mit den Händen stand wie festgefroren. Alles um mich verschwamm. Meine Augen über den Kopf, wie um die Frisur zu ordnen, auch über das Hemd waren im Zimmer. Sie stand nun halb entkleidet im Licht. Die lan- herunter, wie um es zu glätten – rein unbewußte Bewegungen gen weißen Batisthosen gingen, mit blauen Bändchen durchzogen, wohl. Dann setzte sie sich auf die Bettkante, schob das dort lie- bis unter das Knie. Ich sah, obwohl die Hosen weit geschnitten gende Kleid ein wenig zur Seite, griff nochmals zum Haar und zog waren, wie sie sich oben über den kräftigen Schenkeln spannten. daraus eine große Haarnadel hervor. Damit heruntergebeugt, das Um die Taille herum waren sie mit einem Bund zugeschnürt. Ich eine Bein über das andere schlagend, begann sie die Knopfstiefel sah stramme Waden, die in schwarzen Strümpfen steckten, spitz aufzuknöpfen. Ich sah in den halb von ihrer Frisur verdeckten

40 41 Hemdausschnitt, sah die vollen Brüste wie reife Früchte nach aus ihrem Haar und behielt ein paar davon im Munde, andere wur- unten hängen. Die Stiefel hatte sie nun ausgezogen und die den auf den Tisch gelegt. Auch legte sie eine Art Haarrolle dane- Strümpfe herabgerollt. Ich sah jetzt erst, daß sie Strumpfbänder ben, die man trug, um die Frisur runder und höher erscheinen zu trug. Dabei entblößte sie, das Hemd ein wenig verschiebend, das lassen. Die Haare fielen nun in Schlangen herab und bedeckten die weißlich-rosige Fleisch ihrer dicken Schenkel, wo man noch die Hälfte ihres Oberkörpers und Rückens. Eine größere Haarnadel, Spuren der Strumpfbänder erkennen konnte. Denn das Licht fiel die herabgefallen war, hob sie auf, sich dabei bückend und mir den voll auf sie, da auf der Bettkante. Sie hielt einen Augenblick inne, Rücken zukehrend. Sie fand sie nicht sofort, und ich sah wieder, gähnte nochmals, strich an sich herunter, aufgereckt – ich sah ent- wie das Dunkle, braun-rosig Herzförmige zwischen ihren Schen- zückt, wie die Brüste unter dem weißen Batisthemd hochstanden keln hervordrängte… wie kleine Berge. Auf einmal erhob sie sich, nestelte wiederum an Mir war fast fiebrig zu Mute. Ich fröstelte vor Erregung. Konnte den Achseln und wand sich, mit beiden Händen ziehend und mich nicht losreißen. Es war wie eine Verzauberung. Wie kam es hebend, aus dem Hemde heraus. nur, daß diese achtbare bürgerliche Dame plötzlich so ganz anders Ich sah atemlos hin. Sah, wie sich der üppige, mollige, ganz ent- wirkte? Hatte sie sich verwandelt? Ich erkannte die Tante meines wickelte Frauenkörper langsam aus der weißen Haut herausschälte. Freundes kaum wieder, wie sie dort unbefangen im Evakostüm Es war, als hätten auch die Gegenstände im Zimmer an diesem hantierte. Etwas war mit den Kleidern abgefallen. Dies war die Schauspiel teil. Reckte nicht jener Stuhl seine Lehne, um besser zu eigentliche Frucht, das reine Geschlechtswesen mit allen ausge- sehen? Schien die Lampe nicht plötzlich zu flackern? Atemlos und sprochenen Merkmalen. Alles war voll von Kurven und rosigen, erregt saugte ich alles in mich hinein. Ich war bedrängt, aber auch weißen, bräunlichen Fleischtönen, von leicht bläulichen Adern, entzückt. Also so sieht eine Frau aus – diese Zweiteilung! die hie und da durch die Haut schimmerten. Ich mußte auch an ein Sie wandte sich weg von mir und zeigte mir einen prachtvollen Pferd denken, an eine weißlich-gelbe, falbe Stute. Waren die Hin- Rücken. Mit Entzücken sah ich die rosigen breiten Kugeln ihres terbacken nicht genau so? Es war mein erstes Erlebnis mit einer Popos, über dem lustige kleine Grübchen saßen. Ich sah die Speck- nackten Frau und ging mir durch und durch. Es war ungeheuer- falten, wie sie oft bei üppigen Frauen vorhanden sind, und sah mit lich. Ich fühlte, wie der Mann in mir erwachte. Ich wäre gern bei glücklichem Erstaunen das Dunkle, das wie ein behaartes großes ihr da drinnen gewesen, sinnlos, ganz verrückt, hätte sie streicheln Herz vorne unter ihrem leicht geschwellten Bauch war. mögen und küssen – alle die fleischlichen Kurven, die Falten und Sie bewegte sich nun vollkommen unbefangen, denn wie konnte das große, behaarte, dunkle Herz, das ein wenig in der Mitte ge- sie ahnen, daß jemand, und gar noch ich, sie beobachtete. Sie reckte spalten war. Meine Knie wurden schwach. Ich konnte von dem sich, strich an Leib und Schenkeln herab, stellte sich aufgerichtet, Bilde nicht loskommen. dann ein wenig herabgebeugt vor den Spiegel, nahm die Arme nach Plötzlich hörte ich Geräusch und Stimmen. Diesmal drang der oben und begann ihr Haar zu lösen. Unter den Armen war das- Laut zu mir; halb betäubt, zitternd, aber doch leise stieg ich von selbe dunkle Haar. Wie kleine Oasen waren diese Haarbüschel in meiner Kiste. Aber ich war irgendwie erstarrt. Ich hakte mich an einer großen, glatten, fleischlichen Dünenlandschaft – als ob man einem Nagel fest, fiel hin und machte Lärm. Angstschweiß (oder sich, durstig, hierhin zurückziehen könne nach dem Durchwan- war es noch die gehabte Erregung über mein Erlebnis?) brach mir dern der heißen, großen und kleinen Dünen. Sie nahm Haarnadeln aus, und ich stand auf, so schnell ich konnte. Lief, so schnell ich

42 43 konnte, zur Gartentür und davon, was das Zeug hielt. Gott sei Dank war hier kein gepflasterter Weg, so daß der weiche, dunkle Erdboden das Geräusch meiner Schritte verschlang. Erschöpft, ja verstört kam ich zu Hause an. Das Bild der nackten, rubensartigen Frau ging mir nach, und ich habe bis heute diesen ersten Eindruck III Ich weiß schon, was ich will nicht überwunden. Ich wollte ihn auch gar nicht überwinden. In meinem Gehirn hing dieses Bild lange aufgehängt. Das heißt, es hängt noch da, ich ines tages machte ich die Bekanntschaft des Buchhändlers konnte es später aufs Lebendige übertragen. Und wenn ich heute ESchönboom. Er war ein Idealist und Besitzer der größten Buch- male, so sehe ich hin und wieder jenes Bild im lampenerleuchteten und Kunsthandlung in Stolp. Sehnsüchtig und verliebt stand ich Zimmer. Es war, als hätte mir jemand, den ich nicht kenne, ein oft vor seinen Schaufensterauslagen, betrachtete neidisch das wun- Sinnbild gezeigt, etwas Ewiges – denn so lange wir existieren, wird derschöne Malgerät, die vielerlei Studienkästen, die schon fertig es das Sinnbild der Nacktheit geben: das Weib als die unvergäng- aufgespannten Rahmen mit Leinwand. Eine ganze Malerwerkstatt liche Quelle und Fortsetzung unseres Geschlechts. war da aufgebaut, noch unbenutzt – und wie gerne hätte ich vieles davon gekauft! Aber im Verhältnis zu meinem bißchen Taschen- geld waren all diese schönen Sachen ziemlich teuer. Als ich gelegentlich dort einmal Farben kaufte und ein Buch in der Leihbibliothek umtauschte, kam ich zufällig mit dem Besitzer ins Gespräch. Ich durfte danach, sooft ich wollte, in die besondere Kunstabteilung seines Ladens kommen und mir sämtliche Kunst- blätter nach Herzenslust anschauen. Ein kleiner Schritt vorwärts in die unbekannte Zukunft! Ich kopierte eben aus der »Gartenlaube« ein mich sehr interes- sierendes Gemälde von Prof. Werner Simmler, ein etwas düsteres Genrebild mit dem Titel: »Überrascht«. Zwei Wilderer mit ge- schwärzten Gesichtern sind im tiefsten Waldesdickicht von einem Förster ertappt worden. Gerade waren sie dabei, ein unrechtmäßig erbeutetes Reh auszuweiden. Der eine, unheimlich anzusehen, hebt bereits seine Büchse; jetzt – und eben diesen dramatischen Span- nungshöhepunkt hat der Maler für seine Darstellung gewählt – kommt es darauf an, wer zuerst schießen wird… Das Bild gefiel mir großartig. Ich malte es mit Liebe ab und legte all mein Können in die Kopie. Ich war sehr damit zufrieden, und als sie fertig war, stellte mein Gönner Schönboom sie nett gerahmt in seinem Schau-

44 45 fenster aus, zu meinem und meiner Freunde großem Stolz. Wie erhobene Zeigefinger des deutschen Oberlehrers – einer Gattung, glücklich war ich aber erst, als mein Werk nach kurzer Zeit an deren einstigem Typ er auch äußerlich glich. So steht er heute noch einen Gutsbesitzer verkauft wurde und Herr Schönboom mir vor mir mit seiner goldenen Brille, mit dem rötlichblonden Spitz- 4Mark 85 dafür aushändigte! Es war ein wundervolles Gefühl, für bart, den humanen Bildungsidealen und den Reiseerinnerungen an ein so großes Vergnügen auch noch Geld zu bekommen. Griechenland. Er war Familienvater, hatte zwei außergewöhnlich Der Buchhändler blieb weiterhin mein Gönner. Er hatte etwas vorlaute und freche Sprößlinge, eine von weitem künstlerisch aus- außerhalb der Stadt ein Landhaus mit schön gepflegtem Garten, sehende Frau in Reformkleidung und war nebenbei Anhänger wo ich ihn gelegentlich aufsuchen durfte. Wir wandelten dann einer halb fleischlosen Ernährungsweise und Protektor einer Ju- zwischen den mit großem gärtnerischem Verständnis angelegten gend-Abstinenzlerloge. Blumenbeeten einher. Und während Schönboom ab und an sich zu Ich zeichnete und kopierte weiterhin allerlei. Eine Postkarten- einer Rose niederbeugte, führte er tiefernste pädagogische Gesprä- serie in der Aquarellmanier der gefeierten Blumenmalerin Katarina che mit mir. An einer verborgenen Gartenecke stellte er sich plötz- Klein fand sofort einen Abnehmer und wurde nachbestellt. Meine lich vor mich hin, sah mir mild und streng zugleich in die Augen Veranlagung zur komischen Betrachtungsweise oder gar zur satiri- und sagte eindringlich: »Ich glaube, du wandelst auf schlechten schen Glosse war bis jetzt noch nicht hervorgetreten; gelegentlich Wegen.« aber zeigte sich doch die Richtung späterer Begabung. Wilhelm Ich wurde sehr rot, stammelte dumm und verwirrt etwas Zu- Busch, dessen Sachen ich zu dieser Zeit kennenlernte, gefiel mir so sammenhangloses und entfernte mich später tiefbekümmert. Für- gut, daß ich in einer Nacht auf einen Sitz die ganze Silen- und wahr, sofort wollte ich ein neues Leben beginnen; noch am selben Nymphengeschichte abzeichnete, bis mir buchstäblich der Feder- Tage vernichtete ich eine kleine Sammlung von Bildausschnitten halter aus der Hand fiel. kitschig schöner, halbbekleideter Damen, die ich im Laufe der Zeit Aus gebundenen Jahrgängen der »Fliegenden Blätter«, die ich aus der halb kriminalistischen, halb erotischen Zeitschrift »Repor- mir aus Schönbooms Leihbibliothek holte, kopierte ich haupt- ter« gesammelt hatte. Ohne das geringste von dem Dichter Wede- sächlich Arbeiten von Adolf Hengeler. Mit großer Geduld suchte kind zu wissen, tat ich es seinem Helden Moritz Stiefel gleich und ich jeden Strich des Vorbildes herauszukriegen und genau dem versenkte voll guter Vorsätze die zerrissenen Bilder in unser neu- Originalholzschnitt oder Klischee anzugleichen. Die dazugehöri- angelegtes Wasserklosett. Ich fühlte mich durchaus als Sünder. Ich gen Gedichte schrieb ich mit extra ausgewählten Rundschrift- ging so weit mit mir ins Gericht, daß ich den Fleischgenuß als federn daneben. Sehr gut gefielen mir auch Federzeichnungen des Ursache des Übels ansah; dazu kam noch der Einfluß einer schau- alten Wilhelm von Diez. In einem »Daheim«-Heft fand ich einen erlichen Propagandabroschüre. Meine Mutter konnte gar nicht Aufsatz über ihn nebst einer ganzen Anzahl von Reproduktionen verstehen, warum ein saftiges Roastbeef mich auf einmal völlig kalt seiner Zeichnungen aus dem Dreißigjährigen Kriege; von da an ließ. tauchten häufig auf meinen »freien« Kompositionen ebensolche Schönboom war der echte deutsche Buchhändler alten Stils: Marodebrüder und schwedischen Reiter auf. Durch die Kasino- immer etwas belehrend und sich der kulturellen Vermittlung durch- umgebung angeregt – die oberen Räume des Offizierskasinos hin- aus bewußt, die ja ein wenig zum Buchhändlerberuf gehört. In sei- gen bis obenan voller Bilder –, zeichnete ich gerne Szenen aus dem nen Reden war neben verstehender, belesener Güte stets der leicht kriegerischen Husarenleben. Die sogenannte Sepiazeichnung hatte

46 47 mir’s angetan; mit einem Stück Sepiatusche und spitzem Pinsel ver- gewissen Jungensbrutalität untereinander begründet: man wurde suchte ich ähnliche Effekte zu erziehlen, wie ich sie auf den Sepia- angegriffen und wehrte sich seiner Haut, so gut es ging. Man regu- zeichnungen von Schwind oder Ludwig Richter gesehen hatte. Ein lierte Sympathien und Antipathien mit den Fäusten. Das war alles. großes Schlachtenbild von Emil Hünten, eine berühmte Attacke Ein Erlebnis fällt mir da ein, das ich als kleiner Junge in Berlin der Blücherhusaren im Siebzigerkriege darstellend, habe ich be- hatte. Ich war damals ein tagträumendes Kind, war eben von Stolp sonders im Gedächtnis behalten. nach Berlin gekommen und in der Artilleriestraße neu eingeschult Durch Interieurstudien von Eduard Grützner beeinflußt, ver- worden. Ich war sehr allein. Aus einer mir vertrauten Umgebung suchte ich sodann auch Kellereckenmotive mit Fässern und Wein- in Stolp kommend, stand ich während einer Pause auf dem Schul- flaschen wiederzugeben; in Ermangelung von Mönchen legte ich hof. Alles war mir so fremd und die Berliner Umgebung so neu, ein altes Buch oder Trinkgefäß dazu. Ich zeichnete, was mir vor und ich hatte auch noch keine rechte Freundschaft schließen kön- den Bleistift kam: nacheinander alles mögliche aus Haus, Hof, nen. So stand ich da, halb träumend, und war gerade dabei, in mein Küche und Keller – Flaschenkörbe, ein paar Schuhe, eine ange- ausgewickeltes Butterbrot hineinzubeißen, als ich plötzlich von lehnte Leiter am Obstbaum, unseren Hund Witboi im Korbe lie- einem vorbeirennenden Jungen einen kräftigen Stoß in den Rücken gend und eine ganze Ansicht des Offizierskasinos von hinten. Per erhielt und der Länge nach mit dem Gesicht auf meinem Butter- Rad fuhr ich oft über Land und nahm Bauernhäuser und Land- brot in den Schmutz fiel… Ich war wie gelähmt. Ich war vernich- schaften auf. Gänzlich unproblematisch, frisch und unbekümmert tet, und obwohl ich den Jungen davonrennen sah, war ich nicht zeichnete ich drauflos. Eiferte ich heute dem Grützner nach, so imstande, ihm zu folgen oder gar eine Prügelei zu wagen. Warum, folgte ich morgen den Spuren eines historischen Schlachtenmalers. weiß ich selbst nicht; es muß etwas anderes gewesen sein als nur ein Als ich einmal über den berühmten Adolph von Menzel las, be- gewöhnlicher Stoß in den Rücken. In mir, so besinne ich mich, war schloß ich sogleich, ihm nachzustreben und überall, wo es auch sei, es eiskalt vor Haß und Wut, aber irgendwie schluckte ich es, ohne im Stehen, Liegen, Sitzen und Schlafen, zu zeichnen. Menzels zu murren – merkwürdig. Später lernte ich ja meine Lektion, und Wahlspruch – daß Fleiß, reine, dauernde Arbeit, mehr bedeute als viel später gehörte ich sogar selbst zu jenen, die Stöße in den Rücken Talent – machte mir einen großen Eindruck. butterbrotessender und träumender Jungens verabfolgten. Aber Ab und zu, wenn auch noch schüchtern, meldete sich schon ein komisch, ich habe dieses Erlebnis bis heute nicht vergessen. Oft späterer Grosz an. Ein klein wenig wurde manchmal der Pferdefuß noch empfand ich die ungeheure Bösartigkeit, Einsamkeit und sichtbar. Ich neigte zwar damals eher zum Träumerischen als zum Verlorenheit, die ich auf dem Schulhof in der Artilleriestraße ver- Spöttischen, war aber realer Beobachter genug, um das oft zitierte spürte. Ich fand diesen Menschentyp dann in fast allen Lebens- Grundgesetz der Tier- und Menschenwelt, das Gesetz von Hieb lagen wieder; es war, als hätte ich damals ein tieferes Gesetz der und Biß, das später ein wichtiges Leitmotiv meiner Lebens- und Brutalität entdeckt, aber gleichzeitig damit das immer und ewig Gesellschaftsbetrachtung wurde, sehr bald wahrzunehmen. Ich vorhandene Lachen der Schadenfreude. will nun nicht etwa sagen, ich hätte damals, als 14- oder 15jähriger, Ach, wenn ich an jene Jahre meiner Entwicklung zurückdenke, schon eine ausgewachsene Lebens- oder Menschenkenntnis beses- wie unklar erscheint mir alles! Wer leitete dich denn, wer und wo sen. Davon kann nicht die Rede sein. Was ich mit dem Gesetz von war der Puppenspieler, der die Puppe hopsen und tanzen ließ wie Hieb und Biß andeuten wollte, lag bloß in der Erkenntnis einer all die anderen Puppen? Wohl gingen wir, ja mußten wir pflicht-

48 49 gemäß in die Kirche gehen – wurden wir doch auf die Einsegnung und eine Begabtheit in Handwerksdingen, ein Sinn für das Orna- vorbereitet, eine so wichtige, protestantisch-religiöse Handlung! –, mentale – dafür, ein Bild gleichsam ineinanderzuflechten wie einen aber trotzdem war uns Gott nicht allzu nahe, zumal ja auch Korb. Vielleicht sind äußerlich alle meine Bilder Körbe. (Daß diese protestantische Zeremonien und Kirchen bei weitem nicht jenen Körbe natürlich auch etwas in sich haben, ist eine andere Sache.) mystischen Pomp und Zauber ausüben wie zum Beispiel die ka- Ich denke heute, daß das Zeichnen viel mit dem ursprünglichen, tholischen Riten. Es war alles in allem ein fast animalisches, amor- dem Menschen angeborenen Sinn für Flechten und Weben gemein phes Leben. Wie bei Insekten, denke ich heute. Es muß da aber haben muß… doch auch etwas von einem Stücklein Weltverbesserer in mir gewe- Eine Lust an der Welt hatte ich aber auch ererbt, an reichlichem sen sein – ich meine neben dem mehr »träumenden« Künstleri- Essen und Trinken. Dies war natürlich einfach ein deutscher Zug. schen. Von wem das herkam, weiß ich kaum zu sagen. Ein Pastor Was das Trinken betrifft, so erinnere ich mich an einen Onkel, der war ja in der Familie, sein altes Bild, mit schwarzem Rock und auch Korbmacher war und von dem man sehr zurückhaltend er- weißen Bäffchen, hing in unserer guten Stube, aber niemand, nicht zählte, daß neben seinem Korbe schon am frühen Morgen eine einmal meine Mutter, wußte viel über diesen Verwandten. Man mächtige Flasche mit Kornschnaps gestanden sei. Er wurde aber wußte, daß er von meiner Vaterseite kam, aber sonst eigentlich sehr alt, und als ich ihn mit vierundsiebzig beim Begräbnis meiner nichts, und das Bild verblaßte immer mehr. Tante wiedersah, war er ein feiner alter Mann, nicht im geringsten Was ich mit dem Wort Weltverbesserer andeuten will, ist eine zittrig oder wunderlich. Und obzwar er von seinem fünfundsech- Neigung, teilzunehmen, eine bedenkliche Neigung, die Dinge bes- zigsten Jahre an das Trinken fast ganz aufgegeben haben soll, rau- ser zu wissen – und oft wußte ich sie, typisch weltverbessernd, ja chen tat er noch kräftig. wirklich besser. Gerne gab ich mich auch reformierenden Ideen hin, die damals allerdings in der Zeit lagen. Es war die Zeit, in der Ich besuchte die Oberrealschule in Stolp. Meine Mitschüler waren das viktorianisch Verhüllte überall anfing, durch aufklärende Leh- meist Jungen vom Lande, Gutsbesitzersöhne und Söhne kleiner ren durchbrochen zu werden. Es war die Zeit Ibsens, die Zeit des Beamter und ehrgeiziger Mittelstandsfamilien. Denn die Söhne großen Erfolges aller Aufklärer der bürgerlichen Welt, die Zeit des sollten einmal etwas »Besseres« werden, und dafür war eine höhere Hereinlassens von frischer Luft. Theorien wie die des dänischen Schule notwendig, deren Abgangszeugnis zum »Einjährigen Lehrers I. P. Müller mit seinen Kaltwasserabreibungen morgens Dienst« berechtigte. Hatte man nämlich nur eine Pantinen- oder am offenen Fenster und seiner Gegnerschaft gegen die einzwän- Klippschule besucht, so mußte man seine zwei bis drei Jahre die- genden hohen Kragen und Korsette – komisch, alle solchen Theo- nen, und das war nicht verlockend. rien fanden in mir ein bereitwilliges Echo. Denn noch waren die In jenen milden, ruhigen Vorkriegszeiten wußte man in unserer langen Röcke da, und wenn es Frauen mit abgeschnittenen Haaren Oberrealschule nichts von modernen Erziehungsprinzipien oder überhaupt schon gab, so galten sie als halbverrückte Neuerinnen. -methoden. Eine Klasse etwa, die sich selbst regiert, war einfach Ein großes Aushaltevermögen, Geduld und Fleiß, das hatte ich undenkbar, wäre auch kaum möglich gewesen. Was uns erzog, war gewiß von Mutterseite her. Mein Großvater war in Finsterwalde im Grunde der schwarz-weiß-rote Rohrstock. Unsere Lehrer, Korbmacher gewesen; davon kamen eine gewisse Fähigkeit, bei durchweg protestantische Reserveoffiziere, sahen ihr Ideal in einer der Sache zu bleiben, sich zu konzentrieren, wenn es nötig war, möglichst soldatischen Erziehung. Sie sagten fast immer: »Du

50 51 willst doch mal ein guter Soldat werden, also nimm Dich zusam- rend einige von denen, die immer lachen müssen, lachten, schlich men« – und das half dann auch meistens. man erniedrigt auf seinen Platz zurück. Jedenfalls nahmen wir es als gegeben hin. Es war ein altpreußi- So waren die Erziehungsmethoden durchweg. Es gab nur we- sches, wahrhaft spartanisches Ideal: fünf bis sechs Rohrstockhiebe nige Lehrer, die eine Ausnahme machten, und diese wieder konn- auf die mit männlicher Selbstverleugnung eigenhändig strammge- ten sich nie Autorität verschaffen. Anstatt beliebt zu sein, wurden zogenen Hosen. Manchmal bekam der Rohrstock den Namen des sie als Schwächlinge angesehen und unverdientermaßen gepiesackt zuletzt Verprügelten. Das war schlimm, aber zugleich ehrenvoll, und gequält. Manche warfen uns, wenn wir sie wieder einmal bis wenn befohlen wurde: »Krause, hole mal den Grosz aus dem zur Weißglut geärgert hatten, ihr umfangreiches Schlüsselbund an Pult!« Der Rohrstock wurde nämlich wie Schwamm und Kreide die Köpfe und jagten uns mit hysterischen Schimpfworten: »Ver- für die Tafel im Pult aufbewahrt, und es wurde immer für eine brecher!… nochmal am Galgen enden… Revolver für die Bestie!« Woche ein besonderer Rohrstockwart dafür bestimmt – eine Art um die Bänke. Es war ein erbitterter Kampf, der auf beiden Seiten Ehre, wie sie in den alten preußischen Regimentern dem Profosen Opfer forderte. Manchmal hatte ich das halb tragische, halb komi- zuteil wurde, der dafür sorgen mußte, daß die Weidenruten für das sche Gefühl, daß wir ihn besser ertrugen als unsere Lehrer, aber Spießrutenlaufen auch ordentlich biegsam waren. vielleicht waren wir gegenseitig abgebrüht, und jedenfalls war es Vielleicht war uns dickfelligen Pommernjungen wirklich nicht nun einmal so und nicht zu ändern. Da half nichts, nur mit List, anders beizukommen. Fast jeder Lehrer prügelte, jeder hatte sein Tücke und sinnreichen Einfällen war den bezwickerten Tyrannen eigenes System der Züchtigung. Einer namens Knapp hatte eine beizukommen. besonders entwürdigende Art zu strafen. Er sah schon äußerlich Als wären Geisterhände am Werk, rollten plötzlich Murmeln recht unerfreulich aus. Sein Gesicht war von jenem Furcht und gegen das Katheder, das wie eine hölzerne Zwingburg sich vor uns Schrecken einflößenden Schnitt, den man in Norddeutschland erhob. Ein unterirdischer Wille war ständig darauf gerichtet, die häufig bei Beamten der Wach- und Schließgesellschaften und in heilige Rohrstockautorität zu untergraben. Kleine Betrügereien den Reihen der Gefängniswärter antrifft. Unterstützt wurde das wurden mit großer Schauspielkunst in Szene gesetzt: Man bot Furchtgebietende seiner düster-kalten Züge durch eine Vorliebe kriecherisch, mit falscher Unschuld seine Dienste beim Präparat- für rauhhaarige Anzugstoffe, die ihn wie ein Fell umgaben und das holen an, oder man bat, scheinbar bedrängt und hilflos, mit fle- Tierische betonten. Er pflegte sich folgendermaßen in Respekt zu henden Augen um Erlaubnis, austreten zu dürfen, um dann im setzen: Während er auf dem Katheder saß, mußte man sich in Schnellzugstempo um die Ecke zu verschwinden und in der nahen strammer Haltung vor ihm aufbauen, die Hände an die Hosennaht Bäckerei hastig ein Stück noch warmen Apfelkuchens zu verschlin- gepreßt und das Gesicht aufrecht geradeaus. Nachdem er einen gen. Solche an sich harmlosen Durchbrechungen der strengen längere Zeit strafend gemustert, drehte er langsam, die bevorste- Schulordnung hatten die Gefährlichkeit des großen Abenteuers: hende Prozedur fachmännisch ausdehnend und auskostend, seinen Wer während der Schulstunde bei verbotenen Exkursionen ertappt großen Siegelring nach innen, wartete abermals und hieb den wurde, bekam unweigerlich Prügel oder mußte nachsitzen, was Delinquenten plötzlich mit gezügelter Wucht vor die Stirne, wobei noch unbeliebter war, denn es versaute einem unter Umständen er mit tiefer Verachtung ein »Du Ochse!« hervorstieß. Das Siegel- einen schönen, freien Juninachmittag. ringwappen hinterließ oft ein schmerzendes Andenken, und wäh- Viele meiner Lehrer waren Sonderlinge, komische Drillmeister-

52 53 typen mit faßförmigen Bäuchen, merkwürdig schlappenden Hänge- war in Scherben. Ein Stück meines Traumes war verflogen beim hosen, unmöglich sitzenden Kragen, eigenartigen Zwickern. Sie Zusammenstoß mit den realen Gesetzen und Mächten dieser Welt. entsprachen ganz dem karikaturistischen Bilde, das der Vorkriegs- Zu dumm… ja, so war es. Simplizissimus von ihnen entwarf. Wieviel menschlich Schiefes Sorgenvoll sah ich in die düster bewölkte Zukunft. Mir war alles und Unzulängliches war hier zu finden! Nicht umsonst bedrücken unklar und formlos, wie auf einem impressionistischen Bilde. uns, die wir damals in Deutschland zur Schule gingen, noch Auch hatte ich eine verdächtige Lust, mich Tagträumereien hin- manchmal schaurige Träume. Unsere Lehrer waren Diktatoren, zugeben, gewissermaßen schwerwiegenden Gedanken auszuwei- wir Schüler hatten das Maul zu halten. (Daß wir, erst einmal groß, chen. Ach, irgendwie wird es schon gehen, sagte da jemand in mir. es ebenso machen würden, war ja klar.) Denke ich an meine Schul- Ob dieser Jemand ein starker oder schwacher Jemand war, das zeit, so steigt mir neben allerlei Lustig-Nichtsnutzigem unweiger- wußte ich nicht und weiß es heute ebensowenig. Natürlich duldete lich jener eigenartig säuerliche, streng muffige Paukergeruch in die meine protestantische Ader solcherlei Schabernack keineswegs. Nase. Arbeiten, brav sein, dich würdig erweisen, zeigen, was du kannst, Es kam, wie es kommen mußte: ich mußte schließlich, wie man und so weiter – das war die andere Seite. War es nun der Restaura- damals in der Militärsprache sagte, »meinen stillen Abschied neh- teur in mir, der nachmittags heimlich, aber zufrieden sein Schnäps- men«. Ich flog nämlich einfach in hohem Bogen raus. Der Schluß- chen kippte, oder war es die Seite meiner Mutter, die unverdrossen strich meiner Schulzeit war eine in Obertertia dem sonst nicht schaffte und die Familie erhielt – jedenfalls sah ich mich als besse- üblen Lehramtskandidaten Pingkwardt zurückgegebene kräftige ren Lithographen (ich roch förmlich die Tusche) und gleichzeitig Ohrfeige, eine Zorneshandlung meinerseits, die mir bei den mehr als Kommißinfanteristen meine zwei Jahre herunterrasseln… Aufsässigen und Ungehorsamen keine geringe Achtung eintrug. Nachdem die ersten Tränen getrocknet waren, kehrte ich also Trotz erniedrigendem Bittgang meiner Mutter zum Direktor Mör- aus meiner freiwilligen Waschküchenverbannung zurück, radelte ner blieb dieser hart: Sein lakonischer Bescheid auf ihr Flehen, man wieder fröhlich, als wäre nichts geschehen, in der Stadt herum und möge es doch noch einmal mit mir versuchen und mich in der traute mich, wenn auch noch schüchtern, wieder mit meinem Schule behalten, lautete: »Ihr Sohn verdirbt die ganze Klasse, sol- Lieblingswunsch hervor, Maler zu werden. Meine Mutter wollte che Elemente muß man rücksichtslos entfernen. Eine Zurück- sich damit gar nicht befreunden. Als praktische Frau hätte sie mich nahme des Lehrerkollegiumsbeschlusses kommt hier gar nicht in lieber in einem der benachbarten Schulstädtchen neu eingeschult, Frage, Frau Grosz; vielleicht versuchen Sie Ihren Sohn wo anders denn sie hielt eine höhere Beamtenlaufbahn, zum Beispiel bei der einzuschulen – auf Wiedersehen.« Reichspost, für erheblich besser. Damit hatte sie ja auch recht. Ein Mir war bei aller Frechheit gar nicht sehr fröhlich zu Mute. Wie Beamter hat eben einen sicheren Beruf mit Pensionsberechtigung, ein krankes Stück Wild hielt ich mich in der Waschküche verbor- wogegen das Künstlertum einer der unsichersten Berufe über- gen, weinte über den Gram, den ich meiner Mutter durch meinen haupt ist, bei dem von Pension wohl schon gar nicht die Rede sein Rausschmiß zugefügt hatte, und grübelte dann düster über meine kann. Das ist nun einmal so von der Weltordnung bestimmt und gänzlich ungewisse Zukunft nach. Was sollte nun werden? Mich in keinerlei Fortschrittsausschüsse werden daran etwas ändern kön- einer anderen Kreisstadt neu einzuschulen, hätte neues Geld ge- nen. Nur erschien mir ein Beamtenberuf wenig verführerisch – kostet, und da hätte ich ja auch in Pension wohnen müssen. Alles denn im geheimen stand ich ja auf der bewußten Trittleiter vor

54 55 einer Riesenleinwand und malte ein gewaltiges historisches Ge- gegangen.) Diese deftige Solidität gab aber dem Stilleben auf dem mälde. Mit solchen Raupen im Kopf wird man selten Beamter. Büfett und an den Tischen etwas Schönes, fast Altholländisches; es Es war erstaunlich, wie beharrlich sich diese Raupen in meinem war und stand alles in einer schönen Harmonie zu dem weißge- Kopfe festgesetzt hatten. Ich hatte ja inzwischen eine schöne, kalkten Gastraum mit den Bierplakaten oder Spruchbildern mit schulstundenlose Zeit und wollte die Freiheit, das zu tun, wozu ich lustigen Inschriften: »Sauf Dich voll und friß Dich dick, doch halt Lust und Laune hatte, ungern wieder aufgeben. Und daß meine das Maul von Politik«, oder »Trink’n Bittern gegens Zittern!« Na- Freunde der strengen Stolper Schuldisziplin unterworfen blieben, türlich war solche Harmonie nicht immer auch unter den Gästen ließ mich meine freie Pause doppelt schätzen… zu finden. Es wurde kräftig gezecht, und manchem Raufbold dien- Einer meiner besten Freunde war Heini Blume. Beide waren wir ten die Schnapsgläser, die so gut in der Hand lagen, als willkom- leidenschaftliche Hintertreppenromanleser, beide träumten wir mene Schlaginstrumente. Ich werde nie vergessen, wie einst Heinis von gefährlichen Abenteuern, die wir bestehen würden, wenn wir Vater – er war ein großer, kräftiger Mann mit Spitzbart und Klem- erst erwachsen wären. Heini wollte dann nach Hamburg, sich als mer – aus dem sogenannten Honoratiorenzimmer herausgestürzt Schiffsjunge anheuern lassen und später irgendwo in Brasilien aus- kam, blitzschnell unter die Theke griff, einen armlangen Gummi- rücken. Er liebte Brasilien, was hauptsächlich von seiner Briefmar- schlauch hervorholte und rücksichtslos auf eine sich prügelnde kensammlung herkam; die brasilianischen Marken trugen so über- Gruppe eindrosch. Ich sehe noch die mit Schnaps vermischte Blut- aus verlockende romantische Bildchen. Doch verband uns noch lache auf dem sandbestreuten Fußboden. anderes: Heinis Vater hatte nämlich eines jener für Landstädte so Neben der Theke saß, solange ich zurückdenken kann, ein aus- typischen Gasthäuser mit Ausspannung. Hier kamen am Sonn- gemergelter Mann, hager und braungebrannt, in alter, abgerissener abend alle Kleinbauern der Umgebung an, spannten hinten auf Maurerkleidung. War Heini zugegen und seine Tante einmal fort- dem Hof die Pferde aus und trafen sich nach dem Markte in der gegangen, so zupfte der Mann Heini schüchtern am Ärmel und bat vorderen Gaststube. Viele hatten in buntgeknüpften Taschen- flehentlich mit heiserer Stimme um Schnaps. Heini holte dann tüchern Brot, Speck, Kuchen und Wurst mitgebracht und bezogen schnell eine der großen Flaschen, füllte eine der größeren Trink- Bier und Schnaps von der Theke, an der Heinis Tante in grüner flaschen, bis sie überfloß – und im Nu, die Augen andächtig ge- Bluse bediente. Der Schnaps wurde meistens aus Flaschen getrun- schlossen, kippte der Mann den Spiritus auf einen langen Zug in ken, die verschiedene Maße enthielten und von Mund zu Mund sich hinein. Nachher gab ihm Heini immer noch eine Handvoll gingen. Hinter der Theke standen größere Flaschen, schön ge- sogenannter russischer Zigaretten mit Pappmundstück aus einem baucht, altertümlich geschweift mit Einbuchtungen für die greifen- stets bereitstehenden losen Karton. Schnaps und Zigaretten waren den Finger; diese kamen später ganz außer Gebrauch und wurden beide von der billigsten Sorte, aber dem, der hier Vergessen und von Innendekorateuren als Blumenvasen gesammelt. Die Schnaps- Betäubung suchte, machte das wenig aus. gläser waren sehr solide, wie auch die Kaffeetassen. Sie waren aus Dieser einsame ewige Gast wurde ein guter Freund von Heini dickem Glas, als rechne man schon von vornherein mit einer wenig und mir. Es stellte sich heraus, daß er den Hererofeldzug in behutsamen Kundschaft. (Nicht mit Unrecht übrigens, denn in den Deutsch-Südwestafrika als freiwilliger Schutztruppenreiter mitge- baumwurzelartigen Händen dieser Bauern und Maurer und Fisch- macht hatte, dort Malaria bekommen hatte, schließlich verwundet verkäufer wäre jedes feinere Glas oder Porzellan bald in Scherben worden und somit nach Beendigung seines Abenteuers als Soldat

56 57 in seine Heimatstadt Stolp zurückgekehrt war. Der war natürlich nebeneinander herunterhingen wie Stalaktiten. Brotlose Künste, fertig. Zuerst mochte er noch mit seinen Geschichten Anklang ge- das. Eines Tages schaffte man ihn weg, in eine Anstalt. Der soge- funden und seine Medaillen und exotischen Andenken herumge- nannte Tropenkoller hatte ihn gepackt; mit einer Schnapsflasche zeigt haben, aber nach kurzer Zeit kümmerte sich niemand mehr lief er berserk. Wir, Heini und ich, waren sehr betrübt, daß ein so um ihn. Die Leute lachten nur: »Kiek ma, da sitzt ja der Afrikaner guter Kamerad uns nun nicht mehr seine wunderbaren Märchen mit seinen ewigen Durstgeschichten von der Schutztruppe…« erzählte. Allmählich war er ihnen langweilig geworden. Kaum einer lud ihn Erst viel später begriff ich, was das eigentlich für ein Mensch ge- noch ein zu Schnaps oder Bier. wesen war, dieser Überlebende einer an sich siegreichen Truppe. Arbeiten – das könne er nun nicht mehr, sagte er einmal zu uns, War er für die anderen ein trauriger Rest, ein Schiefgegangener, als wir drei in der Sonne auf dem Dach der Badeanstalt an der einer von denen, die den Weg zurück nicht finden können und da- Stolpe lagen. »Wie kann ich denn bei dem Durst arbeiten?« fragte her in Schnaps und Elend verkommen, so erschien er mir und er. »Ja, siehst Du, das kriegen die alle da bei die Schutztruppe, da Heini als romantischer Held, als Besteher großer Gefahren, ganz kriegen die das, den ewigen Durst… Da wirst Du ganz verrückt wie in den Büchern oder zumindest sehr nahe daran. Wir sahen von, siehst Du, Heini, Sonne und Staub und Sonne und nachts nicht, wie so ein Gescheiterter in der Umgebung stand; für uns friert Dir’s Mark in die Knochen, und die Wasserlöcher hatte der glich er einem etwas abgegriffenen, zerrissenen und zerlesenen verdammte Witboi schon leergemacht und versaut. Durst, Junge – Buch voll spannender Geschichten, und das war ja auch ganz in Junge, Durst, das versteht Ihr noch nicht… Da wurde einer in un- Ordnung. Er war schon damals, wenn ich so sagen darf, ein Vor- serer Schwadron vollkommen Manoli – Mensch, der pinkelte in läufer der nach dem Weltkrieg so bekannt gewordenen »verlore- seinen Hut und tranks aus… Ja, so war das – Georg, gib ma die nen Generation«. Pulle, und Streichhölzer – nu wer ich Euch mal erzählen, was wir Ein anderer Freund von mir war der Sohn eines wohlhabenden damals mit den vier Hererofrauen gemacht haben…« Schlächters, Ite Denzer. Seinen Vater sehe ich auch noch vor mir: Er erzählte uns die fabelhaftesten Geschichten und Abenteuer. riesengroß, mit einem erloschenen toten Auge hinter dem Hacke- Aber jede Geschichte, die ja sowieso fast immer in der Tropen- klotz stehend, den dreieckigen Latz der langen Schlächterschürze sonne und im heißen afrikanischen Busch spielte, endete mit einer wie eine Ordenstracht vor der Brust, ein großes Fleischermesser in entsetzlichen Dürre. »Ja, seht Ihr«, pflegte er zu sagen, »da drau- der Faust, ein Kotelett zerteilend – wie eine symbolische Figur. ßen bin ich ausgedörrt worden wie eine vertrocknete Pflaume. Wie Doré hätte ihn gezeichnet haben können. Er sah eben wie ein Flei- ein Schwamm wirst Du da draußen. Und hier drinnen«, fügte er scher aus, nicht wie ein Arzt oder gar wie ein Musiker. Nein, in hinzu, »ist es eben immerzu, als ob was brenne. Tja. Da muß ich diese Hand gehörten das Hackebeil, die Holzkeule und die ver- eben immerzu draufgießen – immerzu draufgießen«, sagte er und schiedenen Fleischermesser; in diese Hand gehörte kein Violin- griff nochmals und wieder zu seiner geliebten Flasche, die Heini bogen. Das war eine solide, starke, ein wenig grausame Hand, die ihm, bevor wir zum Baden gingen, heimlich gefüllt hatte. Arbeiten zu Ites Vater gehörte – aber davon wollte ich ja eigentlich nicht konnte er nicht mehr, aber er konnte die ausgerauchten Papp- sprechen. mundstücke, die noch feucht von Spucke waren, so kunstvoll an Ite und sein Bruder wollten Chemiker werden. Sie experimen- die geweißte Decke werfen, daß sie ornamental und gehorsam tierten in ihrem Zimmer nur so herum; immer rauchte oder zischte

58 59 es irgendwo, aber es waren nicht nur rein wissenschaftliche Stu- fertigkeit – und buchstäblich im Handumdrehen war er doch dien, denen sie oblagen. Sie machten nämlich heimlich Liköre aus Drechsler, formte Hoffmann aus einem Stück Abfallholz den sogenannter Liköressenz. Damals annoncierte ein Mann namens schönsten Tomahawk. Und während Zucker gotteslästerlich und Reichel eine wunderbar einfache Erfindung: Wenn man ein paar exhibitionistisch unziemliche Reden führte, schnitzte er uns Mark einsandte, erhielt man postwendend ein Paket mit Pulvern prächtige Dolche, die dann noch mit Ziernägeln aus der Tapezie- und Kapseln nebst Gebrauchsanweisung, und ohne alle Vorkennt- rerei benagelt wurden. So hatten wir die schönsten Waffen, nisse – so versicherte er und zitierte sogar viele Dankschreiben – sei Schwerter, Kriegsbeile und Dolche, die es gab – vom Vergnügen jeder gleich imstande, mit Hinzunahme von etwas Weingeist sich des Herumkletterns zwischen den gelagerten Holzplanken ganz selbst sozusagen über Nacht alle Liköre der Welt zu brauen. Ohne abgesehen. große Apparate, ohne Filter und dergleichen, alle Liköre der Welt. Meine sogenannte satirische Begabung regte sich hin und wie- Hier seien zunächst einmal zirka zwanzig Sorten zum Ansetzen der. Einmal versuchte ich sie an einem harmlosen Friseur, der in und Ausprobieren, vom Kornschnaps über Podbipita (polnischen seiner Art ein Henri Rousseau und neben seinem Beruf leiden- Reiterlikör) bis zum Luntenturm gegen kalte Füße und Darmver- schaftlich der Ölmalerei ergeben war. Zwischen Pappdeckeln mit schlingung, ja bis hinauf zur Krone aller Liköre, zum Original-Be- aufgehefteten Schnurrbartbinden, Flaschen mit Sebalds Haartink- nediktiner oder Karthäuser Klosterlikör (siehe gelbes oder grünes tur gegen Kahlköpfe, spitzenverzierten Kartons mit rosa und hell- Päckchen). Ite braute wie ein alter Mönch, und eines Sonntagvor- blauen Seifen, Kämmen und Bürsten, Haarnadelpaketen, Zahn- mittags, nachdem wir alle in der Kirche gewesen, bat er mich, ihn pasten, Tuben mit Bartpomade und Brillantinestangen – inmitten doch zu begleiten und einmal seinen chemischen Experimenten der ganzen süßlichen Pracht einer Herren- und Damenfriseuraus- beizuwohnen. Statt dessen bot er mir seine neuangesetzten Liköre lage standen immer die neuesten Ölbilder von seiner Hand. Schön an. Wir waren damals 14 oder 15, und ich besinne mich, daß ich goldgerahmt standen sie da: Jagd- und Tierbilder, äsende Rehe im richtig betrunken war. Ich wankte nach Hause, war erst fröhlich, Neuschnee, der feurige, ein wenig zu himbeerfarbene Sonnen- dann plötzlich unendlich krank und schwor mir, niemals wieder, untergang in der Heide und das Segelschiff im Sturm auf selterfla- nein, nie mehr auch nur irgend etwas, das mit Likörpatronen oder schengrünen Wellen. An den Markttagen standen die kunstlieben- Weingeist zu tun habe, anzurühren… Ein Versprechen, das ich na- den Bauern voller Bewunderung vor seinem Ladenfenster, und türlicherweise nicht ganz halten konnte, denn ich kam später noch manch einer erstand, nachdem er gewandt von Meister Hingst ein- oft nach der Kirche mit anderen Ite Denzers zusammen – symbo- geseift und rasiert worden war, dieses oder jenes Gemälde. Von lisch, heißt das. heute aus gesehen, hatte Hingstens Betrieb etwas sympathisch Al- Paul Friedrichs Vater wiederum hatte eine große Möbeltischle- tertümliches, etwas von jener Zeit, als man neben der Malerei noch rei. Von ihm habe ich einen Ausspruch behalten: »Keinen Leim Wirt, Doktor, Friseur, Bürgermeister und dergleichen war – oder sparen – keinen Leim sparen, mein Junge!« Wir trieben uns gerne umgekehrt. Trat man in die Barbierstube, so traf man häufig den in der Kunstdrechslerei und in der Holzbildhauerei herum. Zucker Meister beim Malen an. Seine geschweifte Riesenpalette, verbun- war der Holzbildhauer, Hoffmann der Drechsler. Beider Mund den mit einer wirklich schön gepflegten Friseurtolle, in der oft ein floß von schmutziger Rede über wie ein zu voller Abfalleimer, aber Kamm steckte, ließ an einen heute fast nur noch in Paris übrig- das lief irgendwie an uns herunter. Wir wollten ja nur ihre Kunst- gebliebenen Kunstmalertyp denken. Es war ein eigentümlicher

60 61 Eindruck, wenn man da saß, um sich die Haare schneiden zu las- Irgend jemand erzählte mir, daß man mit Karikaturen viel Geld sen, und der Duft des Terpentin- und Leinöls sich mit den Aromen verdienen könne. Dieser Irrtum führte in Kürze zu einer Unmenge der Haar- und Bartwässer, der Pomaden und Seifen mischte. der albernsten »linienstilistischen« Zeichnungen. Das meiste da- Auf dieses liebenswürdig komische Original nun hatte es jener von war nicht auf meinem Mist gewachsen; ich verlor mich in ein von mir schon beschriebene Chefdekorationsmaler Grot abgese- immer dichter werdendes linienstilistisches Gestrüpp. Einfachheit hen. Der hatte in München wahre Kunst von unechter zu unter- und Komik schwebten mir wohl vor, und durch das Betrachten scheiden gelernt und empfand sich als eine Art künstlerisches Ge- alter und neuer Witzblattzeichnungen glaubte ich meinen »Stil« zu wissen der Stadt Stolp. Infolgedessen hielt er den malenden Figaro finden. Aber es war noch ein weiter Weg nach Tipperary… für eine bekämpfenswerte Kulturschande, seine Bilder für kit- Ich sandte meine ersten Zeichnungen an die Redaktionen meh- schige Machwerke und die ganze Erscheinung für eine Ge- rerer Witzblätter. Hier, dachte ich, liegt die sonnige Zukunft mei- schmacksverderbnis des pommerschen Volkes. Da Herr Grot ein ner Begabung. Doch die Redakteure waren kritischer als ich: Mit satirischer Kopf war, gab er für sich und ein paar Freunde in einer hoffnungsloser Regelmäßigkeit erhielt ich meine mir so teuren Ar- kleinen Lithographieranstalt von Zeit zu Zeit ein zweiseitiges beiten zurück. Immer lag der gleiche vorgedruckte Absagebrief Flugblättchen heraus, »Stolper Bilderbogen« genannt, worin er in dabei: »Von Ihrer freundlichen Einsendung, für die wir bestens »linienstilistischen« Zeichnungen und selbstgemachten Versen be- danken, bedauern wir keinen Gebrauch machen zu können.« sonders dumme Lokalereignisse geißelte. Die vergrößerten Post- Meine rosigen Träume wären gewiß ganz zu Essig geworden, kartenmalereien des Meisters Hingst waren ihm ein gefundenes wenn ich nicht an der Oberrealschule einen sehr verständigen Fressen; und ich, der ich einen Drang nach höherer Kunstbildung Mann gehabt hätte, den Zeichenlehrer Papst, der mir mit Rat und verspürte, lauschte seinen wohlgesetzten Reden, und manches ging Tat beistand. Er war der einzige, der mein Talent früh erkannte und in mir auf wie Spargel nach dem Regen. meiner Mutter zuredete, mich Maler werden zu lassen. Papst Zunächst reifte da der Entschluß, auch meinerseits etwas gegen stammte aus Österreich, aus dem sogenannten Sudetenland, war die geschmacksverseuchende Malerei dieses Schaumschlägers zu aber auch akademisch gebildet. Nach lustigen, etwas bohèmehaf- unternehmen. Also dachte ich mir etwas ganz Höhnisches und ten Studienjahren aufs Geldverdienen angewiesen, war er schließ- Bissiges für Grots Blättchen aus; in »linienstilistischer« Manier lich bei dem geschätzten Hofmaler Iser in Stettin gelandet. Iser, zeichnete ich den Meister Hingst, wie er in einem abnorm großen ähnlich dem weltberühmten Hofmaler Fischer in der Berliner Pas- Nachttopf bräunlichen Schaum schlug und eben daranging, auf sage, hatte eine richtiggehende Fabrik für repräsentative Porträts. einer Leinwand (dies sollte satirisch-symbolisch sein) einen Kun- Er lieferte an Rathäuser, Schulen, Kasinos und andere öffentliche den sozusagen mit seiner Kunst einzuseifen. Ich hielt meinen Ein- Gebäude die dort so dringend nötigen Abbilder der Rats- und fall für sehr originell und scharf. Auch einen witzigen Text setzte Standesherren, Abgeordneten, Bürgermeister, Generale, mit einem ich darunter, bezeichnenderweise in Form einer zoologischen Be- Wort: der verdienstvollen Söhne der Gemeinden. Zu seinem Stab schreibung. Leider blieb dieses Capriccio ungedruckt, weil der von Gehilfen gehörte auch Papst, der aber dann aus unbekannten »Stolper Bilderbogen« wegen mangelnden satirischen Verständ- Gründen diese Stellung aufgab und neben dem alten und komi- nisses der Stolper und dadurch bedingter finanzieller Schwierig- schen Herrn Fitzlaff zweiter Zeichen- und Turnlehrer an unserer keiten sein Erscheinen bis auf weiteres einstellte. Oberrealschule wurde. Er war groß und hager, mit faltigen Ge-

62 63 sichtszügen, leicht slawischen Backenknochen und bürstenglei- Schönes, hatte es doch im tieferen Sinne nicht das Geld zum Sym- chen Stehhaaren, und obwohl er keineswegs einem glich, wurde er bol; von der unteren Klasse in die höhere aufzusteigen, hatte eben mein rettender Engel. doch nicht nur mit Geld allein zu tun, obwohl vom Standpunkt der Durch freundlichen Zuspruch flößte er meiner Mutter, die ihn altpreußischen Hierarchie das Geld schon eine ganz nett korrum- meinetwegen aufsuchte, neue Hoffnung für ihren mißratenen pierende Rolle dabei einnahm. (Aber als Symbol spielt es ja wohl Sohn ein. Denn mißraten war ich; ich war mittlerweile mit Schimpf immer dieselbe Rolle; das Geld ist ja etwas ganz anderes als seine von der Schule geschaßt worden, was meiner Mutter und meinen sogenannten Abschaffer und die primitiven Aufklärer des 19. Jahr- Schwestern als Schande, zumindest als schlechte Vorbedeutung für hunderts uns da vorerzählt haben – dies nebenbei.) Überall wurde die Zukunft erschien. Mit Recht: das »Einjährige« nicht gemacht damals die Berechtigung zum Einjährigen gefordert. Ohne Reife- zu haben, hieß zwei bis drei Jahre beim preußischen Kommiß die- zeugnis einer höheren Schule konnte man gerade noch Maurer und nen und damit wertvolle Zeit verlieren, ganz abgesehen von der Arbeiter werden, aber das war auch alles. Alle anderen »anständi- Menschenschinderei. So nützlich der Drill im Sinne kommender gen« Berufe waren versperrt durch einen wahren Stacheldraht von Ereignisse vielleicht auch war, mir erschienen diese Kasernenhof- geforderten Zeugnissen, Empfehlungen, Attesten und solchen spiele – Gewehr einschieben, Vorbeigehen in strammer Haltung, seltsamen, es schwermachenden, mystischen Papieren mehr. die sieben Teile des Gewehrs 98, Entfernungsschätzen, Griffe Andererseits konnte natürlich mein Leben nicht endlos so wei- kloppen – mir schien jedenfalls für einen angehenden Maler eine tergehen. Etwas mußte und sollte geschehen, das sah ich selbst klar solche zwei- bis dreijährige Drill- und Drillichzeit verloren. Man ein, und auf die Dauer war mir ja auch dieses In-den-Tag-hinein- war auch nie gesellschaftlich »erstklassig«, hatte man womöglich Leben ein wenig unheimlich. Zu einem reinen Taugenichts war ich als »Gemeiner« dienen müssen; ein besserer Mensch, ein »Herr«, eben doch nicht geschaffen, obwohl aus manchem Taugenichts ein hatte entweder das Einjährige oder das Abitur und damit den ganz rechter Malerknecht oder Künstler geworden sein soll; aber Schlüssel zur höheren Klasse. Die Vorurteile der Menschen, auf die ich war aus anderem Holz gemacht. Ja, Maler wollte ich zu gerne es ankam, waren streng, ich möchte fast sagen chinesisch; das Ein- werden, große Bilder malen, die dann doch sicher in Velhagen & jährige war der Schlüssel zum Reserveoffizier, und dieser Rang Klasings Monatsheften reproduziert würden. Da würden dann die wiederum war unbedingt nötig, wollte man über den kleinen Stolper sie auch zu sehen bekommen und staunen, und meine Mut- Mann hinaus Karriere machen, und ebenso nötig, wollte man sich, ter würde ordentlich stolz sein, wie man da und dort über mich wenn die Zeit kam, reich und zweckmäßig verloben. Mit einem sprach. Schöne Gedanken bewegten mich und versöhnten mich Wort, das Einjährige war die Voraussetzung für den Aufstieg in mit der nicht so ganz einverstandenen Umwelt. Ach, die Phanta- eine höhere Lebenssphäre. sie – es war schon tadellos –, oder vielleicht war es noch besser, Deutschland war damals eben ein Klassenstaat, das darf man wenn ich ein Illustrator würde? Hatte doch gerade die »Berliner nicht vergessen. Und in kleinbürgerlichen Familien sah man oft Illustrierte Zeitung« einen sogenannten Menzelpreis von 3000 Mark wunderbare Beispiele, wie Eltern sich alles vom Munde absparten, ausgesetzt, um junge Illustratoren zu entdecken und zu fördern! zusammenkratzten und an der Aussteuer der Tochter knauserten – Donnerwetter, dachte ich mir, ohne es laut auszusprechen: wenn alles nur, damit der Sohn sein Einjähriges machen und dann sein ich den bekommen könnte! Vielleicht wenn ich erst einmal genü- Dienstjahr von sich aus bestreiten konnte. Es lag hierin etwas sehr gend ausgebildet bin…

64 65 Dieser Preis hatte es mir angetan. Er gab meinen Tagträumen Sohn hat das Zeug dazu und wird seinen Weg schon machen«, Nahrung. Meine Mutter war äußerst skeptisch; ich solle lieber sagte Herr Papst. sehen, ein tüchtiger Mensch zu werden, und fleißig Geld verdienen, Sein Vertrauen in meine mir selbst noch unklaren Fähigkeiten meinte sie. Bei solch dummem Luftschlösserbauen käme nie was zerstreute die Bedenken meiner Mutter, und sie entschloß sich Rechtes heraus, höchstens Enttäuschung und Katzenjammer. schweren Herzens zu einer Berufswahl für mich, die so unsicher Onkel August hatte auch immer nur so verrückte Ideen gehabt, und war wie ein Los in der Lotterie… was sei schließlich bei alldem herausgekommen? Rein gar nichts. Gern hätte ich meinen alten Zeichenlehrer noch einmal wieder- Geld hatte es gekostet, anstatt etwas einzubringen, und am Ende gesehen. Vielleicht leben Sie noch, verehrter Freund, in jener klei- hatte man den August noch in eine Anstalt schaffen müssen. »Aber nen pommerschen Stadt? Einen Gruß sende ich Ihnen hiermit, immer nobel, Georg, und große Rosinen, und Kunstmaler –«. über alles Trennende hinweg, denn Ihre Gestalt steht an einem Ja, überhaupt Kunstmaler – mein Gott, das war in den Augen Wendepunkt meines Lebens, und ich denke Ihrer in Dankbarkeit, meiner Mutter ein völlig brotloser Beruf, wo man immer nur zuzu- wenn ich mich daran erinnere. buttern hatte. War das denn überhaupt ein Beruf für jemanden, der die höhere Schule besucht hatte? Das war denn doch sehr zweifel- haft. Gewiß, man hörte und las gelegentlich mal von einem Hirten- jungen, der sein Glück gemacht hatte und Professor geworden war und sogar einen Orden bekommen hatte, aber das waren doch Sel- tenheiten, das war doch wie in der Lotterie! Und die meisten, was man so hörte, wurden ja doch rechte Liederjane, hausten in obsku- ren Dachateliers mit Diwan und Samtportiere, gingen salopp ge- kleidet, hatten Hunger und blieben noch dem Bäcker die Semmeln schuldig. Ein recht nichtsnutziges Dasein war das; gearbeitet wurde auch nicht viel, die lagen auf der Bärenhaut, womöglich mit leichtfertigen Modellpersonen, und vertranken und verjuxten das Studiengeld, das man sich mühsam zusammengerackert und ab- gespart hatte. Letzten Endes kam nichts dabei heraus als ein ganz gemeines Lotterleben auf anderer Leute Kosten. So dachte mit Recht meine Mutter. Nur der brave Papst ver- stand es, ihr klar zu machen, daß alles nur halb so schlimm sei. Er hatte gesunden Menschenverstand und meinte sehr richtig, ver- lumpen und es zu nichts bringen könne man in jedem anderen Berufe auch, und da bei mir zweifellos ein überdurchschnittliches Talent vorliege und er mich auch als Charakter kennengelernt habe, so rate er mit bestem Gewissen ruhig zum Malerberuf. »Ihr

66 67 meine Schwester könnte doch mal dem Hayduk meine Sachen zei- gen und seine Meinung hören, vielleicht wäre das ganz nützlich. Sie tat dies wohl auch. Aber der gute Hayduk war ein beschäftigter Mann; er sagte sicher nur: jaja, das sei ganz ordentlich und so wei- IV Königliche Kunstakademie ter – wie eben solch hochbezahlte, vielbeschäftigte Männer spre- chen. Meine Schwester war mir immer sehr zugetan und unterstützte ch sollte also auf eine Kunstakademie geschickt werden. Es vielleicht deshalb meinen Wunsch, Maler zu werden, nicht sehr. Ikam da Berlin in Frage oder Dresden. Mein Förderer Papst er- Als ich die Schule so wenig würdevoll hatte verlassen müssen und bot sich, mich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten; er hatte ja durchaus zur Kunst wollte, riet sie, energisch wie stets, entschie- selbst eine Akademie besucht und wußte, was man dort verlangte. den ab. Aber sie hat mir meine hartnäckige gegenteilige Meinung So begann meine Kunstmalerlaufbahn. nie nachgetragen, sondern im Gegenteil mir später viel Gutes er- Wie schön waren doch die blauen Dünste und romantischen wiesen und mich immer unterstützt, wo sie nur konnte. Zu Zeiten, Illusionen, die man in seinem sechzehnjährigen Kopfe trug! Auf- da ich wenig hatte, kamen oft Pakete von ihr mit Lebensmitteln regende und glückliche Zeiten! Ich zeichnete nun unter Herrn und allerlei leckerem Schnickschnack. Nun packte ich ein anderes Papstens Korrektur in seiner Wohnung auf blauem Tonpapier Paket mit Arbeiten von mir ein und sandte es ihr. Sie wollte es in nach einer Gipsbüste. Ich zeichnete mit Kohle, vollendete in Berlin einem ihr flüchtig bekannten Maler, einem Professor Seeger schwarzer Kreide und lernte zum Schluß sorgfältig mit weißer von der Akademie, zur Begutachtung vorlegen. Ich hatte fleißig Kreide die Lichter zur Erhöhung des plastischen Eindrucks auf- gezeichnet, und zwar nicht nur bei Papst; im Hinblick auf die Tra- setzen. Es war der Kopf einer griechischen Göttin in Lebensgröße, dition der Berliner Königlichen Akademie hatte ich einen meiner meine erste Zeichnung nach Gips. Dann malte ich auf selbstpräpa- Schnürstiefel naturgetreu und sehr peinlich in Bleistift abgezeich- rierten Pappendeckeln in monochromer Manier, das heißt nur in net und dem Paket beigelegt. Dieses Kunstblatt war es denn auch, schwarz-weiß und grauen Halbtönen, die Porträtbüste von Lessing was mir bei dem begutachtenden Professor einen Respektserfolg – einmal von vorn und einmal von der Seite – in Ölfarbe. Die Resul- eintrug: Berlin, sagte er zwar, sei jetzt überfüllt und kaum anzu- tate wurden von Herrn Papst kritisch besprochen, und außerdem kommen, doch könne er Dresden als gute und tüchtige Akademie gab er mir allerlei nützliche und wissenswerte Winke für meine spä- empfehlen… tere Laufbahn. Wir entschieden uns also für Dresden. Ich sammelte abermals Inzwischen hatte ich an meine Schwester Claire nach Berlin ge- meine besten Zeichnungen, fügte einen höflichen Begleitbrief schrieben, um auch ihre Meinung einzuholen. Sie war damals in nebst Lebenslauf bei und sandte alles in banger Erwartung ab. Der einem großen Kaufhaus als Direktrice angestellt und hatte mir ge- Bescheid lief nach geraumer Zeit ein: ich solle mich an dem und legentlich von dem ebendort tätigen Maler und Zeichner August dem Tag, in dem und dem Raum zur Aufnahmeprüfung einfinden. Hayduk erzählt. Ich bewunderte Hayduks Reklamekarikaturen Ich war hochbeglückt. Stolzgeschwellt erzählte ich es meinen sehr. Sie waren damals sehr modern und wirksam; ich schnitt sie Freunden, die noch in der Schule schwitzen mußten. Rosig ge- sogar aus den Berliner Zeitungen aus und sammelte sie. Ich dachte, launt, allerdings in heimlicher Angst vor der Prüfung, sah ich die-

68 69 sem neuen Lebensabschnitt entgegen. Mit meiner Tante, die mit Gang zum staatlichen Kunsttempel wurde angetreten. Die damals meiner Mutter das Stolper Kasino bewirtschaftete, wurde ich nach Königliche Kunstakademie war wunderschön an der berühmten Dresden geschickt; sie hatte dort von früher her Bekannte wohnen. Brühlschen Terrasse gelegen. Es war ein herrlicher, ein wenig Und so stiegen wir denn zunächst bei Familie Kuhling in Dresden- schwermütiger Herbsttag, es roch nach gefallenem Laub, Dunst Striesen ab, deren Gast ich sein sollte, bis die Prüfung über mein lag über der Elbe – alles paßte so recht zu meiner fatalistischen weiteres Bleiben entschieden haben würde… Prüflingsstimmung. Es war wie aus einer Novelle von Anton Herr Kuhling war ein freundlich würdiger Mann, sehr groß, Tschechow und ein klein wenig, als ginge man zum Gericht. meistens mit einer Zigarre zwischen den weißbebarteten Lippen. Ich hatte einen grünen Landjunkerhut auf und einen extra feinen Er war wohl eine Art Zivilingenieur, jedenfalls bewohnte er in neuen Anzug an. Da lag die glitzernde Elbe mit der alten Carola- Striesen den ersten Stock einer jener typischen, behaglich bürger- brücke, die der Maler Kühl so oft gemalt hat, und da drüben lagen lichen Vorstadtvillen mit Erker und Balkon, noch so ganz im Stil die jetzt von der Morgensonne beschienenen Häuser von Dres- der Achtzigerjahre. Recht gemütlich eigentlich und anheimelnd. den-Neustadt. Ganz weh wurde einem bei dem Gedanken, daß Ansprechend – wenigstens für meine stets rege sinnliche Phan- man jetzt in das mächtige, palastartige Gebäude dort hinein sollte, tasie – waren auch die zwei erwachsenen Töchter des Hauses mit um sein Talent zu beweisen. Aber die Welt war nun einmal voll von ihren ungewöhnlich strammen Busen. Das Aufundabhüpfen der Prüfungskommissionen. Es war wie in China, und um sich auszu- wohlgeformten Halbkugeln erfüllte mich mit Wünschen und Vor- zeichnen, mußte man früh beginnen. stellungen, die den Gedanken eines Prüflings ganz und gar entge- Wo war die Wiese, auf der ich jetzt hätte liegen mögen, und wo gengesetzt waren. Vergeblich versuchte ich, dieser Wunschvorstel- war mein Fahrrad? Weg, fort. Da, die große Barocktüre, das war lungen Herr zu werden. Im Geiste rief ich meinen alten Gönner mein Weg. Ich öffnete und betrat die kühle Vorhalle. Man merkte Schönboom zu Hilfe, ja ich dachte sogar wieder daran, dem schon, daß heute etwas los war. Vor der kleinen Loge des Portiers Fleischgenuß zu entsagen – vergeblich. Meine Phantasie war von drängte sich eine Menge ebensolcher Ankömmlinge wie ich, Be- einem sinnlichen Teufel besessen, und immer wieder sah ich die scheid und Auskunft suchend. Andere, die ihren Bestimmungsort beiden Schwestern vor mir und jene üppigen Halbkugeln. Gern schon gefunden, kauften bei ihm Papierrahmen und für die Prü- hätte ich ja nun eine diesbezügliche Annäherung unternommen, fung notwendiges Zeichenmaterial. Schon sah man diesen und aber ich war buchstäblich viel zu grün, einfach zu schüchtern. jenen Prüfling mit einem großen, papierbespannten Rahmen im Wäre wohl auch hanebüchen aufgelaufen und sicher mit Glanz Korridor entschwinden, die eine freie Hand krampfhaft um ein von Vater Kuhling an die Luft befördert worden, was nach allem in paar Kreidestifte und einen Knetgummiklumpen geklemmt. Wie- der Schule Vorausgegangenen ja ein netter Anfang meiner Maler- der andere, wohl schon ältere Schüler, sah man am schwarzen Brett laufbahn geworden wäre. Nein, das durfte ich nicht riskieren. Und nach Neuigkeiten forschen oder mit dem Portier vertraute Ge- wenn auch der Teufel der Sinnenlust noch eine ganze Weile neben spräche führen. Der farbbekleckste Malerkittel gab ihnen in mei- mir blieb, so steckte ich doch andererseits voll neugefaßter braver nen Augen etwas von alten Soldaten, die schon lange im Regiment Vorsätze und wollte zeigen, was ich konnte oder zu können dienten und etwas erzählen konnten. Einem, der außerdem nach glaubte, als der eigentliche Prüfungstermin näher und näher kam. echter Kunstmalerart eine wehende, lose geknüpfte Krawatte, eine So hieß es denn eines Tages früh aufstehen, und der schwere sogenannte Lavalliere, trug und eine kurze Bulldogpfeife rauchte,

70 71 sah ich ehrfürchtig nach, als er, mit einem Paket Zeichenkohle be- sagte mir nichts. Dann ging das Gespräch auf Professor Richard waffnet, in einer der vielen großen Türen verschwand. Roman- Müller über, und ich erfuhr zum ersten Male seine Bedeutung als tisch, wie ich war und vielleicht immer noch bin, nahm ich mir vor: großer Meister. Mit ehrfürchtiger Stimme und stark sächsischem so mußt du auch einmal aussehen! Die Enttäuschung kam erst, als Akzent erzählte uns der stahlbebrillte Jüngling von horrenden ich später erfuhr, daß dieser mir so hochkünstlerisch Erschienene Preisen, und daß Müllers Zeichnungen sogar vom Londoner Kuf- nur ein ganz einfacher Architekturschüler war. perstichkabinett angekauft worden seien. Ich fühlte mich plötzlich Ich erkundete nun ebenfalls das Notwendige, ging einen großen, recht bescheiden werden und dachte an den langen Weg von Fleiß, mit Bildern und Zeichnungen aller Arten und Stile behängten Glück und Talent bis zum Londoner Kupferstichkabinett… bogenförmigen Korridor entlang und landete in der damaligen Wir waren eine recht gemischte Gesellschaft, wir angehenden Unterklasse. Im Vorbeigehen las ich noch auf der benachbarten Kunstakademiker. Es gab Reiche und Arme, Gesunde und dann Tür die angeheftete Visitenkarte von Professor Richard Müller, wieder solche, die hinkten oder nur mit einem Arm malen und ohne zu ahnen, daß dieser im Verlauf der nächsten Wochen mein zeichnen konnten. Manch einer hatte einen ganz besonders teuren Lehrer werden sollte. Die Unterklasse war ein großer Atelierraum Zeichenkasten mit poliertem Messinggriff und -schloß, ein anderer mit Oberlicht. Es war offenbar für die Prüfung Platz gemacht wor- produzierte einfach ein Stück Holzkohle aus der Jackentasche. Da den; der Raum war ziemlich leer. In einer Ecke stand ein großer war zum Beispiel Naumann-Coschütz, der sogenannte »einfache Schrank mit Gerümpel und alten Malkitteln, an den Wänden zu- Mann aus dem Volke«, aus Coschütz bei Dresden gebürtig und sammengeschoben standen drehbare antike Gipsstatuen auf fahr- dort wohnhaft; der war jahrelang Lithograph gewesen und hatte baren Untersätzen, ein laufender Gipsmann reckte, leicht ange- die rot entzündeten, stets ein wenig tränenden Augen des mit der schmutzt, seinen Fechterarm den Eintretenden entgegen. Ein paar Lupe arbeitenden lithographischen Einzelheitenzeichners, und er Staffeleien mit schon aufgestellten, unschuldsvoll leuchtenden hatte viele, viele Jahre gespart, um endlich mit fünfunddreißig sei- Papierrahmen und im Hintergrund ein paar große, total vollgekrit- nen einzigen Lieblingswunsch erfüllen und auf die Kunstakademie zelte Abdeckungswände gaben dem Ganzen einen grauen, etwas gehen zu können… staubigen Charakter. Das von oben kommende, abgedämpfte, kalte Unser Prüfungsmeister war Professor Robert Sterl. Ein sympa- Licht verstärkte diese allgemein graue Stimmung. thischer, spitzbärtiger Junggeselle mit kleinen, ans In-die-Sonne- Als ich eintrat, war schon eine ganze Anzahl Prüflinge versam- Sehen gewöhnten, blinzelnden Impressionistenäuglein im gut- melt. Gruppen hatten sich gebildet, und man hörte neben unver- mütigen, radieschenfarbenen Gesicht. Er sah aus wie ein Mann, fälschtem Sächsisch alle möglichen Idiome deutscher Zunge. Ich der wenig redet, aber gern bei einer Flasche Rotwein sich erzählen gesellte mich einer diskutierenden Gruppe zu, die gerade dabei läßt. Als Prüfungsaufgabe gab er uns eine lebensgroße Zeichnung war, ein von irgend jemand hervorgeholtes Ölbild zu kritisieren. nach dem Gipsabguß der Büste des Kaisers Nero. Nachdem er alle Ein sächsischsprechender Jüngling mit einer Stahlbrille erläuterte Versammelten freundschaftlich brummend ermahnt hatte, über- uns, daß es von Hodlers Neffen stamme, der gerade in die Mal- ließ er uns unseren Fähigkeiten, und bald hörte man nur noch das klasse von Professor Zwintscher versetzt worden sei. Ich hatte von Kratzen und Wischen der Kreide- und Kohlenstifte auf dem hart- Hodler noch nichts gehört, geschweige denn gesehen, und die von gespannten Papier. seinem Neffen mit viel dicker grüner Farbe gemalte Landschaft Die Prüfung dauerte einige Tage, in denen Professor Sterl uns ab

72 73 und zu besuchte und nach dem Rechten sah, auch wohl da und eben erst angefangen, der Tag war jung, wenn auch noch nächtig dort eine Minute kritisch verweilte. Ich hatte mich gleich, obwohl und neblig, und alles lag noch vor mir. Wer mich leitete, wußte ich keineswegs sicher, tollkühn in die Arbeit gestürzt, lotete und maß nicht. Was mich antrieb, war eine Art dunkles Wollen, es einmal zu wie ein alter, abgebrühter Akademiker und traf mit meiner etwas etwas zu bringen; aber die vernichtende Kraft des Zweifels, aus der flächigen Kohletechnik sicher den Geschmack Professor Sterls, so viele Depressionen stammen, war noch nicht vorhanden. Denn denn im Vorbeigehen brummte er mir wohlwollend zu. So war ich der Zweifel tritt ja erst an uns heran, wenn wir an größere Aufga- fein heraus und freute mich sehr: mit dieser sparsamen brummigen ben gehen und der schreckliche, vernichtende Ehrgeiz uns gefan- Beifallsbezeigung war ich so gut wie aufgenommen. gennimmt. Damals lag der Berg noch hoch vor mir, die Spitze in Eine Woche später hatte ich es schriftlich. Wolken und Nebel; noch war ich im Tal und glücklich und unbe- Nachdem ich die Prüfung bestanden hatte, blieb ich nicht länger schwert. bei jener netten bürgerlichen Familie mit den zwei erwachsenen Töchtern. Ich übersiedelte in ein kleines möbliertes Zimmer in der Die erste Zeit nahm ich den akademischen Unterricht sehr ernst, Dornblüthstraße, bei einer ehrbaren Proletarierfamilie, deren Vater war ich doch voll guter Vorsätze und besten Willens. Ich stand irgendwo in eine Fabrik ging und den ganzen Tag fort war. Da regelmäßig früh auf, da die Dornblüthstraße in der Vorstadt Strie- wohnte ich recht und schlecht für sehr billiges Geld in einem win- sen lag und ich mich beeilen mußte, um pünktlich an der Staffelei zigen Kämmerchen nach vorne hinaus; alles in allem, mit Kaffee zu stehen. Ich war in die Unterklasse aufgenommen worden. Diese und Semmeln frühmorgens, zahlte ich so an 15 Mark monatlich. Klasse, die es heute nicht mehr gibt, war damals noch aus der alten An Möbeln war da ein einfaches Bett längs der Wand, der übliche akademischen Tradition, aus Cornelius’ und Winckelmanns Zeiten Kleiderschrank mit Muschel- und Kugelornamentik, ein einfaches übriggeblieben, wenn man sie nicht zynisch als die Pensionskrippe Seriensofa mit festgesteckten, gehäkelten Deckchen, ein viel zu einiger Malprofessoren ansah. kleiner Tisch, ein Stuhl, und der Kachelofen in der Ecke. Hier saß Professor Richard Müller, Professor Oskar Schindler und Pro- ich die erste Zeit meines Dresdener Aufenthaltes leicht melancho- fessor Robert Sterl waren unsere Instruktoren. Professor Müller lisch-einsam, zeichnete bei der Petroleumlampe oder las, nachdem regierte mit militärischer Strenge, Malstock und einem Dutzend ich mein einfaches Abendbrot (bestehend aus Wurst mit Kartoffel- tödlich spitzer Kreidestifte, Professor Schindler mehr zivilistisch salat und ein paar Stückchen Dresdener Käse, seiner Form wegen schlapp mit Estampe, Wischkreide und Glacépalette. Es wurde vor im Volksmund »Leichenfinger« genannt) verzehrt hatte. allem nach Gipsabgüssen gezeichnet, nur zweimal im Monat nach Irgendwie war ich wie verpuppt, wie eingesponnen, oder wie auf lebendem Modell. Dann gab es noch ergänzenden Unterricht in dem Grunde des Meeres und langsam, ganz langsam irgendwohin Perspektive bei dem Architekten Beyrich und Anatomie bei dem treibend – aber wohin man da eigentlich trieb, wußte ich nicht. stets in einen schwarzen Schwalbenschwanz gekleideten, sehr ver- Und doch dachte ich damals, ich entsinne mich deutlich, an die Zu- bindlichen und bespitzbarteten Professor Diettrich. Ein junger, kunft. Auch sie war dunkel wie der Meeresgrund. Ob man da von flott aussehender Landschaftsmaler namens Berndt gab schließ- einer unbekannten Strömung nach oben getrieben wurde oder lich noch Landschafterkurse, die aber wahlfrei waren und an weiter nach unten, das konnte ich nicht erkennen; es war nur dun- denen hauptsächlich Architekten teilnahmen, die sich hinterher kel, geheimnisvoll, ja traumhaft schön. Denn das Leben hatte ja betranken.

74 75 Unsere Hauptarbeit war die Wiedergabe von Gipsabgüssen in Was mich betraf, so wollte ich Maler werden. In meinem Kopf Originalgröße. Alle vierzehn Tage wurde so ein lebensgroßer waren Bilder, die ich einmal malen wollte. Sie ähnelten denen, die »Gips« abgeliefert. Ehemalige Lithographen waren die besten ich zu Hause in den Familienzeitschriften immer und immer Arbeiter. Mit insektenhaftem Fleiß wurden kleine, zufällige Ab- wieder mit glühenden Backen betrachtet hatte. Soldaten- und schürfungen und Bruchstellen miniaturhaft mitausgeführt, zum Mönchsbilder liebte ich vor allem: wie schön waren diese heiter Entzücken unserer Professoren, die ja selbst Meister in solcher trinkenden Mönche, oh, wie schimmerte der goldene Wein im Detailzeichnerei waren. Hatten wir einmal ein Kopfmodell, so Glase, wie natürlich waren Brot und Käse, Schinken und Radies- wurden die Haare der Augenbrauen sorgfältig abgezählt; unser chen gemalt – direkt zum Anbeißen! Meine Mutter und Tante, ganzes heißes Bemühen galt der Herstellung einer lebensgroßen denen ich mich in meiner Kunstbegeisterung mitteilte, sagten: »Ja, Photographie in Kreide. Wir mußten alle einen sogenannten Mal- Junge, wenn Du mal so malen könntest! Das ist eben die Kunst, stock benutzen, damit die Hand nicht erlahme, und die Kreide diese Lebenswahrheit – als ob alles da so auf dem Tisch vor einem mußte scharf gespitzt vorgezeigt werden, alle Nummern von eins steht –, aber da mußt Du viel lernen!« bis fünf. Wahrhaftig ein Symbol für Zucht und Ordnung im preu- Nun, das wollte ich gewiß. Ich wollte einmal solche Bilder ma- ßischen Sinne! len, und dazu wollte ich »komponieren« lernen, und das konnte Das dauernde Arbeiten nach den langweiligen Gipsabgüssen man nur auf einer Akademie – soviel hatte ich darüber schon gele- schmeckte langsam sauer. Man sah keinen rechten Sinn dahinter; sen. Ich wollte ein Genremaler werden, wie Grützner, beschloß die abgewogene, normale Schönheit, der klassische Proportions- aber, in meiner freien Zeit nebenbei auch Historienbilder zu malen, stil, den diese griechischen Figuren verkörperten, wurde nicht hauptsächlich aus dem Husarenleben. Vielleicht ließe sich beides erklärt und blieb uns somit verschlossen. Außerdem lebten wir in verbinden, zum Beispiel in einem Bild, das ich »Ein frischer einer Zeit, die das Häßliche liebte und die klassischen Proportio- Trunk« nennen würde: einem Husaren, der von Patrouille kom- nen ablehnte. Das Gipszeichnen wurde bald weiter nichts als eine mend gerade dabei ist, vom Pferde zu steigen, wird – vor einer langweilige Fleißaufgabe, bei der man vor dem schon vielfach be- malerischen Schenke als Hintergrund – von einem bildhübschen fingerten und abgemessenen Dornauszieher oder dem Borghesi- Mädchen ein großes Glas mit einem golden schimmernden Ge- schen Fechter stand und viel zu groß und stumpfsinnig drauflos- tränk gereicht, während ein junger Bursche lachend das Pferd am zeichnete. Regte sich wo ein ererbtes, angeborenes Talent, so Zügel hält – all das in etwas altväterischer Tracht, weil die doch suchte und ging das natürlich andere Wege. In gemeinsamen Ge- soviel »malerischer« war als unsere modernen, uninteressanten sprächen, auf der Bibliothek, in ein paar modernen Galerien fand Kleider. man mehr Anregung als in den großen Akademiesälen. Wir Novi- Um so malen zu lernen, war ich auf die Akademie gekommen zen hatten die – mir gesund scheinende – Scheu eines jeden Anfän- und war natürlich sehr enttäuscht, daß hier von »komponieren« gers vor zu viel Kleinlichkeit und Detail. Die ewige Ausführerei oder gar von solchen Kompositionen, wie ich sie mir ausdachte, mit gut gespitzten, harten Kreidestiften verleidete uns das Natur- überhaupt nicht die Rede war. Im Gegenteil. Als ich zu einem Mit- studium. Wir wollten gerne gleich loslegen und am liebsten – zu- schüler sagte, ich sei doch hier, um unter anderem – oder eigentlich mal das dicke, undisziplinierte Farbeaufschmieren damals modern vor allem – komponieren zu lernen, da lachte er mich einfach aus. und allgemein üblich war – es ebenso beginnen. Das Gekomponiere sei doch längst passé – mein Gott, komponiert

76 77 hätte man vor dreißig Jahren. Heute gehe man hinaus in die Natur, nützt in meiner Anzugtasche. Wie gerne hätte ich komponieren möglichst bei heller Sonne und womöglich mittags, bleibe irgend- gelernt! wo stehen und male ein Stück x-beliebiger Umgebung ab, ohne Ich wußte, daß es an der Akademie eine Art Komponierklasse vorzuzeichnen und gleich mit dem Spachtel und in komplemen- gab oder gegeben hatte. Es stand, glaube ich, sogar so etwas auf tären Tupfen. Ob ich denn schon einmal durch ein Prisma gesehen dem Stundenplan: Anatomie, Perspektive, Komposition – einmal hätte? »Na also. Das andere war ja alles braune Sauce und gestellt. im Monat – Lehrer Professor Raphael Wehle. Aber niemand legte Theater, sehen Sie…« darauf irgendwelchen Wert. Die ganze Malerei bis jetzt sei Theater, bis auf ein paar Franzo- Ich trat morgens frühzeitig an und arbeitete den ganzen Vormit- sen vielleicht. Nur in der Natur, in der hellen Sonne am Mittag tag an lebensgroßen Wischkreidezeichnungen nach berühmten gebe es kein Theater, da sei alles natürlich, und die sogenannten Gipsabgüssen. Ich arbeitete mechanisch, mein Kopf schwamm »Motive« gäbe es schon seit den paar großen französischen Im- tagträumend, die alten, lieben, sentimentalen Familienbilder ver- pressionisten nicht mehr. In der Natur, da gäbe es keine »Motive«, blaßten. Eines Tages ging ich einen Korridor entlang und las plötz- nur Licht und Luft; das hätte doch Gott sei Dank die moderne lich auf einem alten Türschild: »Componierklasse«. Ich trat näher, Wissenschaft nachgewiesen. Ob ich noch nie von einem gewissen die Tür war verschlossen. Ich versuchte durchs Schlüsselloch zu Monet gehört hätte, der hätte einen Heuhaufen dreimal gemalt – sehen, aber ein dahinter, wie in Ateliers üblich, aufgestellter Wand- genau denselben Heuhaufen, früh um 6, mittags um 1 und nach- schirm ließ nur grauen Rupfen erkennen. Leise drückte ich auf die mittags um 5. »Jawohl, das sind die großen Taten von heute. Was ist Klinke; die Tür blieb verschlossen. Was mochte dahinter sein? Wie da alles Gekomponiere dagegen?« sah denn wohl so eine »Componierklasse« aus? In längst verbli- Ich war geschlagen und vernichtet. Ich verdrängte sofort meine chener Schrift las ich noch, daß an dem und dem Tage von 2–4 hier in der Phantasie lebenden Genre- und Husarenbilder. Vielleicht, komponiert würde und man gleichzeitig den »Costumfundus« be- dachte ich, könnte ich erst mal von dieser modernen Malerei lernen sichtigen und Kostüme entnehmen könne. und dann so ein Husarenbild in ganz heller Sonne malen, vielleicht Ich beschloß, mich zu der »Componierklasse« zu melden. Am auch einen Heuhaufen mit hinaufbringen oder wenigstens ein betreffenden Tag fand ich mich nachmittags um Punkt 2 vor der Heubündel neben dem Pferd, und natürlich ganz in der Sonne. Gar bewußten Türe ein. Wie verwunschen war es. Man hörte keinen nichts als einen Heuhaufen darzustellen, das ging mir vorläufig Laut – oder doch? War es nicht, als hörte ich friedliche Schnarch- doch ein bißchen zu weit, so modern war ich eben doch noch nicht. töne? Heimlich beschaffte ich mir von einem alten Kronleuchter ein Ich klopfte schüchtern an, doch niemand öffnete. Ich klopfte Prisma, und wenn mich niemand beobachtete, sah ich mit zusam- lauter. Keine Antwort. Es war also niemand drinnen. Sicherlich mengekniffenen Augen durch. Dabei dachte ich an mein Husaren- existierte diese ganze Komponierklasse nicht mehr, war ja auch un- bild, aber mein aufgeklärter Freund und seine impressionistischen zeitgemäß. Ich fühlte das kantige Prisma in meiner Tasche, ging Theorien kamen immer dazwischen. Irgend etwas zog mich an die- fort, beschloß aber, nach einer halben Stunde noch einmal vorbei- ser neuen Lehre an; saß ich dann aber damit in der Dresdener zukommen; vielleicht war dann jemand da. Heide, so konnte ich nichts Rechtes zuwege bringen und klappte Ich hatte richtig kalkuliert. Denn als ich abermals anklopfte, unmutig mein Skizzenbuch wieder zu. Das Prisma trug ich unbe- hörte ich drinnen schlurfende Schritte, dann drehte sich fast unwil-

78 79 lig ein Schlüssel im Schloß, und ich stand vor einem griesgrämigen meinen abschiednehmenden Wandersmann in Biedermeiertracht alten Herrn, der leicht nach Rotwein und Zigarren roch – Profes- und die Wassermühle im Tal, aber auch eine dramatischere Kriegs- sor Wehle. szene, beeinflußt von den Schlachtenmalern Emil Hünten und Er ließ mich nicht hinein, sondern versperrte mit seinem Bauch Professor Carl Röchling. Professor Wehle fand meine Sachen pas- die Türe und grunzte unwirsch: »Was wollen Sie?« sabel, und da er mittlerweile gemerkt hatte, daß ich ihn nicht auf- Ich sagte: »Herr Professor mögen doch gütigst entschuldigen, ziehen wollte, begann er gleich mit dem von mir so lang gewünsch- wenn ich störe« – ich hatte den Eindruck, ihn im Schlaf gestört zu ten Komponierunterricht. haben –, »aber ich möchte gerne komponieren lernen.« »Also nun passen Sie mal auf,« sagte er. »Wie Sie wissen, bin ich »was? Was wollen Sie? Sie – Sie wollen was lernen? Komponie- ja auch so eine Art Historienmaler, wenn auch mehr nach der reli- ren wollen Sie lernen? Ja, wer hat Ihnen denn den Floh ins Ohr ge- giösen Seite hin.« (Er war weltberühmt geworden durch sein all- setzt? – Haben Sie Feuer?« Dabei holte er aus der Rocktasche eine überall reproduziertes Bild »Und sie folgten ihm nach«.) »Na halbangerauchte Zigarre hervor. schön, ich werde mal ausprobieren, wieweit Sie sich überhaupt Ich hatte Gott sei Dank Streichhölzer bei mir und bot ihm höf- zum Komponieren eignen. Sie kennen doch die Bibel, hoffe ich lich das schnell angezündete Hölzchen an. wenigstens, und auch die Zehn Gebote?« »Bei wem sind Sie denn?« fragte er, ein wenig mißtrauisch hinter Ich betonte mit falscher Demut, daß ich selbstredend die Bibel den dicken Brillengläsern hervor mich ansehend. »So, so, bei Mül- genau kennte, auch gerne darin läse usw. ler und Schindler?« Er hatte wohl den Eindruck, es hätte mich »Gut, gut, also bleiben wir mal vorläufig beim Alten Testament. jemand geschickt, um sich über ihn zu belustigen. »So, so, kompo- Sehen Sie, das sind Geschichten, so recht für den Historienmaler nieren wollen Sie lernen. Naja –« dabei spielte er mit der einen gemacht. Da ist alles, alles drin und dabei: Großartigkeit der Natur, Hand fortgesetzt mit einem offenbar sehr großen Schlüsselbund in aber auch Menschen und Tiere, Sonne und Sturm, Gutes und Bö- seiner Hosentasche. Noch immer stand er vor der Türe. Plötzlich ses, Herr – wie war doch gleich der Name? – ja, ja so, Herr Grosz –, sagte er: »Na, denn komm’se mal hier rein…« ja, alles drin und dabei, unausschöpflich, unausschöpflich an Erfin- Hinter dem Wandschirm sah es aus wie in einem unaufgeräum- dung –« ten Museum, dabei ganz gemütlich. Es waren da Haufen und Bal- Professor Wehle stieß und prustete gewaltige Rauchringe vor len von alten Stoffen, die man wohl früher, als noch »gestellt« und sich hin. Dann fuhr er fort: »Und besonders heutzutage, wo ein »komponiert« worden war, zum Drapieren der Kostümmodelle Sonnenkringel alles ist, nebst ein bißchen komplementärem Ge- brauchte. Etliche Modellpuppen standen und lagen herum. In tupfe – heutzutage, Herr – Herr – richtig, Herr Grosz – na, gut, daß Vitrinen und Glasschränken waren allerhand Geräte, Pokale, wenigstens Sie sich noch nicht haben anstecken lassen. Also passen Sturmhauben und Waffen zu sehen. Auf Bügeln hingen historische Sie mal auf. Ich gebe Ihnen da eine Geschichte aus dem Alten Testa- Kleidungsstücke, und ein kleines architektonisches Modell einer ment, eine ganz großartige Sache mit vielen Figuren und Tieren und Dresdener Brücke stand auf einem Tischchen. »Also komponieren den Elementen – jaja, mit Blitz und Donner und Regen – sehen Sie, wollen Sie lernen?« Regen: einen Tag, zwei Tage, ganze Monate Regen, nichts wie Re- Ich hatte natürlich eine Mappe mitgebracht, eine Anzahl meiner gen – jaja, Sie wissen schon, die Sintflut meine ich. Also da können eigenen Versuche: Sepiazeichnungen, Bellinghusaren im Biwak, Sie sich erst mal den Kopf selbst zerbrechen und die Zähne dran

80 81 ausbeißen. Nee, nee, machen Sie’s nur, wie Sie wollen – nicht zu Verdammt schwer war diese Sintflut! Schon beim hundertsten groß, gewöhnlicher Zeichenbogen genügt – nee, nee, das alles sol- Menschlein versagten Phantasie und Vorstellungsgabe, denn mein len Sie eben selbst herausklamüsern. Nee, das kann ich Ihnen auch realistisches Gewissen sagte mir, daß jeder dieser Menschen sich nicht sagen – schön, wenn Sie die Arche Noah bringen wollen, mir doch ein wenig von den anderen unterscheiden müsse; es gebe da auch recht; aber vor allen Dingen das Ganze, Herr Grosz – die wohl Lange und Kurze, Dicke und Dünne und so weiter. Schwer großen Zusammenhänge und die Elemente – die Elemente«, wie- darzustellen waren auch die Frauen – denn Frauen waren ja nun derholte er, wobei er mit gewaltigem Gepuste Zigarrenrauch aus- einmal auch dabei, und ich hatte noch niemals einen weiblichen stieß. Akt gezeichnet. So wurden die Frauenkörper fast wie die der Män- »Sehen Sie sich ruhig mal die Alten an«, sagte er noch. »Corne- ner, nur gab ich jeder einen dicken Busen – das Komponieren ist lius ist auch gut. Sie können das einfach erst mal in Kohle machen – eben nicht leicht, dachte ich und ließ den Regen herunterprasseln, und nehmen Sie sich Zeit – erst kleine Skizzen, bis Sie die ganze was das Zeug hielt. Da war so ein Blumenkohlkopf in greller Mit- Sache einigermaßen draufhaben – und vergessen Sie den Regen tagssonne doch eigentlich ein Kinderspiel, hatte man erst einmal nicht –« die Komplementärfarbenmethode erlernt… Damit war er auch schon mit mir an der Tür, gab mir meine Ich war von meiner Komponieraufgabe enttäuscht. Im Geiste Mappe in die Hand, und ich war entlassen. ritt durch all den Regen auf meiner Sintflut immer ein Husar mit, Statt eines Husarenbildes sollte ich also auf einmal eine Sintflut dem ein frischer Trunk kredenzt wurde. Doch Professor Wehle, komponieren. Dolle Sache, so was. Ging auch gleich mutig mit dem ich Andeutungen über meinen Lieblingsmaler Grützner und dem unbekümmerten Sinn des Anfängers ans Werk. Ich zeichnete mein Husarenbild machte, wollte davon nichts hören. ein großes Blatt voll, das den oder die Gipfel des Ararat vorstellte »Große, erhabene Gedanken muß man haben, Herr Grosz«, oder vorstellen sollte, und Haufen sich-retten-wollender ange- sagte er, »und da gibt es nur ganz wenige Themen, das sind erst mal klammerter Menschlein mit vielen Tieren darunter. Der Regen vor allem die Bibel und dann in weitem Abstand die antiken Klas- strömte unbarmherzig in vielen geraden, ein wenig ungeschickten siker. Nur an einem erhabenen Thema kann sich ein erhabener Stil schwarzen Kreidestrichen hernieder. Glanzlichter rieb ich mit ge- entwickeln – oder können Sie sich etwa unseren Herrn Jesus knetetem Brot heraus. Im Geiste dachte ich an eine Stolper Über- Christus in Freilicht gemalt vorstellen? Na also.« schwemmung, an einen auf dem Wasser treibenden toten Hund Was Professor Wehle damals aussprach, hatte natürlich noch die mit aufgequollenem Bauche und merkwürdigerweise an meinen Gedankenreflexe einer vergangenen, aber großen klassischen deut- ertrunkenen Mitschüler Kassel, wie er an einem heißen Sommertag schen Kunstperiode. Mir war sie nicht mehr verständlich. Der Pro- am Strande lag, von der Ostsee angespült und bedeckt von tausend fessor wußte noch etwas von einstmals vorhandener wirklicher bunten Pferdefliegen. Auch an die mir so vertrauten Panoramen- Größe der Gedanken und des Wollens, doch war es ihm nicht ge- bilder meiner Kindheit dachte ich. Rund 300 Menschen waren auf geben gewesen, sein gedankliches Ideal in Farbe oder Form zu er- meiner Komposition; es sollte ja das gesamte Menschengeschlecht reichen. (Einzig mit erhabenen Gedanken geht es eben auch sein, das da unterging. Ich kannte noch nicht die Gesetze der wei- nicht…) sen Beschränkung, wonach man unter Umständen mit einer ein- Meine Komponierversuche gingen weiter. Ich machte unter an- zigen Figur mehr ausdrücken kann als mit so vielen. derem einen Christus im Garten Gethsemane, war aber unglück-

82 83 lich, weil ein so edles Thema mich nicht entsprechend ergriff und Es versöhnte uns wiederum, daß er nicht die Bohne trocken war. sich mit meinen vulgären Lieblingen, wie dem »frischen Trunk«, Die Zahl seiner originellen Aussprüche war Legion, und sein grim- nicht vertrug. Aus diesem Konflikt entstanden Zerrbilder, ja Kari- miger Sarkasmus entwaffnete uns alle. Einmal, es war gerade Mo- katuren. Die von Professor Wehle gewünschte »Größe«, seine er- dellpause, stand ich versonnen und allein im Korridor vor der habenen klassischen und religiösen Ideen waren nicht in mir, weil Klassentür und biß in mein Frühstücksbrötchen, als Müller aus sie nicht mehr in meiner Zeit waren. In meiner Zeit, da gab es eine seinem Atelier kam und dröhnenden Schrittes an mir vorbeiging, billige, wichtigtuende Aufklärung, mit Prisma und Wissenschaft, auf ein Buch in seiner Hand wies – es war »Alraune« von Hanns einen törichten sozialistischen Menschenverbesserungsglauben, Heinz Ewers – und in seiner charakteristisch knappen, militäri- eine vulgäre Anbetung des Häßlichen und Proletarischen um jeden schen Art zu sprechen sagte: »Gehe scheißen. Zeit nutzen.« Preis – und auf der anderen Seite auch schon die Vernichter des Er gebrauchte gern so männlich-derbe Worte. Seine Aussprüche Sozialismus, des Christentums und (»wer fällt, den sollst du noch zu uns waren von ungewöhnlicher Plastik und erdhafter Drastik. stoßen«) der Menschlichkeit. Auch die Modelle bekamen, wenn es gerade an dem war, ihr Teil mit ab; forderte irgend etwas an einem Modell sein Interesse her- Bei Professor Müller, unserem Hauptinstruktor, hatten wir nichts aus, so wurde der Gegenstand eingehend vor versammelter Klasse zu lachen. Er hielt auf Disziplin und militärische Pünklichkeit, zu- besprochen. Ein männliches Modell war einmal an einer gewissen mal er selbst ein riesig fleißiger Arbeiter war, von früh um sechs bis Stelle auffallend dick, und als Müller das merkte, schoß er unge- abends um acht (er malte bei künstlichem Licht, wenn das Tages- niert los: »Was haben Sie’n da? Sind wohl krank, wie? Sack wie’n licht nicht mehr hell genug war) unermüdlich an seiner Staffelei kleines Brot? Würde mal zum Arzt gehen, nachsehen lassen!« Das tätig. Als ich einmal morgens zu spät kam – er war schon in der kam alles im Kasernenhofton heraus, mit einer gewissen feldwe- Klasse bei der Korrektur – schnauzte er mich sofort an: »Wo belhaft brutalen Jovialität, so daß es eher belustigte als abstieß. komm’n Sie denn her? Wie? Zu spät aufgestan’n, was? Wohl gesof- Müller war wohl ein wenig sadistisch veranlagt und gab deshalb fen gestern abend, was? Wie?? Was heißt’n das, Elektrische versäu- – oder weil er von sich selbst sehr viel verlangte – den Modellen oft men, wie? Mann wie Sie und bei Ihrem Talent, der müßte schon die schwierigsten Posen. Auf den Zehenspitzen mußten sie stehen, früh um halb fünfe vor der Akademietür warten, bis aufgemacht ein Bein nach hinten, die eine Hand nach vorne, einen Holzreifen wird! Scher’n Sie sich an die Arbeit!« Dabei schwang er seinen Mal- haltend: eine Reifen schlagende Jungfrau sollte das darstellen. Da stock wie ein Gymnasiallehrer in Stolp seinen Rohrstock, und ich solche Posen enorm schwer zu halten waren, fürchteten sich viele schlich bedripst wie ein begossener Pudel hinter meine Staffelei. Modelle, besonders die weiblichen, in seiner Klasse zu posieren. So vernichtend konnte er einen herunterkanzeln. Dabei lag aber Eines seiner Lieblingsmodelle war ein junges Fräulein Toni in seinem Wesen eine Autorität, der man sich bei aller Frechheit Wittschaß, eben weil sie furchtlos war und brav und unbeweglich nicht entziehen konnte. Er hatte etwas, das keinen Widerspruch stand, solange sie konnte. Die »reifenschlagende Jungfrau« war zuließ; man gehorchte einfach, denn er war gar nicht lächerlich. aber doch ein wenig zu anstrengend, obwohl ein großer Stab zum Hinter seinem Rücken machten wir uns natürlich über ihn lustig, Anhalten da war und eine von oben herabhängende Schlinge für aber von vorne, wenn er uns mit seinen scharfen, blauen Zeichner- das Bein in der Luft; die Folge war natürlich, daß unser gutes Mo- augen durchdringend ansah, da verstummten wir. dell dauernd absetzen mußte, um neue Kraft zu schöpfen. Müller,

84 85 der oft mitzeichnete, weil er solch komplizierte Posen für seine schon den Professortitel erhalten. Im Anfang seiner Laufbahn war Radierungen brauchte, haßte diese ewigen Unterbrechungen. Er er mit dem Wandmaler Sascha Schneider befreundet gewesen, hätte am liebsten die ganze Pose versteinern lassen und dann abge- doch hatten sich später ihre Wege getrennt. Obwohl Müller eine zeichnet. Und als unser Fräulein wieder einmal erschöpft innehielt ausgesprochene Persönlichkeit war, hatte er als Lehrer und Päd- und bittenden Blickes erklärte, »Herr Professor, ich – ich kann agoge seine Mängel. Er war in seine eigene Art, haargenau zu nicht mehr«, da platzte er heraus: »Wie? was? Na wissen Sie, ein zeichnen, völlig vernarrt und ließ von den Lebenden, außer einigen Modell wie Sie, Fräulein Wittschaß, die müßte durch die Luft Alten, höchstens noch Klinger, Greiner und Menzel gelten. Darin schweben wie’n Engel und still halten wie’n Albatros im Fluge – war er nicht nur intolerant, sondern wenig weise, denn sein Ver- weitermachen! Ich muß noch den Reifen fertig zeechnen…« dammen und Schimpfen mußte ja die paar Begabteren, die paar Daß der Reifen Nebensache war und ganz gut auch ohne Modell jugendlichen Sucher, zum genauen Gegenteil dessen bringen, was hätte gezeichnet werden können, kam Müllern nicht in den Sinn. er erreichen wollte. Er lehnte einfach jedes Experimentieren Es wurde auch alles sorgfältig mit Kreidestrichen markiert und schlechtweg ab, und sein Losungswort für den Schüler war äußerst mit dem Zentimetermaß nachgemessen, damit am nächsten Tag die einfach: »Zeechnen’se, zeechnen’se, Mann – alles andere ist Wurscht. Pose bis auf den Millimeter genau dieselbe sei. Modelle standen Der Bleistift is nich dumm!« drei Wochen in derselben Stellung, und durch diese lange Posiere- Ich erinnere mich noch, wie eines Tages ein junger, sehr eleganter rei entwickelte sich unter den Studenten eine kleinliche Korrigier- tschechischer Jude namens Barkus ein neuerschienenes Buch über wut. Jeden Tag wurde neu am Modell herumgestellt und -gescho- das graphische Werk des damals ganz links stehenden, schrecklich ben; bei einem war gestern der Arm weiter rechts, beim andern der wilden Malers Emil Nolde in die Klasse brachte. Nolde malte nicht Fuß mehr nach außen. Erst wenn die allgemeinen Umrisse zu mehr mit Pinseln. Er sagte später, er habe, wenn ihn die Inspiration Papier gebracht waren, was bei der herrschenden Gewissenhaftig- packte, die Pinsel weggeworfen, seine alten Mallappen in die Farbe keit tagelang dauerte, gaben diese Quälgeister Ruhe. Von heute aus getaucht und in seligem Rausch auf der Leinwand herumgewischt. betrachtet, war es eine Donquichotterie – und doch konnte man Seine Bilder waren denn auch, von der hohen Warte technischer damals oft nicht einschlafen vor Gram über die verzeichneten Ver- Tradition gesehen, formlos und primitiv; das Handwerk war ver- hältnisse und den Tadel des Kunstprofessors. nachlässigt, innerer Ausdruck war alles, und das Ganze lief, wenn Ein kühner Witzbold namens Hubert Rüther machte sich ein man an Rembrandt oder Raffael dachte, auf eine bunte, brutale einziges Mal den Spaß, die Kreidemarkierungen nach Klassenende Schmiererei hinaus. (Man drohte damals gelegentlich den unarti- unbeobachtet und ziemlich willkürlich zu ändern. Als am folgen- gen Kindern: »Du, ich sag’s dem Nolde, der holt Dich sofort ab den Tag das Modellausrichten begann, wunderte sich jeder, was da und schmiert Dich auf die Leinwand!«) über Nacht passiert war. Wir begriffen sofort. Müller begriff auch. Wir Jungen, unerfahren und teilweise von den alten Lehren ge- Er sagte kein Wort, stellte aber von da an so schwierig ausgeklü- langweilt, waren begeistert. Hier konnte man endlich losschmie- gelte Posen nur noch für sich in seinem Privatatelier. ren, ha – mit Komplementärfarben Attacken gegen alle Regeln rei- Professor Müller war ein Liebling der Götter. Er stammte aus ten – nieder mit den Malstöcken und wohlgespitzten Blei- und bescheidensten Verhältnissen, hatte sich durch eisernen Fleiß vom Kreidestiften! Mensch, so ein Lappen, einfach ohne hinzusehen in Porzellanmaler heraufgearbeitet und hatte in sehr jungen Jahren die Farbe getunkt und los – wunderbar war das. Großartig! Wie

86 87 sollten wir auch weiter sehen können, siebzehnjährig und fest sor Müller nicht erlaubt – im Gegenteil. Müller konnte Hohmann angebunden an die Gipsmanier? War das Leben nicht gänzlich un- nicht verknusen. Diese nervöse impressionistische Krakelei ohne gipsern, glich es nicht eher einem verschmierten Lappen voller Formentreue oder Ähnlichkeit mit dem Modell lief seiner eigenen Komplementärfarben? Wie, Kinder – also es war keine Sünde zu exakten, wie mit Kamm und Bürste gezogenen Photographenar- schmieren? Wunderbar, ganz wunderbar… beit ganz, aber auch ganz zuwider. Und als der gute Hohmann, der Also jener elegante, belesene Barkus brachte den Katalog dieses wie viele nervöse junge Männer sehr »modern« empfand und rea- Hauptschmierers und Rebellen gegen alle und jede Tradition mit in gierte, eines Tages in einer allgemeinen Unterhaltung, wie sie Mül- die Klasse. Geschickt es an eine Stelle placierend, wo er es gleich ler gelegentlich liebte, den Namen van Goghs fallen ließ, da brach sehen mußte, spielten wir das Buch in Müllers Hände. Er biß auch ein richtiges Kasernendonnerwetter über den Verblüfften und prompt an und ergötzte die Fortschrittlichgesinnten unter uns – über uns herein: wir liebten ja, wie gesagt, seine derben Predigten, ohne sie ernst zu »So’n Gogh – so’ne Scheiße – schmiert da so’n Sonnenuntergang nehmen – mit einer Philippika gegen derartige Krakelei. in einem Nachmittag zusammen, was soll’n das? Was soll’n das? »Was? Wie? Da steckt sich so’n Mensch den Finger in’n Arsch Ich male zwei Jahre an’m Bild und so’n Gogh schmiert sein’ und schmiert’s aufs Papier –.« Eine unbewußte Freudsche Deutung, Scheißdreck in ’ner halben Stunde runter und verkooft’s für fünf- wenn man derlei uns damals noch unbekannten Aberglauben ernst zehntausend Mark – so’n Mist –«. nehmen will. »So ein Lumich, radiert wie’n besoffenes Schwein mit Wir freuten uns mächtig über solche saftigen Kritiken. der Mistgabel – ja – meint woll Rembrandt, wie? Ha, ha, mit’n Hufnagel und immer reingekratzt –« Es war eine recht »interessante« Zeit, knapp vor dem ersten Welt- Er spielte dabei beim Durchblättern auf einige Noldesche Ra- kriege. Eine gewisse Kunstblüte setzte damals ein, man schwärmte dierungen an, die vielleicht wirklich wie mit dem abgebrochenen für »das Neue«, und von Paris aus setzten sich moderne Malergrup- Ende einer Mistgabel gemacht aussahen. Besonders ärgerte Müller pen durch, die überall auf Anfänger wie uns den größten Eindruck die bei jeder Blattbeschreibung angebrachten Größenmaße, 10 x14 machten. Die Kubisten traten hervor, deren erste Bilder wie zerbro- und so weiter. Dies kam in seinen Augen nur den »wirklichen« chene Glasstücke wirkten und eine Fortsetzung von Cézanne be- alten Meistern zu, aber keinesfalls so einem Oberschmieranten wie deuteten. Futuristen malten Manifeste und bereiteten schon damals Nolde. eine Art faschistische Kunst vor. Boccioni malte ein viel diskutiertes Mein Freund Hohmann, der Sohn eines Apfelweinfabrikanten Bild: »Das Lachen«. Man wollte auch wieder alles auf einmal dar- aus Guben, brachte Müller zu einem anderen denkwürdigen Aus- stellen, auf verschiedenen Ebenen – das war der Simultanismus. Be- bruch. Der fahrige Hohmann war, wenn ich so sagen kann, ein »ge- wegung wollte man. Delaunay malte sein einziges berühmtes Bild, borener« Impressionist – ganz wie ein Impressionist machte er nie in dessen Mitte der Eiffelturm sich verdreht hochschraubt. Symbo- eine Zeichnung fertig, sondern stippelte, tüpfelte und strichelte lismus malten einige, wie Chagall, und der fast sagenhafte Belgier dauernd kribblig auf dem Papier herum. Anstatt klar ausgedrück- James Ensor, der die Menschen als Insekten und Flöhe darstellte. ter Form gab es bei ihm eine Art nervösen Regens von Tupfen, Stri- Die Dresdener Künstlergruppe »Die Brücke« folgte primitiven chen und Punkten. Was aber dem Impressionisten erlaubt war und Spuren. Es waren dies Maler, die wie wilde Neger malen wollten, sogar hoch angerechnet wurde, das war einem Schüler von Profes- nur mit den einfachsten vier oder fünf Grundfarben. Sie folgten

88 89 dem damals gerade bekannter gewordenen van Gogh und dem Ich frage mich oft, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich richtig ehemaligen Bankier Gauguin und wurden zum Vortrupp der sich komponieren und malen gelernt hätte – ich meine, in der ganzen, später durchsetzenden sogenannten deutschen Expressionisten. In ruhigen Reihenfolge einer alten Tradition? Wenn ich ein »natür- Sindelsheim bei München trieben die »Blauen Reiter« ihr Wesen; licher« Maler geworden wäre, kein Kinderschreck und abschrek- ein knallblauer Reiter war ihr Sinnbild. Hier waren Klee und der kendes Beispiel, den Mitbürgern verhaßt und von den Herrschern Russe Kandinsky die Haupthähne. Kandinsky war einer der ent- ausgestoßen? War die ganze scheußliche Flut von Schmutzzeich- schiedensten abstrakten Maler: auf seinen ersten berühmten Ge- nungen unnötig, oder war sie der Ausdruck einer ebenso schmut- mälden war nichts Gegenständliches mehr, nur noch farbiger zigen und seltsamen Zeit? Warum, frage ich mich, wird der so- Schaum und perlmutterner Dampf. genannte »gesunde Künstler« nur von der sogenannten »breiten In Berlin war man in jenen Jahren sehr fremdenfreundlich. Fran- Masse« verstanden – und der »ungesunde« nur von einer kleinen, zösische Kunst wurde eingeführt und auch hoch bezahlt; große überheblichen, sogenannten »gebildeten« Schicht? Kritiker mit heute längst vergessenen Namen traten gewisserma- Vielleicht sind das alles unsinnige Fragen. Vielleicht ist die Kunst ßen mit ins Geschäft ein und sangen Loblieder in Büchern, Zeitun- überhaupt zu Ende? Vielleicht haben die russischen Totengräber gen und Magazinen auf jedes Stückchen Malerei, das aus der rue de recht, die sie als eine ebenso natürliche Funktion behandeln wie die la Boëtie kam. Deutsche Kunst wurde von den feineren Herren, Verdauung? Lassen wir lieber dieses unendliche, unleidliche Pro- die damals den Markt bestimmten und die Preise fixierten, als bar- blem und kehren wir zu unserem Thema zurück, solange wir noch barisch und zurückgeblieben mißachtet. Trotzdem kamen ein paar guten Mutes sind. deutsche Maler innerhalb Deutschlands zu Ruhm und sogar zu Geld. So war es in den Jahren vor dem ersten Weltkriege. Doch all das drang kaum durch die dicken Wände der Akademien und war auch nicht hinter den dicken Stirnen und Brillen der staatlichen Lehrer zu Hause. Man mußte sich selbst zurechtfinden. Ich weiß, Kunst ist nicht zu lehren; wie oft kann auch ein verständnisvoller und toleranter Lehrer ein Talent nicht gleich entwickeln und zu einer gewissen Reife bringen! In den Prozeß jeder künstlerischen Ent- wicklung spielt ja immer das einfache, gelebte Leben mit hinein, und dessen Wege und Umwege sind unberechenbar und meist dem lehrenden Einfluß entzogen. Aber gewiß ist der begabte Anfänger in dumpfer Gärung begriffen, erfüllt von einem Etwas, das er fühlt, aber selbst noch nicht ausdrücken kann. Oft ahnt er nicht, was er einmal wird leisten können, doch er hat den Willen und das Feuer der Begeisterung für seine Sache. Ein guter Lehrer kann da immer ein verständnisvoller Führer und Berater sein.

90 91 »mein Stück ist gleechzeetig eene Predigt und eene Geißel« – wo- bei er die Sätze des Christus in seinem Stück in leicht thüringi- schem Dialekt sprach, was den Ernst der predigenden Worte ein klein wenig beeinträchtigte. V Germanisches Ich kam damals aus Berlin und war nicht gerade voll Ehrfurcht. Laut lachte ich zwar nicht, aber Berlin war eine skeptische, nüch- terne Stadt; ihre Bewohner hatten spitze und witzige Zungen und nter meinen Dresdener Bekanntschaften befand sich ein waren allen anderen deutschen Städten an Sarkasmus und Frech- Uganz eigenartiger Mensch. Er war bezeichnenderweise ein heit überlegen. Mein neuer Freund – wie komisch er übrigens hieß: ehemaliger Volksschullehrer. Aber er war kein zufriedener Volks- ausgerechnet Erwin Liebe! –, war er ganz einfach ein Narr, ein schullehrer gewesen, keiner, der in Ruhe den Tag seiner Pensionie- halbbegabter Sonderling? Immerhin nicht uninteressant. Zum rung abwartet, sondern ein unzufriedener. Er war ein unruhiger, Zeichnen nicht allzu begabt; er hatte vorerst einmal das Porträt als aufrührerischer Geist und fühlte sich, ganz gegen den Wunsch sei- sein Fach ausgesucht, und während er an seiner unbegabten Kohle- ner alten Eltern, zu »Höherem« berufen. Wozu, das wußte er noch zeichnung herumwischte und mit geknetetem Brot die Glanzlich- nicht genau; wie manche von uns schwankte er noch zwischen der ter herauspickte, theoretisierte er fortwährend, als erkläre er sich Dichtkunst und der Malerei. Augenblicklich war er bei der Male- selber den unbegreiflichen Vorgang künstlerischer Schöpfung. rei. Deshalb trug er auch sein Haupthaar länger als gewöhnliche Ich besuchte ihn des öfteren in seinem möblierten Zimmer in der Menschen, es hing ihm hinten über den Rockkragen hinunter. Zu- gespenstig kalten Cranachstraße, wo ich damals zufällig auch dem hatte er eine philosophische Ader und las in den Modellpau- wohnte, wo die Häuser grau waren wie alte, gebleichte Knochen sen Schopenhauer, spielte auch hin und wieder in der Mensa aca- und die Zimmer ebenso hoch und kalt, trotz Plüschsofa, Regulator, demica, wo wir unser Essen einnahmen, Klavier – Chopin und Goldfischglas und Häkeldeckchen. Es war immer, als läge irgend- »eigene« Improvisationen –, mit einem Wort, er konnte von allem wo in einer Ecke Schnee – merkwürdig, warum gerade diese gänz- etwas und war der richtige verkrachte Volksschullehrer und ge- lich balkonlose Cranachstraße so kalt anmutete. Ich besuchte also niale Dilettant. Erwin, und er zeigte mir seine vielen Naturstudien, meistens Por- Bald erfuhr ich von einem Theaterstück, das er geschrieben, mit träts. Ich sah, daß er gerne Knaben abkonterfeite, aber ich war dem eigenartigen Titel: »Jesum Christum in Zeitz«. Aus Zeitz war noch unerfahren und uneingeweiht und sah dahinter nichts Beson- er selbst, und ich vermute, daß sein Jesus, der eines Tages dort an- deres. Dann griff er hinter einen Stoß Wäsche und brachte aus kommt, aus dem Zuge steigt und mangels Fahrkarte gleich als Be- einem Muschelvertiko eine Flasche imitierten Benediktiner her- trüger festgenommen wird, selbstporträthafte Züge trug. Unser vor, sogenannten Klosterlikör, der wie dicker, gelber Leim in die Dichter wollte sich wohl eine Art Wut, Haß und Rache vom Halse angestoßenen Kaffeetassen floß, aus denen wir ihn tranken. Er schreiben, wegen eines mir unbekannten Unrechts, das ihm in sei- schmeckte wie Sirup, vermischt mit Weingeist und viel Sacharin, ner Vaterstadt widerfahren zu sein schien. So war das Stück zur und von dem bunten Etikett der bauchigen, klosterhaft seinsollen- Erziehung und Belehrung bestimmt, keineswegs zur Unterhal- den Flasche mit den imitierten Siegeln trank ein dicker, freund- tung. »Ich bin dem Ibsen verwandt«, sagte mein neuer Freund, licher Mönch uns zu.

92 93 Erwin blätterte im Manuskript seines Werkes »Jesum Christum puren, platten Handlung verstand ich nichts von der Sache. Tiefe- in Zeitz« und erklärte mir dessen Sinn, Inhalt und Bedeutung. Sein res, soweit vorhanden, war mir verborgen, aber ich nahm es sehr Blick war unstet, seine nervigen, knochigen Musikerfinger stri- ernst. Die Idee, Jesus in heutiger Kleidung auftreten zu lassen, chen immer wieder über sein langes Haar. An seinem Munde noch dazu in einfacher Arbeitertracht, fand ich grandios, ja einfach klebte noch unabgewischter Klosterlikör. Ich war zu befangen, ihn genial. darauf aufmerksam zu machen. »Einfach genial«, sagte ich und leerte den letzten Tropfen gelben Plötzlich sah ich die ganze Schmuddligkeit dieses Menschen: die Klosterlikörs. Einfach genial, so was. dreckigen, spatelförmigen Nägel, die ausgefransten, ehemals wei- Ich wußte nicht, daß so was jemals schon geschrieben und ver- ßen Manschetten, die vielen weißgrauen Schinnen auf dem Rock- sucht worden war. Ich sah auch nicht die Kitschigkeit und logische kragen und ein paar schwarze Mitesser um die Nase herum. Ich Unzulänglichkeit solcher mit den gewaltigsten Themen spielenden hatte so einen Menschen noch nie kennengelernt. Noch kannte ich dilettantischen Phantasien. Ja, gemalt hatte ich’s schon gesehen, zu nicht das Bohèmekaffeehaus, noch nicht die Ansammlung merk- Hause in einer Nummer von Velhagen & Klasings Monatsheften. würdiger Begabungen und Halbbegabungen, die unausbleiblich Ein ziemlich berühmter Maler, der ehemalige Hauptmann Fritz im Gefolge von Kunst, Ateliers, Musik und Dichterei auftreten. von Uhde, hatte da Christus im Straßengewand gemalt, mit Son- Noch war der Januskopf mir verhüllt. Ich hatte noch manche Illu- nenkringeln im Freilicht. Auch eine französische Reproduktion sionen im Kopfe und hatte den pommerschen grünen Junkerhut hatte ich einmal gesehen, da stand Christus angezogen wie wir und darüber noch nicht gegen einen kühnen flachen, schwarzen, künst- zeigte drohend auf Paris hinunter. lerischen Schlapphut vertauscht. Ich stand am Beginn meiner Wir kamen auf das Symbolische zu sprechen – denn symbolisch, Laufbahn, aber Erwin war schon fast dreißig und mir in vielem das war Erwins Stück ja in hohem Grade. Er wurde sehr beredt voraus. und wies nach, daß die symbolische Kunst die höchste von allen Trotz meines plötzlichen, wie ein Bühnenlicht huschenden und sei. Er sprach wie ein Dichter, mit Feuer und wie von innen er- verschwindenden realistischen Bildes von Erwin war ich beein- leuchtet. Dies war sein Lieblingsthema, und ich unschuldiger Zu- druckt. Alles war wie vorher. Ich trank noch eine halbe Tasse Klo- hörer war ein neuer Eimer, in den er seine Argumente schütten sterlikör, und alles wurde sogar noch besser und freundlicher als konnte. vorher. Ich trank, und wir stießen mit den schrecklichen Tassen auf »Ja«, hörte ich, »das letzte, große, endgültige Ziel aller jungen, den Erfolg seines Stückes an, das ich nun für ganz grandios hielt. freien Kunst ist die Vergeistigung! Verstehst Du, Georg?« schrie er Ich war beeindruckt, denn meine Bildung in puncto Dichtkunst mich an, »ich meine die Vergeistigung – die absolute Vergeistigung ging über ein paar auswendig gelernte Verse von Schiller, Goethe des Erdendrecks ins Symbolisch-Mystische! Die symbolische Li- und Emanuel Geibel nicht weit – das heißt eigentlich gar nicht – nie, Georg: die Lotosblume… der heilige Gral… ›das Land der hinaus. Auch hatte mich Dichtung im erhabenen Sinne bisher nicht Griechen mit der Seele suchend‹! Und – jawohl, Georg! – den interessiert, also woher sollte ich sie kennen? Bei uns zu Hause unbekannten Gott…« wurde nicht gedichtet; da wurde nur in der Küche gedichtet: Die Worte platzten und prasselten nur so, und immer wieder Kochbuchpoesie für die Herren Offiziere. Eine Beurteilung des- hörte ich: vergeistigen müssen wir uns, vergeistigen… Der dicke, sen, was Erwin da vorlas, war mir also ganz unmöglich. Außer der gelbe, ekelhaft süße Klosterlikör war mir doch zu Kopf gestiegen.

94 95 Gern hätte ich etwas gegessen, einen warmen Heringsklops oder Eines Tages, als er wieder bei seinem Lieblingsthema von der Bratkartoffel mit Hering in Gelée. So aber sagte ich immer nur: »Ja Symboldichtung und der vollkommenen Vergeistigung war, fiel gewiß, grandios«, und: »Donnerwetter, Erwin, ganz genial!« das Wort Karl May. Da ich damals sehr realistisch und »gesund« war – das heißt Es fiel im Zusammenhang mit Symbolik und geistiger Haltung, naiver und gewiß einfacher als später –, blendete mich diese Flut aber ich war doch beglückt, endlich einen uns gemeinsam bekann- von Phrasen. Daß ich sie nur halb oder gar nicht verstand, machte ten geistigen Boden zu finden, wo ich wenigstens ein wenig mit- nichts aus. In den nächsten Wochen redete ich alles dem Liebe reden konnte. Denn Karl May hatte ich zu Hause verschlungen nach. Bei den einfachsten Dingen brachte ich auf einmal unpassend und kannte ihn fast auswendig. Seine Werke, sagte ich Erwin, seien hohe und meiner Ansicht nach »tiefe« Worte an, Worte wie »Ver- wunderbar spannend – zwar natürlich reine Jugendbücher, für die geistigung« oder »symbolisch«. Sah ich etwa auf eine ziemlich heranwachsende Jugend, nicht wahr? –, aber als solche doch wun- langweilige und verzeichnete Aktstudie meines Nebenmannes in derschön, fügte ich naiv hinzu. der Modellklasse der Akademie, so entwischte meinem Munde so- Erwin sah mich mit zerknitterten Augenbrauen ein wenig spöt- fort ein Satz wie zum Beispiel: »Sehen Sie, Herr Lange, das müssen tisch an. »Nein«, erwiderte er, »gerade das sind sie nicht. Was Du Sie ins Symbolische vergeistigen«. Es war zum Piepen komisch, siehst, ist nur die Kruste – gewissermaßen der Einband, den außer- kam mir aber damals nicht so vor. dem ein geschäftstüchtiger Verleger noch besonders unterstreicht. Der geborgte Besitz einiger tief scheinender Zauberformeln Nee, Georg, der übliche Irrtum. Wenn Du mal gelernt haben wirst, machte mich überlegen. Ohne eigentlich zu begreifen, was dahin- durch das Äußerliche hindurch auf die innere, vergeistigte Sym- ter war, gebrauchte ich Phrasen, deren Sinn und Unsinn ich erst bolik zu sehen, dann wird Dir Karl May schon aufgehen – als ein viel später entdeckte. Es war aber doch schön, und ich beein- ganz anderer, größerer Symboliker und nicht nur dazu da, um die druckte komischerweise nicht nur mich selbst, sondern auch meh- Jugend zu unterhalten«. rere meiner gleichstrebenden Kunstkollegen. Mein Freund Lange Ich war baff. Daran hatte ich nie gedacht! Ich konnte beim be- und mancher andere hielten mich plötzlich für sehr »tief« und sten Willen in Karl Mays Werken nicht mehr sehen als eine im- »geistig« veranlagt, obwohl ich auf dieser geistigen Gitarre kaum merzu fortdauernde, dramatisch spannende Handlung – mal in ein paar Akkorde greifen, geschweige denn eine Melodie spielen den Bergen, mal in der Wüste, mal auf dem Wasser. Doll. Also konnte. dumm war man doch. Was der Liebe nicht alles wußte. Oder ge- Erwin Liebe war im Grunde genommen, ja doch trotz seiner tief heimniste er’s am Ende einfach hinein? hinten über den Rock fallenden Haare, der Volksschullehrer geblie- Erwin dozierte weiter. Wie alle ganz großen, ewigen Werke der ben, der er war. Heute, wenn er im Geiste wieder vor mir steht, sehe Weltliteratur könnten Karls natürlich auch von Kindern gelesen ich erst, wie er eigentlich immer dozierend an einem unsichtbaren werden. Das sei nur ein weiterer Beweis ihrer großen, naiven Gei- Pult oder einer unsichtbaren Tafel stand. Aber trotzdem nahm ich stigkeit – jawohl: Geistigkeit –, aber Jugendschriften seien sie des- damals von ihm an und lernte, was mir zu lernen bestimmt war, wegen doch nicht. Sie seien im Gegenteil für die heranwachsende wenn ich auch schließlich nichts lernte, als daß große und tiefe Jugend viel zu schwer, und ihr verborgener mystisch-symbolischer Worte auch große und tiefe Geräusche hervorbringen und daß ihr Kern erschließe sich erst nach langem Studium der tiefer liegenden Echo lauter ist als das der kleinen, »ungeistigen« Worte. geistig-symbolisch-völkisch urgermanischen Ideen. Das verlange

96 97 ernste Hingabe, Kenntnis der Gedanken Houston Stewart Cham- einen jener frühen Schauerromane von Karl May geborgt, einen berlains und des »Rembrandtdeutschen« Langbehn, Kenntnis ori- jener Romane, die Karl später, soweit er konnte, einsammeln und entalischer Philosophie und Rassenlehre, dies nur unter anderem – einstampfen ließ – doll. Mir fehlte wahrscheinlich noch der Sinn weil Karl Mays Werke nämlich kosmisch seien, daher allumfassend für das versteckte Rheingold in diesem Rheinstrom der Poesie. für das geistige Abendland. Sie enthielten die Edda ebenso wie die Also so war das. Ich war wieder einmal sprachlos, aber wie immer Siegfriedslegende; heldische Figuren wie Old Shatterhand und das fasziniert durch das Feuerwerk der großen Namen und mir so kühne Wunderpferd Ri seien nur äußere Hüllen für große, germa- »tief« erscheinenden Worte. nische Rassen- und Geistessymbole. Vorläufig sei diese Symbolik Zu Hause dachte ich lange darüber nach. Karl May, den ich bis- nur einigen besonders geistig hochstehenden Vorläufern und An- lang für einen spannenden Jugendschriftsteller gehalten – nein, das hängern zugänglich in Deutung und Verständnis; es sei schon gut, hatte ich nicht vermutet, daß hinter all seinen Geschichten ein tie- daß ich erst einmal das Körperhafte der äußeren Schale begriffen ferer, geheimer, kosmischurgermanisch-geistig-mystischer Sinn hätte. Ich sei ja erst siebzehn, hätte also bis dreißig genügend Zeit. steckte. Von nun an mußte man diese Geschichten ja ganz anders Er, Erwin, habe gerade dieser Tage einen Artikel über die Doppel- auffassen. Geistig-symbolisch mußte man sie auffassen. Sie beka- bedeutung der Figuren, Tiere und Landschaften bei Karl May ge- men sozusagen einen doppelten Boden… Also der Trapper, Prä- schrieben und stehe auch in eifriger Korrespondenz mit dem Mei- riejäger und Abenteurer Old Shatterhand war in Wirklichkeit der ster selbst und einigen intimen Freunden, so dem berühmten Maler germanische Rassegedanke – das heißt der Behüter der Schwachen Professor Sascha Schneider… und Unschuldigen, der Mann mit der tödlichen Eisenfaust, war »Ja«, redete Erwin aufgeregt weiter auf mich ein, »Karl May ist eine Art Siegfried auf der Suche nach dem heiligen Gral oder dem als Romancier ungefähr das, was Nietzsche als Philosoph gewesen Gold der Rheintöchter… Donnerwetter, das mußte ich doch ist – nein, halte mal – nur ungefähr, nicht genau dasselbe – Du ver- gleich dem Lange erzählen, der hatte ja auch den ganzen Karl May stehst, Georg, da ist die Religionsfrage; May war germanischer, gelesen. Also eine allgermanische Geheimideologie war da ver- weniger heidnisch als Nietzsche, der ja ein Todfeind des Christen- steckt! Toll, was der Liebe alles wußte. Dennoch war mir, als hätte tums war – aber im Grund ist die Welt Karl Mays der Nietzsches Erwin plötzlich einen Hasen aus seinem leeren Schlapphut hervor- sehr eng verwandt…«. gezaubert. Er wurde pathetisch: »Man könnte von jenen drei unsterblichen Bald darauf zeigte er mir eine Mappe des obenerwähnten, da- Genies sprechen – von Friedrich Nietzsche, dem Philosophen, mals sehr bekannten Malers und Athletenfreundes Sascha Schnei- Richard Wagner, dem Musiker, und Karl May, dem Epiker des ger- der. Professor Schneider war Sudetendeutscher. Die Gestalten, manischen Mythos.« die er zu Karl Mays Werken gezeichnet hatte, waren meist nackte Und dann wurde Erwin prophetisch: »Eines Tages, hoffentlich Figuren mit Sandalen, Lederbändern und -gürteln und manchmal nicht allzu spät, wird man die richtige Bedeutung Karl Mays er- auch strahlenden Schwertern. Es gab auch Fratzen mit künstlich kennen und würdigen!« glühenden Augen und kriechende Ungeheuer, die sich gefesselt Ich war sprachlos. Also da hatte ich die größten Bücher der epi- am Boden wälzten. Mir gefiel natürlich die äußere Welt in Trap- schen Literatur für einfache, spannende Jugendlektüre gehalten! perkleidung mit Flinte und Pulverhorn besser als diese »innere Außerdem hatte mir mein Freund Willi Gützkow sogar einmal Welt Karl Mays« – aber die innere war tiefer, das heißt geistiger,

98 99 und somit wertvoller, sagte mir Erwin, und ich glaubte es auch stellt. Vielleicht war sie innen anders? (»Hinter den Dingen, lieber halb. Freund, liegt die Wahrheit; diese Mediokrität ist nur Maske…«) Ja, sagte er, Old Shatterhand sehe so aus wie hier, nackt und mit Über dem Eingang stand groß: Villa Shatterhand. einem Schwert wie ein Wächter des Paradieses; vielleicht sei es al- Frau Clara May öffnete selbst. Wohlbeleibt, nicht direkt fett, lerdings auch Ormuzd oder Ahriman oder Siegfried, der Gott des aber doch eigentlich mehr bürgerlich als walkürenhaft. Um die Lichtes. Die Trapperkleidung sei jedenfalls eine Maske, denn man Schultern hatte sie einen Shawl und unsichtbaren, angenehmen dürfe die tiefsten, geistigsten, heiligsten Dinge nicht unmaskiert Kaffeeduft. Gut, dachte ich. Gut und gemütlich. Der Kachelofen unter das ungläubige, unwillige Volk bringen. Deshalb habe er, Er- schien auch schön geheizt zu sein. win, auch seinen Jesum Christum in Zeitz in die blaue Arbeiter- Leider müsse sie uns enttäuschen, sagte sie nach kurzer Begrü- kleidung gesteckt und nicht in das ihm eigentlich zukommende ßung. Ihr Gatte könne uns nicht sehen; er fühle sich durchaus nicht Kleid aus Sonnenglanz und überirdischem Himmelsschein… Ob auf dem Posten, auch hatte ihn der bevorstehende Prozeß viel Ner- ich nicht Lust hätte, einmal mit ihm nach Radebeul hinauszufahren ven gekostet. »Da will er so wenig Menschen sehen wie möglich«, und den großen Dichter zu besuchen? Er empfange sonst wenig sagte sie. neue Menschen, aber Erwin könne das schon arrangieren. Es Wir befanden uns in einer Art Vorraum, der sehr bürgerlich aus- würde ein unvergeßlicher Tag für mich werden und viel in meinem sah. Große, gerahmte Photographien hingen an den vier Wänden; Leben bedeuten. Karl May sei einer der wenigen ganz großen gei- sie stammten offenbar von Orientreisen, die Karl May und seine stigen Menschen unserer Zeit, nicht nur ein Dichter, sondern auch Frau gemacht hatten. Man sah Kamele, Moscheen und maurische ein Seher und Prophet… Häuser, sowie Dattelpalmen. Auch einige afrikanische Waffen wa- An einem regnerischen Herbsttage lösten wir auf dem Haupt- ren aufgehängt, einige Kelims oder Gebetsteppiche, auch ein ganz bahnhof in Dresden unsere Billette nach Radebeul. Der Regen kostbar gearbeiteter Sattel. Man hatte aber sofort den Eindruck, schlug klatschend gegen die Scheiben, hinter denen die im türki- daß all diese Dinge als Andenken auf Basaren für Schmuck und schen Stil erbaute Zigarettenfabrik Yenidze auftauchte. Durch den Zier gekauft worden seien. Es waren Raritäten wie die im Vorzim- Regen sah sie wie ein maurischer Feenpalast aus, und ich dachte an mer eines mittelstädtischen Reisebüros. Es fehlte nur noch der Karl Mays Orient-Reisebücher und -abenteuer und dachte: so, Fahrkartenschalter und die Zeittafel. dort müßte eigentlich Karl wohnen, wenn er so ist, wie er in den Im Wohnzimmer war der Kaffeetisch gedeckt über der roten Büchern zu sein vorgibt. Ach nein, das ist ja alles nur symbolisch, Plüschdecke. Es hätte ebensogut bei meiner Tante sein können, so fiel mir dann ein, wobei ich plötzlich eine ganz profane Sehnsucht gemütlich und bürgerlich war es. Irgendwo in einer Ecke stand ein nach einer heißen Tasse Kaffee bekam und einer knusprigen But- länglicher Glasschrank, und durch die sauber geputzte, spiegelnde, terschrippe dazu. Neben mir saß Erwin Liebe, sagte lange kein reflektierende Glasscheibe sah man ein enorm langes altes Gewehr, Wort und dann plötzlich: »Gleich sind wir da. Hoffentlich ist er der Kolben ganz mit silbernen Nägeln beschlagen und mit alten nicht bettlägerig…« Kerben von einem Messer darin. Das, wußte ich sofort, war der in Wir gingen durch den triefenden Herbsttag, Karl Mays Villa Karl Mays Büchern so oft beschriebene »Bärentöter«. Daneben entgegen. Sie sah enttäuschend bürgerlich aus, wie alle umliegen- lehnte ein kleineres, moderneres, karabinerartiges Gewehr – der den. Nicht übel, aber ich hatte mir etwas mehr Persönliches vorge- ebensooft beschriebene und erwähnte schnellfeuernde und repe-

100 101 tierende Henrystutzen, den Old Shatterhand so unfehlbar hand- »So, so, Sie sind Maler, höre ich«, sagte er, als er mir die Hand habte. gab, eine kleine, welke Greisenhand. Wie aus Glacéleder, dachte Schade, dachte ich, daß Karl May nicht herunterkommen kann. ich. Aus Glacéleder mit braunen Punkten, blau marmoriert. Ich Wie mag der Erfinder so vieler Phantasien in Person aussehen? Ich dachte an die Erfindungen dieses seltsamen Schriftstellers, der sich hatte nur einmal ein ganz schlechtes Brustbild von ihm gesehen, in seiner Phantasie in die unmöglichsten Gefahren begeben hatte, ganz verwischt. Ist er groß, klein, oder wie? Erwin hatte den Mei- der sich eine Faust von Eisen zugelegt hatte, mit der er einen Och- ster immer nur innerlich beschrieben, und ich – das fiel mir auch sen niederschlagen konnte – und der nun zwar äußerlich ruhig, ein – hatte nie nach seinem Äußeren gefragt. Unwillkürlich stellte doch nervös, besorgt und ängstlich in leisen, bitteren Worten mit ich ihn mir wie seinen Old Shatterhand vor: großmächtig, mit meinem Freund Liebe über seinen bevorstehenden Prozeß konfe- blondem Schnurrbart und vielleich sogar in Stulpenstiefeln. rierte. Da kam aber schon Frau May mit der weißen Porzellankanne Das also war Old Shatterhand in Wirklichkeit: ein kleiner, feiner, unter der gestrickten Kaffeewärmerhaube, und bald tranken wir hochzugeknöpfter Herr mit weißem Schnurrbart, mit der napoleo- duftenden Milchkaffee und sprachen kräftig den knusprigen klei- nischen Fliege unter dem Kinn und dem etwas gewellten langen nen Semmeln zu. Ein angeschnittener Napfkuchen stand auch be- Haupthaar, wie man es um 1870 trug. Die Augen waren hellblau, reit. Es war eine richtig bürgerlichbehagliche Stube, und das ein- wie mit weiß gemischt, und tränten in den Ecken, als seien sie in den zige Wilde darin waren Erwins lange, strähnige Haare; alles andere Wind oder Zug gekommen. Nichts Furchteinflößendes, schreck- atmete eine stille, leicht schläfrige Gemütlichkeit aus. Auch er- lich Blondes war um diesen Herrn, aber auch nichts besonders An- schienen die Photographien und Andenken wie vergilbt, als wären ziehendes. Man hatte den Eindruck, der sei innerlich voll Ruhe, die Reisen, an die sie erinnerten, vor einem halben Jahrhundert Heimlichkeit und Vorsicht gewesen. Er schien bestrebt, leiser auf- oder vielleicht auch gar nicht gemacht worden und sie – die An- zutreten als gewöhnliche Menschen, nicht lauter. Seine zierlichen denken – hätten immer zu diesem Haus gehört… Lederstiefelchen wirkten fast wie lederne Filzpantoffel, wenn ich Erwin leckte sich die Finger, an denen Honig kleben geblieben so sagen darf. war, und sprach leise, aber eifrig mit der Frau des Hauses über Immer wieder sah ich auf die kleine, zierliche, greise Schriftstel- ihres Mannes bevorstehenden Prozeß. Ich langte noch einmal zu, lerhand aus rosa Glacéleder. In seinen Wunschträumen trieben aß ein Stück Napfkuchen und hing meinen Gedanken nach. Plötz- doch diese weißen Knöchel einen Zimmermannsnagel mit einem lich hörte man ein Geräusch: leise, behutsame, aber sichere Schritte Hieb durch ein vierzölliges Eichenbrett! Etwas Kühles, leicht Frie- kamen die Treppe vom oberen Stock herunter. Wie von Filzschu- rendes war auch um ihn, gewissermaßen als stünde er immer im hen gedämpft klang es. Da – ein kleiner, weißhaariger Herr kam die Winde und fröre… Stufen herab und schritt uns freundlich entgegen. Bald verabschiedete er sich fast geräuschlos und ging von uns Er war es, der Meister selbst. Er hatte es sich überlegt und kam fort, in sein Studierzimmer hinauf oder vielleicht auch gleich ins seinem treuen Anhänger guten Tag sagen. Bett. Wir hatten uns höflich erhoben. Ich kaute noch an meinem Es war dunkel geworden. Frau May hatte eine Lampe angezün- Stück Napfkuchen, was er aber nicht zu sehen schien. Er reichte det, und auf einmal brannten auch die flackernden Gaslaternen uns beiden die Hand. draußen, und man sah die unfreundliche Nässe und die tanzenden

102 103 welken, roten Herbstblätter durch die bürgerlichen, gardinenbe- ein interessantes, trotziges Gesicht und, wie alle Wikinger, eine hängten Fenster. Frau May sagte, wenn wir den Sechs-Uhr-Zwan- Vorliebe für geistige Getränke. Er liebte es, sich narzißtisch mit zig noch bekommen wollten, das sei ein Schnellzug aus Berlin, der sich selbst zu beschäftigen und war ein großer Dandy. Sprach gern in Radebeul hielte – dann müßten wir uns beeilen… über Aubrey Beardsley und Oscar Wilde, die damals ja einen enor- Und das taten wir denn auch und rannten durch den leisen men Einfluß ausübten. Kittelsens Talent ging auf ähnlichen Wegen, Regen zur Station. und zudem hatte er wie viele Norweger eine mystische Ader. Vieles war mit diesem Besuche verflogen. Der große Mann war Ja, Kittelsen war Norweger. Kam ihn eine Schwermut an – und doch irgendwie kleiner, als ich gedacht hatte. Für mich war es je- das geschah häufig –, so ging er in das damalige Automatenrestau- denfalls, als hätte ich eine verblaßte Photographie gesehen, die rant am Pirnaischen Platz und tröstete sich mit einem echt kittel- dann wieder ins Photographiealbum zurückgegangen war. Natür- senschen Mischtrank aus Bier und Kognak. Er trank dann so viel lich sind solche Besuche immer unbefriedigend. Da bleibt so viel und so gründlich, bis ihn eine Art heulendes Elend packte und er steif, verblasen und förmlich. Auch war ich zu jung und dumm, weinend, jammernd und seinen Hut fortschleudernd von dannen damals. rannte. Er bewohnte ein möbliertes Zimmer in der Zirkusstraße. Mit Erwin Liebe kam ich langsam auseinander. Seine Reden er- Seine Wirtin, eine immer gut frisierte Frau Dauth, hatte eine kleine, schienen mir hochtrabend und letzten Endes leer, phrasenhaft und lauschige Weinstube mit Damenbedienung, und oft, wenn wir gekünstelt. Bald darauf ging er nach München und ich nach Berlin. nachts noch in seinem Zimmer diskutierend beisammengesessen Mein neuer Freund Kittelsen kam dazwischen; der war viel realer und uns unterhalten hatten, hörten wir sie mit einer Lieblingskell- und zynischer, was mir mehr lag als Erwins halbdilettantisches Ge- nerin, die auch bei ihr wohnte, leicht animiert nach Hause kommen. rede von Geistigkeit und Symbolismus. Unsere Wege kreuzten Sie war, so erzählte man sich, eine geschiedene Offiziersfrau und sich nie wieder. Das Stück »Jesum Christum in Zeitz« ist auch nie- hatte – so sagte sie selbst – aus Gram über ihre verfehlte Ehe diese mals aufgeführt worden. Ich kam durch Kittelsen mit wirklich mo- lauschige Damenkneipe »Zur Feengrotte« aufgemacht, nur um derner und großer Literatur in Berührung, und nach den Brüdern ihren Schmerz zu vergessen. Die Geschichte war recht romantisch Goncourt, nach Flaubert, Zola und so weiter erschien der gute und sentimental, und aus Höflichkeit und weil sie eigentlich so Karl May mir reichlich veraltet und blieb, was er war: ein Schrift- eine nette Wirtin war, glaubten wir auch, was sie uns erzählte. steller für die heranwachsende Jugend. Machten wir gelegentlich jener »Feengrotte« einen Besuch, so Erst viel später, als ich las, daß seine Bücher zur bevorzugten wurden wir fast wie Verwandtschaft angesehen, nicht wie vorüber- Lektüre Adolf Hitlers gehörten, fiel mir jener so lange zurücklie- gehende sogenannte »Zahlmeister«. Die Kellnerinnen hatten, der gende Besuch bei Karl May wieder ein. Und ich dachte mir: viel- Mode der damaligen Zeit entsprechend, dicke Figuren, was mir leicht hatte er doch mehr Einfluß, und nicht bloß auf die Phantasie und Kittelsen keineswegs mißfiel. Es war ganz nett, und zu uns der heranwachsenden Jugend? waren sie fast wie gutmütige Tanten. Auch wurden wir keineswegs zum teuren Trinken animiert; eine Flasche Porter genügte. Dafür Kittelsen war auch ein sehr eigentümlicher Mensch, der schon in setzte sich dann eine der dicken Kellnerinnen einem auf den Schoß England gewesen war und aus einer außerordentlich kinderreichen und das waren ja immerhin oft an die 180 Pfund – aber wenn man Familie stammte – er war, glaube ich, der dreizehnte Sohn. Er hatte jung ist, merkt man so was nicht.

104 105 Mit Kittelsen war ich damals fast täglich zusammen. Wir gingen Buch gelangweilt wegwerfen. Langsam, ganz langsam müsse man nach der Akademie spazieren, diskutierten und tauschten unsere sich »emporlesen«: vom sogenannten Schauerroman, der von Meinungen aus, oder ich begleitete ihn in die Motette in der Handlung, Rührung und Spannung nur so troff, über Dumas und Frauenkirche. Er war sehr musikalisch; ich war es weniger, aber die Walter Scott bis hinauf zu Hauptmann, Ibsen, Strindberg und dämmerige Stimmung in der schönen Kirche, die angeregte Unter- Maurice Maeterlinck, mit Stationen mittwegs, erinnere ich mich, haltung vorher und der wohltuende Gesang der Stimmen gefielen bei Tolstoi oder Dostojewskij, Zola, Tschechow oder Leonid An- mir. drejew und »Sanin« – damals, nach der verunglückten russischen Kittelsen hatte viel gelesen, und Gespräche mit ihm waren immer Revolution von 1905, einem der umstrittensten und gelesensten anregend für mich. Er machte mich auf dieses oder jenes neue Buch Bücher, weil darin nämlich von ganz »freier« Liebe die Rede war. aufmerksam – zum Beispiel auf den damals plötzlich sehr in Mode Diese Sammlung wurde aber nicht bis zum Ende fortgesetzt; ich gekommenen Dämoniker und Satiriker Gustav Meyrink, von dem glaube, sie hörte schon bei Zola auf. Es rentierte sich wohl nicht. man auch persönlich phantastische Geschichten berichtete. So Die Spekulation auf den bildungshungrigen Proleten oder das sollte er sich selbst von einer schweren Rückenmarkslähmung Schauerromane verschlingende Dienstmädchen, die sich nun lang- durch einfaches Ansehen eines Bergkristalls nebst hypnotischen sam zu den literarischen Höhen hinauflesen würden, war eben Fußbädern geheilt haben; auch sollte er auf dem Wasser gehen kön- grundfalsch, denn: einmal Schauerroman – immer Schauerroman. nen, ohne einzusinken, und daß er wie einst Strindberg auf dem Was beispielsweise mich angeht, so hat mich phantastischdämoni- Wege zu seiner Braut von sich behauptete, er könne sich unsichtbar sche Schriftstellerei von jeher angezogen, und so las ich denn auch machen, das verstand sich fast von selbst. Mein Freund Kittelsen, alle, deren ich habhaft werden konnte. Ich las Gustav Meyrink, vollkommen im Bann solch dämonischer und halbdämonischer war entzückt von Hanns Heinz Ewers (seine »Alraune« war 1913 Schriftstellerei und Spekulationen, behauptete von sich dasselbe: das Buch des Jahres, jeder sprach darüber) und verschlang Maurice auch er könne nach Wunsch und Bedarf verschwinden. In meinem Renard mit Begeisterung. Ich verehrte Barbey d’Aurevilly und Beisein gelang ihm die Unsichtbarmacherei zwar meistens nur halb, legte mir nach seinem Muster eine Spazierstocksammlung an; gern ein Rest einer mehr oder weniger verschwommenen Gestalt blieb hätte ich auch einen Zylinder getragen und ein violett-schwarzes stets zurück (der vorher eingenommenen Kognaks und Biere unge- Samtcape, aber dazu war die Zeit nicht mehr. Viele dieser Autoren achtet). befruchteten meine Arbeiten oder zumindest, wenn ich es so nen- Ich war ja auch ziemlich belesen. Ich hatte mich sozusagen em- nen kann, meine Philosophie des Lebens. Das Seltsame, Geheim- porgelesen – ganz buchstäblich, als Abonnent auf eine Bücherserie, nisvolle, oft bewußt Verrückte zog mich in seinen Bann. Es war die damals in Berlin von dem genialen Zeitungsunternehmer August schön und auch wieder recht jugendlich, denn phantasievolle junge Scherl herausgebracht und »Lese Dich Empor« betitelt war. Scherl Menschen machen wohl immer ähnliche Perioden durch. hatte die ulkige Idee gehabt, daß eigentlich jeder von uns anfäng- Kittelsen zum Beispiel machte in einer ihm eigenen Mischtech- lich ein ungebildeter Banause sei und sich erst allmählich an die nik merkwürdige Zeichnungen, die er als Federzeichnungen be- höheren geistigen Genüsse gewöhnen müsse. Man könne, meinte gann und in Wasserfarbe und Pittkreide beendete. Meist waren es er sehr richtig, eben nicht gleich mit ganz schwerer Literatur an- traumhafte, ornamentale Szenen, die er zu Papier brachte, in per- fangen. Man werde sie nicht verstehen und nach kurzer Zeit das spektivisch verzerrten Linien und geschmackvoll abgestimmten

106 107 Farben und von sonderbaren Wesen, halb Vogel-, halb Spinnen- Mit wutbebenden Händen gab ich noch eine kräftige Kopfmassage menschen, bevölkert. Eine etwas dilettantische Genialität, ein An- dazu. Es war eine richtige Fratellinische Clownszene, bei der ich dersseinwollen, eine absichtliche Krankhaftigkeit lag in allem, was nun die Lacher und den Beifall auf meiner Seite hatte, und mein er machte. »Du«, pflegte er zu sagen, »ich bin ein dreizehntes Kind. schelmischer Freund schritt schnell und ganz fassungslos über Entweder werde ich ein Genie oder ich sterbe jung«. diese unerwartete Kopfwäsche der Toilette zu. Wir kamen oft hart aneinander. Denn er war ein träumerischer, abwegiger, zum Absurden neigender Mensch, der seine angebore- nen Verkehrtheiten noch hegte und pflegte. Ich wiederum hatte bei aller angeborenen Neigung zum Phantastischen und Grotesk- Satirischen einen stark ausgeprägten Sinn für die Wirklichkeit, für etwas protestantisch Unornamentales im Gegensatz zum brütend überladenen Zierat der katholischen Kirche. Mein Wirklichkeits- sinn gab mir eine gewisse Balance. Gewiß, schon damals zog mich das Irreale an, aber die mir innewohnende Skepsis, ein fast sport- liches Interesse am Aufsuchen der »Wahrheit«, des tatsächlichen Faktums, brachte mich immer wieder zum sicher dünkenden, banalen Alltag zurück – und gleich stand ich wieder mit meinen vier Beinen auf dem Boden der »gesunden« Vernunft. Ich war aber auch in manchen Dingen empfindlich, was mein Freund Kittelsen manchmal zu fühlen bekam. Eines Tages, in einem Anflug von Schelmerei, neckte er mich beim Mittagessen damit, daß er mir dauernd die Enden meiner nagelneuen Schmetterlings- krawatte aufzog, mit frevlen Anspielungen und Hohn auf meinen »Dandyismus«. So verspottete und foppte er mich eine ganze Weile, während ich versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu ma- chen, und geduldig meine Krawatte neu band. Schließlich wurde es mir zu toll, mein Stolz war verletzt, zumal am Nebentisch andere Kunstschüler und Studierende schon anfingen, sich auf meine Kosten zu belustigen. Mit verzerrtem, liebenswürdig darüberste- hend-sein-sollendem Lächeln gebot ich Einhalt, aber von neuem, durch lachenden Beifall ermuntert, schnappten Kittelsens Finger abermals von unten nach meiner Krawatte. Da packte mich eine alttestamentarische Wut, ich nahm meinen mit italienischem Salat gefüllten Teller und leerte den gesamten Inhalt auf seinen Kopf aus.

108 109 gerblätter hatten: die fehlende Naturstudie war durch Erfindungen und einseitige Stilisierung ersetzt. Ich stand unter dem Einfluß von Simplizissimuszeichnern, Bruno Pauls, eine Zeitlang sogar eines Plakatmalers namens Klin- VI Nur hinein ins volle Menschenleben ger und des Buchkünstlers und Illustrators Emil Preetorius, dessen japanisierende, langbeinig bewegte Figuren mich begeisterten. Im Unterbewußtsein hatte ich zwar eine Ahnung, daß da was nicht asse ich meine Dresdener Erfahrungen kritisch zusammen, so stimmte; aber wenn ich dann wieder fein säuberlich ein Blatt ent- Fkann ich ohne Ressentiment sagen: viel gelernt habe ich in die- worfen hatte, freute ich mich darüber, glaubte erneut an mein ser Lehrzeit nicht. Was ich in den zwei Akademiejahren lernte und Talent und meinte es dem der geliebten Vorbilder ebenbürtig. Die erfuhr, bildete sich im Umgang mit meinen Freunden heraus oder Redaktionen, die ich mit meinen Einsendungen beglückte, urteil- kam aus selbstaufgestöberten Büchern und Bildern. Ich begann da- ten allerdings strenger und sandten mir meistens alle meine Blätter mals mit dem einfachen Skizzieren nach der Natur in der Art der zurück. altjapanischen Zeichnerschule, das heißt, ich machte mir in kleinen Allmählich änderte sich mein Stil ein wenig. Wie es dazu kam, Taschenbüchern flüchtige Notizen über gehende Menschen, Zei- weiß ich selbst nicht, ich nehme an, aus reproduktionstechnischen tungsleser oder Esser im Café und über alle möglichen Dinge, die Gründen. Ich zeichnete jetzt die Kontur einer Figur einmal linear mich umgaben. ganz gleichmäßig aus und lavierte dann willkürlich, aber doch Möglichst alles zeichnen zu lernen und zu können, erschien mir kunstgewerblich das ganze Blatt mit Graphittusche aus. Die Gra- eine wichtige Vorbedingung für den Illustratorberuf. Ich hatte ja phittusche kaufte ich in einem dicken Stück bei meinem Dresdener schon als Schüler nach der Natur skizziert, aber nicht so systema- Malutensilienhändler in der Amalienstraße, wo ich einen laufen- tisch und nicht direkt im Hinblick auf später. Ich nahm damit den Kredit hatte und nicht gleich bar zu bezahlen brauchte. Später, meine Spezialausbildung selbst in die Hand, denn auf der Akade- wohl unter dem Einfluß meines Freundes Kittelsen, erweiterte ich mie gab es keine solchen Naturstudien; vom Fünfminutenakt- meine monochrome Technik und kolorierte nun einzelne Flächen zeichnen, wie ich es später bei Colarossi in Paris übte, wußte man flach mit geschmackvollen Farben. Auch fing ich an, die dünne, dort nichts. Ich zeichnete viel zu Hause, meist aus dem Kopfe. spitzige Zeichenfeder zu gebrauchen. Nicht in freier Manier, etwa Und zwar viel Karikaturen, was auch wichtig war, denn von den im Rembrandtschen Sinne – nein, ich zeichnete mir vorher alles ge- Karikaturen bin ich bald zu den Japanern gekommen, zu Daumier nau in Bleistift vor, um ja keinen Fingerbreit vom rechten Weg des und zu dem seinerseits von den Japanern ausgehenden Toulouse- Umrisses abzuweichen. Diese oft radierten Umrisse zog ich dann Lautrec. Ich merkte bald, wo es fehlte, sah mir also das Leben sorgfältig mit der dünnen Feder in Tusche nach. außerhalb der Akademiewände und des gestellten Modells genauer Das alles zeigte noch die ganze Befangenheit und Unfreiheit an und begann zu notieren, was mich fesselte und interessierte – meines Anfängertums. Wohl stümperte ich mich langsam vor- und das war fast das gesamte zappelnde, rennende, wirbelnde Le- wärts, doch zur Beherrschung meiner einfachen Instrumente, die ben um mich herum, Menschen, Tiere und Dinge. So kam mehr sich ja seit den Höhlenzeichnungen kaum verändert hatten, Lebensnähe in meine Zeichnungen, die den Fehler vieler Anfän- brauchte es noch genug Zeit und Mühe, viel Erfahrung und viel

110 111 Enttäuschung. Das Gefühl, trotz allem auf dem richtigen Wege zu Ein zweites Mal empfand ich Freude und Stolz, als ich dann sein (oder zumindest auf Nebenwegen, die neben dem richtigen meine Zeichnung wirklich gedruckt sah. Zwar hätte ich sie mir herliefen und einmal in ihn einmünden würden) – dies Gefühl etwas größer gewünscht, aber schließlich war es ein Anfang und hatte ich. Meine ehrgeizigen Jungenspläne von Riesenölbildern, vollauf genügend, daß ich neben anderen, von mir so sehr verehr- Leiterstaffeleien und besengroßen Pinseln waren in den Hinter- ten Männern stand: neben August Hayduk, neben Feininger, dem grund getreten. Ich dachte gar nicht mehr daran. Woran ich immer späteren Kubisten, der damals noch für Witzblätter zeichnete, und mehr dachte, war, wie ich meine Fähigkeiten, mein Geschick im neben Herbert Schulz-Berlin, einem Unbekannten, den ich in mei- Abzeichnen von Menschen und Dingen, in Geld umsetzen könne. ner Unbildung trotzdem bewundernd verehrte. Dieser lächerlich Wie sollte man’s machen, wie herankommen an die nahrhafte, bescheidene Erfolg hatte einen guten Einfluß auf mich. Er ermu- dichtbelagerte Futterkrippe? tigte mich und machte mich innerlich sicherer. Natürlich schickte Mein Glaube an Geld war noch durchaus gesund und ländlich. ich auch meiner Mutter ein Exemplar des »ulk« nach Stolp und tat Er entstammte durchschnittlichen Volksansichten, war noch mich dicke: ja, so schrieb ich ihr, Maler sei eben doch kein so ganz nicht beschmutzt von den Reformideen über den Tagesbetrieb brotloser Beruf, und ich trüge jetzt sogar Lackhalbschuhe wie der sich erhaben dünkender Geister. Darin war ich ganz unintellek- Landrat von Schmehling. tuell und völlig unverbildet. (Auch heute noch ist das Geld für Wie naiv das alles war! Ich war eben erst siebzehn geworden, als mich das Symbol der Unabhängigkeit, ja der Freiheit überhaupt. ich den schmalen hinterpommerschen Feldweg verließ und mich auf Jede Idee kann mehr oder weniger Schwindel sein; ein Hundert- die breite, glattgewalzte Chaussee der Witzblattillustration begab. dollarscheck bleibt ein Hundertdollarscheck. Leider habe ich Wie gesagt, ich war nicht »kunstgebildet«. Der Wertbegriff »Kunst« einen Beruf, mit dem kein Geld zu verdienen ist…) Eines stand spielte für mich gar keine Rolle. Mir kam es darauf an, mit meiner fest: für Witzblätter zu zeichnen war eine günstige Chance. Und Begabung so schnell wie möglich zu verdienen. Ich betrat den gro- so zeichnete ich drauflos und sandte unverdrossen meine Arbei- ßen Zirkus nicht als idealistischer Degenschlucker oder Feueresser, ten den Redaktionen. sondern ich wollte einfach die Zuschauer mit unterhalten, nett zu Eines Tages – ich hatte wieder in banger Erwartung ein paar ihnen sein und ihnen in netter Weise ihr Geld abnehmen. Von der Blätter an den »ulk«, die Witzbeilage des »Berliner Tageblattes« Ecke, in der die Schlangenbändiger und Menschenverbesserer ihr geschickt – bekam ich die Mitteilung, daß eine kleine Zeichnung Wesen trieben, hielt ich mich sorgfältig ferne. von mir mit selbstverfaßter Unterschrift angenommen sei und in Wie und warum ich der wurde, der ich heute bin, ist mir unbe- einer der nächsten Nummern erscheinen werde. Mein Stolz war kannt. Vielleicht sind eben manche Menschen wie Zwiebeln, bei unbeschreiblich. Ich sah mich schon als gutbezahlten ständigen denen immer neue Häute zum Vorschein kommen. Ich glaube, als Illustrator. Hätte ich damals schon Visitenkarten gebraucht, ich ich an den Schalter kam, gab mir der Schalterbeamte mehrere Bil- hätte kleingedruckt unter meinem Namen vermerken lassen: Mit- lette auf einmal. Ich fragte natürlich: »Warum bekomme ich meh- arbeiter des »Berliner Tageblattes«. Donnerwetter, ich hatte eben rere Billette, und der vor mir und der neben mir kriegen nur eins?« Glück. Als Honorar erhielt ich sehr bald zwölf Mark, und in Erfül- »Ja«, sagte der Beamte, den ich zwar nicht sah, aber dessen Stimme lung eines langgehegten Wunsches kaufte ich mir sofort ein Paar ich hören konnte, »Du bekommst mehrere Billette, weil Du näm- wunderbar nach innen gebogene amerikanische Lackhalbschuhe. lich auf Deinem Wege mehrmals umsteigen mußt« – und das

112 113 mußte ich denn auch mehrmals, von einer unteren in eine obere der hatte so eine Gulbranssonsche Manier, und ich wiederum Klasse und umgekehrt. nahm von ihm eine gewisse Art regenfädigen, parallelen Strichs an. Der erste kleine Erfolg belebte meinen angeborenen Fleiß. Es Auch Hermann Vogel-Plauen, ein Mitarbeiter der »Fliegenden war der Korbmacherfleiß meines Großvaters. Während draußen Blätter«, beeinflußte mich. Herr Chefdekorationsmaler Grot hatte die Vögel in den Bäumen zwitscherten und die Sonne in mein mich schon in Stolp, als ich noch auf der Schule war und seinen Fenster schien, zeichnete ich Hunderte von Blättern. Sie stellten sonntäglichen Zeichenkurs in Linienstilistik besuchte, auf Vogel- eigentlich immer dasselbe dar: zwei Figuren, die sich gegenüber- Plauen hingewiesen. Grot hatte ihn einmal in Plauen besucht und standen, grotesk verzerrt. Dazu erfand ich Witze. Sie waren meist erzählte faszinierend von dem kleinen Buckligen, dessen Blätter recht unwitzig und schematisch, aber die Zeichnungen waren späte Früchte der großen romantischen Zeichnertradition Moritz leichter verkäuflich, wenn ich die Witze mitlieferte. Allmählich von Schwinds und Ludwig Richters waren. Er konnte alle Tiere wurde es eine wahre Schinderei, passende Witze zu finden, denn zeichnen: Eichhörnchen, Hasen, Eulen, Stare und den schlauen ich war kein Witzbold, und meine Weiterreise zur Vereinsamung, Fuchs in seinem Bau. Wie ein Schwindscher Eremit war er im deut- zur Sammlung, zum wirklichen Humor und zur gerechten Verach- schen Wald zu Hause. Ich liebte ihn sehr und glaube, daß heute tung der Masse hatte noch nicht begonnen. Nur meine Fahrkarten meine Blätter viele Spuren seines guten Einflusses aufweisen. hatte ich in der Tasche. Es war einfach toll, was man so alles machte – denn war ich nicht Ich war ein Esel unter Eseln, aber sehr heiter, wenn ich jetzt da- gleichzeitig von August Hayduk begeistert, der damals ganz ran zurückdenke. Unter dem Einfluß meiner Vorbilder ging es mir »schick« war und Annoncen für das große »Kaufhaus des We- wie allen, die ein zeichnerisches Talent ererbt haben: ich verlor stens« zeichnete? Schwerlich hätte jemand in meinen Zeichnungen ganz die naive Ursprünglichkeit meiner Schuljungen- und Kind- aus jener Zeit den späteren Grosz ahnen können. Und doch war heitszeichnungen. Dafür gewann ich eine rein manuelle Geschick- ich im allgemeinen recht zufrieden mit mir und meiner Umgebung. lichkeit. Technisch probierte und experimentierte ich mit allen Man druckte Sachen von mir und würde gewiß öfters welche druk- möglichen abgeguckten Methoden, bis vor lauter Spritzbürste und ken. Sie brachten auch Geld ein, und das gab mir ein Gefühl der Mustersieb überhaupt keine Groszphysiognomie mehr zu erken- Überlegenheit gegenüber meinen Mitstudierenden, die nicht ge- nen war. Merkwürdig, merkwürdig: wenn ich auch Daumier, Lau- druckt wurden und kein Geld verdienten. Es hob mich innerlich, trec, Forain und die japanischen Holzschneider und Zeichner von was vielleicht dumm war, aber nicht unnatürlich, denn ich hatte ferne kennengelernt hatte, so trat ich doch nicht direkt in ihre Fuß- eben noch Achtung vor allem »Gedruckten«. Wenn etwas gedruckt stapfen, sondern auf Umwegen in die ihrer kleineren Nachtreter. wurde, wenn es gar in der Zeitung stand, so war es eben wahr. Daß So kam zum Beispiel Preetorius sichtlich von Hokusai her und böse Menschen eventuell auch Lügen drucken könnten, kam mir der Wiener Julius Klinger, dessen Muster ich fast kopierte und nicht in den Sinn. Und da auch ich nun »gedruckt« war, wenn auch von dem ich mir auch eine bestimmte Art, stilisierte Schuhe zu nur klein, so hatte ich solche Achtung auch vor mir selber. zeichnen, angewöhnte, von Aubrey Beardsley – aber der richtige Beardsley ließ mich seltsamerweise kalt. Ich nahm die Epigonen Die Zeit des Schlagwortes »Werbe mit Wahrheit« war auch noch ernster als die Schöpfer. Sogar so rührend kleine Unbekannte wie nicht angebrochen, denn damit hätte man ja zugestanden, daß viel- der obenerwähnte Herbert Schulz-Berlin machten mir Eindruck: leicht auch mit Unwahrheit geworben werden konnte.

114 115 Wir lebten ja noch in den letzten harmlosen, einfachen, ja fröh- den Menschen. Zu denen konnte ich ja immer hinuntersteigen, lichen Jahren vor dem ersten Weltkrieg, noch nicht in der von wenn ich wollte. Aber meine Hoffnung ruhte nicht auf anderen, Nietzsche vorausgesehenen und vorausgedachten Welt. Die Über- nur in mir allein. Ohne ein intellektueller Egoist zu sein, nahm ich menschen, die zerstörerischen Machiavells waren schon da, aber doch eigentlich nur mich selbst wahr. Ich wollte mich durchsetzen – sie betätigten sich erst in Bohèmecafés, Ateliers und kleinen Zir- das war meine einfache und wohl allen beginnenden Künstlern keln, oder sie reagierten sich in Zeitungsfeuilletons ab. Die Uhren eigene Lebensphilosophie. Daß ich vollständig »unpolitisch« war, waren natürlich schon gestellt. Es gab schon Hitler, Mussolini und versteht sich von selbst. Lenin; sie hatten schon ihre Fahrkarten und wußten, wo sie um- Man vergesse nicht, daß ich hier von einer Zeit berichte, die noch zusteigen hatten. Aber vor uns einfacheren Sterblichen lag die rokokohaft zivilisiert war und in der die Politik überhaupt nicht so Zukunft verhüllt. Vereinzelte Schreie der Orakelpriester klangen interessierte oder zu spüren war wie heutzutage. Der Reichstag – schrill und unwahrscheinlich. Der Mensch ist ja in erster Linie bekanntlich dem deutschen Volke gewidmet, wenigstens stand das Optimist und will überleben; daher verstopft er gern seine Ohren groß vorne dran – wurde »Schwatzbude« genannt. Opposition mit dem Wachs der Hoffnung, wartet bis zum letzten Augenblick machte nur die böse Sozialdemokratie, die dauernd am Wehretat und findet Kassandra unheimlich. herumkritisierte. Man lebte in einer ruhigeren und billigeren Welt, Ich war damals ein freundlicherer Mensch als heute, und so bot hatte seit fast fünfzig unwahrscheinlichen Friedensjahren kein Blut sich mir die Welt auch freundlicher dar. Heute weiß ich, daß ich gerochen und keine Leichenmassen gesehen und war so »ver- einen Weltuntergang miterlebt habe, und daß die letzten Jahre die- weichlicht« worden, daß das kleinste bißchen menschlichen Un- ser versunkenen Welt die unbewußtesten und daher glücklichsten rechts allgemeine Aufregung hervorrief. Ich besinne mich noch, meines Lebens gewesen sind. Die Träume, die damals geträumt wie sich ein paar arme Asylisten mit Methylalkohol vergifteten wurden, stammten meist von einfachen Idealisten. Man sprach oft und zirka sechs davon starben. Mein Gott, was für ein Gezeter und vom sogenannten Bebelschen Zukunftsstaat. Bebel war der Führer Protestgeschrei gab es da in allen Blättern! Die bolschewistisch- der deutschen Sozialdemokratie, und diese wieder war in Deutsch- faschistische Menschenverachtung, der Mensch als Nummer ohne land eine Art Kinderschreck. Wenn man von einem sagte, »der ist Eigennamen – all das war noch fern. Nicht allzufern, aber immer- ein Roter«, so bedeutete das: ein Sozialdemokrat, also nicht viel hin waren es doch noch Jahre, in denen es noch »Menschenrechte« besser als ein Einbrecher, Brandstifter, Frauenschänder und der- gab. Etwas war da noch spürbar von den großen Humanisten, die gleichen. Später erwies die Sozialdemokratie sich als ein harmloser zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland lebten und wirk- proletarischer Versicherungsverein, und der schöne Bebelsche Zu- ten, etwas von Goethe, von Weimar als Kulturbegriff, von den kunftsstaat als eine Seifenblase. Ich erwähne ihn nur, weil er damals Brüdern Humboldt, von Hardenberg, Winckelmann, Büchner, stark im Vordergrund stand. von der deutschen Romantik – obwohl diese irrationale Bewegung Meine eigene Hoffnung war allerdings nie die Masse (obwohl schon Keime in sich trug, die erst nach 1918 ausreiften. Vor dem mir Spengler und der wunderbar klare Gustave Le Bon noch voll- ersten Weltkrieg waren in Deutschland Sozialismus und Pazifis- kommen unbekannt waren). Schon rein äußerlich zeigte sich mus identisch, und Kommunisten gab es Gott sei Dank bei uns meine Absonderungstendenz. Ich lebte hoch über allem, in einem nicht. Rosa Luxemburg, die »rote Rosa«, war eine fleißige sozial- Bodenatelier, näher dem Mond, den Sternen und den Vögeln als demokratische Organisatorin; erst viel später, nach Deutschlands

116 117 Zusammenbruch, wurde sie Kommunistin, nicht ohne vorher sich stammten alle aus mehr oder weniger kleinbürgerlichen Familien mit dem Massenmeister Lenin noch theoretisch mißbilligend aus- und hatten sowieso kein Mitgliedsbuch eines Arbeitervereins in einanderzusetzen. der Tasche. Trotzdem standen wir gefühlsmäßig auf der Seite der Ab und zu drang der politische Rummel auch in die Akademie- Demonstranten, denn für die säbelschwingende Polizei oder für ateliers, allerdings ohne nachhaltige Folgen. Die Sozialdemokratie das Militär, wie es da in den Nebenstraßen bereitstand, dafür hat- agitierte damals für das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht ten wir akademischen Bürger, wir angehenden Maler und sonsti- anstatt des in Deutschland noch teilweise geltenden sogenannten gen Künstler eben auch nicht viel übrig. Klassenwahlrechts, und ich erinnere mich genau an so eine riesige Gewiß, der Polizeisäbel war ein Symbol der Obrigkeit. Daß sich Wahlrechtsdemonstration der Dresdener Arbeiter. Es war ein leb- mit dem Säbel nicht diskutieren ließ, war klar, der hing aber eigent- hafter Tumult beim königlichen Schloß, ein Haufen Arbeiter stand lich immer unsichtbar über uns allen. Er löste einfach den Rohr- vor der geschlossenen Eisentüre, man rief Schlagworte aus und stock unserer Jugend ab. Und wenn die Obrigkeit nicht allzu höf- sang Arbeiter-Freiheitslieder. Die Prager Straße war polizeilich ge- lich war, so war die Höflichkeit eben wie das ganze Volk in drei räumt worden; in Seitenstraßen sah ich berittenes Militär bereitste- Klassen gestuft und da blieb für die zweite und dritte nicht viel üb- hen, bei dessen späterem Eingreifen es auch einige Verwundete rig. Aber das war in Ordnung. Es herrschte, so darf ich wohl sagen, gab. Ich sah, wie neben mir ein Polizist auf einen sein Fahrrad füh- noch wilhelminische Disziplin, und eigentlich sah man ja doch bis renden Proleten eindrosch. Dem Mann zerriß er die Jacke; er war hinunter zum dritten Proletenstand staatserhaltend treu zum Kai- ein dicker, rotgesichtiger Sachse und schlug wütend mit der flachen ser auf. (Von der bei Unruhen bestehenden Schießerlaubnis auf Klinge auf uns Flüchtende los. Ich weiß noch, daß dieser Teil der Vater und Mutter hätte mancher Proleten- und Bauernjunge ohne Demonstranten beim Räumen der Straße in einen Bierkeller floh, weiteres Gebrauch gemacht; so viel verlangte Wilhelm schon von wo viele von uns sich im Klosett einriegelten. Aber die Polizei ver- seinen treuen Soldaten.) folgte uns nicht weiter; sie hatte uns nur auseinandertreiben wol- Der Staat repräsentierte sich im Militär- und Polizeistand in len, und bald saßen wir, Demonstranten, neugierige Mitläufer und seiner ganzen erhabenen, unantastbaren Größe und Gewalt. Wenn bloße Schlachtenbummler, wie üblich hinter unseren kühlen Bier- bei einem unbotmäßigen Kinde alles andere versagte, so brauchte krügen und diskutierten unsere aufregenden Erlebnisse. Mir hatte man nur zu sagen: »Ich hole den Schutzmann, wenn Du jetzt nicht man drei teure Havannazigarren zerdrückt und meinem Freund artig bist« – das wirkte magisch, das Kind gehorchte sofort. Hatte Frankel war das Portemonnaie gestohlen worden. So kamen wir man früher das Kinderleben mit Nickelmännern, bösen Schorn- mit einem blauen Auge, unverwundet, uneingelocht und sogar steinfegern und Knecht Ruprechts mit der Rute bevölkert, so unaufgeschrieben davon. nahm in meiner Jugend der preußische Schutzmann diese mythen- Ich gebe zu, für uns Freunde hatten solche politischen Vorgänge bildende Stellung ein. Ein anderer Schreckbegriff war das Sprit- lediglich den Reiz der mysteriösen Sensation. Es war ein abendfül- zenhaus: »Du kommst noch ins Spritzenhaus«, hieß es, wenn ein lender Spaß: geh’n wir mal hin, geh’n wir mal ein Stück mit, kön- Junge ein Tunichtgut war. Alle staatlichen Einrichtungen waren nen uns den Zimt ja mal ansehen, mal sehen, was sich entwickeln genau so, wie sie gemeint waren: abstoßend, militärisch, unhöflich wird, ob da das Militär wirklich schießt –? Das war meine Reak- kurz, brutal einfach. Man warb nicht um seine Bürger und man tion und die meiner Freunde. Partisanen waren wir nicht. Wir verwöhnte sie nicht. Das Volk hatte zu gehorchen und damit basta.

118 119 Eine Kaserne war eine Kaserne, ein Arbeiter war ein Arbeiter, und überflügelt. In Berlin lebten die Führer der modernen deutschen ein Mann, der Mist fuhr, war ein Mistfahrer. Auf den Gedanken, Malerei: Professor Max Liebermann, Professor Lovis Corinth, ihn Volksfrontkämpfer in der Erzeugungsschlacht zu nennen, war Professor Max Slevogt – das Dreigestirn des deutschen Impressio- man noch nicht gekommen. nismus. Man war fortschrittlich in Berlin. Man zeigte in den Mir war immer unbehaglich zu Mute, wenn ich mit Behörden zu Kunsthandlungen neben Cézanne und van Gogh auch jüngere tun hatte. Dreißig Jahre lang bin ich dieses Gefühl nicht losgewor- französische Maler wie Picasso, Matisse, Derain und andere, die den. Trat man in ein Polizeibüro, so hatte man immer wieder das gerade anfingen, bekannt zu werden. In Berlin gab es wunderbare Angstgefühl: hoffentlich behalten sie dich nicht gleich da – hof- Theater, einen Riesenzirkus, Kabarette und Revuen. Bierpaläste, fentlich stimmt alles… Natürlich stimmte nie alles. Es gehörte zur so groß wie Bahnhofshallen, Weinpaläste, die durch vier Etagen Technik der Beherrschung, daß immer irgendeine Kleinigkeit nicht gingen, Sechstagerennen, futuristische Ausstellungen, internatio- stimmte, und obzwar man das vorherwußte, war man doch er- nales Tango-Tanzturnier und Strindbergzyklus im Theater an der schreckt. Die Unfehlbarkeit war eben immer oben und hinter dem Königgrätzerstraße – das war Berlin, als ich dort hinkam. Schalter, die Fehlbarkeit immer unten und beim Volk… Mein Freund Fiedler war schon vor mir hingezogen. Er lebte in Heute natürlich erscheint uns das als ein recht harmloser, kind- einem Vorort, in Südende; ich suchte ihn sofort auf. Wir beschlos- licher Byzantinismus im Vergleich mit der späteren Sorte Hel- sen, gemeinsam eine kleine Wohnung zu nehmen. denverehrung und ihren Blutopfern. Auch der »Frieden« von Fiedler malte fleißig, meistens Szenen von arbeitenden Men- 1871–1914 sollte sich bald als ein sanfter Tagtraum erweisen. Eine schen im Freien, Eisenbahnarbeiter beim Schienenlegen und ähn- sadistisch-masochistische Orgie hub an, die Spengler und Nietz- liche Motive. Er ging jeden Morgen mit seinem Malkasten und sche vollauf bestätigte oder vielmehr in den Schatten stellte. Geo- malte Bahnübergänge, Vorstadthäuser, Landschaften im Umkreis politiker traten an die Stelle der Humanisten. Das Zeitalter der der Großstadt, aber völlig ohne soziale Tendenz. Ihn bewegten Aufklärung, das in der Renaissance begonnen hatte, ging unter, Licht und Farbe; die Eisenbahnarbeiter hätten ebensogut kartof- und die blinde, eiserne Ameise, die Zeit der völligen Uninteres- felhackende Bauern sein können oder spargelstechende Frauen. siertheit am Menschen, der Nummern ohne Namen, der Roboter Das lag an der Zeit. Es war noch anderes in ihm, aber das kam erst ohne Kopf, kam herauf. später zu Tage. Wir gingen fleißig in die Natur und skizzierten. Die Peripherie In Dresden waren zwei Zeichnungen von mir vom akademischen der wie ein Oktopus um sich greifenden Stadt zog uns gewaltig an. Rat angekauft worden: ein Männerakt in Kreide und die phantasti- Wir zeichneten die noch feuchten Neubauten, die bizarren Stadt- sche Federzeichnung »Der gelbe Tod«. Außerdem bekam ich ein landschaften, wo Eisenbahnen über Unterführungen dampften, Diplom und ein Ehrenzeugnis, als ich 1912 nach Berlin ging, weil Müllabladeplätze an Laubenkolonien grenzten, neben neuausge- ich dort ein Staatsstipendium erhalten konnte. An der Dresdener legten Straßen schon die Asphaltkessel standen. Akademie ging das nicht, da ich kein gebürtiger Sachse war. Wir liebten die Rummelplätze, wo seltsame Winkelartistenfami- Davon abgesehen: in Berlin lag meine Chance. In Berlin war lien in buntverzierten Wohnwagen hausten. Auf einem Rummel- »was los«. Es wurde mehr und mehr Mittelpunkt. In der Kunst platz entdeckten wir eine grün-rot-goldene Bude, über deren Ein- hatte es die alten Zentren München, Düsseldorf und Dresden gang stand: »Der Tangotanz in verschiedenen Caricaturen«. Der

120 121 Tango war große Mode. Sechs Mädchen, auf Carmen zurechtge- nicht beanstandet, man durfte es nur nicht zu auffällig machen. macht, und ein Kavalier in orangefarbenem Frack – das war die Aschinger war eine wahre Wohltat für hungrige Künstler. Tangofarbe – führten ihn vor. Dann gab es die Warenhäuser, vor allem Wertheim in der Leipzi- Mich interessierte das sehr, ich machte viele Skizzen und malte gerstraße. Bei Wertheim kaufte ich mein Zeichenmaterial, Krawat- zu Hause ein Bild mit viel orange, grün und gold. Die Spanierinnen ten, Seifen, Eßwaren; bei Wertheim war ich auch in der Leihbiblio- waren natürlich unverfälschte Berliner Mädchen mit einem unheim- thek abonniert und bekam alle Neuerscheinungen, die die kleineren lichen Appetit auf warme Würstchen, Rollmops und Bratkartof- privaten Leihbibliotheken nicht so schnell anschaffen konnten. Bei feln. In einer benachbarten Kneipe wurden unzählige Weiße mit Wertheim verabredete ich mich mit meiner Freundin zum Tee… Himbeer getrunken. Denn der Tango machte heiß. Wertheim war eine Welt für sich. Als mir eines der Mädchen einmal Modell stand, lauerte der Von Wertheim ging ich gewöhnlich zu Josty, einem alten, be- Kavalier uns vor dem Hause auf. Er ging zwar nicht mit einem spa- rühmten Kaffeehaus am Potsdamer Platz. Da saß ich stundenlang nischen Dolch auf mich los, wohl aber mit einem Schlagring – und auf der Terrasse, skizzierte, beobachtete die Menschen oder ließ so bewies der Neuköllner Junge letzten Endes doch spanischhei- mir vom eigens dafür angestellten Zeitungskellner die neuesten ßes Blut. Wir versöhnten uns, trotz meiner schmerzenden Kinn- Zeitschriften bringen – alles zum Preis einer Tasse Kaffee. lade. Später gingen wir in mein Zimmer hinauf und tranken dies- Das Nachtleben zog mich an. Es zieht jeden jungen Menschen mal, anstatt Weißbier mit Himbeer, einen wirklichen spanischen an; ein Motteninstinkt in uns wird fasziniert vom Bogenlampen- Sherry, der noch von meinem Geburtstag übrig war. licht der schillernden, spiegelnden Avenuen. Da mein Freund und Wir liebten die kleinen Eckkneipen, die man Stehbierhallen ich nicht genug Geld hatten, um in die großen Tanzpaläste zu ge- nannte. Da stand man neben dem Kohlenträger, dem Rollkutscher hen, mußten wir uns mit der billigeren Garnitur begnügen. Die lag und dem Portier von nebenan und trank sein kleines Helles, aß sei- meist in der Friedrichstadt, aber auch weiter herunter an der Wei- nen Rollmops und nahm hinterher noch einen »Koks mit’n Pfiff«. dendammer Brücke oder in der Chausseestraße und am Oranien- Das war Kartoffelschnaps mit einem Stückchen Zucker, das in burger Tor. Rum getaucht war. Wer phantasievoller gestimmt war, bestellte ein Im Café Oranienburger-Tor hörte ich zum ersten Mal so etwas »Persico mit Rosen« (Kornschnaps mit einem Schuß Himbeersi- wie eine Jazzkapelle. Man nannte es damals eine Radaukapelle. Es rups) oder eine »grüne Minna« (Kartoffelschnaps mit einem Schuß war auch keine Jazzkapelle im heutigen Sinn, eher eine Wiener grünen Pfefferminzlikörs). Salonkapelle, die plötzlich verrückt geworden war. Zwei bis drei War man knapp an Geld, so konnte man jederzeit bei Aschinger Musikanten mit Sägen und Kuhglocken parodierten und unterbra- seinen Hunger stillen. Man bestellte einen Teller Erbsensuppe, der chen irgendwie rhythmisch die allgemeine Melodie. Der Kapell- kostete 30 Pfennig und war kein Teller, sondern eine kleine Ter- meister nannte sich »Mister Meschugge« und benahm sich wie ein rine. Die Hauptsache aber war: man konnte dazu soviel Brot und Wahnsinniger. Er tat so, als könne er den Lärm nicht mehr mei- Brötchen haben, wie man wollte. War der Brotkorb auf dem stern, zerbrach seinen Taktstock oder hieb mit seiner Geige plötz- Tische leer, so kam der Kellner von selbst und füllte nach: kleine lich einem Musiker über den Kopf. Schließlich riß er die große Dampfbrötchen, noch warm und knusprig, ein Kümmelbrot, Baßgeige an sich und führte mit ihr einen grotesken Kampf auf; das herrliche Salzstangen. Was in unseren Taschen verschwand, wurde Ende war immer, daß er die Stücke der zersplitterten Geige ins

122 123 Publikum schleuderte, das vor Entzücken brüllte und die Trüm- rich-Zille-Ball, eine Admiralspalast-Redoute, Künstlerbälle, Thea- mer zurückwarf. terbälle und unzählige Privatveranstaltungen. Immer wieder Ununterbrochen brachten Kellner neue Lagen Bier und Schnaps suchte man nach neuen und originellen Einfällen für Feste. Einmal für die Kapelle. Das erhöhte die Stimmung enorm. »Meschugge« kam Pascin aus Paris (als Gast der Berliner Sezession, die seine Ar- riß den Musikern die Instrumente aus den Händen, tanzte, sang, beiten am Kurfürstendamm ausstellte) und veranstaltete mit dem sprang plötzlich auf den Flügel und markierte einen sich kratzen- Kunsthändler F. einen »Kannibalenball«. Das Plakat an den Lit- den Affen, nahm dann ein großes Glas Bier, tat so, als ob er dem be- faßsäulen zeigte einen zähnefletschenden Wilden in Tanzstellung, geisterten Publikum zuproste und goß es dann blitzschnell einem nur mit Frack und weißer Krawatte, die merkwürdigerweise weit seiner Musikanten in die Trompete… Das Publikum wälzte sich nach unten gerutscht war, bekleidet. Eine geschickte Dekoration vor Lachen. ließ die Festsäle so niedrig erscheinen, daß man sich in Zelten zu An jenem Abend im Café Oranienburger-Tor ahnte ich natür- befinden glaubte. In der Mitte stand ein riesiger roter, mit Toten- lich nicht, daß ich Zuschauer einer Zukunftsparodie gewesen war, schädel und Knochen bemalter Pappkessel, in dem zu Anfang des die einmal Wirklichkeit werden sollte – eine Wirklichkeit, in der Festes zwei halbnackte Maler »schmorten« und ihrer Pein dadurch ein anderer Kapellmeister Meschugge einen Totentanz dirigieren, Ausdruck verliehen, daß sie dauernd Weinflaschen an den Mund seinen Musikern die Instrumente wegreißen und ihnen um die setzten und schreiend und gestikulierend um neuen Stoff baten, Köpfe schlagen würde, so daß ihnen Hören und Sehen dabei ver- der ihnen dann auch von den amüsierten Gästen gereicht wurde… ging, und zwar unter Beifall, der den seines harmloseren Vorgän- Die Flammen unter dem Kessel waren natürlich keine echten gers bei weitem übertreffen würde und dessen schauerliches Echo Flammen, sondern flatternde, von unten beleuchtete Papier- heute noch nicht verstummt ist. schlangen. Von einer Windmaschine bewegt, machten sie den Ein- In der Friedrichstadt wimmelte es von Huren. Sie standen in den druck eines hellodernden Feuers. Dieses war das einzige Licht im Hauseingängen wie Schildwachen und flüsterten ihr stereotypes: Raum; die Illusion, in einer Lichtung im tiefsten Urwald zu sein, »Kleiner, kommste mit?« Es war die Zeit der großen Federhüte, war vollkommen. Als die Windmaschine dann abgestellt wurde, der Federboas und des hochgeschnürten Busens. Die hin und her sah man bis auf vereinzelte rote Tischlämpchen hier und da in den geschwenkte Tasche war das Abzeichen der Gilde. Das berühm- Zelten nur noch Hunderte von Zigarren und Zigaretten glimmen, teste Hurencafé war das Café National in der Friedrichstraße. wie kleine Feuerfliegen aus Afrika. Es war ein Stück Urwald in Wir hatten Flaubert und Maupassant gelesen, und so umgaben Berlin W. wir dieses Nachtleben mit einer Art Poesie. Viele jüngere Dichter Ein Bekannter von mir hatte einen riesigen frischen, noch etwas besangen die Hure unter der Laterne, den Zuhälter und allgemein blutigen und sehnigen Kalbsknochen mitgebracht, den er sich von die freie Liebe. Vielen wurde die Hure zu einer Idealgestalt. Auch seinem Schlächter hatte reservieren lassen. Ein unappetitliches das lag in der Zeit. Man verehrte Zola, Strindberg, Weininger, Ding – aber er verteidigte es hartnäckig die ganze Nacht gegen Wedekind – naturalistische Aufklärer, anarchistische Selbstquäler, andere Kannibalen; sogar beim Tanzen hielt er den Knochen fest Todesanbeter und Erotomanen. Es war kurz vor dem Kriege. unter den Arm geklemmt wie einen Fetisch. Gegen vier Uhr mor- Es war eine Zeit, in der man Feste feierte. Alle möglichen Mas- gens wollten ein paar neidische Kumpane ihn selber schlachten kenbälle gab es da: einen Ball deutscher Illustratoren, einen Hein- und braten. Es kam zu einem fürchterlichen Tumult, der erst auf-

124 125 hörte, als jemand auf den Gedanken kam, die blutdürstige Schar Ölfarbe aus. Die Bilder waren von der Linie her gedacht, mehr aus- vom Hofe aus mit Schneebällen zu bombardieren. getuscht als gemalt. Im trüben Morgenlicht sah der Festsaal wirklich wie ein Kanni- Ich zeichnete für Witzblätter, aber auch nach der Natur in der balentanzplatz aus. Ein paar der Zelte waren eingestürzt, und stel- Kunstgewerbeschule. Ein gewisser Hasler, ein Mitschüler von mir lenweise sah man menschliche Gliedmaßen unter der herunter- bei Professor Orlik, hatte dort eine Nachmittags-Aktklasse einge- hängenden Zeltdecke. Der Pappkessel war im Laufe des Festes richtet. Er hatte klassische Ambitionen, saß stundenlang und stu- zertreten worden und lag nun in einer rötlichen Lache aus Wein dierte Delacroix und Michelangelo. Für die Klasse sammelte er alle und Leimfarbe, die einen ganz unheimlich kannibalischen Ein- alten Podien und Kisten, deren er habhaft werden konnte, und druck machte. baute daraus ein Gerüst auf. Dies sollte Felsen darstellen. Zwei Später am Morgen wurden einige Festteilnehmer wegen Ruhe- männliche Modelle mußten dann an dem Felsenberg hinaufklet- störung und Erregung öffentlichen Ärgernisses auf das nächste tern. Polizeirevier gebracht. Mein Bekannter mit dem Kalbsknochen Mein Freund Fiedler war schon 1912 nach Paris gegangen und war darunter, sowie eine Dame der Gesellschaft, die nur in einen schrieb begeisterte Briefe. Im Frühjahr 1913 hatte ich etwas Geld Pelzmantel gehüllt war und einen Ring in der Nase hatte. Ein beisammen und fuhr ebenfalls nach Paris. Damals brauchte man höherer Polizeibeamter, selbst Theaterliebhaber und Mitglied dort nicht viel. Ich aß in einem ganz billigen Restaurant am Boule- eines Künstlerstammtisches, schlug die Sache nieder. Nach Auf- vard Montparnasse, wo Markthelfer und Chauffeure aßen, aber nahme der Personalien und Verwarnung durfte die Gesellschaft das Niveau der Kost war höher als bei uns. Ich staunte immer wie- abziehen. Man zog zu Bier und Katerfrühstück in das Atelier eines der, was man vorgesetzt bekam und wie nett es einem serviert bekannten Malers, wo das Kannibalenfest bei Grammophonmusik wurde. Für mich war Paris eine Stadt, in der man herumbummeln seinen Fortgang nahm. konnte, wo sich die Zimmer bis auf die Straße erstreckten, wo man Der Kalbsknochen war vorher bei dem Denkmal Ottos des Fau- gleichsam auf der Straße lebte. Nach Berlin erschien es einem süd- len in der Siegesallee niedergelegt worden. lich, ja fast orientalisch. Ich blieb ungefähr acht Monate in Paris. Ich arbeitete wenig, Zwischen solchen Vergnügungen munkelte man immer wieder zeichnete hauptsächlich nach Modell im Croquis Colarossi, ohne von Krieg, nahm die Sache aber nicht zu ernst. Wieder mal Hoch- Korrektur. Außer ein paar Freunden kannte mich niemand. Um spannung zwischen Deutschland und Frankreich? War schon oft mich mehr in Stadt und Menschen einzuleben, hätte ich eigentlich vorübergegangen. Man beruhigte sich. Den Krieg wünschten nur länger bleiben sollen. die herbei, die sich nicht des Lebens freuten. Aber zu denen ge- Aber ich gehörte nicht zu jenen Deutschen, die auf zehn Tage hörte ich nicht. nach Paris fuhren und nach zehn Jahren immer noch dort waren. Ich fing jetzt an, mit Ölfarben zu malen. Ich lernte die Ölmalerei ohne Lehrer, kaufte mir ein paar Bücher und studierte, so gut es ging, was zu studieren war. Ich begann aus dem Kopf zu malen, Kompositionen in der Art meiner Zeichnungen, setzte erst die Zeichnung in Tusche auf die Leinwand und malte sie hinterher in

126 127 keit – das ist ja eben eine jener geheimnisvollen Ursachen, die immer wieder zum Kriege führen werden. Ich spreche ungern davon. Ich haßte es, nur eine Nummer zu sein; das hätte ich sogar gehaßt, wenn ich eine große Nummer ge- VII Die Entdeckung des Gemeinen Grosz wesen wäre. Ich wurde so lange angebrüllt, bis ich den Mut fand, zurückzubrüllen. Ich wehrte mich gegen die stinkende Dummheit und Brutalität, aber ich blieb durchaus in der Minderzahl. Es war as soll ich vom ersten Weltkrieg erzählen, an dem ich als buchstäblich ein Kampf bis aufs Messer und meinerseits die reine WInfanterist teilnahm? Von einem Krieg, den ich von Anfang Selbstverteidigung. Ich verteidigte keine Ideale und keinen Glau- an nicht liebte und der mir immer fremd blieb? Ich war zwar unpo- ben; ich verteidigte mich. litisch, aber doch irgendwie im humanistischen Geist aufgewach- Glauben? Haha! An was denn? An die deutsche Schwerindu- sen. Krieg war für mich Grauen, Verstümmelung und Vernichtung. strie, diese Herren Großverdiener? An unsere glorreichen Gene- Und dachten nicht viele große, intelligente Menschen damals ähn- räle? Ans geliebte Vaterland? Ich hatte wenigstens den Mut, das lich? auszusprechen, was so viele dachten. Es war wohl mehr Verrückt- Gewiß, zuerst war da so etwas wie Massenbegeisterung. Die gab heit als Mut. Was ich sah, erfüllte mich mit Abscheu und Men- es damals ja wirklich. Aber dieser Rausch war bald verduftet, und schenverachtung. Alle um mich her hatten Angst – ich hatte auch was übrigblieb, war eine große Leere. Die Blumen am Helm und Angst, aber nicht davor, mich gegen diese Angst zu wehren. Ich im Gewehrlauf verwelkten schnell. Krieg, das war dann alles an- könnte Seiten über dieses ewige, oft behandelte Thema schreiben, dere als die anfängliche Begeisterung; es wurde Dreck und Läuse, aber alles, was ich dazu noch zu sagen hätte, steht schon in meinen Stumpfsinn, Krankheit und Verkrüppelung. Das Heldentum eini- Zeichnungen. ger Idealisten, die restlose Hingabe an das Vaterland – das gab es 1916 wurde ich aus dem Militärdienst entlassen. Nicht ganz: wohl, aber diese Tugenden hatten auch ihre Kehrseite, und am man sagte mir, es sei nur eine Art Urlaub, und in ein paar Monaten Ende wog sich beides aus. »Begeisterung ist eben kein Hering, den würde ich bestimmt wieder eingezogen. Das Berlin, in das ich zu- man einpökelt«, sagten die Leute. rückkehrte, war kalt und grau. Der Hochbetrieb in den Musikcafés Und als dann in ein paar Jahren alles versandete, als man besiegt und Weinlokalen kontrastierte unheimlich mit den dunklen, dü- war, als alles kaputtging, da blieb jedenfalls bei mir und bei fast al- steren, ungeheizten Wohnvierteln. Dieselben Soldaten, die dort len meinen Freunden nur Ekel und Grauen zurück. Schließlich sangen, tanzten und betrunken an den Armen der Prostituierten hatte mich ja mein Schicksal zum Künstler gemacht und nicht zu hingen, sah man ein andermal mißmutig, paketebehangen und einem Landsknecht. Der Einfluß des Krieges auf mich war absolut noch vom Grabendienst verdreckt durch die Straßen ziehen, von negativ. Für mich war er nie die »Befreiung«, als die er so oft be- einem Bahnhof zum anderen. Wie recht hat doch Swedenborg, grüßt wurde; denn daß der Krieg nicht nur unterdrückte Triebe, dachte ich, daß Himmel und Hölle hier auf Erden beieinanderlie- die in uns allen schlummern, neu entfacht, sondern viele Menschen gen! Denn wenn ich auch nicht an Gott glaubte, eine Welt ohne wirklich befreit – ob nun aus einer verhaßten Umgebung oder aus Himmel und Hölle konnte ich mir kaum vorstellen. der Sklaverei des Alltags oder von der Last der eigenen Persönlich- Ich war also vorläufig frei.

128 129 Die Katastrophe hatte begonnen. Das noch vor kurzem als so wohnlich hergerichtet hatte. Längs der Wände aufgereiht standen reinigend gepriesene Kriegsgewitter hatte sich entladen; die schö- leere Flaschen. Die von ihnen abgelösten Etiketten gehörten zum nen Phrasen waren schon nichts mehr als fade riechende Drucker- Wandschmuck; die stahlstichhaften Schloßansichten der Rot- schwärze auf bräunlichem Ersatzpapier; und ich lebte in meinem weine, die bunten italienischen mit Vesuv und Rebe, die schwar- Südender Atelier, in meiner eigenen Welt, und zeichnete. zen, weißbeschrifteten der Port- und Südweine wirkten wie große Ich zeichnete Betrunkene, Kotzende, Männer, die mit geballter Briefmarken. Eine Gaslampe hing von der Decke. Auch da gab es Faust den Mond verfluchen, Frauenmörder, die skatspielend auf eine Verzierung: eine große schwarze Kreuzspinne mit Beinen aus einer Kiste sitzen, in der man die Ermordete sieht. Ich zeichnete Draht hing an einem Faden. Sie bewegte sich, und ihre langen Weintrinker, Biertrinker, Schnapstrinker und einen angstvoll guk- Beine zitterten, wenn ein Luftzug ins Zimmer kam. kenden Mann, der sich die Hände wäscht, an denen Blut klebt. Hier und dort hatte ich Stücke eines zerbrochenen Spiegels ange- Ich zeichnete viele Soldatenszenen, wobei ich meine kleinen bracht. Auf Möbel, Wand und Decke geklebte Zigarrenringe, und Notizbücher aus der Militärzeit benutzte. Flittersterne belebten den Raum. Rechts stand ein sogenannter Her- Ich zeichnete fliehende Männchen, die einsam und wie wahnsin- renschreibtisch. Überall waren Reproduktionen und Photogra- nig durch leere Straßen liefen. Oder einen Querschnitt durch ein phien befestigt: Frauen im Trikot, alte Photos aus den Neunziger- Mietshaus: in einem Fenster geht einer mit einem Besen auf seine jahren, dazu ein paar Aufnahmen von Männern, die ich verehrte – Frau los, im zweiten lieben sich zwei, im dritten hängt jemand, von zum Beispiel eine von Henry Ford mit großartiger Widmung: »To Fliegen umsummt, am Fensterkreuz. George Grosz the artist from his admirer Henry Ford«. (Die hatte Ich zeichnete Soldaten ohne Nase, Kriegskrüppel mit krebsarti- ich – natürlich im geheimen Einverständnis mit Henry Ford – mir gen Stahlarmen, zwei Sanitäter, die einen tobsüchtigen Infanteri- selbst gewidmet.) sten in eine Pferdedecke eindrehen, einen Einarmigen, der mit der Mein Atelier war ein romantisches Zelt. Ein Zelt wie auf einem gesunden Hand einer ordenbehängten Dame, die ihm aus einer Jahrmarkt. Ich hätte es eigentlich gegen Eintritt zeigen sollen. Tüte ein Keks aufs Bett legt, die Ehrenbezeigung erweist. Einen Mein bestes Stück und auch das einzig neue war ein eisernes Bett, Obersten, der mit aufgeknöpfter Hose eine dicke Krankenschwe- auf Abzahlung bei Wertheim gekauft. Ein kleiner Eisenofen mußte ster umarmt. Einen Lazarettgehilfen, der aus einem Eimer aller- jeden Morgen geheizt werden, sonst wurde es sehr kalt. Der Wind lei menschliche Körperteile in eine Grube schüttet. Ein Skelett in kam mitleidlos durch die Ritzen des großen Atelierfensters. Ein Rekrutenmontur, das auf Militärtauglichkeit untersucht wird… Gaskocher mit Automaten (Schlitz für 10 Pfennig) vervollstän- Ich dichtete auch. Meine Gedichte wurden sogar gedruckt. Ein digte die Einrichtung. paar erschienen in der damals eben gegründeten »Neuen Jugend«. Hier malte ich ein großes Bild, das ich »Widmung an Oskar Ein größeres lag etwas später, auf rötlichem Papier gedruckt, mei- Panizza« nannte: auf einem schwarzen Sarg reitet der Tod durch ner zweiten »Kleinen Groszmappe« als Prospekt bei. ein Gewühl von Menschengesichtern und Fratzen, Worte krähend Mein Atelier war ein Stück meiner Welt. oder vergeblich rufend. (Das Bild war lange Zeit im Besitz des Es lag im Dachgeschoß eines Mietshauses in der Stephanstraße, Wiesbadener Sammlers Kirchhof und hing als Leihgabe im Grosz- Südende bei Berlin. Die Möbel bestanden aus Kisten, die ich teil- raum des Wiesbadener Museums.) Im selben Atelier malte ich auch weise angestrichen, mit brauner Leinwand bespannt oder sonstwie mein später bekannt gewordenes Bild »Der Abenteurer«. Es

130 131 wurde nach vielen Jahren vom Dresdener Stadtmuseum angekauft, terter Trinker, der von Übersetzungen lebte, Maler, Musiker und dann von den Nazis entfernt und in der Ausstellung »Entartete Philosophen. Was für ein merkwürdiger und interessanter Reigen! Kunst« als abschreckendes Beispiel gezeigt. Wo mag es heute sein? Nachtmenschen waren das, manche wie Schattenpflanzen, wie Bil- Diese Atempause im Jahr 1916–17 war eine fruchtbare Periode senkraut, das nachts in der Nähe der Dunghaufen blüht und giftig in meinem Leben, realistisch und romantisch zugleich. Meine ist – Maulwürfe manche, die blind unter der Erde lebten – Molche Lieblingsfarben waren ein tiefes Rot und ein schwärzliches Blau. wieder andere, denen ein Stück abgeschlagenen Schwanzes sofort Ich fühlte den Boden, auf dem ich stand, schwanken, und dieses wieder nachwuchs und die unverwundbar schienen. Schwanken wurde auf meinen Bildern und Aquarellen sichtbar… Wir verkehrten alle im Café des Westens; am späten Nachmittag Im alten Café des Westens, Ecke Kurfürstendamm und Joa- oder spät in der Nacht saßen wir dort und disputierten. Politisch chimsthaler Straße, lernte ich eines Abends Theodor Däubler ken- gingen unsere Ansichten auseinander. Lose nur verband uns ein nen, und er schrieb gleich einen Artikel über mich für die »Weißen Gemeinsames, ob wir nun mehr »aufgeklärt« oder mehr »religiös« Blätter«. Es war noch 1916. Die »Weißen Blätter«, von dem eingestellt waren: wir liebten die herrschende Militär- und Groß- Deutsch-Elsässer René Schickele herausgegeben, waren ein intel- industriellenklasse nicht – und wir wußten schon im Jahre 1916, lektuelles Magazin mit pazifistischer Tendenz, das verschleiert ge- daß dieser Krieg nicht gut ausgehen konnte. gen den Krieg und für Völkerverständigung eintrat. Auch mitten im Kriege las man darin Gedichte und Artikel »feindlicher« Aus- Da war mein lieber Freund, der Theodor Däubler, Theodor der länder; man wurde mit Henri Barbusse bekannt gemacht und auf Dicke genannt… Romain Rolland hingewiesen. Die Weißen Blätter brachten unter Er war ein sogenannter Mittelmeermensch. Er hatte einen Bart anderem eine der besten Novellen des damals noch ganz unbe- und einen Bauch, war ein gewaltiger Esser und Raucher und hatte kannten Schriftstellers Leonhard Frank (»Der Vater«). Sie ent- das gewaltige Epos »Das Nordlicht« geschrieben. Ihm zuzuhören deckten Franz Kafka (»Die Verwandlung«). Sie entdeckten auch war ein Genuß. Am liebsten hatte er junge Leute um sich, Dichter mich. und Maler; er war der Mittelpunkt eines kleinen Kreises, und wenn Däublers Artikel – mit Abbildungen – machte mich sozusagen er so auf dem Sofa lag, das drückende Hosenband halb aufgemacht, über Nacht bekannt, wenn auch zunächst nur in »intellektuellen« hätte er wirklich ein griechischer Philosoph sein können, der seine Kreisen. Schüler um sich versammelte. Auch sein Zeuskopf ließ auf diese Man sprach über mich. Ich war selbst ein wenig überrascht, aber Art weiser, beherrschter Lebenskunst schließen. nicht unangenehm. Ich, der ich vorher nur ein paar Freunde In Wirklichkeit war er ganz anders. kannte, kam nun mehr herum. Ich brauchte den jungen Mann in Immer gehetzt war er und viel in Geldnot, obwohl er unter an- Flauberts »Education sentimentale« nicht mehr um seine gesell- derem eine Monatsrente vom Inselverlag bezog und also genug schaftlichen Beziehungen zu beneiden. Ich wurde eingeladen. zum Leben hatte. Das war es nicht – nein, das Geld wollte nicht bei Neue Freunde tauchten auf. Merkwürdige Menschen traten in ihm bleiben, es rann von ihm fort und oft in trübe Kanäle. Auch meinen Gesichtskreis: Schriftsteller, Gelehrte, die sich mit Astro- von einer Patronin seiner Kunst, der nicht mehr jungen Frau eines nomie beschäftigten und vegetarisch lebten, Bildhauer mit Verfol- Dresdener Mühlenbesitzers, erhielt er Geld – und das beunruhigte gungswahn, Volksbeglücker mit verborgenen Lastern, ein geschei- ihn ebenfalls, denn er konnte beim besten Willen nicht mehr als

132 133 eine platonische Gegenliebe für die Dame aufbringen. Er war ein Später entdeckten wir, wo Däubler die Zigarrenstummel ließ. Er ängstlicher Mensch und fühlte sich von allen möglichen Gewalten steckte sie einfach seitlich ins Futter des großen Sessels, unter die verfolgt. Und er war ehrgeizig und betonte immer wieder, wie sehr Kissen, dorthin, wo die Polsterung beginnt. Natürlich waren da es ihn quäle, daß er so wenig Anerkennung finde und noch nicht immer einige Löcher gebrannt, und wir überlegten, ob wir viel- »durch« sei. leicht eine Art kleiner Blechrinne einbauen sollten. Schließlich Ich sehe ihn noch, wie er mit wütenden, hungrigen Augen aus der nahmen wir es mit Humor als unsere Schuldigkeit für Däublers Küche kam, in der seine Schwester das Abendbrot richtete, in jeder großartige Geschichten – die vom rothaarigen Sollmann etwa, der Hand eine große rohe, unabgeschälte Kartoffel. Wütend ging er hin längst gestorben immer noch weiterlebte und eigentlich alle Bilder und her, immer mit seinen Zähnen in die Kartoffeln beißend und des berühmten Norwegers Edvard Munch gemalt hätte: manchmal sie abschälend wie ein Nagetier. Die abgekauten Schalenstückchen sichtbar, manchmal unsichtbar sei er hinter Munch gestanden und warf er achtlos irgendwohin – in eine leere Blumenvase, auf den habe ihm den Pinsel geführt, woher dessen Bilder auch ihre beson- Kamin, aufs Bücherregal. Auf und ab, auf und ab ging er wie ein ders von Deutschen so vielbewunderte mystische Note hätten… vorsintflutliches Monstrum. Es schnarrte, rasselte und schnalzte; Däubler hatte den Sollmann zuletzt in Venedig getroffen und dazwischen rief er dauernd: »Ich bin noch nicht durch – ich bin von ihm gehört, er sei schon über 150 Jahre alt. Er sei eben aus ei- noch nicht durch –« ner langlebigen Familie. Wir gaben einmal ein kleines Essen für ihn und ein paar Freunde, »Hast Du ihn auch mal in Berlin gesehen?« fragten wir. und meine Frau hatte extra eine gehörige Doppelportion Spaghetti »Ja«, sagte Theodor. »Das war sehr merkwürdig. Ich saß im Kaf- mehr gemacht als gewöhnlich. Die große, flache, im Herd überba- feehaus. Draußen war es sehr kalt – November, glaube ich – mit ckene Schüssel wurde Däubler als dem Ehrengast zuerst gereicht; Eisblumen am Fenster, aber nicht ganz zugefroren; hie und da sah er gab sie aber nicht weiter, sondern ließ sie ruhig vor sich stehen, man durch, auf die Potsdamer Straße. Auf einmal saust da eine schob seinen Teller beiseite und aß im Handumdrehen mit einer Straßenbahn vorbei, und ich sehe einen kleinen Mann dahinterher- Art apokalyptischen Hungers die Schüssel leer… Es war etwas laufen – oder nicht laufen, eher schweben –, also Sollmann. Ohne Vulkanisches an ihm, wenn er so aß. Man konnte diesem Natur- Hut, das flammende Haar wie eine Aureole um den Kopf, und so schauspiel nur zusehen. Die Spaghetti wurden mit Chianti hinab- unheimlich das klingt: mit zwei Paar Schmetterlingsflügeln an den gespült; einige blieben auch im Barte hängen, und da er dabei noch Schultern! Natürlich, die Eisblumen – aber ich weiß doch, was ich sprach (er tat immer alles zugleich; nordische Zurückhaltung und gesehen habe! Stellt Euch das bloß vor«, schloß er, »Schmetter- Disziplin waren ihm fremd), so sprangen die Stücke rechts und lingsflügel im November –« links davon – es war formidabel. Es war das Essen an sich, die Sät- Aus seinem Nordlichtepos, einem dreibändigen kosmologi- tigung als solche, die hier stattfand und der wir staunend bei- schen Kolossalwerk voll geheimer Symbolismen und Prophetien, wohnten. die auszulegen nur Eingeweihten gegeben war, las er gerne vor. Gleich hinterher wurde geraucht. Piff, paff – da war auch schon Sein Fehler dabei war, daß er sich an sich selbst berauschte (was den die Zigarre zu Ende, der Stummel verschwand, und eine neue Dichtern ja leicht passiert) und nie aufhörte. War seine Freundin wurde angesteckt. Wie der Schornstein eines großen Ofens rauchte Else Lasker-Schüler anwesend, so hörte man sie oft gemütlich es. schnarchen, der dröhnenden Stimme des Nordlichtdichters zum

134 135 Trotze friedlich entschlummert. Däubler pflegte sich nicht darum »einmal doch… Da zeigt mir ein Kunstfritze in Heidelberg einen zu kümmern; er behauptete, es sei einfach unbewußte Eifersucht. Greco. War zwar einer von den zweifelhaften, aber die Frau, die da (Denn die Lasker-Schüler war ja auch eine Dichterin – eine kind- drauf ist, vom Licht beschienen – Herr Grosz, meiner Frau frap- lich-verspielte, die jedem einen Namen gab; mich zum Beispiel pant ähnlich! Klingt lächerlich, nicht wahr? Na, prost. Was soll ich nannte sie Lederstrumpf wegen meiner damaligen Amerikaschwär- Ihnen sagen? Ich war eifersüchtig. Auf Greco oder den Schüler, der merei.) das Bild gemalt hat. Und dabei ist das doch dreihundert Jahre her«, Und eines Tages stellte mich Däubler einem Freund von sich vor, fügte er sinnend hinzu. einem Großkaufmann, der im Dienste der deutschen Heereslei- »Na und, Herr Falk?« fragte ich. tung Rohstoffe einkaufe, hauptsächlich Wolle, und gerade in Ber- »Na und? Wissen Sie, was ich gemacht habe? den Greco gekauft, lin sei. Ich solle doch, sagte Däubler, heute abend zum Essen ins selbstverständlich, ja – und nie wieder ausgepackt. Steht heute Adlon kommen; Herr Falk, so hieß der Großkaufmann, liebe die noch in derselben Kiste bei mir zu Hause.« Kunst, er habe dem Bildhauer Lehmbruck eine Rente ausgesetzt Falk war Autokrat und schnell entschlossen. Er sah es nicht und wolle auch mir monatlich unter die Arme greifen… gern, wenn man ihm etwas abschlug. Einmal saß ich mit ihm bei Sally Falk hatte etwas völlig Orientalisches. Nicht nur im Ge- Adlon und wollte mich nach dem Kaffee verabschieden. Ich hatte sichtsschnitt, sondern gegenüber seiner Frau. Er behandelte sie eine dringende Verabredung mit meiner späteren Frau. »Sie wollen nämlich wie einen ganz seltenen Paradiesvogel und hielt sie buch- schon fort?« sagte er. stäblich in einem über und über vergoldeten Bauer. Den Schlüssel »Ja«, sagte ich. »Habe noch ’ne Verabredung.« besaß er allein. War er abwesend – und das war oft, denn für die »Telephonieren Sie doch ab und bleiben Sie noch ein bißchen. deutsche Rohstoffversorgung mußte er ja viel herumreisen –, so Ich schlage Ihnen vor, Sie kommen zu mir. Habe da nämlich ein legte er das Vögelchen an eine goldene Kette. War er aber mit ihr paar fabelhafte Bücher, die ich Ihnen zeigen möchte, Erstausgaben – zusammen, so versank alles um ihn, er hatte nur Augen und Ohren hier,« sagte er, mir ein Kuvert überreichend, »da ist ein Fahrschein für seine »Chérie«, und wir anderen am Tisch wurden zu durch- erster Klasse nach Mannheim, mit Schlafwagen. Zug geht in sichtigen Puppen. anderthalb Stunden. Sie fahren mit mir, ich kann nachts nicht Er konnte reizend sein, wenn er allein war, wenn er sich lang- schlafen. Brauche Gesellschaft«. weilte, wenn die Geschäfte vorbei waren. (Obwohl die eigentlich Was blieb mir anderes übrig? nie ganz vorbei waren, denn mitten in der Nacht, wenn man ge- In einer Welt, in der der kaufmännische Geist regiert, denkt man mütlich bei einer Flasche Veuve Cliquot saß, läutete noch das Tele- als Künstler gerne an die Figur des Mäzens. Denn der ist nun ein- phon: »Herr Falk, das Große Hauptquartier ist am Apparat!«) mal der ideale Förderer der Künste. Heute ist das Kunstwerk eine Wenn seine Frau nicht dabei war und er sich mehr als gewöhnlich Ware, die sich mit geschickter Reklame genau so verkauft wie langweilte, hörte er auch manchmal zu. Da er mein Mäzen war, be- Seife, Handtücher und Bürsten, und der Künstler hat sich in eine nutzte ich derlei Augenblicke immer, um ihm die Sorgen des stre- Art Fabrikanten verwandelt, der immer schneller neue Ware für benden Künstlers vorzutragen… Schaufenster herstellen muß, die immer wieder neue Dekorationen Er sagte, er sei gerne mit Künstlern zusammen. »Wissen Sie, brauchen. Zur Entwicklung hat er keine rechte Zeit mehr. Er ist Grosz, Kunst macht mich nicht eifersüchtig. Das heißt«, sagte er, aus Privatbesitz in den Besitz der Allgemeinheit übergegangen und

136 137 erhält seine Aufträge von deren Vertretern, seien das nun Kauf- noch viele Keller. Der Tisch des Mäzens ist immer noch reichlich leute oder Arbeiter- und Soldatenräte, für die er eine Art Schuster gedeckt; zumindest gibt es da immer noch eine Zigarre und etwas ist, der für jeden Pachulke Werkstiefel und Feierabendpantoffel zu trinken. Und so soll es auch sein. nach Maß anzufertigen hat. Für uns Künstler war das ein schlech- ter Tausch, und in geheimen Stunden trauert mancher von uns den Noch einem damaligen Mäzen von mir will ich – aus einem Grund, sagenhaften Zeiten nach, in denen es überall Leute gab, die den der bald klar werden wird – hier ein paar Zeilen widmen. Sein Künstler zwar oft wie einen Sklaven hielten, ihm aber dafür die Name, Harry Graf Kessler, ist heute kaum mehr bekannt. Schon Notwendigkeit des Geldverdienens und die Sorge ums tägliche vor Jahren starb er einsam in Paris, wohin er sich begeben hatte, Brot abnahmen. um seine Autobiographie zu vollenden; in Deutschland wollte er Die Rolle eines strebsamen Künstlers einem Mäzen gegenüber nicht bleiben, solange die Nazis, die er verabscheute, dort regier- läßt sich verschieden auffassen und spielen. Wenn man noch nicht ten. Er war vielleicht der letzte wirkliche Gentleman – jedenfalls berühmt ist, muß man auf alle Fälle anfangen, es schnellstens zu einer der ganz wenigen, die ich auf meinem Wege durch die Welt werden; aber außerdem will ein Mäzen ja auch unterhalten sein. getroffen habe. Zum Beispiel muß man sofort aufspringen mit Feuer bei der Graf Kessler sah den Künstler noch mit den Augen einer vergan- Hand, falls der Mäzen Raucher ist, und dergleichen. Dann gibt es genen Epoche an. Er gehörte noch zu einer jetzt schon historisch wieder Mäzene, die lieben den Künstler »rauh«. Die Anziehungs- gewordenen, geistig hochstehenden Aristokratie; seine Haltung kraft besteht dann in schlechten Manieren, Fingernägeln mit war die jener kunstliebenden, toleranten Fürsten, an deren Höfen, Trauerrändern, üblem Mundgeruch und Unrasiertheit. Diese wie zum Beispiel an dem Karl Augusts von Weimar, die westliche Eigenschaften, die man meist bei anarchischen und »stolzen« Kultur sich nach den strengen Regeln griechischer Klassik entwik- Individualisten unter uns Künstlern findet, beglücken den Mä- kelte. Das Künstlertum eines Menschen war für ihn weder eine zen, teils aus Minderwertigkeit, teils, weil er an seine eigenen bemitleidenswerte Degenerationserscheinung, noch das Symptom Schwächen erinnert wird, und drittens, weil manche Geldmacher eines im Selbstbeschmutzungsstadium steckengebliebenen Infan- unbewußt ein schlechtes Gewissen haben und ein von einem un- tilismus, und ebensowenig erschien ein Kunstwerk ihm als Han- geputzten van-Gogh-Stiefel verabfolgter Tritt in die Verlänge- dels- oder Vermögensobjekt. rung des Rückens sie beruhigt. Er hatte kein »modernes« Verhältnis zum Gelde. Für die Kunst, Ich selbst gehörte nicht zu diesem »stolzen« Künstlertyp. Mich die er liebte, verschwendete er. Er handelte niemals, auch nicht, interessierte das Geld, und mir lag die Rolle des glatten Schmeich- wenn der Preis hoch war. Er hatte keine Ressentiments, auch nicht lers, des Aufspringers und Feueranbieters mehr als das ungehobelt gegen Künstler, die sein Mäzenatentum mißbrauchten, was hin ehrliche »Ick-will-Sie-nu-ma-de-Wahrheit-saarn, Ha Falk«. Ich und wieder vorkam. Als Aristokrat, der sich sein Geld nicht hatte wußte, daß das Ganze nur ein kurzlebiges Groteskspiel war, von verdienen müssen, wußte er, daß seine eigene großzügige und ver- dem ich einige Regeln auswendig konnte. Als Clown hätte ich viel- schwenderische Denkungsart bei Künstlern selten ist und auch nur leicht mehr Geld verdienen können, aber die mäzenatischen Krü- selten sein kann, denn der Künstler ist wehrlos, und Wehrlosigkeit mel und halbabgenagten Knochen waren auch nicht schlecht. drückt die Preise. Schließlich gab es unter mir noch viele Stockwerke und darunter Mit Kessler wurde ich nie persönlich befreundet. Was uns mit-

138 139 einander verband, war lediglich die Beziehung, die dieser kunstsin- ten Massen erst kennenlernte –! Solidarität fand ich nur in Einzel- nige Mann zu meiner Arbeit hatte. So altmodisch, ja lächerlich es in fällen, von Freund zu Freund. Aber Hohn und Spott, Angst, Un- unserer materialistischen Ära klingen mag, Graf Kessler sah im terdrückung, Betrug, falsche und schmutzige Rede fand ich über- Künstler noch etwas Höheres, etwas im Leben jeder Kulturnation genug, und ich konnte auch kein Wort mehr gegen die strengen Wichtiges, das man nicht untergehen lassen durfte. Den Künstler Herren sagen, die diese formlosen Massen regierten und antrieben. zu erhalten, empfand er als seine Pflicht – und so kam er gegen Daß all das nicht zu mir paßte, ist eine andere Sache; für meine per- Ende des Krieges dazu, mir buchstäblich das Leben zu retten. sönliche Haltung habe ich ja auch bezahlt. Mitte 1917 wurde ich wieder eingezogen. Diesmal sollte ich Re- Das ist alles. Hoffnungen auf »unten« habe ich keine mehr; ich kruten ausbilden und Kriegsgefangene bewachen und transportie- habe die Massenanbetung nie mitgemacht, auch nicht zu Zeiten, ren helfen. Ich hielt es aber einfach nicht mehr aus. Eines Nachts als ich noch an gewisse politische Theorien zu glauben vorgab. fand man mich, halb bewußtlos, kopfüber in der Latrine… Der Krieg war so recht ein Spiegel gewesen. Er reflektierte alle In dem Lazarett, in das ich geschafft wurde, lag ich ziemlich Tugenden und Untugenden; aber wie ein Zeichner, der seine lange Zeit. Plötzlich hieß es, ich sei gesund. Ich war aber noch nicht Zeichnung im Spiegel prüft, sah man deshalb auch die Verzeich- ganz gesund, und ich war mit meinen Nerven am Rande. Ich wei- nungen stärker. gerte mich, aufzustehen. In einem Wutanfall griff ich den Sanitäts- Ich lag einmal im Militärlazarett, mein Kopf war schwer, schwe- feldwebel tätlich an – und da werde ich nie vergessen, mit welcher rer als sonst, und ich träumte von Strohhut und Spazierstock an- Freude, ja Wollust ungefähr sieben andere kranke »Kameraden«, statt von Helm und seitlich geschliffenem Schützengrabenspaten. die aber auf sein durften, sich freiwillig auf mich stürzten. Einer, Von einer kühlen Ecke bei Kempinski träumte ich und mußte ein ein Bäcker im Zivilberuf, sprang mit seinem ganzen Körper im- bißchen dabei aufstoßen, denn der Kunsthonig, der auf den grauen merzu auf meine verkrampften Beine, freudig brüllend: »Uff de Kriegsschrippen so altmeisterlich graugrün leuchtete wie die Mal- Beene muß mer’n treten, immazu uff de Beene, det wird’n schon gründe der alten Italiener, machte den Magen rebellisch. Neben beruhigen!« Es beruhigte mich ja auch. Aber unauslöschlich mir lag ein Berliner Kutscher, dem ein Teil des Bauches fehlte. brannte sich gerade dieser Vorgang in mein Inneres: wie diese »Sieh mal«, sagte er ein bißchen lallend, halb unter der Wirkung harmlosen Bürgersmenschen auf mich einschlugen und welch fei- der Spritzen, die er dauernd bekam. (Hatte eine Natur wie ein nen Spaß sie daran hatten. Persönlich war ich ihnen ganz gleichgül- Ochse.) »Sieh mal, Kammrad«, sagte er und versuchte, auf seine tig. Es war ein unbewußtes Prinzip: wir wehren uns ja auch nicht, Mitte zu zeigen, »komisch, Kammrad« – er sprach in Berliner Dia- aber du wehrst dich – »Gibs’ ihm; tritt’n uff de Beene, Karl, uff de lekt, der Finger wollte zeigen, kam aber nicht ganz hoch – »ko- Beene!« Hinterher spielten wir sicher wieder friedlich Karten, misch, det hatte ick doch allet noch bei mir, hatte ick – wo sind tranken Bier, rauchten und zoteten. denn bloß meine Beene, die habe ick irgendwo liejen jelassen – Das geschah im Jahre 1917, wo man schon allgemein an nichts wenn ick mir nur ainnern könnte, Kammrad, wenn ick mir nur ain- mehr glaubte und wir im Lazarett Dörrgemüse aßen und Kohl- nern könnte – nu habe ick ne Einfahrt, aber ne Ausfahrt is nich rübenkaffee tranken und der Kunsthonig die Magenwände angriff. mehr da, weg is die…« Ich hatte nie recht an Massensolidarität geglaubt, auch nie in der Wieder wollte er auf seine klumpförmige Mitte zeigen, aber Masse zu leben begehrt, aber dann, im Kriege, als ich die sogenann- Hand und Finger versagten. Er stöhnte halb bewußtlos und sank

140 141 in Schlaf. In der Nacht starb er ganz geräuschlos, ohne Laut, ein Theatasaal lagen die, teilweise – also et wa da sone Art Petroleum- unförmiges Bündel. lampe, die brannte janz runtajedreht in de Mitte und ick jehe da ma Am Morgen aßen wir unsere graugrünen Schrippen und tranken an den sein Bett – uff ema sehe ick, wie a sich ahebt, aba stieke, unseren Kohlrübenkaffee. Das Leben war doch nicht so schlecht, stieke, Kammrad, janz langsam, so als wennste schwebst, teilweise – alles in allem, oder? Unter dem karierten Bezug lag es sich nett und Mensch, kennste noch die ollen Luftschiffaballongs? Janz langsam warm, besonders mit einem alten Band »Gartenlaube« aus der hob a sich in de Luft… Watt se denn mit jemacht haam? Weeß ick Sammlung »Gebt Bücher für unsere lieben Feldgrauen in den La- nich. Ick natürlich jleich ins Revier zurück, mußte mia aber denn zaretten«. Nur nicht mißmutig werden, nur sich von den Miesma- jleich die Nacht noch bein Transport melden… Rinjestochen solln chern nicht anstecken lassen! Jede Kugel trifft ja nicht… Na ja, den se haam, mit ne lange Nadel. Mir azählte späta een Kammrad – traf nebenan, den hat’s ganz schön reingehauen – »Mit die Weiber is’t ick zufällig bei Aschinger wie ick zum zweetenmal uff Urlaub wa – bei den vorbei«, sagte gestern der Sanitätsgehilfe. der sachte, er wäre richtig rumjeflogen wie’n Ballong und se hätt’n Aber der Sanitätsgefreite verbesserte ihn: »Ach watt, der kriecht da een gehabt, sachte er, eenen Leichtverwundeten von de Luft- een janz neuen Piephahn von Holz, nach Maß. Mensch, da haam schiffaabteilung oder von de Fliejer, und der hätt’n denn runter- wia schon janz andere Dinger jesehn, haam wia in Gorden. Du, jeholt. Soll aba schon tot jewesen sinn, teilweise…« Kammrad, die hättste ma sehn solln – Mensch, det Gordener Der nebenan wurde bald darauf weggeschickt. An seinem Platz Kunstbein is jenau so jut wie’n richtijes – Mensch, Kammrad, bei’s lag abends – ich hatte Schlafmittel bekommen, wachte aber auf Hürdenloofen und bei’s Stabspringen war’n die teilweise, ick zum Abendbrot: es gab Dörrgemüse und große, schöne Graupen – meene teilweise, Kammrad, besser wie die Jesunden.« Er sagte im- abends also lag nebenan einer, der sah grimmig aus. Offenbar eine mer teilweise, dieser Kamerad Sanitätsgefreite. »Na, nu jib mir ma autokratische Natur, das sah man an seinem befehlshaberischen teilweise Dein Arm… Wie oft bist’n jeimpft? Ick weeß, teilweise Gesichte: ein Großknecht vielleicht, einer, der über mehrere ge- uff Tetanus – biste die Filzläuse nu los? Ick meene teilweise?« herrscht hatte, und wenn es auch nur mehrere Schweine, Kühe, Der nebenan, so erschien es mir, wurde immer klumpenmäßiger Schafe, Esel oder Hühner gewesen waren. Jetzt fehlte ihm nur und größer. Schwoll der etwa auf, von unbekannten Winden be- eines: Arme… wegt, die noch in ihm herumfegten und rauswollten? Ich fragte Jedem von uns fehlte etwas. Dem einen ein Bein, dem anderen Max – wir nannten ihn den »teilweisen Maxe« – und machte ihn ein Auge oder zwei, dem dritten der Bauch, dem vierten das darauf aufmerksam. Der dunkle sympathische Handlungsgehilfe Schienbein, dem fünften das Gedächtnis. im nächsten Bett fragte auch: »Du, Maxe, wie is det? Mensch, wenn »Uff eema kommt so’n Ding, wir sollten jerade inrick’n nach der platzt, teilweise – ick nehme ma lieber die Schrippe hier weg –« vorne – nee, Mensch, damals allet noch prima Leda und so – nee, »Möglich is det, möglich is det«, sagte Max, der Sanitätsgefreite. Jaß hatt’n die noch nich. Wir hatt’n ooch keene Stahlhelme. Aba »Wie ick von Westen kam, da hatt’n wa eenen bei uns, teilweise, sonst, Mensch, allet sauba, sauba, wie aus’t Ei jepellt – natürlich, den hatt’n se vajast, hatt’n se den – den pustete det Jift, oder wat et Feifen und Zijarren aus, und wir alle runter – det war so’n Knüp- wa weeß ick nich, direkt uff wie’n Kindaballong. Wa ja eejentlich peldamm, kennste ja, Kammrad, weil da, weeßte, da wa nämlich schon tot, teilweise, aba ick weeß noch, wie ick von’s Revier Einsicht wa da, und ick weeß nich, die hatt’n, ick jloobe Tommies, komme, kieke ick nochma rin – die lagen da alle in sonn ehemalijen die hatt’n, ick jloobe, et war’n schwere Schiffsjeschütze… Mensch,

142 143 wie ick erst ma wieda bei mia wa, da hatte ick det Jefühl, mein zwecklos gemacht, nur um das Lächerliche und Groteske der mich Kopp is ne Sandkiste. Ick soll, azählte mia nachhea der Kammrad, umgebenden Welt geschäftiger, todeswütiger kleiner Ameisen fest- der neben mir lag, ick soll immer ins Ohr jepolkt haam, bis se mia zuhalten… de Hände festjebunn haam: ›Ick will endlich den Sand da raus Es hieß, ich solle als Deserteur erschossen werden. Glücklicher- haam, Kammrad, den Sand – siehste denn nich, wat da für Sand weise erfuhr davon auch Graf Kessler. Er intervenierte für mich, drin is?‹ Ick wa eben vollkommen klapsig, wa ick. Se haam ma mit dem Ergebnis, daß ich begnadigt und in eine Anstalt für denn nach wb 3 rübaschicken lassen. Mensch, ick konnte einfach Kriegsirre gebracht wurde. Kurz vor Kriegsschluß wurde ich zum det Jefühl nich loswerden, als ob ick da oben Sand drin hätte. Se zweiten Mal entlassen, wieder mit dem Bemerken, ich würde bald haam ma denn extra jelejt, haam se mir. Und keen Knopf war da, an wieder eingezogen. de Türe. Eenma haam se ma jekriecht – Mensch, wie de Wiesel sind Ich dachte: der Krieg geht nie zu Ende. die raus, ick meene die Wärta – und denn mit de Pferdedecke Vielleicht war er auch nie richtig zu Ende? Bei uns wurde der über’n Kopp, richtig injewickelt wie in de Zwangsjacke… Nee, Frieden erklärt, aber nicht jeder war besoffen und glücklich. Im losjelassen haam se ma nich jleich. Zwee Mann brachten mir nach Grunde waren die Menschen die gleichen geblieben, mit einigen Berlin – nee, nich jefesselt, die sollten mia nur abliefern bei meine Unterschieden: aus dem einst so stolzen deutschen Soldaten war Schwester, sollten die – war janz jemietlich, unse Fahrt. Wir kipp- ein geschlagener, abgekämpfter Soldat geworden, und das Volks- ten een paar Mollen. Im Zug haam wa Skat jespielt, aber keen heer hatte sich genau so aufgelöst wie die holzstoffhaltigen Unifor- Mensch kuckte hin. Damals jlaubte schon keena an nischt mehr, men und die Patronentaschen aus Ersatzleder. Daß dieser Krieg und von die Soldaten – erst hatten se uns doch richtig bekränzt und verloren war, enttäuschte mich nicht. Nur daß die Menschen ihn jeschmückt wie Pfingstochsen – Mensch, und jetzt rückten se jahrelang ertragen und erduldet hatten, daß den paar Stimmen, die direktemang ab von eenem. ›Haam der Herr Soldat vielleicht sich gegen das Massenschlachten erhoben, keiner gefolgt war – nur Läuse?‹ Na, wia hatten alle Läuse. Ick weeß noch – Mensch, et das enttäuschte mich. wa’n ja eejentlich dolle Zeiten – ick weeß noch, wi unsa Zugführa assählte – ick bediente damals ins Kasino – wie der assählte, er kann nich mehr bei seine Olle ins Bett schlafen, er legt sich imma nebens Bett uff’n Teppich! Aber der war ooch abjehärtet, war der. Det wa’n richtijer Sportler. Soll ooch früher ne jroße Fußballkanone jewesen sin…« Für mich war meine »Kunst« damals eine Art Ventil – ein Ventil, das den angestauten heißen Dampf entweichen ließ. Hatte ich Zeit, so machte ich meinem Groll in Zeichnungen Luft. In Notizbüchern und auf Briefbogen skizzierte ich, was mir an meiner Umgebung mißfiel: die tierischen Gesichter meiner Kameraden, böse Kriegs- krüppel, arrogante Offiziere, geile Krankenschwestern, usw. Ich hatte mit diesen Zeichnungen nichts vor; sie waren zunächst ganz

144 145 Straßenkehrer, jeder einfache Arbeiter werde auf die Universitäten und Akademien gehen können. Ein Privileg, so führte ich scharf und mit schneidendem Hohn auf die ehemals Herrschenden aus, das früher nur dem Sohne reicher Eltern offen gestanden – »Es lebe VIII In der Heimat, in der Heimat – das Proletariat!« Ich vergaß ganz, wer ich war. Die Bewegung, in die ich geraten, beeinflußte mich stark, daß ich alle Kunst, die sich nicht dem poli- ch wohnte wieder in Berlin. Die Stadt glich einer grauen, stei- tischen Kampf als Waffe zur Verfügung stellte, für sinnlos hielt. Inernen Leiche. Die Häuser hatten Risse. Stuck und Farbe waren Meine Kunst jedenfalls sollte Gewehr sein und Säbel; die Zeichen- abgebröckelt, und in den toten, ungeputzten Augen der Fenster- federn erklärte ich für leere Strohhalme, solange sie nicht am höhlen sah man, wo man nach denen ausgeschaut hatte, die nie Kampf für die Freiheit teilnähmen. Für welche Freiheit? Darüber wiederkehren, die Spuren geronnener Tränen. dachte ich nicht weiter nach. Es waren wilde Jahre. Ich nahm am Leben teil, stürzte mich Meine Stimmung setzte sich in ein großes, politisches Bild um. hinein und kam sofort mit Kräften in Berührung, die aus dem ab- Ich nannte es (nach Heinrich Heine) »Deutschland, ein Winter- soluten Nichts herauswollten. Wir verlangten mehr. Was das Mehr märchen«. In der Mitte setzte ich den ewigen deutschen Bürger, war, wußten wir so genau nicht zu sagen; aber ich und viele meiner dick und ängstlich, an ein leicht schwankendes Tischchen mit Freunde fanden keine Lösung im nur Negativen, im Grimm des Zigarre und Morgenzeitung darauf. Unten stellte ich die drei Stüt- Betrogenwordenseins und in der Verneinung aller bisherigen zen der Gesellschaft dar: Militär, Kirche, Schule (Schulmeister mit Werte. Und so trieben wir selbstverständlich immer weiter nach schwarz-weiß-rotem Rohrstock). Der Bürger hielt sich krampf- links. haft an Messer und Gabel fest; die Welt schwankte um ihn; ein Bald war ich Hals über Kopf im politischen Fahrwasser. Ich hielt Matrose als Symbol der Revolution und eine Prostituierte vervoll- Reden, nicht aus irgendeiner Überzeugung, sondern weil überall ständigten mein damaliges Bild der Zeit. zu jeder Tageszeit Streitende herumstanden und ich aus meinen bisherigen Erfahrungen noch nichts gelernt hatte. Meine Reden Aber die Zeit war in Wahrheit müde und unlustig. Müde und waren ein dummes, nachgeplappertes Aufklärungsgeschwätz, aber unlustig sah ich die Soldaten zurückschleichen, wenn auch oft mit wenn es einem wie Honigseim vom Maule troff, konnte man so einer roten Kokarde an der Mütze… tun, als sei man ergriffen. Und oft ergriff einen der eigene Quatsch Ich entsinne mich noch, wie mein alter Freund und Schwager ja wirklich, rein durch das Geräusch, das Gezische, Gezwitschere Otto Schmalhans aus dem Osten zurückkam und ich ihn in Berlin und Gebrülle, das da aus einem herausfuhr! vom Bahnhof abholte. Die Straßen waren dunkel, das Elektrizi- Einmal hob man mich gar auf die Schultern: »Hoch! Hoch! Et tätswerk streikte oder war von Spartakisten besetzt; auch war um lebe det Proletariat!« Ich sprach, wie üblich, von etwas, wovon ich acht Uhr Sperrstunde: nachher durfte eigentlich niemand mehr auf keine Ahnung hatte, nämlich von der akademischen Freiheit. Ich die Straße. Es herrschte eine schwelende Bürgerkriegsstimmung. malte ein scheußlichschönes Bild aus: daß von nun an, weil doch Ein Soldat galt nicht mehr viel, aber ein Soldat mit einer roten Ko- jetzt das Proletariat an die Macht käme, jeder Klippschüler, jeder karde schien den erschreckten Bürgern irgendwie mit den neuen

146 147 Mächten im Bund. Daß man sich solche Kokarden einfach als eine aber was die Kalbskoteletts anginge, die könne man ja genau so gut Art Selbstschutz ansteckte, wußten die nicht so genau. Mein kalt essen… Nein, heute ginge es nicht; wir müßten zu einer drin- Schwager zum Beispiel hatte es einfach getan, um glatt nach Berlin genden Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrats – der Herr wisse ja heimzukommen, denn auf vielen Bahnhöfen gab es aufgehetzte wohl, daß sich auch hier im Westen versprengte Spartakisten um- Matrosen und sogenannte Soldatenräte, die jeden nicht rot-beko- hertrieben, und da müsse gleich was unternommen werden, näm- kardeten Soldaten als einen Feind der Revolution ansahen. lich von uns, die wir zur demokratischen Republik stünden – Wir gingen zu meinem Atelier, das damals in der Nassauischen Ja, sagte der Herr, das habe ihn eben bewogen, den Herrn Sol- Straße war. Otto schleppte eine jener typischen Soldatenkisten. Im daten auf ein paar Tage zu sich ins Haus einzuladen. Weil einem das Grunde recht vergnügt, gingen wir durch die unbeschreiblich kalte heute doch mehr Sicherheit gebe. und damals besonders traurige Uhlandstraße. Der Kalk war von Otto sagte großmütig, er würde gerne in den nächsten Tagen den Wänden gefallen, Fensterscheiben waren zerbrochen, manche einmal nach dem Rechten sehen. Großmütig akzeptierte er dann Geschäfte hatten die eisernen Rolläden heruntergelassen und da- auch des eingeschüchterten Bürgers Angebot, uns wenigstens als hinter, hinter den ungeputzten Scheiben, standen jahrelang nicht Zeichen der Dankbarkeit, gewissermaßen als eine Anzahlung… abgestaubte Attrappen aus Pappe. In seiner Kiste aber hatte Otto »Ich bin sofort wieder da, mit einem kleinen Eßpaketchen und eine große Flasche Pernod und eine tadellose Wurst – wo er diese einer Flasche Château Lafite – etwas ganz Exquisites, meine Her- beiden schönen Dinge aufgegriffen hatte, weiß ich heute noch ren! Ganz das Richtige für einen Offizier der Republik wie Sie –« nicht, aber jedenfalls lag ein behaglicher Abend vor uns. So zogen wir erheitert zur dringenden Soldatenratssitzung in Wir bogen gerade in den Hohenzollerndamm ein, abwechselnd mein Atelier. Die Koteletts und der Wein waren natürlich erste die schwere Kiste schleppend, als plötzlich ein bebarteter und be- Klasse, und in den Ohren klangen uns die Abschiedsworte des brillter Mann mit fliegenden Mantelschößen aus einem Haustor deutschen Bürgertums: stürzte, vor uns den Hut zog, sich verbeugte und bat, uns beim »Mein Herr Soldat, nach diesem Zusammentreffen mit Ihnen Tragen helfen zu dürfen. »Mein guter Herr Soldat«, sagte er, immer fühle ich, daß wir nun doch endlich auf dem Wege zu Ruhe und höflich den Hut in der Hand, »bevor ich Ihnen an die Hand gehe – Ordnung sind.« Sie gestatten mir doch, nicht wahr? – würden Sie und Ihr Freund mir die Ehre und das Vergnügen machen, mit mir heraufzukom- In jenem Jahr 1919 gingen wir die unbeleuchteten Straßen Berlins men, zu einem bescheidenen Abendbrot? Darf ich fragen: haben es entlang und duckten uns in den hohen Torbogen dicht an die klei- die Herren noch weit? Sie können gern, wenn’s noch weit ist, die nen Portierlogen – denn vor lauter Angst, weil sie es drinnen nicht Nacht bei uns verbringen; wir haben eine große Wohnung und mehr aushielten, gingen die Leute damals auf die Dächer hinauf Platz genug. Es fügt sich sogar ausgezeichnet, wir haben heute und schossen nach Menschen und Tauben. Die Größenverhält- abend Kalbskoteletts – ich konnte es noch einrichten, ohne Mar- nisse hatten sich verschoben. Als man einmal einen dieser Dach- ken – also wenn Sie mir bitte, bitte die Ehre geben würden –?« schützen zu fassen bekam und ihm den am Arm verwundeten Wir waren ein wenig erstaunt. Amüsiert sah Otto mich an und Mann zeigte, da sagte er: »Herr Wachtmeesta, ick dachte, det wer ich sah ihn an. Otto, der immer erstklassige Manieren hatte, gab ne jroße Taube!« sich den Anschein eines Soldatenratsmitgliedes; er bedauere sehr, Überall konnte man Patronen und Gewehre kaufen. Mein Vet-

148 149 ter, der etwas später vom Militär entlassen wurde, brachte mir eines Die Stadt war dunkel, kalt und voller Gerüchte. Ihre Straßen wur- Tages ein komplettes Maschinengewehr. Ich könne es ruhig abzah- den wilde Schluchten voll Totschlag und Kokainhandel, ihre neuen len, meinte er, und ob ich nicht jemand wüßte, der an zwei anderen Wahrzeichen die Stahlrute und das blutige, abgebrochene Stuhlbein. Maschinengewehren und einer kleinen Feldkanone interessiert Man wußte nichts und munkelte von geheimen Übungen der sei? (Natürlich dachte er an meine Beziehungen zu politischen Schwarzen Reichswehr und einer beginnenden Roten Armee. Wü- Parteien, die ja damals anfingen sich gegeneinander zu bewaffnen.) tende »Patriotinnen« gingen mit Schirmspitzen auf meinen Freund Er brachte mir später noch sechs tadellos erhaltene und geölte Wieland los, der sich in den Urwald der Meinungsverschiedenheiten Mausergewehre – Modell 98, mit dem wir als Soldaten schossen –, begab, um seinerseits zur Klärung der Situation beizutragen. Ein und eine feine, nagelneue Parabellum mit Einsteckgriff kaufte ich Sipo rettete ihn vor der Lynchjustiz des bösen Volkshaufens; auch von ihm. Eine dolle Zeit! ebenso knapp entrann er dem Schicksal, an irgendeine Kasernen- Alle sogenannten sittlichen Bande waren aufgelöst. Eine Welle wand der Kapp-Lüttwitztruppen gestellt zu werden. Mit ein paar des Lasters, der Pornographie und Prostitution lief durch das ganze Reitpeitschenhieben und Fußtritten kam er davon. Wir verbargen Land. »Je m’en fous«, sagte ein jeder, »ick will mir endlich mal wie- uns, schliefen nicht zu Hause, wo man uns kannte, und warteten der amüsieren.« Der Shimmy war die große Mode. Ein paar junge auf ein besseres Morgen. Amerikaner, die gestern noch für eine amerikanische Regiments- An allen Ecken saßen echte und unechte Kriegsinvaliden. Die musik gespielt hatten, kamen nach Berlin, und im Nu verschwan- einen dösten vor sich hin, bis ein Passant kam, dann verdrehten sie den alle Wiener Salonkapellen und verwandelten sich über Nacht in den Kopf und fingen an sich krampfhaft zu schütteln. Schüttler Jazzbands. Anstatt des ersten und zweiten Geigers saßen da jetzt nannte man die: »Sieh mal, Mutter, da sitzt wieder so’n komischer krampfhaft grinsende Banjoisten und Saxophonbläser. Man war Schüttler!« Längst hatte man sich an alles Unheimliche und Ekel- fröhlich, kolossal fröhlich. Heißa, der Krieg war vorbei! hafte gewöhnt. Manche Invaliden boten die damals plötzlich in Langsam fing die Inflationszeit an. »Geliebte Leiche tanzt um Massen auftauchende amerikanische Wan-Eta-Schokolade an. den Sarg, und der Dollar steht dreihundertsiebenzig Mark«, sang Gott, wie lange hatte man keine Schokolade gesehen! In den Hän- ein dicker Komiker in einer der feineren Kleinkunstbühnen, wäh- den der Kriegskrüppel da wirkte sie wie das Lorbeerblatt, das die rend man Champagner trank und nur hin und wieder zur Tele- Taube zur Arche Noah bringt. Sie war ein Zeichen, daß es aufwärts phonzelle ging, um zu erfahren, wie der Dollar und das Pfund ging. »Wenn die schon wieder Schokolade anbieten –!« standen. »Wir vertrinken unserer Oma ihr klein Häuschen – und Allerlei lang vermißte schöne Dinge tauchten wieder auf. Über- die erste und die zweite Hypothek!« all konnte man plötzlich Libby’s Büchsenmilch kaufen. »Soll allet Draußen marschierte eine Gruppe weißbehemdeter Männer, die von de amerikanische Armee sind. Det hat’n jroßer Mann allet uff- sangen in einem fort: »Deutschland erwache! Juda verrecke!« Da- jekooft von de Amerikaner, und nu vakooftas vor det Doppelte hinter kam eine andere Gruppe, auch militärisch zu vieren mar- und Dreifache!« Aber so war es auch. Über Nacht wurden Vermö- schierend, die schrie rhythmisch im Chor: »Heil Moskau! Heil gen verdient, immer über Nacht. Da mußte einer nur »jenauer hin- Moskau!« Nachher lagen dann immer welche herum mit einge- kieken« und sehen, wo seinem Bruder der Schuh drückte. Wer hauenen Köpfen, zertrümmerten Schienbeinen und gelegentlichen nichts hatte, wollte was haben; und wer hatte, der verkaufte es für Bauchschüssen… das Drei- und Vierfache.

150 151 Mein Freund Albert, der mit mir zum zweiten Male eingezogen Man hörte es förmlich. »Hör ma, hörste det?« sagten die Leute, worden war, war ein Träumer, ein von Feen und goldenen Töpfen »det is nich knistern, det sind die Preise!« Es war gar nicht zum träumender und sinnender Mensch. »Sage mal«, fragte ich ihn, Lachen. Man mußte fix sein und blitzschnell einkaufen; während »wie bist Du denn so schnell reich geworden?« Wir rauchten ge- man durch die Türe schritt, wurde der Hase schon eine, zwei Mil- rade 10-Mark-Zigarren und tranken Alberts Frühstücksgetränk: lionen Mark teurer. Pommery & Greno Extra Brut mit Porterbier. Tja, erwiderte er, Aber komisch: je höher die Preise stiegen, um so höher stieg die wie er da so ein bißchen traurig im Militärtransportzug gesessen Lebenslust. Heißa, war das Leben schön! Überall erschallten neue (traurig, daß nun die schöne freie Zeit als Zivilist zu Ende sei) und Tänze; der französische Champagner floß in Strömen; vor jedem sich so recht innerlich von allem, was ihm nun bevorstand, hin- Lokal standen Dutzende meiner Landsleute wie im Mittelalter vor weggesehnt (»fast wie so’ne Art Gebet ans Schicksal, ob Du’s dem Burgtor, teilweise in malerischer Tracht, die Hände ausge- glaubst oder nicht!«) und in sich versunken zum Fenster hinausge- streckt und leer bis auf ein paar verzwickte Schicksalslinien. Aber schaut hatte, da (»Mensch, ick bin doch keen kleenes Kind mehr, hier kam keine heilige Agathe, um diese armen Bettelleute zu trö- also Ehrensäbel!«) – ja, da war neben dem fahrenden Zug eine Fee sten. Hier kam kein frommes Burgfräulein mit Speise und Trank im entlanggeschwebt. (»Ganz richtig und deutlich – nee, so wie ’ne weidengeflochtenen Korb und wusch demütig die Schwären und weiße Wolke, aber durchsichtig.«) Und die, so erzählte er weiter, Gebreste. Hier kam – »na watt denn?« – ein dicker, goldbetreßter hatte plötzlich die Hand erhoben und auf einen Haufen alter, ver- Portier, und mit dem großen, zusammengeklappten Schirm, den er rosteter Eisenbahnschienen und Schrauben gezeigt. »Und so«, über uns feine Leute hielt, wenn es regnete, jagte er die Neugieri- schloß er, »so bin ich reich geworden!« gen und die Hungrigen und alle anderen, die da herumstanden, Ja, so gab es viele Karrieren damals. Ganz wie im Märchen. Es fort: »Wollta ma machen, det a hia wechkommt? Aba zoff, zoff! war auch eine märchenhafte Zeit. Oft erscheint mir alles, was ich Sonst feif ick den Sipo!« damals sah und erlebte, wie ein phantastischer Traum – oder sind es Der Sipo, das war der rotgesichtige junge Mann dort in der nur die Jahre, die wie graue und farbige Schleier dazwischenhän- blauen Uniform mit dem komischen Jägerhelm, den stramm einge- gen und die Ereignisse traumhaft machen? Daß es nun bald wieder wickelten Waden und den Chevreau-Ausgehschuhen. Der Sipo alles gab, machte damals merkwürdigerweise nicht alle glücklich. war für die Ordnung da und für die Ruhe. Er hatte stets einen Das kam daher, daß nur ein kleiner Teil wie mein Freund Albert heimlichen Zusammenhang mit denen drinnen, und da seine von Feenhand gelenkt wurde. Die große Mehrzahl konnte zusehen große, behandschuhte Hand nicht zum Backpfeifen ausreichte, und sich an Schaufensterscheiben, hinter denen alles aufgestapelt hatte man ihm eine Art Handverlängerung gegeben in Gestalt eines lag, die Nase plattdrücken. Die dort aufgebauten und von zärt- Knüppels aus Vollgummi. Der war damals neu und galt für human. lichen Fingern geschmackanreizend arrangierten Stilleben machten Der Sipo konnte damit auch streicheln – Hunde besonders, Men- hungrig, doch war Eile geboten. Denn während man sich noch am schen weniger. Leider war sein Knüppel schlecht ausbalanciert. Er Anblick der fetten Pute, des niedlich gespickten Häsleins oder des schlug sozusagen einseitig aus, und zwar nach links, wo dummer- kunstvoll besteckten Prager Schinkens in Brotteig ergötzte und weise die meisten jener stillebenbetrachtenden und von Feen nicht sich fragte, welches vielleicht zu erschwingen sei – währenddem heimgesuchten Menschen standen. Immer nach links schlug der stiegen die Preise… Knüppel, immer nach links.

152 153 All diese Dinge, Menschen und Erscheinungen wurden von mir Das wurde als große Blüte der Künste und des Theaters ange- sorgfältig gezeichnet. Ich liebte nichts davon, weder die im Restau- sehen. Erwin und ich wurden mit verschiedenen Lorbeerkränzen rant, noch die auf der Straße. Ich hatte die Arroganz, mich als bekränzt; meistens waren rote Schleifen daran, manchmal schwarz- Naturwissenschaftler zu bezeichnen, nicht als Maler oder gar als rot-goldene, seltener schwarz-weiß-rote. Die Reichen hatten da- Satiriker. Aber in Wirklichkeit war ich damals jeder, den ich mals ein offenes Herz für alle schönen Künste, aber sie waren auch zeichnete – der reiche, fressende, Champagner trinkende, vom müde und liebten es, auf ihren eigenen Untergang anzustoßen. Schicksal begünstigte Mensch ebenso wie der, der draußen im »Na, prost! Rinne hinab in den Bauch, den fetten.« strömenden Regen die Hand aufhielt. Ich zerfiel gleichsam in »Hach, Erwin, saach mir ma wat janz Ekelhaftes, wat janz Belei- zwei Teile. Mit anderen Worten: ich nahm am Leben teil… dijendes!« Man hätte glauben können, daß die Reichen und Glücklichen »Du ehrloser Kapitalist!« damals mit dem Tisch, den ihnen Gott gedeckt hatte, zufrieden »Hach – noch einmal – hach, is det süß! Erwin, hier is’n Blanko- gewesen wären. Viele waren aber unzufrieden – und diese Unzu- scheck. Jede Summe, jede Summe…« friedenheit war wiederum ein Segen für die Spaßmacher und »Prosterchen, Herr Jrosz, et lebe der Unterjang det Abendlan- Schauspieler unter uns. Zu denen – zu meinem Freunde Erwin det!… Jawoll, na watt denn. Wa schwer, aba schließlich hatta inje- zum Beispiel – kamen oft reiche und mächtige Leute und sagten: willicht. Keene lange Widmung, nur sein Namen: Oswald Speng- »Du, Erwin, wenn Du uns da mal was vormachen kannst, so was ler… Herr Jrosz, für mir is det wie ne Bibel. Wenn ick ooch nich recht Drastisches – ich meine, uns nachmachen –, vielleicht meine viel zus Lesen komme…« krummen Beine oder wie mein Freund Oskar sich immer überfrißt und nachher den Teppich vollkotzt oder wie Hugo da unten in sei- In jener phantastischen Zeit, in der wir praktisch alle Millionäre nem Weinkeller sitzt und die leeren Flaschen zählt? Erwin«, sagten und Milliardäre waren, da geschah etwas geradezu Ungeheuer- die, »nimm Dir Zeit und ein paar von den begabten Eckenstehern, liches. Es geschah, daß der bis dato unerschütterliche Glaube an das die immer so schon für ein paar Groschen singen – wir schenken Geld zusammenbrach, und wir alle mehr oder weniger zu primiti- Dir ein großes Theater und Du kannst Dich drauf verlassen, wir ven Formen des Tauschhandels zurückkehrten. kommen alle und freuen uns, wenn Du uns zeigst, wie widerlich Nur ganz wenigen Männern und Frauen außer vielleicht ein wir eigentlich sind – hahaha –« paar Heiligen ist es gegeben, ohne Nahrung leben zu können. Wir Ich war zwar weder ein begabter Eckensteher noch ein Zirkus- gewöhnlichen Sterblichen müssen essen, womöglich dreimal am clown oder ein Schnellzeichner (obwohl ich, unter uns, von all dem Tage. Darin sind wir eben Tiere – und der Geist ernähret uns ja be- ein wenig an mir und in mir hatte und habe) – kurz und gut, ich war kanntlich nur zu einem Viertel. Je hungriger nun ein Mensch ist, auch mit dabei. Wir wurden hoch bezahlt. Ich wurde fast reich, und desto mehr träumt er, und zwar immer denselben Traum: von gu- Erwin wurde richtig reich, allein dadurch – ja, so war es auch da- tem und fettem Essen. In der ärztlichen Fachsprache nennt man mals, als Rom unterging! –, allein dadurch, daß wir den Reichen diese Wachträume Hungerphantasien. Sie sind der Ursprung der und Mächtigen Fratzen schneiden und unsere Hintern entblößen Idee vom Schlaraffenland, wo Milch und Honig fließen und kühler durften. Denn wie sagte noch Hugo? »Mein lieber Erwin, und als Rheinwein dem Gebirge aus Schweizerkäse entspringt, wo gol- Finale den blanken Hintern den Logen und dem Parkett!« dene Butterhügel einladend leuchten und rosinengefüllte Kuchen-

154 155 berge warten, wo die Hühner und die Spanferkel schon gebraten Wie alle Magier hatte er eine symbolisch-poetische Art zu spre- herumlaufen, die Bratwürste vom Baum hängen und du nur den chen. Er sagte: weil ich ihm sympathisch sei und auch ein Künstler, Mund aufzumachen brauchst, damit die gebratenen Tauben von könne mir geholfen werden. Das Dumme bei all diesen Dingen sei selbst hineinfliegen. An solchen Hungerphantasien litten wir da- die unbefriedigte Phantasie. Wirkliche Würste und Schinken seien mals alle. Sahen wir die schönen Dinge in den Fenstern der Delika- eben doch anders als ausgedachte und auch gemalte (ich erzählte tessengeschäfte, so wischten wir uns erst einmal die gierigen Augen ihm von vergeblichen Versuchen, die ich in dieser Richtung ge- aus: war der gespickte Hasenrücken vielleicht wieder nur eine Fata macht) könnten die Phantasie nicht restlos zufriedenstellen. Ich Morgana, wieder nur eine papierne, von unserer Phantasie mit Saft höre noch das teuflische Lachen dieses Zauberers, den ich immer erfüllte Attrappe? Es ging zu wie auf einem Bilde des Bauern- noch für einen Koch hielt: »Haha, mein Lieber, wenn Du Dir einen breughel. Schinken in Burgunder malst und kannst Dir hinterher kein safti- Bevor ich weitererzähle, muß ich hier einfügen, daß die Zeit ges Stück davon abschneiden, was bedeutet dann all Deine Kunst? auch insofern mittelalterlich war, als es damals Zauberer unter uns Sieh mal«, sagte er, und wir tranken noch zwei doppelte Kirsch, gab, richtige schwarze Magier im Besitz einer der Allgemeinheit »sieh mal, ich werde Dich jetzt gleich wohin mitnehmen, wo nicht verschlossenen Kunst. Nicht nur, daß sie Kraft über die Materie nur ein Schinken wächst!« Ich besinne mich noch, er sagte deutlich hatten und Dinge geheimnisvoll von einem Ort zum anderen »wächst« – was seltsam mittelalterlich klang. »Ich werde Dir jetzt schaffen konnten; sie konnten Büchsenmilch, Schokolade, Zucker, gleich – wir nehmen ein Taxi«, fügte er ein; »ja, ich werde Dir das Kostbarkeiten, die wir nur noch vom Hörensagen kannten, so- Schlaraffenland zeigen – und nicht abgemalt«, schloß er, mich ein wohl hervorzaubern als auch ebenso schnell wieder verschwinden bißchen höhnisch anzwinkernd. lassen. Sie hatten die allen Zauberern eigene Gabe, sich, aber vor Draußen regnete es. Es war längst zwei Uhr vorbei. Der schläf- allem die schönen, verführerischen Dinge unsichtbar zu machen. rige Portier hielt seinen Schirm über uns, öffnete nach Empfang Durch Zufall lernte ich eines Mitternachts – es schlug gerade von einigen Millionen den Wagenschlag und warf ihn mit einem zwölf – so einen Zauberer kennen. In der bürgerlichen Welt war er »Sehr verehrte Nachtruhe, Meister«, hinter uns ins Schloß. Wir ein Koch. Alle Gespräche drehten sich damals ums Essen: beim fuhren los. »Ich lasse lieber die Vorhänge runter«, hörte ich den Frühstück (Kohlrübenkaffee und kunsthonigbeschmierte, grau- Zauberer noch sagen… grüne Schrippe) sprach man vom Mittagessen, und beim Mittages- Ich muß dann ein wenig geduselt haben. Als ich aufwachte, hiel- sen (Kohlrübenkoteletts, Muschelpudding und Kohlrübenkaffee) ten wir vor einem jener gesichtslosen Häuser irgendwo im Neuen vom Abendbrot (Muschelwurst, graugrüne Schrippe mit Kunst- Westen. Laternen brannten keine; es war gerade wieder mal Gas- honig und kalter Kohlrübenkaffee). So schlicht und einfach unser oder Elektrizitätsstreik. Kein Mensch war zu sehen. Es regnete Menü auch war, so fehlte ihm doch mancherlei und das belebte nun in Strömen, aber die paar doppelten Kirsch, die ich eingenom- wiederum die Phantasie. Ich erzählte also meinem neuen Freunde men hatte, erwärmten mich innerlich. Man hatte den Eindruck eines sehr eindringlich, wie mir so zu Mute sei und wie der Kunsthonig ganz unbewohnten Hauses. Max – so hieß mein neuer Freund – einem die Eingeweide zerkratze. Als ich ihm aber auch noch das förderte aus seiner hinteren Hosentasche einen riesigen Haus- mißvergnügte Knurren meines Magens vorführte, da meinte er schlüssel zutage. In der Portierloge regte sich nichts. Eine Katze ganz einfach, ich äße eben nicht die richtigen Sachen. miaute, kam näher, sträubte aber plötzlich die Haare, fauchte uns

156 157 mit phosphorglühenden Augen an und verschwand kläglich jau- ich mir – tadellos, tadellos. Wir stiegen noch ein paar Stufen hinan lend im Dunkeln. und landeten auf einem Treppenabsatz vor einer großen, ver- »Verdammtes Biest! Hier, halte mir mal den Fünfminutenbren- schnörkelt geschnitzten Holztüre mit Milchglaseinsätzen. »So, ner«, sagte der Zauberer, mir eine Schachtel mit den kleinen nun kannst Du wieder leuchten«, sagte der Zauberer. »Von hier Wachsstreichhölzern zusteckend, die eigentlich schon außer Mode sieht uns niemand.« waren. Das Holz, das ich mit der Hand schützte, flackerte auf, und Das Geheimnisvolle wunderte mich keineswegs. Das gab es da- ich sah die Silhouette seines Schattens, als er versuchte, das quiet- mals bei uns allen, denn die Gesetze waren so zahlreich und täglich schende Schloß aufzuschließen. »Muß mal geölt werden«, sagte er. neu, daß jedermann mehr oder weniger zum Gesetzesübertreter Herrgott, dachte ich, angenehm, aber ein wenig unheimlich be- wurde, ohne es zu wollen oder auch nur zu wissen. Auch ein Zau- rührt, das ist ja wie bei E. T. A. Hoffmann! Ich dachte an eine Ge- berer, dachte ich mir, hatte wohl seine Gründe. Inzwischen hatte schichte, die mir als Kind der dicke Willi erzählte, der in unserer mir Max nämlich von sich erzählt, daß er mit geheimen Kräften zu Kegelbahn im Stolper Freimaurerhaus die Kegel aufsetzte: Eines tun habe und in Verbindung stehe… »Ja«, sagte ich, »wenn Du das Nachts, als nur noch ein paar Logenbrüder zusammen mit dem kannst, dann bist Du ja ein Zauberer!« Meister vom Stuhl eine Ente auskegelten, da war auf einmal zwi- »Bin ich auch, bin ich auch«, sagte er. schen den anderen Kugeln eine angerollt gekommen, die hatte aus- Die Tür ging wie von selbst auf. Mein Fuß stieß an ein Faß. Als ich gesehen wie ein Totenschädel und ganz grünlich geleuchtet. Und auf des Zauberers Geheiß das Licht andrehte, griff ich in etwas als er sie dann in großer Angst aufheben wollte, war es eine ganz widerstandsfähig Weiches, so wie wenn man unversehens an einen gewöhnliche, aber viel leichter als die anderen – und hinterher, Mehlsack faßt – und genau das hatte ich denn auch getan. Sobald das sagte der dicke Willi, war dann tatsächlich eine Kugel mehr dage- Licht brannte (es brannte trotz des Streiks), sah ich, wo ich war… wesen… Komisch, dachte ich in jener Nacht, vielleicht ist das auch Die große Eingangstür war ganz verdeckt von drei starken, eine Kegelbahn, wo wir jetzt hinkommen, und wir kegeln einen bläulichen Eisenblechplatten; drei armdicke Eisenriegel sicherten Schinken aus! Mir lief ordentlich das Wasser im Munde zusam- sie gegen unerwünschte Gäste, die hier etwa ohne Erlaubnis einzu- men. Donnerwetter, ach du mein Gott im Himmel – jetzt ein schö- dringen versuchten. Denn, so erklärte mir der Zauberer, er hatte nes, saftiges Stück Schinken, braucht gar nicht einmal in Burgun- nur bedingte Macht über Menschen, weniger als über Dinge – das dersauce zu liegen… sei so in seinem Vertrage mit festgelegt, sagte er, wobei er mich von Der Zauberer hatte mittlerweile geöffnet. »Mach leise«, sagte er, der Seite ansah. Also wo war ich? In einem der alten Häuser des »muß niemand hören, daß wir raufgehn – gib acht auf die Stufen Berliner Westens, aber daran erinnerte hier wenig. Ich hatte recht da, die Treppenläufer sind abgenommen. Nein, kein Licht, wir gefühlt, als ich mit der Fußspitze gegen ein Faß zu stoßen glaubte. können so sehen –«. Nur war es nicht ein Faß, sondern eine doppelte Fässerreihe, und Wir gingen vorsichtig nach oben. Ich hielt mich an dem dicken, auf den Fässern standen friedlich und gemütlich zwei Reihen klei- geschnitzten Geländer fest; gegen die Butzenscheibenfenster an nerer und größerer Säcke voll Zucker und Mehl… Auf der anderen den Treppenwendungen schlug der Novemberregen. Ich hatte das Seite sah ich Kisten. Hübsch ordentlich war es in diesem Zauber- Gefühl, in einem verwunschenen Berg hinaufzusteigen. Es wurde berge; die Gehilfen des Zauberers hatten jede Ecke ausgenutzt und plötzlich enorm gemütlich. Wenn so die Zauberer wohnen, dachte alle Kisten, mathematischen Gesetzen folgend, der Größe nach

158 159 übereinandergebaut. Bis an die Decke ging das: getrocknete Pflau- Schweizerkäse in der Ecke stehen, so groß wie Wagenräder. Der men, getrocknete Trauben – bunte, gedruckte und nett aufgeklebte Kronleuchter war abgeschraubt; nur eine einzige Glühbirne ohne Bilder erzählten, oft in fremder Sprache, von dem leckeren und Schirm hing da oben, und ein paar altertümliche Lehnsessel mit nützlichen Inhalt dieser Kisten und Behälter. roten Samtbezügen und Troddeln an den Seiten standen noch »Da ist Schmalz drin«, sagte der Zauberer, auf eine Reihe verlö- herum. Aber die paßten schlecht herein und waren wohl zurückge- teter Blechbüchsen zeigend, »aber ich koche oder brate nie mit lassen worden, ehe der Zauberer einzog. Die Fenster waren, soweit Schmalz. Hier ist schließlich mehr Butter, als man essen kann«. nicht die Kisten, Säcke, Kannen, Eimer und Pakete die Aussicht Durch die angelehnte Tür sahen wir in den nächsten Raum, das versperrten, durch Rolläden und extradicke Samtvorhänge gegen sogenannte Berliner Zimmer, wo kleinere Fäßchen mit der Auf- jede Einsicht von außen abgeschlossen. Die Reste einer ehemals schrift »Prima Molkereibutter« standen. behaglich bürgerlichen Wohnung aus den Achtzigerjahren gaben »Die anderen Zimmer sind schon viel zu voll. Man weiß gar einem irgendwie den Eindruck, als sei der eigentliche Besitzer all- nicht, wohin mit allem. Das Geld ist ja doch nischt wert, da muß- mählich von den Kisten, Säcken, Eimern, Kannen und Paketen Fuß ten wir sogar noch diesen Korridor zu Hilfe nehmen –« um Fuß zurückgedrängt und schließlich erdrückt worden – viel- Wir gingen durch den engen Gang in das Berliner Zimmer. leicht unter dem Sack da, oder von jenem enormen rotlackierten Rechts und links von uns waren Kisten, Eimer mit Marmeladen, Käse – oder am Ende gar inmitten all dieser Schätze verhungert… riesige Einmachgläser mit Tomaten, Gurken und Delikatessen, Wir hungerten nicht. Nachdem mich der Zauberer durch die blaue, russisch beschriftete Blechbüchsen mit Kaviar, aufgestapelt ganzen vierzehn Zimmer mit Küche und Kammer geführt und ich bis an die Decke, wenn überhaupt noch so etwas wie eine Decke zu mich auf dem Rand einer etwas hervorstehenden Kiste niederge- sehen war. Denn wie Früchte oder Stalaktiten hingen da Hunderte lassen hatte, verschwand er einen Augenblick und kam mit einem von Würsten: rote Zervelatwürste mit den Schildchen ihrer aristo- ungewöhnlich großen, nagelneuen Messer wieder. Es glänzte rich- kratischen Herkunft den Schlächter nennend, Rügenwalder Mett- tig im Reflexlicht der Glühlampe. Dann sagte er: »Wer hier herein- würste, fettglänzend und fröhlich, Reihen ausgetrockneter, ehr- kommt, muß von meinem Wunderschinken kosten. Du bist keine würdiger Landjäger – Wurst neben Wurst, zu Hunderten. Und Ausnahme. Und wenn Du einmal davon gekostet hast, wirst Du nicht nur Würste hingen da; nein, neben der kugeligen Zungen- nicht ruhen und nicht rasten, bis Du einen ganzen besitzt – und wurstreihe sah man Hunderte von Speckseiten, durchwachsen, dann mehrere, und schließlich« – dabei verklärte sich sein Gesicht undurchwachsen, oder den von der Räucherkohle schwarzen ganz unheimlich – »ja, ja, vielleicht eines Tages alle Schinken der Speck, der aus dem Schwabenlande kommt. Da hingen alle Sorten Welt!« Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an und schnitt Schinken, vom glatten, wurstartigen Lachsschinken bis zum über- ein handtellergroßes Stück ab. großen, katengeräucherten Westfälischen… Wahrhaftig – hier paßte »Einmal davon gekostet – ja, ja, das ist der Fluch – lang mal da der Ausdruck: wahrhaftig nicht satt sehen konnte man sich, und hinter Dich – nein, mehr rechts, gleich neben der Kiste Trocken- ich faßte schnell einmal an meine Nase, in der ein angenehm pri- milch – da. Gib sie rüber, die Flasche. Siehst Du, das ist nämlich der ckelnder Geruch von geräuchertem Schinken war, um zu sehen, ob Geist, der zum Schinken gehört: klarer Wacholderschnaps…«. ich all dies nicht etwa träume. Ich brachte die riesige Steinkruke mit den Spinnweben daran Ich träumte nicht. Ich sah mehrere richtige, unangeschnittene und stellte sie auf den Tisch, auf dem bereits zwei Schnapsgläser

160 161 standen. Der Zauberer füllte beide, gab mir meines, nahm seines in die Hand, führte es unter die Hakennase und roch daran. Dann hob er das Glas: »Prost, mein Lieber – es lebe das Schlaraffen- land!« – Ich traf meinen Freund noch häufig, doch wollte er nie mehr IX Kunst und Wissenschaft etwas von jenem Abend wissen. Gab es vielleicht Zauberer, die größer und mächtiger waren als er? Etwas quälte ihn. Auch ge- stand er mir einmal, seine magnetische Kraft, seine Anziehungs- ünstlerisch waren wir damals »Dadaisten«. kraft und Befehlsgewalt über die Kisten und Kannen und Würste KWenn das überhaupt etwas zum Ausdruck brachte, so war es und Schinken habe leider bedenklich nachgelassen. Als ich ihn das eine schon lange gärende Unruhe, Unzufriedenheit und Spottlust. letzte Mal sah, war er müde und mißmutig, gar nicht mehr der alte, Jede Niederlage, jeder Umbruch zu einer neuen Zeit gebiert derlei und erschien mir wieder mehr als ein gewöhnlicher Koch. Er nahm Bewegungen. In einer anderen Epoche hätten wir ebensogut Fla- mir noch das heilige Versprechen ab, niemandem, auch nicht mei- gellanten sein können. ner Frau, von jener Nacht im Schlaraffenland zu erzählen. Dada, soweit ich seine Geschichte kenne, kam aus Zürich. Dort Ich habe mein Versprechen gehalten. Die Geschichte ist hier hatten im Krieg ein paar Dichter, Maler und Musiker das Cabaret zum ersten Mal erzählt worden. Der Koch ist lange tot, dreißig Voltaire gegründet. Hugo Ball leitete es, mit Hilfe von Richard Jahre sind vergangen, und Hungerphantasien in Berlin gehören Huelsenbeck, Hans Arp, Emmy Hennings und ein paar anderen selbstredend der Vergangenheit an. internationalen Künstlern. Das Programm war nicht eigentlich politisch, es war modern futuristisch. Den Namen Dada fanden Ball und Huelsenbeck, als sie willkürlich ein französisches Lexikon aufschlugen und blind auf ein Wort zeigten. Das Wort war zufällig dada, das heißt Schaukelpferdchen. Huelsenbeck brachte Dada nach Berlin, wo die Sache sofort poli- tische Züge annahm. In Berlin wehte ein anderer Wind. Die ästhe- tische Seite wurde zwar beibehalten, aber immer mehr durch eine Art anarchistischnihilistischer Politik verdrängt, deren Haupt- wortführer der Schriftsteller Franz Jung war. Jung war eine Rim- baudfigur, eine kühne, vor nichts zurückschreckende Abenteurer- natur. Er gesellte sich zu uns, und als der Gewaltmensch, der er war, beeinflußte er sofort die ganze Dadabewegung. Er war ein starker Trinker und schrieb auch Bücher in einem schwer lesbaren Stil. Berühmt wurde er für ein paar Wochen, als er mit seinem Hel- fer, dem Matrosen Knuffgen, mitten in der Ostsee einen Dampfer kaperte, ihn nach Leningrad steuern ließ und ihn den Russen

162 163 schenkte – zu einer Zeit, in der schon jeder vom bevorstehenden und etwas von sich dazu vorzutragen, da kam schon ich oder Sieg der Kommunisten sprach und in Deutschland kaum noch eine Heartfield oder Hausmann hinter der Bühne vor und rief: »Auf- richtige Obrigkeit existierte. hören! Du willst doch den Schafsköppen da unten nicht etwa was Jung tat selten etwas direkt; er hatte immer einige ihm auf Tod vormachen?« Oft wurde so etwas vorbereitet, aber öfter war es im- und Leben ergebene Vasallen um sich. Wenn er betrunken war, provisiert, denn da immer einige getrunken hatten, gab es auch schoß er mit seinem Revolver auf uns wie ein Cowboy aus einem zwischen uns beständigen Krach, der dann einfach coram publico Wildwestfilm, und sein Leben verdiente er sich als eine Art Bör- auf offener Bühne seinen Fortgang nahm. senjournalist, gab auch einmal in seinem eigenen Verlag eine Zei- So etwas wie die bildende Dada-«Kunst« hatte es bisher noch tung heraus, die sich mit ökonomischen Fragen beschäftigte. Er nicht gegeben. Es war die Kunst (oder auch die Philosophie) des war einer der intelligentesten Menschen, die ich je getroffen habe, Müllkastens. Der Führer dieser »Schule« war ein gewisser Schwit- aber auch einer der unglücklichsten. ters aus Hannover, der sammelte alles, was er beim Spazierengehen Als Dadaisten hielten wir »Meetings« ab, bei denen wir gegen oder sonst auf Schutthaufen, in Kehrichttonnen oder Gott weiß ein paar Mark Eintrittsgeld nichts taten, als den Leuten die Wahr- wo fand: verrostete Nägel, alte Putzlappen, Zahnbürsten ohne heit zu sagen, das heißt, sie zu beschimpfen. Wir nahmen kein Blatt Haare, Zigarrenstummel, alte Fahrradspeichen, einen halben Re- vor den Mund. Wir sagten: »Sie alter Haufen Scheiße da vorne – ja, genschirm. Alles, was der Mensch als nicht mehr brauchbar weg- Sie dort mit dem Schirm, Sie einfältiger Esel«, oder: »Lachen Sie geworfen, fand in Schwitters einen Sammler und wurde von ihm nicht, Sie Hornochse!« Antwortete einer, und natürlich taten sie auf alten Brettern oder Leinwänden zu kleineren, flachen Müll- das, so riefen wir wie beim Militär: »Halts Maul oder Du kriegst haufen geordnet, angeklebt oder mit Draht und Bindfaden befe- den Arsch voll!« und so weiter, und so weiter… stigt, dann als sogenannte »Merzkunst« ausgestellt und auch ge- Das sprach sich schnell herum, und bald waren unsere Meetings kauft. Viele Kritiker, die durchaus mitmachen wollten, priesen und unsere Sonntagvormittagsmatineen ausverkauft und voll von diese Art von Fopperei des Publikums und nahmen sie todernst. sich amüsierenden und sich ärgernden Menschen. Es ging so weit, Nur das gewöhnliche Volk, das von Kunst nichts versteht, rea- daß wir ständig Sipos im Saal haben mußten, weil es dauernd gierte normal und hieß die Dadakunstwerke Dreck, Mist und Schlägereien gab. Später wurde es so toll, daß wir immer bei der Müll – woraus sie ja auch bestanden. zuständigen Polizeistelle um eine Sondergenehmigung einkom- Ein Hauptwerk der Schule war eine Riesenplastik, die »Deutsch- men mußten. Wir verhöhnten einfach alles, nichts war uns heilig, lands Größe und Untergang in drei Etagen« hieß und in Wirklich- wir spuckten auf alles, und das war Dada. Es war weder Mystizis- keit nichts weiter war als was herauskommt, wenn man alle mög- mus noch Kommunismus, noch Anarchismus. All diese Richtun- lichen Abfälle auf einen Haufen zusammenkarrt und willkürlich gen hatten ja noch irgendein Programm gehabt. Wir aber waren durcheinanderschüttet. Dieses »Denkmal« war das Werk eines ge- der komplette, pure Nihilismus, und unser Symbol war das wissen Baader, der den Titel Oberdada trug. Dieser hatte sich einst Nichts, das Vakuum, das Loch. in mystischer Weise mit der Erde vermählt, war leicht religiös Zwischendurch machten wir »Kunst«. Aber das ging meist so wahnsinnig und vollkommen größenwahnsinnig – ein richtig Ver- vor sich, daß der »Kunst-Akt« unterbrochen wurde. Kaum fing rückter; aber in jener sonderbaren Zeit unterschied er sich kaum etwa Walter Mehring an, auf seiner Schreibmaschine zu klappern von uns anderen Dadaisten, vielleicht nicht einmal von mir. (We-

164 165 nigstens nicht nach der Ansicht des netten Stabsarztes, der mich Sinn haben, meinten sie. Wir aber sagten: »Nee, seht mal, wir rüh- beim Militär untersuchte und meine Zeichnungen »total verrückt« ren bloß im Dreck herum« – als ob das einen Sinn hätte. fand, jedenfalls verrückt genug, um mich einer sogenannten Idio- Zur Dada-Bewegung in Deutschland gehörte ferner mein tenprüfung zu unterziehen. Aber ich beantwortete alle idiotischen Schwager Schmalhausen. Als sogenannter Dadaoz ist er in die Da- Fragen tadellos…) Baader hatte auch das »Dadacon« verfaßt, das dahistorie eingegangen; auch den Titel Dada-Diplomat führte er gewaltigste Buch aller Zeiten, größer als die Bibel, das aus Tausen- und war als solcher mir, dem Propagandada, attachiert. Er war von den von großen, nach Photomontagemanier zusammengeklebten Natur aus ein Perfektionist; stets sehr elegant angezogen, mit Zeitungsseiten bestand. Diese Methode war benutzt worden, um scharf gebügelten Hosen, steifem englischem Hut, Stock und gel- beim Durchblättern des Buches ein Schwindelgefühl zu erzeugen – ben Handschuhen, brachte er eine weltmännische Note in unsere »denn«, sagte Baader, »erst wenn sich einem alles im Kopfe dreht, Veranstaltungen. kann man das Dadacon begreifen«. Ein anderer, der sich zu uns gesellte, war mein alter guter Freund Dies also war unser Oberdada, aber auch wir anderen hatten Rudolf Schlichter. Er ist einer der belesensten Maler, von geradezu Titel und Funktionen. Ich zum Beispiel war der »Propagandada«, enzyklopädischem Wissen. Damals war er von seiner heutigen was zwischen dem Namen und dem kleingedruckten Satz »Wie religiösen Einkehr noch weit entfernt und voller Widersprüche. Er denke ich morgen?« auf meiner Visitenkarte stand. Ich hatte Paro- hält seine Kunst für die eines Außenseiters, aber für mich ist er das len zu erfinden, die der guten Sache des Dadaismus nützen sollten. keineswegs. Ich sehe in seinen Werken eher die Fortsetzung einer Etwa: »Dada ist da«, oder »Dada siegt«, oder »Dada, Dada über »romantisch-deutschen, mittelalterlichen« Tradition. Auf jener alles!« Wir druckten diese Parolen auf kleine Zettel, und bald ersten internationalen Dada-Schau 1919 in Berlin in der Galerie waren Schaufenster, Kaffeehaustische, Haustüren und dergleichen Burchardt trat er jedoch nicht als Maler oder Zeichner, sondern als in ganz Berlin damit bepflastert. Es war wirklich besorgniser- ultrarealistischer Bildhauer hervor. Seine lebensgroße und ebenso regend. Die »B. Z. am Mittag« brachte einen ganzen Artikel über lebenswahre Figur eines Generals, die unsichtbar befestigt hoch an die dadaistische Gefahr. Treppauf, treppab, rechts und links, oben der Decke über den Köpfen der erschreckten und aufgebrachten und unten klebten wir unsere Zettel. Wenn der Kellner bei Kem- Besucher schwebte, würde Castans Panoptikum Ehre gemacht pinski, damals das Stammlokal der wohlhabenderen Dadaisten, haben. den Tisch abräumte, nahm er unsere verrückten Parolen auf leeren Alle diese seltsamen Gebilde, Klebebilder, Montagen lösten Tellern und Flaschen und auf den Havannazigarrenkisten mit. damals eine richtige Schockwirkung auf das Publikum und die Selbst auf seinen wehenden Rockschößen las man oft: »Dada, tritt öffentliche Meinung aus. Besonders verärgert waren die moder- mich in den Steiß, das hab ich gerne!« nen Künstler, weil hier nichts mehr ernst genommen oder respek- Es war natürlich mehr daran als nur ein Jux. Worauf es ankam, tiert war. Selbst die Avantgarde wurde verhöhnt. Die ganze Ver- war, sozusagen im tiefen Dunkel zu arbeiten. Wir wußten nicht, anstaltung ist dann bald unter Anklage gestellt worden, und Dr. was wir taten; uns war, als rührten wir mit langen Stöcken im Burchardt mußte die Ausstellung schließen und obendrein Strafe Schmutz einer Pfütze herum, ohne jeden Zweck. »Dada ist sinn- zahlen. los« war auch eines unserer Schlagworte, und eben das brachte die Wir hatten auch reiche Freunde, die einen Spaß vertragen konn- Leute gegen uns auf. Eine neue Bewegung müsse doch irgendeinen ten und sich ganz gerne von den legendären Dadaisten hochneh-

166 167 men ließen. Ich besinne mich auf einen, der hatte eine Grunewald- unsere neue Republik auch eine richtige Republik sei und kein villa und tief darunter einen fabelhaften Weinkeller mit ganzen Stra- neuer Trick des deutschen Generalstabs – zirkulierten doch schon ßenzügen aus Fässern und Kisten voll der erlesensten Weine. Diese Gerüchte, daß gar nicht der Kaiser nach Holland weggelaufen sei, unterirdischen Weinstraßen hatte er nach seinen Dadakumpanen sondern ein von Ludendorff geschickt gewählter Doppelgänger, benannt (so lief zum Beispiel die George-Grosz-Gasse zwischen und daß Ludendorff bereits als einfacher Erdarbeiter in einem den Sherryfässern hindurch) und fuhr in ihnen auf einem Motorrad alten, zu diesem Zweck hergerichteten Bergwerk die Gegenrevo- mit Scheinwerfern spazieren. Ein eigens angefertigtes Riesenfaß lution inszeniere. Man munkelte von ganzen Infanterieregimen- hieß das Dadafaß und enthielt einen herrlichen Piesporter, den Ken- tern, die beim Ausbruch der Revolution glatt im Erdboden ver- ner unter uns als ein durchaus »dadaistisches Weinchen« zu rühmen schwunden und nicht mehr aufgetaucht seien; Erklärungen, die wußten. dies auf die neuen, schweren Granaten zurückführten, deren Trich- Ein gewisser Dr. Dohmann, seines Zeichens Hautarzt und also ter die Infanteriegruppen einfach verschlungen hätten, ließ man kein Dadaist im orthodoxen Sinne, war unser Hauskomponist. nicht gelten. Das Volk liebt nun einmal Märchen und Legenden. Es Seine Dadatöne wurden nie zu Papier gebracht, er improvisierte half nichts, daß die neuen Herren sich mit Statistiken und billigem nur. Außerdem schrieb er unter dem Namen Daimonides groteske Marxismus sehr bemühten; das Volk wollte das Unbegreifliche Gedichte und war einer der wenigen, die Jazzmusik auf dem Kla- mythisch erklärt haben. Aber im Augenblick war keiner da, der vier spielen konnten. Mit Daimonides ging ich eines Abends ins das konnte – die großen Wachträumer kamen erst später auf… Hotel Adlon; das war 1919 das Hauptquartier der amerikanischen Und um dieses Dunkle, was ja immer um mein Volk, das deutsche Journalisten. Es war eine »party« im Gange. Der Gastgeber, der Volk sein wird – um dieses Dunkle zu ergründen und klipp und Benny genannt wurde, saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem klar darüber zu berichten, dazu war Ben Hecht gekommen. Klavier und spielte auf seiner Geige: »Everybody shimmies now –«. Wir wurden bald gute Freunde. Er nahm als Ehrengast an einer Seine Frau begleitete ihn. Überall standen Gläser und stummel- berühmten Dadaveranstaltung teil: einem Wettrennen zwischen gefüllte Aschenbecher; auf dem Tisch standen Havannas, Zigaret- 6 Schreibmaschinen und 6 Nähmaschinen, verbunden mit einem ten, zwei langhalsige Rheinweinflaschen auf Eis, eine viertelvolle Schimpfturnier. An diesem Abend wurde ihm auch die »Uhr- Flasche Black & White und eine Flasche Kognak. Von einer Rie- kunde« eines »Ehrendada« verliehen – ein schwarz angemaltes, zur senblechdose beim Klavier hieß es, sie enthielte Schiffszwieback. Hälfte mit Sand gefülltes Bierseidel; doch bei der jeder Dadaauf- (In Deutschland war noch alles rationiert.) Später wurden Taxis führung folgenden Schlägerei zwischen Dadaisten und empörten bestellt, und wir fuhren alle in ein geheimes Tanzlokal an der Wei- Zuhörern wurde das Symbol dem zusehenden Ben entrissen und dendammer Brücke; gegen vier dirigierte Benny dort die Salon- als Hiebwaffe benutzt, wobei es leider in Scherben ging. Ein neues kapelle und instruierte den Klavierspieler im Ragtime. Ehrenbierseidel durften wir Ben nicht geben; nach den strengen, Dieser Amerikaner hieß Ben Hecht und war vielleicht der erste, im Dadacon niedergelegten Regeln der Bewegung konnte das erst der nach dem Krieg nach Berlin kam außer den Militärs von der nach Ablauf einer Zeit von 65 Jahren geschehen… Ententekommission. Eine große amerikanische Zeitung bezahlte Das Dadacon wurde später Ben zum Kauf angeboten, zu dem ihm viele Dollars, um an Ort und Stelle zu sehen, ob wir wirklich außerordentlich billigen Preise von 25 000 Dollar. Er wollte aber so scheußlich seien, wie Raemaekers uns abgemalt hatte, und ob nur die Hälfte bezahlen, und nach langem Hin und Her zerschlug

168 169 sich das Geschäft. Das Dadacon soll schließlich vom Oberdada in in seiner Vaterstadt auch einen literarischen Verein gegründet. Er der Nähe seines Hauses in Lichterfelde-Ost vergraben worden sprach oft von weißer und schwarzer Magie, von den unbekannten sein. Dingen zwischen Himmel und Erde. Besonders beschäftigten ihn Ben Hecht ging nach Chicago zurück, schrieb erfolgreiche Bü- die damals vieldiskutierten Zellen- und Gewebeforschungen eines cher, verachtete den Literaturbetrieb, wandte sich zum Film und gewissen Professors Fließ, der ein Buch vom Ablauf des Lebens wurde einer der höchstbezahlten Drehbuchautoren Amerikas, mit geschrieben hatte. Stadelmann selbst experimentierte viel, und eine dem Beinamen »der Shakespeare von Hollywood«. Wenn ich von seiner Veröffentlichungen handelte von künstlich erzeugtem Ge- Jahr zu Jahr einmal mit ihm zusammenkomme, tauschen wir im- webe. Eine Art Homunkulustheorie hatte er da aufgestellt und mer erst ein paar Erinnerungen an Berlin aus – an das verrückte, durch eigene Experimente bewiesen; es war ganz aufregend, seinen verkommene, phantastische Berlin gleich nach dem ersten Kriege. Worten zu lauschen. Vielseitig war Dr. Stadelmann, sehr vielseitig. Unter anderem Als Dadaisten bereisten wir ganz Deutschland, so beliebt und be- hatte er ein Geisterklavier konstruiert, ein völlig neues Kalender- rüchtigt waren wir, und solche Neugier erregten wir bei den Men- system erdacht und eine eigene Mathematik erfunden. Er las mittel- schen. Junge Leute drängten sich in unsere Vorträge, besuchten alterliche Schriftsteller und studierte in längst vergessenen alten uns hinter der Bühne und baten, mitwirken zu dürfen. Es gab auch Folianten und Arzneibüchern. Er las nur nachts, bei Kerzenlicht. Ältere, die mit Dada sympathisierten und uns zu sich einluden, zu Elektrische Drähte und alle eisernen Gas- und Wasserleitungsrohre Wein und Essen, wobei der Dada-Unsinn im Hause unserer Gast- hatte er aus seinem Studierzimmer und dessen näherer Umgebung geber meist bis in die frühen Morgenstunden hinein fortgesetzt entfernen lassen. Derlei Metalle, hieß es in einer seiner Broschüren, wurde. Wir fanden bald heraus, daß es viel mehr unbewußte oder unterbrächen die »sympathischen« Ströme und Wellen. »geheime« Dadaisten gab, als man glaubte. So einer war der Dok- Unablässig übte er sich in der Kraft des Willens und in der Kon- tor Stadelmann, von dem im folgenden die Rede ist. zentration. Er behauptete, nun so weit fortgeschritten zu sein, daß Dr. Stadelmann war ein Freund des Dunklen, ein Freund der er wie die alten Wundertäter durch seinen Willen die angeblich to- Nacht. Wo andere Ja sagten, sagte er Nein. Auch hatte er seine ten Dinge beleben könne. So könne er den Nähnadeln befehlen – eigenen, höchstpersönlichen und »mystischen« Anschauungen was trotz der lächerlichen Kleinheit des Objekts eines der am über Menschen, Dinge und Welt. Bezeichnenderweise war er im schwersten auszuführenden Experimente sei. Es habe ihn fünf- bürgerlichen Beruf Irrenarzt. Das Verdrehte hatte ihn von jeher zehn Jahre allnächtlicher Übung gekostet, die Nadeln zum Gehor- fasziniert, und so hatte er die Tätigkeit des Psychiaters der eines sam zu zwingen. »Ja«, sagte er, »es klingt phantastisch, aber es gibt praktischen Arztes vorgezogen. Er war sehr erfolgreich, hatte eine eben keine tote ›Materie‹. Es gibt nur Inkarnationen. Allen Dingen gutgehende Praxis und ein wunderschönes, kleines Privatirren- wohnt ein magisches Geheimnis inne. Es gibt einen Stein der Wei- haus. Er nannte es »mein Vogelhäuschen«. Seine Patienten waren sen und einen magischen Schlüssel dazu.« Er dürfe vorläufig nicht für ihn wie kostbare exotische Vögel, aber in Wirklichkeit waren es mehr darüber sagen, sei aber auf dem Wege zu großen Enthüllun- reiche Neurotiker und vielfach nichts weiter als eingebildete gen, fügte er noch hinzu. Kranke. Er zeigte mir einmal ein dickes, mit der Hand auf sonderbar Stadelmann interessierte sich für Kunst und Literatur und hatte altem Papier geschriebenes Manuskript. Es war sein Werk, die Sta-

170 171 delmannsche Geheimlehre. Es hieß: »Dr. Stadelmanns mystisches wir ihm nicht folgen konnten. Dann, als kehre er zur Wirklichkeit Schlüsselbund; die Erklärung der magischen Spirale bei Jakob und zu uns zurück: »Also, es tut mir leid, aber Sie müssen stehen. Böhme, Paracelsus, Swedenborg und Doctor Faustus. Studien zu Da ich Ihnen heute nacht einen Beweis meiner magnetischen einer geheimen Willenslehre.« Von Stadelmann hörte ich zum er- Kräfte geben will, dürfen wir unsere Energie nicht durch Sitzen ab- sten Mal Ausführlicheres über Größenwahn und Übermenschen- spalten. Das Sitzen, meine Herren, wirkt ungünstig auf das Son- tum. Er las mir aus Nietzsches Werken vor und analysierte die nengeflecht« – er machte eine kreisende Bewegung seiner unteren Lehren des Zarathustrabandes. Nietzsche, sagte er, sei bei aller Ge- Leibesmitte –, »und ich brauche zu meinem Experiment auch Ihre nialität ein Geisteskranker gewesen; die letzten Bücher zeigten das ganze Energie und Konzentration«. Und sich wiederholend, denn deutlich – so deutlich wie die letzten Bilder van Goghs: »Man sehe es schien ihm dieses wohl besonders wichtig, hob er lächelnd den nur die ewig wiederholten spaghettiartigen Spirallinien. Klares Zeigefinger und schloß mit einem überlegenen Ausdruck schlauen Symptom.« Kunst und Nachbildetrieb waren für Stadelmann Wissens um Geheimnisse, die uns ewig verschlossen bleiben wür- harmlosere geistige Störungen. Den Maler, jeden Maler, hielt er für den: »Ja, ja – knickt das Sonnengeflecht ein, und weg sind die ma- ein ewiges Kind, das nie aus dem Stadium der Selbstbeschmutzung gnetischen Strahlungen!« herausgekommen sei. (Auch darin war er ein Vorläufer, und zwar Neben den beiden Experimentierstühlen, gewöhnlichen Holz- der psychoanalytischen Schule…) stühlen mit Lehne und Rohrgeflechtsitz, stand in der Mitte des Als wir in seiner Vaterstadt einen großen Dada-Abend gaben, Zimmers ein mittelgroßer Tisch. Auf der roten Plüschdecke stand den er hauptsächlich, wenn auch heimlich, finanziert und arran- ein Leuchter, in dem ein dickes Talglicht brannte. Dies war das ein- giert hatte – denn er hielt Dada für eine Art sozialer Geisteskrank- zige Licht im Raum. Es flackerte und roch leicht parfümiert – wie heit und des Studiums wert –, lud er uns alle ein, eine Nacht bei vor den Heiligenbildern in einer katholischen Kirche, dachte ich. ihm in seinem Studierzimmer zu verbringen. »Aber bitte, meine Daneben stand eine Bowlenterrine aus grünem Glas, mit Wein- Herren, kommen Sie nicht vor zwölf. Die sympathischen Strö- stockranken und -blättern verziert. Es war eine Waldmeister- mungen sind nach Mitternacht viel besser«, sagte er, geheimnisvoll bowle, deren würzigen Geruch ich fälschlich für Parfüm gehalten lächelnd. hatte… Er wohnte allein, in einem freistehenden Gartenhaus. (»Der Das Licht spiegelte sich in den glitzernden Eisstücken, die in der Wind muß von allen Seiten heranwehen können«, sagte er.) In dem Bowle schwammen. Langstielige Römer, auch mit Weinranken- fast leeren Zimmer fanden wir ihn an einen großen grünen Kachel- ornamenten verziert, standen um sie herum. Ein silberner Schöpf- ofen gelehnt. Mit einer Hand strich er sich durch den ergrauten, löffel lag bereit. In einem Glaskasten mit aufgeklapptem Silber- walroßhaft herabhängenden Nietzschebart, mit der anderen zeigte deckel lagen tiefschwarze Mexikozigarren und daneben Zigaretten. er um sich. »Ich kann Sie leider nicht bitten, Platz zu nehmen – wie Obenauf lag ein Zigarrenabschneider, dessen Griff – so schien es Sie sehen, sind nur zwei Stühle da, und die brauche ich für mein mir bei dem flackernden Kerzenlicht – in eine mumifizierte Kinder- Experiment. Sie sind auch von mir nie zum Sitzen benutzt worden. hand auslief. An der Wand gegenüber hing eine gerahmte Photogra- Es sind gewissermaßen magisch gewordene Verkörperungen jahre- phie, die zuerst wie eine Landkarte oder wie ein surrealistisches Bild langer Geduld.« wirkte. Sie war keines von beidem, sondern die überlebensgroße Es war, als flöge er plötzlich von uns fort, an einen Ort, wohin Verewigung eines Auswurfs von Ektoplasma.

172 173 Die Photographie, erklärte Dr. Stadelmann vom Ofen her, im Nu ein. Soll ich es Ihnen einmal zeigen? Da – sehen Sie, wie das stamme von seinem intimen Freunde Professor Schrenck-Notzing anschnurrt und flimmert? Da kann auch der stärkste Wille nicht in München. Nein, es sei nicht das berühmt-berüchtigte Medium widerstehen –« Eva C, dies sei ein viel echterer, viel interessanterer Fall: eine Dame Wie Vögel, wie die Vögel, dachte ich, direkt unheimlich! Ich seiner Bekanntschaft, ein vierundzwanzigjähriges junges Weib, dachte an die Geschichte, die er mir einmal von einem Patienten deren Namen und nähere Umstände er selbstredend, ahem, ge- erzählte, einem sehr reichen früheren Zeitungsverleger, der eines heimhalten müsse… »Aber – ja, ja, ahem – es handelt sich in diesem Morgens in der Redaktion ganz plötzlich wie ein Hahn zu krähen Falle um eine ganz außerordentliche psychische Begabung, wenn anfing. Kein anderes Wort als »Kikeriki« sei seither aus dem Mund ich es so nennen kann, ahem – außerdem hat sich einwandfrei her- dieses Mannes gekommen; man müsse ihm Körner auf den Fuß- ausgestellt, daß die junge Dame die Inkarnation eines seinerzeit von boden seines Zimmers streuen, die lese er eins nach dem anderen mit Montezuma in Mexiko lebendig begrabenen hohen katholischen spitzen Lippen auf wie mit einem Schnabel, wobei er die Arme seit- Geistlichen ist.« lich ausgestreckt halte, Kniebeugen mache und Kikeriki schreie… Unter der geisterhaften Photographie stand ein kleines Holz- Wie schon gesagt, hatte Stadelmann seine höchstpersönlichen tischchen, dessen vier Seiten Spuren von Handabdrücken aufwie- Theorien über alles. Geisteskrankheit, fand er, gebe es nur bedingt; sen. Dieses Tischchen, erklärte der Doktor vom Ofen her, sei das er selbst halte es mit den mittelalterlichen Ärzten und den großen Instrument, mit dessen Hilfe man die Botschaften aus der vierten ägyptischen Heilern, die den geplagten Kopf eines sogenannten Dimension empfange. Es sei ohne Nägel gezimmert, immer ma- Irren als den Aufenthaltsort böser Geister ansahen und ihre Kuren gnetisch geladen und oft die Herberge abgeschiedener Geister. auf deren Austreibung abstellten. Vom Standpunkt der heutigen Wenn er nachts allein arbeite, flöge es manchmal ganz von selbst »aufgeklärten« Ärzte oder Forscher war Dr. Stadelmann gewiß ein ein wenig in der Luft herum… »abergläubischer« Arzt und Forscher. Andererseits aber waren wir Auf einem schmalen Regal stand etwa ein halbes Dutzend ge- alle für ihn nur mehr oder weniger seltsame, kluge, dumme oder schliffener Kristallkugeln verschiedener Größe. Daneben lag ein lächerliche Vögel. sogenannter Lerchenspiegel, wie ihn die Jäger gebrauchen, um die »Halten Sie mich auch für einen Vogel?« fragte ich ihn einmal. scheuen Vögel anzulocken. Er besteht aus zwei Holzflügeln, die »Natürlich, natürlich! Alle seid Ihr Vögel, alle, alle, alle«, lachte mit Spiegelstücken besetzt und in eine Rolle eingelassen sind; auf er unheimlich schrill, wobei seine Stimme sich überschlug und er der Rolle ist Bindfaden aufgewickelt, und wenn man diesen kräftig plötzlich selber wie ein Vogel aussah. Ich höre ihn noch: »Was abzieht, so drehen sich die Flügel um sich selbst, und die Spiegel- denn, was denn, meine Herren – Fortschritt? Da muß ich doch stücke werfen das reflektierte Licht scheinwerferartig zurück. Die sehr bitten. In ein paar Jahrzehnten haben wir das neue Mittelalter Lerchen scheinen dieses Flimmern zu lieben, sie fliegen darauf zu komplett, wie aus dem Geschichtsbuch, mit Dämonen, Kinder- und werden unserem Jägersmann eine leichte Beute. So ein Appa- kreuzzug, bösem Blick, Flagellanten und Hexenverbrennung. rat lag dort… Gut, daß ich keine Lerche bin, dachte ich, etwas Glauben Sie etwa, daß die Elektrizität ein Fortschritt ist? Die war unheimlich berührt. den alten Ägyptern längst bekannt. Nein, meine Freunde, das »Ja«, sagte Stadelmann vom Ofen her, »mit dem Ding habe ich neue, von außen verfinsterte, von innen magisch-hypnotisch er- große Erfolge bei meinen Patienten. Der hypnotische Schlaf tritt leuchtete Zeitalter bricht an…«

174 175 Auf einem anderen Regal lag ein Gipsklumpen mit einem auf- Wir tranken alle aus – bis auf Johannes, aber der war immer geklebten Zettel, der ein Datum trug. Auf dem Klumpen war ein furchtbar langsam. (Man sagte von ihm: wenn Johannes langsam Abdruck sichtbar; was ihn hinterlassen hatte, war schwer zu sa- ist, dann ist er sehr langsam.) gen – am ehesten vielleicht eine verrutschte Faust. Wir fragten Sta- »Nun sehen Sie gut hin«, sagte Stadelmann, »und passen Sie auf, delmann. Der senkte geheimnisvoll die Stimme: genau könne er es was ich Ihnen zeigen werde: das Resultat meiner fünfzehnjährigen auch nicht sagen, aber für ihn sei es die Visitenkarte aus einer ande- Bemühungen und Versuche im Reich der Magie.« Er holte unter ren Welt. Was wir da sähen, sei der Abdruck eines Geräuschs, eines seinem Rockaufschlag eine Nähnadel hervor und erklärte: »Sehen unsichtbar Flatternden, das eines Abends spät, als er noch vor Sie – diese kleine, eiserne Nadel wird von meinem Willen gelenkt einem magischen Buche gesessen, stundenlang um ihn gewesen sei, werden. Ich werde sie hier auf den Faden, der zwischen die beiden um schließlich – jedenfalls dem Geräusch nach – zum Fenster Stuhllehnen gespannt ist, aufreihen und sie dann kraft meines Wil- hinauszuflattern. Er habe das deutliche Gefühl gehabt, das Un- lens, durch einfaches magnetisches Fixieren, hypnotisch beeinflus- sichtbare sei aus jenem uralten Folianten herausgeflattert. Das Buch sen. Ohne von meinen Händen berührt zu werden, wird sie sich habe er von einem Antiquar gekauft, der wieder hatte es auf einer um sich selbst drehen und gewissermaßen die kleine Riesenwelle Auktion erstanden, wo man nur wußte, daß der alte Schmöker jahr- ausführen. Auf mein inneres Kommando wird sie sich von rechts hundertelang mit anderem Gerümpel in einer Familiengruft gele- nach links bewegen und umgekehrt. Mit einem Wort, die tote Ma- gen… Ja, den Plastilinklumpen habe er dort liegen gehabt. Er halte terie wird meinem Willen gefügig sein. Dieses Experiment, so klein immer solche Klumpen bereit für spiritistische Sitzungen. Und wie es scheint, ist von welterschütternder Bedeutung. Es ist der müh- es da so geflattert habe, direkt bei dem Klumpen Plastilin, da habe sam erkämpfte erste Schritt vorwärts; die erste Stufe zum unbe- er vom Tisch aus ganz deutlich gesehen, wie das Unsichtbare sich kannten Gott hinauf –« da eingedrückt habe, ganz langsam, wie in Teig, aber vollkommen Zum ersten Mal erwähnte er das Wort Gott, was hier fast wie formlos. Es sei dann weggeflattert und nie wiedergekommen. Nur Ironie klang. »Ich bitte Sie, meine Freunde«, fuhr er fort, »sich mit der Eindruck, den er dann habe in Gips abgießen lassen, und ein mir zu konzentrieren. Der gemeinsam ausgestrahlte Wille hilft die etwas fader Geruch, wie von Pilzen, sei zurückgeblieben. ewig feindlichen materialistischen Gegenströmungen zu unterbin- »Und nun, bevor ich Ihnen mein Experiment vorführe«, sagte er, den.« Jetzt bückte er sich und zog um beide Stühle mit einem Stück noch immer fast unbeweglich an den Ofen gelehnt, »bedienen Sie Billardkreide eine Art ovalen Kreis. »Bitte treten Sie nicht in diesen sich, meine Herren! Füllen Sie die Gläser; lassen Sie uns anstoßen Kreis hinein. Es ist eine magische Vorsichtsmaßregel; ich hoffe, sie und trinken, bevor die Bowle warm wird und das Eis schmilzt.« ist wirksam«, fügte er hinzu, erklärte aber nicht, wie und wogegen Er trat hinzu, schöpfte sein eigenes Glas voll und erhob es: der Kreidestrich wirksam sein sollte. »Meine Herren – auf das magische Schlüsselbund, auf die sideri- Ich weiß nicht mehr, wie das Gespräch aufs Waschen kam – viel- schen Kräfte und die magnetischen Ströme, auf die ewige, mysti- leicht durch seine kreidebeschmierten Hände. »Nein«, hörte ich sche Spirale! Prost, meine Herren.« Er führte das Glas an den ihn plötzlich sagen, »ein magischer Mensch soll sich eigentlich nie Mund, trank und setzte es wieder ab. »Auch im Wein liegt Magie: waschen –«. Er hätte es auch nicht getan, jedenfalls nicht in der Sonne und Mond, Silber, Eisen, Gold und alle siderischen Ele- letzten Woche vor seinem Experiment. Das Wasser sei ein durch- mente des Erdbodens.« aus feindliches und auflösendes Element, es zersetze den Magne-

176 177 tismus und zerstöre die spirituelle Isolierungsschicht um die Aura. nun ganz trübselig dahing und sich wohl selbst schämte, daß es so Er gebe zu, es sei nicht sehr appetitlich; aber im Schweiß und in wenig magisches Talent besaß. jeder körperlichen Ausscheidung und Ausdünstung sei die Aura Ungefähr anderthalb Stunden lang starrte Dr. Stadelmann wie des Menschen enthalten, weshalb ein gut gewaschener Mensch versteinert auf seine geliebte Nadel. Die ruckte und rührte auch niemals magisch sei. Die alten Heiligen seien vom Standpunkt sich nicht. Man merkte, wie er ihr innerliche Befehle erteilte. Hin der modernen Hygiene aus alle Schweine gewesen. Hätten sie sich und wieder hörte man ihn zischend hervorstoßen: »Rum – rum – aber gewaschen oder Haare und Nägel geschnitten, so hätten sie rum…« nie ihre großen, tatsächlich verbürgten Wunder vollbracht… Er meinte wohl, sie solle sich rumdrehen. Aber sie tat es nicht. »Noch etwas, meine Herren, bevor ich beginne: bitte legen Sie alle Sie bewegte sich nicht einmal. Sie blieb so unbeweglich und starr metallenen Gegenstände auf den Tisch draußen im Korridor. Nur wie der Doktor, der sie fixierte und ihren Willen brechen wollte, Gold können Sie an sich behalten; alle anderen Metalle wirken falls sie einen hatte. siderisch – und ich möchte jeden ungünstigen Einfluß von meiner Die Szene war höchst phantastisch und begann ein wenig lächer- Nähnadel fernhalten, damit das Experiment gelingt.« lich zu werden. Bläuliche Rauchschwaden zogen durch die drük- Sobald wir aus dem Korridor zurückkamen, führte er die Nadel kende Zimmerluft. Wir wurden unruhig vom langen Schweigen sorgsam mit dem Öhr auf den dünnen Faden auf, dessen eines und Herumstehen. Es war einfach langweilig. War doch alles nur Ende er von der Stuhllehne losgeknüpft hatte. Er schob die Nadel Einbildung und dummer Unfug – ganz nett für ’ne halbe Stunde, bis zur Mitte; da hing sie nun ruhig mit der Spitze nach unten, wäh- aber unser guter Doktor war todernst, und nach anderthalb Stun- rend der Doktor den Faden wieder an der Stuhllehne befestigte. Er den ohne das geringste Resultat hörte eben der Spaß auf… bat nochmals um völlige Ruhe und holte, leise auftretend, den Ler- Ein allgemeines Geräusper und Gehuste setzte ein. chenspiegel von seinem schmalen Regal. Er hielt ihn in der linken Plötzlich brach Dr. Stadelmann die Sitzung ab. Er seufzte tief, Hand, trat feierlich, scharf auf die Nähnadel blickend, zwei schloß die Augen und fuhr mit der Hand darüber; einige Minuten Schritte vor sie und zog den aufgerollten Bindfaden mit aller Kraft stand er so, den Nietzschekopf zurückgelehnt. Dann, wie erwa- ab. chend, als habe er das Gefühl, es hätte einer heimlich aufgelacht, Der Lerchenspiegel schnurrte summend ab. Mit aufgerissenen sah er scharf nach uns hin: »Nein! Nein! Ich wußte es, meine Her- Augen, ganz konzentriert fixierend, starrte Stadelmann auf die ren – ich hätte es gar nicht anfangen sollen, nicht hier und in Ihrer Nähnadel, die sich unter dem Luftzug, den die rotierenden Flügel Anwesenheit! Außerdem ist Vollmond – o ja«, versicherte er, des Lerchenspiegels hervorriefen, ein wenig hin und herbewegte. »Vollmond und all das spielt eine große Rolle bei magischen Expe- Das Summen und Flimmern ließ langsam, ganz langsam nach – die rimenten. Und dann, nehmen Sie es mir nicht übel, meine Herren, Bewegung der Nähnadel ebenfalls. aber vielleicht ist da einer unter Ihnen, ich meine ein Skeptiker – Halb vorgebeugt, den Lerchenspiegel in der Hand, starrte und Gegenströmungen – Sie verstehen, meine Herren, Gegenströmun- starrte Stadelmann auf die Nadel vor seiner Nase. Man hatte fast gen –« den Eindruck, als habe das Abschnurren des Lerchenspiegels an- Er brach ab. Wir sahen, daß ihn die starke Konzentration dieser statt der Nähnadel ihn selber hypnotisiert, so übersinnlich leuch- anderthalb Stunden sehr ermüdet hatte. Er sah plötzlich aus wie tend fixierten seine eisgrünen Augen das unglückliche Objekt, das ein alter, müder Hund, mit traurigen Falten um den Schnurrbart.

178 179 »Ja«, fügte er noch wie nach innen in sich hineinsinnend hinzu, »die meisten Wunder glücken einem doch nur ganz alleine, wenn niemand zusieht.« Er lächelte müde. »Es ist schon so; ganz richtige Feen trifft man ja auch niemals, wenn man in größerer Gesellschaft ist… Apropos Fee«, rief er und schlug sich an den Kopf, »aber was X Von deutscher Republik für ein Wirt bin ich denn! Was für ein schlechter Gastgeber! Da hat ja meine Hausfee einen großen abgeriebenen Kuchen gebacken – bitte machen Sie doch dort die Seitentür auf – ja, danke Ihnen – ir waren wie Segelboote im Wind, mit weißen, mit schwar- alles bereit, bringen Sie ihn nur herein!« Wzen, mit roten Segeln. Manche Boote führten Wimpel, dar- Also schloß er, an den Tisch tretend, sein Glas neu füllend und es auf sah man drei Blitze oder einen Hammer mit Sichel oder ein zu uns erhebend: »Prost, meine Freunde – wenn mein Versuch Hakenkreuz am Stahlhelm – auf die Entfernung sahen all diese auch mißglückte, so wollen wir doch die Bowle nicht umkommen Zeichen einander ähnlich. Wir hatten wenig Gewalt über unsere lassen… Prosit!« Boote und mußten fleißig manövrieren, damit sie bei dem herr- Und darin stimmten wir ihm alle herzlich bei. schenden Sturm nicht umkippten. So manches Boot sahen wir schon kieloben treiben. Der Sturm tobte ununterbrochen, aber wir segelten drauflos; seine Melodie verstanden wir nicht, denn unser Gehör war vom vielen »mal Hinhören« abgestumpft. Wir wußten nur, daß ein Wind vom Osten hereinwehte und ein anderer vom Westen – und daß der Sturm um die ganze Erde blies… Aber auch wie ein brodelnder Kessel war die Hauptstadt unse- rer neuen deutschen Republik. Wer den Kessel heizte, sah man nicht; man sah ihn nur lustig brodeln und fühlte die immer stärker werdende Hitze. An allen Ecken standen Redner. Überall erschol- len Haßgesänge. Alle wurden gehaßt: die Juden, die Kapitalisten, die Junker, die Kommunisten, das Militär, die Hausbesitzer, die Arbeiter, die Arbeitslosen, die Schwarze Reichswehr, die Kontroll- kommissionen, die Politiker, die Warenhäuser und nochmals die Juden. Es war eine Orgie der Verhetzung, und die Republik war schwach, kaum wahrnehmbar. Das mußte mit einem furchtbaren Krach enden… Es war eine völlig negative Welt, mit buntem Schaum obenauf, den viele für das wahre, das glückliche Deutschland vor dem An- bruch der neuen Barbarei hielten. Fremde, die uns damals besuch- ten, ließen sich nur zu leicht durch das scheinbar sorglose, lustige,

180 181 wirbelnde Leben an der Oberfläche täuschen, durch die Nacht- ohne Führung? Die Gewerkschaften? Die reichten da nicht mehr lokale und die sogenannte Freiheit und Kunstblüte. Aber das war aus. Drohend klang der Leute Murren und gefährlich. Denn da eben doch nur bunter Schaum, nichts weiter. Dicht unter dieser man sich selbst nicht schuldig fühlte – ein ganzes Volk tut das nie –, lebendigen Oberfläche, die so schön wie ein Sumpf schillerte und suchte man einen Sündenbock, und alte, einst harmlose Lieder wie ganz kurzweilig war, lagen der Bruderhaß und die Zerrissenheit, »Wir woll’n dem Juden den Biedel afsnieden« bekamen plötzlich und die Regimenter formierten sich für die endgültige Auseinan- eine pogromhafte Bedeutung. dersetzung. Es war, als sei Deutschland in zwei Teile gespalten und Es waren nicht nur junge Menschen, die da auf den Straßen hin- beide haßten sich wie in der Nibelungensage. Und das wußten wir, und hermarschierten. Viele waren dabei, die konnten die Nieder- oder wir fingen an, es zu ahnen. lage nicht verwinden. Dann waren viele dabei, die konnten in die Berlin nach dem Krieg: das war Lärm, Gerücht, Geschrei, politi- normale Arbeitswelt, die sie verlassen hatten, nicht zurückfinden. sche Parolen – was wird werden? Jetzt darf jeder reden, wie ihm Denn diese Welt war versunken oder in Auflösung, und regel- der Schnabel gewachsen ist, und jetzt redet jeder von Putschen und rechte Arbeit gab es nicht, selbst wenn einer zu arbeiten gewillt Streiks, von Belagerungszustand und bevorstehenden Staatsstrei- war. Es wimmelte von Arbeitslosen. Um sie zu beruhigen, gab man chen. Erzberger, der als einer der deutschen Unterhändler den ihnen Schachspiele statt Arbeit. Von 100 lebten 80 von der Unter- Friedensvertrag unterschrieb, wird von »patriotischen« Geheim- stützung durch den Staat. bündlern erschossen. Liebknecht wird von einem Soldaten ermor- Trotz dieser erschreckenden Statistik nahm mein Vertrauen auf det, die rote Rosa Luxemburg in den Landwehrkanal geworfen. den Fortschritt »auf breiter Basis« damals nicht ab. Vielleicht er- »Oben« geschieht nichts. Ebert läßt sich den Bart stutzen; er sieht hielt die Statistik es sogar aufrecht, lehrten mich doch einige mei- nun mehr wie ein Generaldirektor aus und vertauscht den demo- ner Freunde, die Dinge »richtig« zu erkennen! Für eine Zeitlang kratischen Schlapphut mit einem Zylinder. Staatsrat Meißner, der verfiel auch ich dem intellektuellen Größenwahn und glaubte, ein Zeremonienmeister der Republik, sieht darauf, daß er würdig das Übel auch schon behoben zu haben, wenn ich es statistisch erklä- Amt seiner erlauchten Vorgänger versieht und keine zu proletari- ren konnte. Nach dieser Theorie mußte ich nur die Aufklärung schen Böcke schießt beim Repräsentieren. Böse Witze gehen gegen weitertragen und dafür sorgen, daß alle bisher Unaufgeklärten ihn um. Der kleine Mann rächt sich, denn er fühlt keine Gewalt ebenfalls aufgeklärt wurden… Alles Irrationale, alles »Mystische«, über sich… Verschwommene und Sentimentale dachten meine Freunde ver- Ja, jetzt durften sie frei reden. Jahrelang hatte man sie ans Mar- mittels ihrer statistischen Geschichtsberechnung und materialisti- schieren gewöhnt, und so marschierten sie einfach weiter, ein biß- schen Dialektik auszurotten. Sie waren reine Rationalisten und chen weniger stramm, ein bißchen weniger ausgerichtet als zuvor. glaubten felsenfest an den Verstand des Massenmenschen. Daß Jahrelang hatten sie auf Kommandos gehört; jetzt marschierten sie, dieser eher an Legenden glaubt als an Zahlen und reine Vernunft – aber noch kommandierte keiner. Marschieren mußten sie. Dazu das wollten sie, beim heiligen Marx, nicht wahrhaben… waren sie ja angetreten. Aber ihnen allen fehlte etwas: die scharfe Auch über Recht und Unrecht dachte ich damals viel nach. Das Befehlsstimme. Mit der langersehnten Freiheit wußten sie über- lag sowieso in der Luft. Aber die Ergebnisse meines Nachdenkens haupt nichts anzufangen. Jeder hatte eine politische Meinung, aus fielen stets zu Ungunsten aller aus. Die Einteilung der Menschen in Angst, Neid und Hoffnung gemischt – aber was sollte ihm die so Schwarz und Weiß war als Propagandaidee zur Beherrschung des

182 183 großen Haufens ganz praktisch, mir aber im tiefsten zuwider. Je oder um den Hals. Nach dem glänzenden gesellschaftlichen Bild in größer der Haufen, mit dem ich lief, desto individualistischer den schönen, alten Räumen sind bei derlei Veranstaltungen bür- wurde ich. Ich kam darauf, die Welt als ein Naturschauspiel aufzu- gerliche Gesandtschaften kaum von den unbürgerlichen zu unter- fassen, ein ewiges, nicht unbedingt erklärliches Werden und Ver- scheiden, und mancher runzelte darüber die Augenbrauen, wenn gehen. Direkt religiös war diese Auffassung auch nicht, das gebe die Gastgeber Bolschewisten waren. Von denen wollte man, daß ich zu – aber seit Nietzsche war mir »das Moralische« verdächtig. sie sich auch wie Bolschewisten benehmen sollten. Zog ein Bol- Regen und Wind, Vulkanausbrüche und der Schnee, der einem in schewist einen Frack an, so sah man darin neben der Entwürdi- die Beine beißt, sind ja auch nicht gut und böse. gung des Festgewandes eine höchst zweideutige Verkleidung, Zum Weltverbesserer macht mich diese meine Entwicklung völ- denn im Frack sah der Bolschewist genau wie ein Kapitalist aus – lig ungeeignet. Denn ein Weltverbesserer muß, wie Ernst Toller und eben das war das Bedenkliche. oder der alte Romain Rolland oder mein Freund Masereel, an das Dennoch unterschied sich der Sowjetempfang von anderen, und Gute im Menschen glauben – und da weigerte sich etwas in mir. Ich zwar bereits auf der Straße. war eben schon damals, obwohl noch jung und für eine vermeint- Im geschlossenen Riesenportal der Botschaft war eine kleine liche Revolution begeistert, zu wenig begabt mit den milden und Tür, durch die wurde man eingelassen. Ein Botschaftsangestellter vornehmen Tugenden des Glaubens. öffnete sie ganz schnell und schloß sie sofort wieder, wenn man drin war. Es hatte etwas Privates. Aha, dachte man, hier stehen die Bei größeren Menschenansammlungen muß ich immer an Insekten Türen nicht sperrangelweit offen… Auch keine Lorbeerbäume denken. Ich bin nicht der erste, der diese Ähnlichkeit festgestellt waren aufgestellt; statt dessen standen Neugierige auf dem Geh- hat, aber man erschrickt doch jedesmal ein wenig, wenn man sie steig Spalier, von Schutzpolizisten warnend zurückgewiesen, von neuem wahrnimmt. Zum Beispiel bei einem offiziellen Emp- wenn sie sich zu sehr vordrängten. Sobald ein Auto mit Gästen vor- fang: welches Bild einer durcheinanderwimmelnden Insektenwelt! fuhr, stürzten ein, zwei schäbig gekleidete Herumlungerer herbei, Wie buntschillernde Käferflügel sind die Kleider der Frauen, wie um den Schlag zu öffnen und ein paar Groschen zu verdienen. Man dunkle Mistkäfer dazwischen die Fräcke der Männer. Und welch beeilte sich, so rasch wie möglich an den Neugierigen vorbeizu- insektenhafte Gefräßigkeit entwickeln alle vor vollbesetzten Bü- kommen. Innerlich duckte man sich ein wenig; war man feinfüh- fetts! Unheimlicherweise kann man sich selbst nicht absondern. liger als die meisten, so spürte man fast körperlich den Neid, den Man wird an- und hineingezogen und plötzlich auch in einen gieri- Hohn und hie und da die ironische Bewunderung in den Blicken. gen Käfer verwandelt, wie alle… Daß all dies nur zu den nun mal von Lenin festgesetzten Spielregeln Ich sollte diesen Abschnitt eigentlich nicht mit einem so grotes- gehörte, war diesen Zuschauern nicht klar; sie hätten es auch nicht ken Vergleich beginnen, weil er nämlich einige Erinnerungen an verstanden, wenn Machiavelli es ihnen persönlich erklärt hätte. Sie einen Empfang in der Russischen Botschaft in Berlin enthält. Und sahen nur die Außenseite: große Toiletten, funkelnden Schmuck, da sollte man den Ton vielleicht etwas respektvoller halten. seidene Beine, weiße Hemdbrüste, Uniformen, Helme und Zylin- Botschaftsempfänge sind einander ja alle gleich und verlaufen derhüte. nach feststehenden Regeln. Man kommt in Frack und Abendkleid In der Stille der Garderobe, schon mit dem Ablegen des Frack- und trägt seine Orden, wenn man welche besitzt, im Knopfloch mantels beschäftigt, klang es einem noch im Ohre nach: »Jrüße ma

184 185 Jenossen Trotzki!« oder »Du, Jenosse, vajiß nich een paa Sowjet- pagnerglas von ihr umhergeschoben, gab man sich der lauten Fest- knallbonbons mitzunehm’!« stimmung hin. Man begrüßte Bekannte und zeigte sich gegenseitig Ein wenig mißmutig steckte man die Garderobenmarke ein und die anwesenden Diplomaten, Staatsmänner und sonstigen Be- stieg die teppichbelegte, breite Treppe hinauf zu den oberen Emp- rühmtheiten, deren Züge man von ihren Bildern in Zeitungen und fangsräumen. Eine vergrößerte Photographie, Lenins bekanntes Zeitschriften wiedererkannte. Ältere, nobel aussehende Diener, Bild mit Mütze und den Händen in den Taschen, hing an der Wand. fast geschlechtslos wirkend oder wie gehorsame, gut erzogene Man dachte an die dummen Proleten draußen, die keinen Frack Puppen aus einer anderen Epoche, bedienten würdevoll, unbeein- anhatten; natürlich, deshalb konnten die auch nicht so festlich druckt vom Wandel der Zeit und der Manieren, kaum aufsehend, gestimmt sein, wie wir am Jahrestage der Oktoberrevolution… wenn ihnen von neugebrachtem Tablett die frischen Kaviarbröt- Wenn man dann wieder auf das Leninbild sah, hatte es sich plötz- chen buchstäblich unter den Händen weggegessen wurden. Auge lich verwandelt: da stand Lenin im Frack und sah aus wie ein und Gaumen weideten sich an den Stilleben der vollen Tische. Be- Modeblatt im Schaufenster eines feinen Herrenschneiders! sonders da, wo die Kaviarbrötchen standen, drängten sich die Aber es war gar nicht Lenin. In Gedanken hatten wir das ver- Menschen wie ein Bienenschwarm. wechselt. Es war der alte Bolschewist mit Spitzbart, der hier als Neben einem Tisch mit vielen bunten Flaschen und einer großen Botschafter verkleidet die Honneurs machte und uns die Hände Bowle, in der Ananasscheiben und Eisstücke schwammen, standen schüttelte. Und schon vom auf- und niederflutenden Strome höhere deutsche und russische Offiziere und tranken einander zu. schwatzender, essender Menschen ergriffen, sagte man sich: fort Sie hoben die Gläser, klappten unisono die Hacken zusammen und mit solchen sentimentalen Gedanken, sie passen nicht zum Frack. sagten: »Prosit, Kamerad!« Kniff man die Augen, so war man ganz Hatte das Vorhergehende mich als Satiriker beeindruckt – was erstaunt, wie sehr sie einander ähnelten. ich damals ja mehr war als heute –, so kam jetzt der Maler in mir an In einem Nebensaal stieß ich auf Maximilian Harden. Noch an die Reihe. Ich vergaß alle Widersprüche über dem strahlend bun- den Folgen eines Überfalls durch Mitglieder einer patriotischen ten Bild in den festlich erleuchteten Räumen. Ich dachte an die Geheimorganisation leidend, hatte er im »Ecce Homo«-Prozeß kleine Exzellenz, unseren großen Adolph von Menzel, der einst ein glänzendes, ganz im alten Harden-Stil verfaßtes Gutachten für solche Empfänge am Hof Wilhelms I. künstlerisch festgehalten mich abgegeben. Nun fand ich ihn verbittert. Über die ihn um- und sich dabei oft der Menü- und Tischkarten als Skizzenbuch brandende Menge sah er hinweg, als suche er jemanden, den er bedient hatte. Die Staffage, die Dekorationen und die prächtigen nicht finden und, fände er ihn, nicht leiden könne. Gegen die Hof- Räume waren dieselben wie zur Zeit der Botschafter des Zaren. kamarilla und Politik Wilhelms II. hatte er tapfer die Feder ergrif- Die weißrot-goldene Architektur mit den vielen Spiegeln, in denen fen; die neue deutsche Republick liebte er nicht. Zum neuen Ruß- sich die vorbeiflutende Menge hundertfach wiederfand, hatte land, in dessen Botschaft wir uns damals zum letztenmal sahen, nichts von ihrem Reiz und ihrer Schönheit verloren. Sie strömte sagte er mit müder Bewegung der feinen Hand, mit der Geste des ein Gefühl von Vornehmheit, aber auch von Wärme und Behag- alten Heldenschauspielers, der weiß, daß seine Rolle bald ausge- lichkeit aus, das sich auf die Menschen übertrug – befriedigend spielt sein wird: »Alles falsch – alles falsch…« gemischt mit dem eitlen Bewußtsein, dazuzugehören. Arthur Holitscher hingegen, der Journalist und Dichter, der mit In der Menge untergetaucht und mit gefülltem Teller und Cham- anderen Intellektuellen auf einem Sofa saß, war kürzlich aus Ruß-

186 187 land zurückgekommen und erzählte nun begeistert von den enor- Blutdruck und kleinen, geröteten und verquollenen Augen. Ko- men Fortschritten »drüben«. Zehn Jahre früher hatte ich sein lossal deutsch wirkte Reichsaußenminister Stresemann mit seiner Amerikabuch mit großem Interesse gelesen; jetzt, wie er mir im Frau Käthe… Vorbeigehen zuwinkte, merkte ich erst, wie sehr er einem alten Viele bewundernde und neidische Blicke galten auch Madame Weibe glich. Wenn er lachte, schien er zahnlos. (Später starb er ein- Lunatscharski, der Gattin des Sowjetkulturkommissars. Man flü- sam in der Schweiz.) sterte sich zu, daß sie neben der schriftstellernden Diplomatin Für ein paar Minuten erschien in der Menge das unbewegliche, Alexandra Kollontai, die einmal russische Botschafterin in Nor- undurchschaubare Gesicht des Generalobersten von Seeckt. Das wegen war, für die eleganteste Frau der Sowjetunion gelte. Monokel wie eingeschraubt, der eisgraue Schnurrbart bürstenartig Ob auch eine Musikkapelle da war, habe ich sonderbarerweise gestutzt, der Karpfenmund darunter arrogant geschlossen. In sei- vergessen. Ich glaube, ja – jedenfalls spielte später jemand auf einem ner geradezu unwahrscheinlichen Schlankheit um die Mitte herum Flügel die Internationale und russische Volksweisen. Es kann aber sah er wie korsettiert aus. auch sein, daß dies nur ein Gast war, irgendein berühmter, leicht be- In der nächsten Ecke traf ich unseren Freund Sokoloff, der da- rauschter Musiker oder Komponist. Überhaupt herrschte eine so mals bei Reinhardt auftrat, mit dem Dichter Tretjakow. Sokoloff angeregte Stimmung, daß die Musik im allgemeinen Lärm der lau- hatte geheime Macht über jene stumm ein- und ausgehenden Die- ten Gespräche und sonstigen Geräusche unterging. ner und brachte es fertig, daß wir in Bälde ein Tablett mit frischen Ziemlich spät verließen wir die gastliche Botschaft. Derselbe Kaviarbroten ganz für uns allein hatten. Er ist einer der besten nichtuniformierte Diener ließ uns wieder durch die kleine Tür ins Geschichtenerzähler, die ich kenne, und während wir zusammen- Freie. Die frische Luft tat gut. Die Neugierigen hatten sich längst saßen, kamen wir aus dem Lachen nicht heraus. verlaufen. Nur die schäbig gekleideten Gestalten der Wagen- Tretjakow war nicht so humorvoll. Sein Kopf war rasiert, eine schlagöffner waren noch da, drückten sich aber vor einem heran- Brille, die er hin und wieder abnahm und putzte, gab ihm eine pro- nahenden Sipo schnell beiseite. fessorale Note, und er trank nur Selterswasser. Einst zum Maja- Es war nach Mitternacht; man fuhr aber doch nicht nach Hause, kowskikreise gehörig und dem Futurismus nahestehend, wollte er sondern in eins der noch offenen Lokale, zu Henry Bender oder jetzt am liebsten so dichten und schreiben wie die Gebrauchsan- Schwanneke, um dort bei Bier und Würstchen oder heißer Erbsen- weisungen, die man mit den zerlegt gelieferten Waren amerikani- suppe den Abend noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen… scher Mail-Order-Firmen bekommt. »Man muß so dichten«, sagte er in ganz gutem Deutsch, »daß ein Bauer imstande ist, nach unse- Im Vogtland kam es einmal wirklich zur Bildung einer Roten Ar- ren Gedichten einen Traktor zu bedienen.« mee. Und deren Führer, ein gewisser Max Hoelz, gehört zu den paar Plötzlich tauchte in Begleitung einer schicken Frau der Prototyp Figuren, die sich noch in der Erinnerung wie romantische Bilder des Deutschen auf, wie ihn gewisse französische Karikaturisten farbig und bewegt von der im grauen Schlamm versunkenen soge- gerne darstellen. Ein Mann mit dem gedunsenen Gesicht des frü- nannten deutschen Revolution abheben… heren Korpsstudenten, weiter aufgeschwollen zum Gesicht des Hoelz kam dem am nächsten, was ich einen wirklichen Volks- deutschen Generaldirektors, wahrscheinlich aus der Schwerindu- helden nennen würde. Er erinnerte an jene kühnen Räuberhaupt- strie – ein rotgesichtiger Mann mit dicken Adern, viel zu hohem männer, von denen wir in unserer Jugend lasen. Wie sie war er ein

188 189 Freund der Unterdrückten, ein Feind der Tyrannen und ein Lieb- rote Aufrührer kam nach Berlin und war im Nu ein Löwe der Ge- ling der Frauen. Wie aus den Bauernkriegen übriggeblieben war sellschaft. er – voll Aufbegehrens über das den Arbeitern angetane Unrecht, Einer reichen Dame, die ihn zum Diner lud, schickte er einen keine Führerpersönlichkeit im Übermenschensinne, eher eine ein- Riesenstrauß roter Rosen. Die Millionärsgattin, vollschlank, par- fache Rebellennatur mit einem unbändigen Temperament. Kalte fümiert, dekolletiert, begrüßte ihn: »Wie froh bin ich, Genosse, Berechnung, theoretische Zerfaserungen und Parteimachiavellis- daß Sie nun frei sind! Lassen Sie mich diese Rose in Ihr Knopfloch mus waren ihm zuwider. Er nahm das Gewehr in die Hand, steckte stecken, bevor wir zu Tisch gehen…« sich die Stielhandgranaten in den Patronengurt oder in die Stiefel- Hoelz bückte sich und küßte ihr den Ellbogenwinkel. schäfte und ging wie im Mittelalter seinem Häuflein voran. »Nein, bitte nicht, Genosse, – wenn das mein Mann sieht – nicht Man erzählte Wundergeschichten von seiner Tapferkeit. Zum hier, der Abend ist noch lang.« Beispiel wie er allein einer Freikorpspatrouille entgegengegangen Und der Abend war lang. Nachher mußte die Dame sich auf sei- sei und das halbe Dutzend Schwerbewaffneter so eingeschüchtert nen Schoß setzen: »Hier, komm mal her, kleiner Bourgeois-Käfer – habe, daß sie sich zitternd und um ihr Leben flehend ergaben. Er gib mir mal ’nen Kuß!« Er ließ noch mehr Wein und Speisen auf- hatte viel vom echten Landsknecht an sich (leider standen damals tragen und die Revolution hochleben. »Lang zu, Jenosse, lang zu«, die meisten seiner Art auf der Gegenseite!) und scheute sich nicht empfahl er einem mitgebrachten Parteifreund, »vielleicht jehört zu strafen, Häuser anzuzünden und zu vergelten, wo er es für an- uns übermorgen ja doch alles«. gebracht hielt. Der Ruf »Hoelz kommt!« verbreitete eine Zeitlang Hoelz liebte so etwas. Darin war er der echte Volksheld. Würde, Schrecken und Freude – je nachdem; bei Lebzeiten schon war er Haltung und Zurückhaltung lagen ihm einfach nicht. Manieren? fast legendär geworden. Das war für die Reichen. Warum sollte er nicht das Leben genie- Im mitteldeutschen Aufstand verlief leider alles anders, als es ßen? Na also. geplant war. Hoelz wurde gefangen. Er sollte zum Tode verurteilt Aber andernorts hieß es, gute Genossen sollten wie die Mönche werden; aber seine Rede im Prozeß, die noch heute die klassische leben und nur eine Geliebte haben – die Partei; nur ein Laster – den Rede eines Rebellen bleibt, machte auf seine Richter einen so tie- Marxismus; nur einen Blick – den auf Rußland. Die kleinen Partei- fen Eindruck, daß er mit Zuchthaus davonkam. Selbst im Zucht- bürokraten haßten Hoelz, und mit den Parteigrößen stritt er sich. haus – und ein preußisches Zuchthaus ist keine Kleinkinderbe- Da er alles eher als ein Duckmäuser war, sagte er Wahrheiten, wo wahranstalt – behielt die Hoelzlegende ihre Wirkung. Ich besuchte sie nicht hingehörten. Hatte er Gedanken oder »Linien«, wie es ihn einmal mit einem gemeinsamen Freund und war erstaunt, zu hieß, so entsprachen sie nicht den Parteilinien. Es kam eine Zeit der bemerken, mit welcher Achtung man ihn dort behandelte. Wie Parteibeschlüsse, der ewigen Sitzungen, der theoretischen Arbeit, einen Herrn –! Als wir nach Passieren vieler Gitter- und Eisen- und die lag dem leidenschaftlichen Max nicht; er hätte lieber eine türen ihm in der Besuchszelle entgegengingen, kam sofort einer Knarre genommen und wäre selbst gegen die Reaktion gezogen. der Wärter und fragte ergeben: »Darf ich Herrn Hoelz einen Sche- Aber von Rußland wurde es anders bestimmt. mel anbieten?« Bald war Max Hoelz allein und saß wie jener verlorene Soldat Merkwürdig war auch, was nach ein paar Jahren geschah, als meiner Kindheit mit seinen Geschichten neben der Theke. Er Hoelz begnadigt und aus dem Zuchthaus entlassen wurde. Der wurde bitter und streitsüchtig. Da gab es nur eins: ihn zur weiteren

190 191 Schulung und Erziehung nach Rußland abzuschieben, auf einen der schönklingenden Inspektionsposten, die man für solche Fälle bereithielt… »Drüben« lebte Max noch einige Zeit. Hin und wieder berichte- ten Freunde kopfschüttelnd von ihm. Eines Tages fiel er beim XI Rußlandreise 1922 Bootfahren ins Wasser, fiel ganz einfach über Bord ins Wasser und ertrank. So endete ein kleiner deutscher revolutionärer Soldat. m sommer 1922 fuhr ich nach Rußland. Das heißt, ich fuhr nicht Idirekt nach Rußland, sondern nach Dänemark, um dort den Schriftsteller Martin Andersen Nexö zu treffen. Er sollte ein Buch über Rußland schreiben, ich Zeichnungen dazu machen. Wir beide paßten gar nicht zusammen, und es war nicht nur der Altersunter- schied, der uns später trennte. Um unser Buch ein wenig originel- ler zu machen, entschieden wir uns für eine Reiseroute, die seiner- zeit nur von sogenannten Illegalen und Flüchtlingen benutzt wurde: über Nordnorwegen-Vardö-Murmansk-Karelien nach Le- ningrad. Nexö hatte mit sowjetischen Stellen abgemacht, daß man uns von Vardö in einem offiziellen Motorschiff abholen würde. Die erste Enttäuschung unserer Reise war natürlich: das Motorboot kam niemals. Wir warteten von Tag zu Tag. Nexö versuchte Tele- gramme aufzugeben; immer war man freundlich und sagte, mor- gen – oder jedenfalls noch in dieser Woche werde das Motorboot bestimmt kommen. Es kam aber nicht. So mieteten wir schließlich für einige hundert Kronen ein gewöhnliches Fischerboot. Dieses Boot fuhr sowieso den Kola-Fjord hinauf, um in einem finnischen Kloster Heu zu laden. Es würde dann eben weiterfahren und uns in Murmansk an Land setzen. Eis bildete sich schon in den kleinen Wasserlachen auf den engen Straßen, und die herbstlichen Nächte waren kalt, als wir unsere Fahrt antraten. Wir hatten uns vorher genügend verproviantiert. Es hieß, in Rußland gäbe es nicht allzuviel – außer Kohlsuppe. Ich hatte zwei Koffer mit, nicht besonders große, so daß ich sie leicht tragen konnte. Schokolade hatte ich eingekauft, aber auch soge-

192 193 nanntes Knäckebrot in großen runden Paketen. Wir hatten auch uns auch besser bewegen, brauchten uns nicht mehr festzuhalten jeder eine große Flasche Schnaps mitgenommen, der uns bald gute mit klammen Fingern, konnten ein paar Schritte hin und her gehen Dienste tat. und uns ein wenig schütteln wie Hunde, die aus dem Wasser kom- Das Boot hatte einen altertümlichen Petroleummotor, der ent- men. Es war doch eigentlich ganz schön, so ein Abenteuer. Die setzlich stank und qualmte. Das Deck war schwarz und fettig von Uhr zeigte Mitternacht, als wir langsam in den schweigenden Ha- Fischtran. Nach zwei Tagen fuhren wir in das ruhigere Wasser des fen einfuhren und neben anderen Fischerbooten anlegten. Um uns Kola-Fjords ein. war tiefste Stille. Wir hörten das leichte, lange Wellenziehen unse- Die Einfahrt wurde schmaler, und bald sahen wir zu beiden Seiten res Bootes, bevor wir festmachten. Einige Nachtvögel stiegen, auf- das Land flach aufsteigen. Nirgends ein Schiff; nach weiteren Stun- gescheucht, krächzend in die Luft. Kein Mensch weit und breit. den Fahrt blinkte ein Leuchtfeuer. Wir kamen unserem Bestim- Wie verlassen… ferne hie und da ein Licht, aber winzig, wie ein mungsort Murmansk näher. Durch meinen Kopf zogen Geschich- Stern in der Finsternis. Merkwürdig, nun, da wir das Land erreicht ten und Erinnerungen an jene braven revolutionären Kämpfer und hatten, erschien uns die Dunkelheit finsterer. Oder war es die geheimen Emissäre, die denselben Weg genommen, damals, als der Dunkelheit der Erwartung dessen, was uns bevorstand? Denn dies einfachere Weg zu Lande ihnen verschlossen gewesen war. Ich war Rußland, das mysteriöse, gehaßte und geliebte Rußland, das dachte an den tapferen Lefèbre, einen französischen Revolutionär, wir nun betraten. Die beiden Schiffer kümmerten sich nicht weiter der hier oben bei einem Versuch, illegal nach Rußland zu fahren, um uns. Nachdem das Boot gut vertäut war, legten sie sich unten mit seinen Gefährten untergegangen war, und an manche Sagen im Kajütenraum auf die schmalen, fettigen, nach Petroleum rie- und Legenden, die ich gehört – dachte an die Romantik meiner chenden Bänke, deckten sich mit alten Mänteln zu und waren Jungenbücher, und daß ich das ja alles selbst hatte ebenso erleben gleich entschlummert. Nexö und ich aber gingen an Land. Wir wa- wollen. Der Zusammenstoß von geträumten Abenteuern und der ren viel erfrischter, die lange, ruhige Einfahrt und die Nachtluft eisigen, wasserbespritzten Wirklichkeit war ja ein wenig abküh- hatten uns gutgetan. Wir beschlossen, ein wenig auf Entdeckung lend, aber nichtsdestoweniger holte ich mir, vor Kälte zitternd an auszugehen. Vielleicht finden wir irgend jemanden, so dachten den Mast gelehnt, neues Vertrauen und Mut. Schließlich, dachte wir; es muß doch hier irgendeine offizielle Persönlichkeit geben, ich, ein wenig zuversichtlicher gestimmt: Schließlich ist unsere der wir unsere Ankunft mitteilen können. Unsere Papiere und Fahrt ja nur eine Vergnügungsreise – also mit Gottvertrauen in die Pässe und besonders gestempelten Einreisegenehmigungen hatten Zukunft! Mit einem kräftigen Schluck Whisky spülte ich alle un- wir ja sorgfältig eingewickelt bei uns. angenehmen Gefühle hinunter. Und komisch, der starke Whisky Wir stolperten – es war wirklich viel dunkler als draußen auf hatte keinen berauschenden Effekt; hier hatte er eine medizinische dem Wasser – über alte Eisenbahnschienen, gingen diesen nach, auf Wirkung, er machte klarer und widerstandsfähiger. ein Licht zu, das in der Dunkelheit das Fenster einer rohen Holz- hütte anzeigte. Durch die Scheiben blickend, sahen wir einen Wir fuhren langsam den endlosen Kola-Fjord hinauf; es war schon Mann schlafend an einem Tische sitzen. Wir gingen um das Haus Abend, und bald kam die Nacht, aber sie war verhältnismäßig hell. herum, fanden die Tür, klopften an. Es war mittlerweile drei Uhr Wir erkannten Masten und Stangen, auch Häuser wohl. Unsere nachts, wie ich auf meiner Uhr im trüben Schein des Fensterlichts Geister belebten sich, eine gewisse Lethargie wich. Wir konnten feststellte. Es wurde nicht geöffnet. Martin machte die Tür auf. Da

194 195 sprang der in einen unförmigen Pelz gehüllte Mann erschreckt auf, chen Komfort. Der Mund war sauer und wie verrostet. Wir waren griff hinter sich in die Ecke nach einem dort angelehnten Gewehr ein bißchen müde und abgekämpft. Aber die Schiffer hatten schon und überschüttete uns, das Gewehr auf uns gerichtet, mit einem heißen Kaffee gemacht; Knäckebrot und Schokolade, die ich aus Schwall von Worten. Wir verstanden kein Wort. Er rührte sich meinem Koffer holte, waren unser belebendes Frühstück. Mittler- nicht von der Stelle, redete aber in einem fort auf uns ein. Martin weile sammelten sich allerhand Russen oben am Pier, gestikulier- und ich versuchten ihm durch Zeichen zu verstehen zu geben, daß ten und sprachen miteinander, immer auf uns herunterzeigend. wir eben angekommen seien, machten Zeichen nach dem Hafen Nun sahen wir erst, wo wir waren. Es muß wohl ein Stück des hin, dann wieder, den Kopf in beide Arme nehmend, versuchten Fischerhafens gewesen sein. Obwohl viele richtige Fischerboote wir ihm klarzumachen, daß wir schlafen wollten und etwas zu neben uns lagen, hatte die ganze Anlage etwas Unwirkliches. Es essen – aber unser Mann, der aussah wie ein Mongole, sagte nur erschien uns, als wären wir in etwas völlig Unaufgeräumtes hinein- »Nitschewo, nitschewo«. Dann erkannte wohl auch er unsere geraten. Überall sah man Spuren von Angefangenem, aber nicht Harmlosigkeit und bugsierte uns sanft, aber doch ein wenig miß- Fertiggestelltem. Es war, als hätte man hier eine große, neue Hafen- trauisch zur Tür hinaus, zeigte in eine bestimmte Richtung, auf fer- anlage geplant, dann aber mitten in der Arbeit aufgehört und ein- ner gelegene Hütten zu, und schloß die Tür. Öffnete noch einmal, fach alles stehen und liegen gelassen. Boote waren halb versunken wies uns abermals mit Flinte und Hand die Richtung, verriegelte oder lagen kieloben im Wasser, eine halbfertige Mole war zu erken- dann von drinnen. Das Licht ging aus. Wie im Märchen, dachte ich. nen, steinharte Zementsäcke und verbogene, verrostete Eisenteile Wir gingen in die bezeichnete Richtung, fielen über Eisenbahn- ragten überall hervor. Eine Glockenboje lag umgekippt, ebenso der schwellen und – so schien es mir – Draht, der sich in meinem Man- Kran, der sie hätte ins Wasser setzen sollen. Weiter hinten sahen wir tel verhedderte. Wir stolperten weiter, sahen eine lange Reihe von ein ganzes Unterseeboot kieloben, wie ein großer Fisch, voller Mu- Eisenbahnwagen, die jedoch teilweise wie Häuser ohne Räder aus- scheln, mit Tang bewachsen und mit abgeblätterter Farbe. Halb- sahen und mit Gräsern und Gesträuch bewachsen waren. Kein versunkene Holzschiffe, flach mit Steinen beladen im jauchigen Mensch… Wir beschlossen, zum Boot zurückzukehren und dort Wasser steckengeblieben; aufgetürmte leere Petroleumfässer; am Pier, vielleicht auch an Deck, die Nacht zu verbringen. Müh- ganze Reihen Eisenbahnwagen, die meisten ohne Räder, dafür aber sam stolperten wir den Weg wieder zurück; es war uns gar nicht bewohnt. Es war wie ein großer Müllhaufen. Hinten stiegen Hüt- zum Bewußtsein gekommen, wie weit wir uns entfernt hatten. ten und Holzbauten ein wenig an, die Menschen dazwischen in Schließlich fanden wir die Anlegestelle wieder, und eingewickelt lehmbraunen, hemdartigen Gewändern, viele barfuß, manche an und zugedeckt mit altem Segeltuch und Säcken, eng nebeneinan- ihren vertragenen Uniformen als ehemalige Soldaten erkennbar. der, ich schweigend an meiner Pfeife ziehend, erwarteten wir den Alles war grau, bräunlichschwarz. Hin und wieder kleine, ver- Morgen. Unten aus der Kajüte hörten wir das gesunde Schnarchen krüppelte Birken dazwischen. unserer Bootsmänner. Wir stiegen wieder an Land, es war aber niemand unter der gaf- Wir mußten denn doch ein wenig eingenickt sein, jedenfalls fenden Menge, der uns verstand. Wir hatten den Eindruck von wurden wir gegen Morgen durch Rufe und Hallos und Gespräche allen möglichen Rassen. Alle machten den Eindruck großer Ar- geweckt. Wir waren drei Tage nicht aus den Kleidern gekommen, mut. Sie wirkten wie Ameisen einer bestimmten lehmgelben Sorte, hatten weder Wasser zum Waschen gehabt noch sonst irgendwel- die plötzlich aufgescheucht aus der Erde hervorgekrochen waren –

196 197 geradezu unheimlich. Das Bild war nicht gerade erhebend, aber es Hand, als wären wir kostbare Vögel oder womöglich gar Spione, war ja Tag, und wir würden bald weiterreisen, nach Leningrad und bei Nacht und Nebel hier gelandet. Vielleicht waren wir ein wert- Moskau. voller Fang, denn damals wimmelte es ja, zugegeben, von allerhand Wir gingen durch die neugierigen, krabbelnden Ameisen, hatten verkleideten Agenten. Und Sawinkow war ja noch frei und spann aber kaum einige Schritte getan, als hinter einem Schuppen hervor seine Intrigen gegen die verhaßten Bolschewiki. drei Männer auf uns zukamen. Zwei sahen aus wie Kommissare, sie In Rußland muß man immer sehr lange warten. Am späten trugen gute Lederjoppen und hohe Juchtenstiefel, eine Art Militär- Nachmittag kam eine neue Gruppe, diesmal mit einer Frau, die mütze mit Hammer und Sichel auf dem Kopfe und hatten Mappen dänisch und englisch sprach. Wir wurden gehörig geprüft, ausge- in der Hand. Ein dritter aber, der vorderste, war ein wildblickender, fragt, alle Dokumente, jeder Brief, jede Aufzeichnung, einfach dunkeläugiger kleiner Matrose, der einen großen schwarzen Patro- alles, wurden beschlagnahmt. Die Koffer wurden geöffnet, alles nengurt umgeschnallt hatte. In den Händen hielt er einen großen genau durchsucht, wir mußten aber immer noch an Bord bleiben. Armeerevolver – auf uns gerichtet. Er schien wütend zu sein, ach- Die Dolmetscherin deutete an, daß unsere Papiere erst ganz genau tete nicht auf unsere beschwörenden Zeichen, sondern beorderte geprüft werden müßten. Eventuell müsse man auch nach Oslo an uns, indem er uns den Revolver in die Rippen stieß, grimmigen den Konsul telegraphieren, der unsere Einreiseerlaubnis ausge- Blickes auf das Boot zurück. Nexö, dessen Autorität sonst immer stellt hatte. Dies könnte zur Folge haben, meinte sie, daß wir noch siegte, war wütend. Aber umsonst alles Erklären und Gestikulie- zwei bis drei Tage hier auf unserem Schifflein bleiben müßten, na- ren – es half alles nichts, wir kletterten ins Boot zurück und warte- türlich unter Bewachung. Denn, so erklärte sie uns mit ernsten Fal- ten der Dinge, die da kommen sollten. ten über den humorlosen Augen, es sei eine große Unvorsichtig- Unser Matrose stellte sich vor dem Boot auf Posten, immer noch keit von uns gewesen, einfach ein Fischerboot zu mieten und den das Riesending von Revolver auf uns gerichtet. Bald stiegen die beiden Fischern keine ordentlichen Einreisepapiere zu besorgen. beiden anderen Männer in den schönen Lederjacken zu uns herab, Auf unsere heftigen Loyalitätsbeteuerungen und Entgegnungen beachteten uns aber gar nicht, sondern sprachen mit unseren (daß man uns von Murmansk ein Motorboot versprochen habe, Bootsführern. Das Gespräch muß recht negativ verlaufen sein, daß wir wahrhaftig anderthalb, ja fast zwei Monate vergeblich denn man hörte sie vergeblich erklären und anordnen; indessen darauf gewartet hätten, daß die Besorgung einer Einreiseerlaubnis trieb oben auf dem Pier unser Matrose die Neugierigen zurück, für unser Boot und seine beiden Führer vielleicht weitere drei bis immer mit seinem Schießeisen herumfuchtelnd. Wir saßen und vier Monate gedauert hätte und daß wir auch keine verkleideten warteten, bis die beiden Kommissare zu uns kamen. Wir verstan- Sawinkow-Leute oder Agenten eines bürgerlichen Staates oder den das Wort »Interpreter«, das war alles. Sie zeigten dann noch Anarchisten waren) antwortete man: wir hätten abzuwarten, wie auf unsere Koffer, die mittlerweile an Deck gebracht worden wa- die Prüfung und die Anfragen nach Oslo, eventuell Berlin, ausgin- ren, und mit drohenden Gesichtern hin und wieder nach oben auf gen. Über unsere politische Unschuld und Loyalität könne man den Matrosen weisend, bedeuteten sie uns, auf keinen Fall die Kof- erst urteilen, wenn die Papiere bestätigt seien und alle unsere An- fer anzurühren und hier still sitzen zu bleiben. Das taten wir denn gaben geprüft und für richtig befunden. auch und machten gute Miene zum bösen Spiel. Unser Schwarz- »Wenn die Papiere bestätigt sind«, dachte ich laut mit Schrecken, meermatrose ging stolz oben auf und ab, den Revolver in der »na, das kann ja lange dauern!«

198 199 »Jawohl«, sagte die Frau mit Nachdruck, »wenn die Papiere bekannte Krankheit ausgefallen waren. Sie drängte sich rufend und bestätigt sind, nicht eher.« Hätten wir doch schon durch unsere schwatzend nach vorn, beugte sich zu uns nieder und hielt uns einen leichtsinnige Einreise ohne Anmeldung und ohne die dafür not- geflochtenen Weidenkorb entgegen. Wir sahen, daß der Korb ange- wendige Erlaubnis des Murmansker Arbeiter- und Soldatenrats füllt war mit roten Beeren und ziemlich unappetitlichen, grün- das Gastrecht der russischen Arbeiter und Bauern verletzt. Wir grauen Kuchen. Die Frau wollte uns den Inhalt des Korbes verkau- könnten von Glück reden, wenn wir noch so davonkämen; neulich fen. Da mir mein Geld abgenommen worden war, suchte ich nach erst habe man fünf Spione einer großen bürgerlichen Macht er- etwas, was ich jener Hexe geben konnte, nur um sie loszuwerden. Ja, schossen, sie seien auch als Schriftsteller verkleidet angekommen ich besaß noch einige Tafeln Schokolade, die man mir gelassen hatte, und hätten sogar die besten Papiere gehabt… nachdem sie der eine Kommissar durchgebrochen hatte (wegen Die Arbeiter und Bauern standen oben versammelt am Pier und eventuell noch darin verborgener Dokumente) – also gut, ich griff in sahen neugierig auf uns herab, während ihre Vertreter uns ein biß- die Tasche, nahm ein Stück Schokolade und gab es der alten Frau. chen Angst einflößten durch ihre erzieherischen und belehrenden Sie ergriff es sofort mit ihrer baumwurzelhaften, schmutzigen Reden. Ein angebotenes Stück Schokolade und ein Stück Seife Hand, sah uns grinsend fragend an, stellte den Korb vor sich hin wurden mit proletarischem Stolz angenommen, stimmten aber und fing an, die Schokolade mit beiden Händen umzudrehen, so nicht freundlicher. Als Martin Andersen Nexö noch einen letzten wie ein Stück Seife beim Händewaschen. Sie hielt die Schokolade Versuch unternahm, man möchte uns wenigstens erlauben, oben für Seife… Ich machte ihr Zeichen, holte ein anderes Stück Schoko- auf dem Pier zu warten, wo wir ein paar Schritte auf und ab gehen lade hervor aus meiner Tasche und biß ein Stückchen ab. Sie begriff könnten, wurde uns bedeutet, daß im Lande der Arbeiter und Bau- denn auch und lutschte mit ihrem zahnlosen Munde befriedigt an ern Ordnung herrsche und daß es hier nicht wie in den kapitalisti- der Schokolade, umringt von einigen sie erwartungsvoll beobach- schen Bourgeoisien zugehe, wo Chaos wäre und keine Arbeiter- tenden Arbeitern und Bauern. Ich sehe noch, wie der eine, ein bar- und Soldatenräte das Volk vor Spionen und Saboteuren schützten. füßiger, lehmgelber Mensch mit dünnem Bärtchen, Sommerspros- Damit kletterte unsere brave Dolmetscherin aus dem Boot und sen und pfiffigen Augen, unserer Alten plötzlich die Schokolade war bald mit den drei Volksvertretern unseren Blicken entschwun- aus der Hand riß und selbst daran lutschte und wie danach die den. Oben stand noch immer der Matrose, und wie mir schien, sah Schokolade von Mund zu Mund wanderte und jeder daran leckte er böse auf die Schokolade, die ich wieder einsteckte. wie an einem Eisstengel, begleitet von dem Kreischen der alten Es war dicke Luft. Unsere guten Bootsführer hatten mit einem Vettel, die sich um ihren Genuß betrogen sah… Komisch, dachte solchen unfreiwilligen Aufenthalt nicht gerechnet; sie hatten sich ich, wie in einem Film, den ich einmal gesehen hatte und der im gedacht, gleich am Morgen wieder zurückzufahren. Nun war alles tiefsten Afrika spielte – ein Expeditionsfilm… Wer weiß, wie lange anders gekommen, und wir waren an Deck unseres kleinen Bootes diese Menschen hier keine Schokolade oder keinen Zucker mehr wie Gefangene. Es müssen aber doch nicht alles nur Arbeiter und gekostet hatten? Es war tragikomisch. Derlei Szenen wirken ja sel- Bauern gewesen sein, die sich oben auf dem Pier neugierig drängten. ten »rührend«. Ich hatte den Eindruck, einem Naturschauspiel Ihr Kreis wurde plötzlich durchbrochen von einer alten, in Lumpen beizuwohnen – auch dachte ich an russische Soldaten, die ich ein- gehüllten Frau mit Kopftuch – man sah auch, wie bei vielen anderen mal in einem deutschen Gefangenenlager beobachtet hatte, in Frauen, daß die Haare ganz kurz abgeschnitten oder durch eine un- jenem schrecklichen Kriegswinter 1917/18, als es nur noch »Er-

200 201 satz« gab, Dörrgemüse und blaue Kartoffeln, jedenfalls für uns ge- Wir saßen beide, einsilbig unseren Gedanken nachhängend, oben meine Soldaten. Ich sehe sie noch, diese russischen Gefangenen, auf der Luke. Wir waren schlechter Laune, ungewaschen, hungrig wie sie mit ihren verrosteten Blechbüchsen sich um eine Abfall- und durstig. Die beiden Fischer waren ungehalten, daß sie hier tonne drängten und in der gärenden, von Maden wimmelnden warten mußten, und der Gedanke, daß sie womöglich noch als Brühe herumfischten und begierig davon aßen und tranken, so Strafe ein paar Tage eingesperrt würden oder daß man ihr Boot be- stark war der Hunger… schlagnahmte – all das war schon vorgekommen –, trug nicht zur So war also mein erster Eindruck der des Hungers, des direkten Besserung ihrer Stimmung bei. Grau war der Tag, kalt, und eine körperlichen Hungers. Es gibt ja verschiedene Sorten von Hunger; fahle Sonne schien nüchtern, als traute sie sich nicht recht hervor, in Amerika kennt man Gott sei Dank diesen direkten, knurrenden, weil sie dafür vielleicht keine Erlaubnis hatte vom Arbeiter- und die Eingeweide zwickenden, den Kopf dumpf machenden Hunger Soldatenrat. nicht. Wir alle haben damals in Europa eine Ahnung davon be- Endlich – nach einigen Stunden – kam unsere Dolmetscherin kommen. »Siehst Du«, so sagten die Bauern bei uns in Deutsch- zurück. »Da haben Sie aber Glück gehabt, daß alles geklappt hat«, land, »siehst Du, wirf niemals Brot fort oder auf die Erde. Das täg- rief sie uns entgegen. »Sie können jetzt mitkommen zum Orts- liche Brot ist gesegnet und damit heilig. Wenn Du das aber nicht sowjet«. weißt und unachtsam Dein Brot mißachtest und fortwirfst in den Wir kamen in ein einfach möbliertes Bürozimmer in einer Ba- Abfalleimer – dann George, dann kommt die große Heuschrecke, racke. Hier merkte ich zum erstenmal den eigentlichen russischen, und die frißt alles auf – alles frißt die auf –, die pickt die Körner aus säuerlich-faden Geruch, der schwer zu beschreiben ist – so unge- dem Getreide, die frißt das Gras und frißt die Rinde von den Bäu- fähr wie saures Bier, ausgespuckte Sonnenblumenkerne und nasse men, und alles Vieh hat nichts mehr zu fressen und geht ein – und Stiefel. Es roch aber auch angenehmer nach frischem Holz. Die dann, wenn nichts mehr da ist, fressen sich die Menschen unter- Luft war stickig – kein Wunder, denn ich bemerkte Doppelfenster, einander auf. Und siehst Du«, so sagten sie weiter, »die große Heu- und dazu verklebte; nur eine winzige, viereckige Luke oben im schrecke, die ist überall dort, wo die Menschen Kriege machen; die Fensterrahmen war zum Aufmachen. Wir wurden nochmals ver- zieht mit den Armeen durch das Land und die Länder und macht hört, ausgefragt und bekamen dann eine Art Passierschein und es so, daß sie nun alle kleine Heuschrecken werden und immer waren frei. fressen und fressen müssen, bis nichts mehr da ist – nur noch die abgeschälten Bäume und die nackte, verkrustete Erde…« Vorher hatte unser Kommissar telephoniert, und als wir weggehen Ja, da oben, das waren auch Heuschrecken, dachte ich tagträu- sollten, erschien ein freundlich lächelnder junger Mann in einem mend; vielleicht ist dies hier sogar das Heuschreckenland, und da langen, schwarzen Mantel mit Samtkragen und mit einer blauen oben, diese sich um die Schokolade drängenden lehmgelben, bar- Mütze ohne Abzeichen auf dem kahlgeschorenen Schädel. Er be- füßigen Insekten fliegen plötzlich, die Flügel aneinanderreibend, zeichnete sich selbst als einen »Ingenieur«. Man hatte ihn wohl für schnarrend in die Luft, dem Geruch der Schokolade nach… Um uns ausgesucht, erstens, weil er deutsch und dänisch sprach, zwei- Gotteswillen, dachte ich und fühlte es in meiner Tasche lebendig tens, weil er so eine Art Mentor und Führer sein sollte, und drit- werden, als krabbelten die Heuschrecken wahrhaftig schon darin tens, weil er uns auch ein wenig aushorchen sollte, ob wir eventuell herum. bürgerlich zersetzende Bemerkungen machten oder gar an dem

202 203 Fortschritt und der Befreiung des Proletariats zweifelten. Er hatte nicht auf den Tisch kommen. Die, die haben alles, alles haben die!« sich deswegen auch eine besondere Technik im Sprechen und in Unser neuer Freund sah allerdings auch ganz gut ernährt aus. unserer Behandlung zugelegt. Er tat so, als ob er sich von vorn- Seine Backen waren dick und rund, ja er hatte sogar einen kleinen herein auf unseren Standpunkt stellte, das heißt, er setzte voraus, Bauch. Sein Mantel und seine Kleidung waren neu und die hohen daß wir mit vielem nicht einverstanden wären. Stiefel von tadellosem Leder. Er hatte sogar verhältnismäßig sau- Das waren wir ja teilweise auch, aber lange nicht in dem Maße, bere Nägel, was auf Seifengebrauch schließen ließ, und rasiert war wie er uns unterschob. Seine Technik war, einfach alle Reden mit er auch. einer Art Herabsetzung zu beginnen. Wir kamen beispielsweise an Nexö und ich hatten natürlich sofort denselben Gedanken: Die- einer Gruppe Soldaten vorbei, die um einen großen Haufen geräu- ser Genosse will uns prüfen, er will uns zum Kritisieren, zum cherter Fischstücke herumstanden. Gleich daneben war ein Hau- Miesmachen verleiten. Die befreiten Arbeiter und Bauern haben fen graugrüner Brote, teilweise aufgeweicht, denn beide Haufen sich gar strenge Herren gewählt, und die vertragen keine Kritik. waren auf die bloße Erde geschüttet worden. Unter Aufsicht eines Ich stieg denn auch nicht auf unseres Freundes Bemerkungen ein, höheren, besser gekleideten Soldaten mit einer Art Tatarenhelm sondern parierte mit einigen versöhnlichen Floskeln – na ja, es und Stiefeln griff sich jeder Soldat mit bloßen Händen ein Brot und möge wohl so sein, wie er es da sage; ich könne das ja nicht jetzt ein Stück geräucherten Fisch. Unser neuer Freund und Mentor be- gleich beurteilen; er solle uns doch noch Zeit lassen – auch verstün- nutzte sofort seine Chance, und falsch, aber beflissen, so tuend, als den wir die Sprache nicht und so weiter. wären wir ihm ganz nahestehende Vertraute, als sage er es nur uns »Die Sprache?« sagte er schneidend und höhnisch; was brauche ganz allein, wies er auf den Haufen Fische und sagte, die Stimme man Sprache, wenn ein Haufen halb verfaulter Fische zum Him- dämpfend und sich unseren Ohren nähernd: »Sehen Sie einmal, mel stank – »wie, Genosse? Sprache, haha – hehehehe –.« Er spielte Genossen, sehen Sie dort die geräucherten Lachsstücke – sehen Sie, seine Rolle sehr gut; seine Entrüstung erschien fast echt. Haha- die Hälfte davon ist so schlecht geräuchert, daß sie schon anfängt hehe, Sprache – Himmel – Sprache, die brauche man doch nicht, zu verfaulen! Sehen Sie, so sieht die neue Ordnung aus, Genossen, wenn man nur seine Augen gebrauche und die dort ohne Stiefel alles auf dem Papier. Dabei haben wir hier die schönsten Fische, die und barfuß, aber die Kommissare mit dem feinsten Juchtenleder es gibt – Unfähigkeit, Genossen«, fuhr er fort. bekleidet sehe – und nicht nur ein Paar, nein, mehrere… Ich warf ein: »Aber Genosse – den Soldaten scheint es doch Ich antwortete, als es gar zu dick kam, das seien doch Ausnah- nichts auszumachen, die sind doch ganz zufrieden und lustig.« men und man müsse doch bedenken, daß der dort, wenn er keine »Ach«, sagte er darauf, »das sind ja gar keine richtigen Soldaten, Stiefel habe und schlechten Fisch essen müsse, das Höchste, das das sind Verbannte, die hier in der Fischerei helfen. Die sind hier- Würdigste und Heiligste von allem dafür eingetauscht habe, die her strafversetzt, und denen gibt man natürlich das Verdorbene menschliche Freiheit und die Menschenwürde. Angesichts dieser und Schlechte. Meinen Sie denn«, so fuhr er fort und sah sich um, kolossalen Not, dieses Schmutzes, dieser gespenstischen Elendsge- als sage er etwas sehr Kühnes, Verbotenes, »meinen Sie denn, die stalten wurden mir meine so schön klingenden Phrasen von der Kommissare da drinnen –?« Er deutete mit seinem Daumen über Menschenwürde und von der Freiheit ganz unheimlich. Aber ich die Schulter nach der Baracke: »Die, die bekommen nur das Aller- sprach sie aus, wie man magische Zauberworte ausspricht, wie Ge- beste – da würde so ein halb und schlecht geräucherter Fisch gar betsformeln, die einem das schwindende Vertrauen wiedergeben

204 205 sollen. Außerdem waren uns alle diese dummen, abgebrauchten Decke, wir hatten aber einen Teil unserer Unterkleidung anbehal- Phrasen so geläufig und mir durch meine politischen Freunde ver- ten. Weil kein Feuer da war, brachte unser neuer Freund eine Fla- traut geworden, ja man glaubte beinahe selbst daran, so oft hatte sche Wodka – merkwürdigerweise ohne Gläser. Als ich bescheiden man sie wiederholt und angewandt. Wir waren überzeugt, daß un- fragte – ich wollte ja nicht mäkeln –, ob wir vielleicht ein Wasser- ser Mentor, unser neuer Freund, es sogar ganz ehrlich meinte. Wir glas oder etwas Ähnliches haben könnten, machte er sofort wieder sahen auch, daß die anderen da, die Kommissare mit den schönen eine bezeichnende Geste und sagte schneidend: »Die, die dort, die Lederjacken, ihn in geschickter Weise benutzten. Man hatte ihn Genossen Kommissare, die haben Gläser – mehr als sie in den Spie- einmal erwischt, als er alles herunterkanzelte und nichts Gutes an gel werfen können! Ich werde aber welche für Euch besorgen, den Sowjets ließ. Da die Schüler Lenins oft sehr machiavellistisch Genossen.« dachten, sagten sie zu unserem Mann: »Höre mal, Freundchen, Da merkte ich ganz deutlich, daß wir geprüft werden sollten. eigentlich wollten wir Dich erschießen, denn Du paßt nicht in die Auf einmal wußte ich, daß unser Mentor nebenan, wo sein Zimmer neue Sowjet-Fröhlichkeit und in den mühseligen proletarischen war, viele Gläser aufbewahrte, daß wir aber auf unsere Wider- Aufbau. Aber wir haben uns überlegt: Du schimpfst und lamen- standsfähigkeit geprüft wurden und daß er derselben Genossen tierst und kritisierst ja so gerne – da haben wir Dir auch einen Pos- einer war, über die er sich immerzu scheinbar entrüstete. Ich ten gegeben anstatt einer Kugel, und auf diesem Posten kannst Du wurde darüber ganz heiter. Nexö, der ein wenig langsamer, weil schimpfen und kritisieren nach Herzenslust. Du wirst nämlich den viel gläubiger als ich war, zweifelte an meiner Feststellung und Delegationen der ausländischen Genossen beigegeben werden und meinte, er hielte ihn für einen »wirklichen« Konterrevolutionär, wirst uns dann alles hinterher schön erzählen, was die gesagt ha- beschloß aber trotzdem, vorsichtig zu sein. Nexö war eben noch ben. So, nun gehe hin, geselle Dich zu den beiden Neuankömmlin- aus einer vergangenen Generation, er war, mit einem Wort, ein gen, mache alles recht schlecht, schimpfe fleißig und sieh mal zu, Idealist. Er wollte und konnte einfach nicht glauben, daß man sol- ob die beiden dabei mitmachen oder einer von ihnen…« Wir wa- che machiavellistischen Tricks brauchte – Nichtgenossen gegen- ren natürlich ebenso klug wie unsere werten russischen Genossen, über. »Wo bleibt denn sonst die Wahrheit?« fragte er mich schärfer denn dieses Lockspitzelspiel, obwohl in Rußland am meisterhaf- als sonst. testen ausgebildet, wurde bei uns in Deutschland auch gespielt, Die Wahrheit, mein lieber Martin, ist nach Lenin ein bürger- und die damaligen radikalen Parteien wimmelten von solchen liches Vorurteil, also damit für einen gläubigen Genossen endgültig Figuren. abgeschafft. Man zeigte uns unser Zimmer. Wir bewohnten zusammen einen Am nächsten Tage besuchten wir die Stadt. Sie bestand fast aus- Raum in einer Holzbaracke, die seinerzeit von den Engländern schließlich aus langen, aneinandergekuppelten Eisenbahnwagen, errichtet worden war und in der englische Offiziere jener verun- in denen Sowjetbürger aller Rassen wohnten. Die Wagen wirkten glückten internationalen Invasionsarmee von 1918 gewohnt hat- wie große Kaninchenställe, und ein merkwürdiger saurer Kohlge- ten. Martin und ich schliefen in einem Bett, denn es gab nur ein ruch verstärkte diesen Eindruck. Oft fehlten die Räder, und unter Bett. Einer lag mit dem Kopf zu Füßen des anderen. Nach all den vielen, meistens waren es Güterwagen, befanden sich Verschläge Strapazen schliefen wir bald fest und friedlich. Ein großer, ziemlich für Hühner oder auch Schweine. Überhaupt sah man hier recht neuer russischer Militärkavalleriemantel diente als gemeinsame häufig eine kleinere Sorte schwarzer Schweine. Sie wälzten sich

206 207 friedlich in irgendeiner Pfütze oder liefen zwischen den Beinen der kratischen Maßnahmen jedenfalls als lästig, redete sich aber ein, Leute herum. sie seien notwendig. Die Bewohner dieser Stadt auf Rädern setzten sich, wie schon Die Bahnstation wirkte schon ganz asiatisch. Ich meine damit gesagt, aus Angehörigen aller möglichen Völkerstämme zusam- die Art, wie dort, zusammengekauert, tagelang, schmutzigen Bün- men. Ich bemerkte sehr viele chinesische Gesichter, aber sonder- deln gleich, ganze Familien herumlagen. Geduldig hockten sie vor barerweise auch Köpfe, die Negern gehören konnten. Alles war dem Bahnhof, unempfindlich und abgehärtet gegen Unbilden der außerordentlich primitiv. Ich versuchte, nicht zu genau hinzuse- Witterung, Schmutz und Ungeziefer. Aber dieses Bild hatte nichts hen, das Bild mehr malerisch-positiv zu sehen. Ich folgte auch ein- Rührendes – es bot sich dar wie ein Stück Natur, jenseits von Gut mal der Einladung einiger Bewohner, halber Chinesen, an ihrem und Böse. Die Menschen der eisigen Steppe da oben waren keines- einfachen Mahle teilzunehmen. Ich konnte nicht ablehnen, auch wegs zu vergleichen mit westeuropäischen Bauern oder Prole- hätte ich diese einfachen, ameisenartigen Menschen tödlich belei- tariern unter denselben Umständen. Sie gehörten natürlich zur un- digt, wie mir unser Begleiter ins Ohr raunte. tersten Schicht, fuhren auch in einer anderen Wagenklasse. Denn, Es gab grünlichgelbe, unappetitlich aussehende kleine Pfannku- so erklärten mir höhere Funktionäre, es sei absolut unmöglich, in chen, ähnlich wie ich sie im Korbe der alten Hexe am Bootspier ge- denselben Wagen zu reisen wie sie – was ich gern glaubte, was mir sehen hatte. Mit Mühe würgte ich einen hinunter; den zweiten aber trotzdem einen kleinen Stich gab. Es war zwar begreiflich, nahm ich in den Mund tat so, als ob ich äße, schlich mich einen verstieß aber gegen jene Gleichheit, die man damals überall pre- Augenblick in eine Ecke und spuckte ihn wieder aus. Es war digte. scheußlich. Monatelang bin ich den Geschmack dieses grünlich- gelben Leichenfetts nicht losgeworden. Ich gebe zu, es war damals schwer, Positives in Rußland zu ent- Wir machten uns für unsere weitere Reise fertig. Es dauerte wie- decken. 1922 war alles wie eben kurz nach einem langen Kriege. derum eine ganze Weile, bis alles erledigt, alles wie vorher genau Das ganze Land war, wo wir auch hinkamen, in einem für west- nachgeprüft war, bis Fahrkarten und Reisegenehmigungen ausge- europäische Begriffe schrecklichen Verfall. Die Murmanbahn, auf stellt und alle von oben und weither kommenden Vorschriften be- der wir jetzt fuhren, war erst während des Krieges weiter ausgebaut folgt waren. Diesem neuen Land und dieser neuen proletarischen worden. Deutsche Kriegsgefangene hatten daran mitgebaut, und »optimistischen« Bewegung war ein tiefes Mißtrauen eigen. Man man erzählte sich, fast unter jeder Schwelle läge einer begraben. mißtraute nicht nur den übriggebliebenen Konterrevolutionären; Der Zug wurde durchweg mit Holz geheizt; an den Depots und klugerweise mißtraute man auch dem unteren Volk, das man eben einzelnen Stationen waren deshalb riesige Holzstöße aufgeschich- befreit und bewaffnet hatte. Man mußte sich bedroht fühlen, und tet, das Brennmaterial für die Lokomotive. An jeder Station stiegen um sich zu schützen, gab man gestempelte Zettel aus, die Amu- die Russen aus und holten in ihren mitgenommenen Teekesseln hei- lette der Macht darstellten. Wieweit alle diese Zettel, Nummern, ßes Wasser für den Tee, den sie sich in ihren Abteilen brauten. Kein Pässe, Ausweise, Ehrlichkeits- und Treuezeugnisse ein Ausdruck richtiger Russe reiste damals ohne Teekessel. Das heiße Wasser war von Angst waren oder der langsame Beginn jener später oft ge- frei. Immer warteten an den Stationen Bauern aus nahe gelegenen rühmten proletarischen Ordnung und Ruhe, das konnte man Dörfern. Sie standen oder hockten mit ihren Körben und Waren damals nicht wissen. Als Reisender empfand man all diese büro- nahe den Geleisen und hofften, etwas einzutauschen von den frem-

208 209 den Reisenden, die ja oft auf dieser Strecke fuhren – Tabak zum glitzernden, kühlen Sees, für die schlanken Tannen und Fichten, Beispiel, oder Schokolade oder gar ein Stück Seife oder was es für die lustigen Birken, die so charakteristisch für die russische sonst gab, denn damals war ja fast alles knapp. Sie boten als Gegen- Landschaft sind. wert gebratene kalte Hühner an, eine Art dicken Kuchen, sehr oft auch eingemachte Pilze und, soweit ich mich erinnere, hie und da Dann kamen wir nach Kem, oder war es Kandalakscha – der Leser auch Obst. Sie waren verhältnismäßig sauber gekleidet; immer mag verzeihen, wenn ich in Nebensachen nicht ganz genau bin, wieder sah man die lehmgelbe Khakifarbe (man hatte große Vor- denn die Notizen und Tagebücher, die ich auf der Reise führte, räte des für die Invasionsarmee bestimmten Uniformstoffes erbeu- habe ich nicht zur Hand. Es war jedenfalls eine wichtige karelische tet und an die Bevölkerung verteilt), und man bemerkte, wenn Stadt, vielleicht sogar die Hauptstadt. Gulling hieß der damalige auch selten, gestickte weiße Leinenblusen und erinnerte sich an Präsident. Ob er heute noch lebt, weiß ich nicht, damals starb man alte, farbige, längst vergessene russische Gemälde. Neben feinen noch nicht ganz so schnell wie später. Wir waren bei ihm einge- hohen Schaftstiefeln sah man Bastschuhe, mit Bindfaden um- laden. Es war da noch ein anderer finnischer Revolutionär, der eine wickelt. Am besten waren die verschiedenen Kommissare und Engländerin zur Frau hatte. Sie besaß etwas sehr Wertvolles, näm- Funktionäre angezogen. Die Frauen trugen alle Kopftücher; man lich ein Paket mit Zucker, und es war eine ganz besondere Ehre, als sagte mir, viele hätten ihre Haare verloren oder abgeschoren, weil wir zu unserem Tee jeder ein ganzes Stück Zucker bekamen. es soviel Typhus gab, deswegen trank auch niemand ungekochtes Das Leben im Hause des Präsidenten war einfach, aber man war Wasser. zufrieden und guter Dinge. Hatte Gulling einmal Zeit, so blätterte Die Holzfeuerung hatte zur Folge, daß dauernd glühende Fun- er gern in einem verhältnismäßig neuen, sehr dicken Katalog der ken aus dem Schornstein den Zug entlang regneten. Trieb der Wind Firma Sears & Roebuck in Chicago, den ein Freund ihm dagelassen sie auf die Fensterseite, so konnten wir das Fenster nicht öffnen, hatte. Er blätterte mit Liebe darin und sagte zu mir und Martin, auf denn die Funken wären in unser Abteil hereingeflogen und hätten den Katalog weisend: »All das und noch viel mehr werden wir ein- überall Löcher gebrannt. Das war unangenehm, weil in unserem mal produzieren!« Es war fast rührend, den Präsidenten zu sehen, Abteil, das wir mit zwei Russen teilten, die nach Leningrad woll- wie er, den Sears & Roebuck-Katalog auf dem Schoß, seinen Blick ten, eine Luft herrschte wie im Kielraum eines Schiffes. Auch för- in ein kommendes verheißungsvolles Land des Überflusses derten das grau-grünliche Brot und die gelegentlichen Beeren die schweifen ließ. Neben den Schriften von Lenin und Karl Marx war Ausdünstungen und inneren Winde in unangenehmer Weise, so dieser Katalog des verhaßten bürgerlich-kapitalistischen Systems daß sich allmählich ein fast unerträglicher Stallgeruch entwickelt für ihn Bibel und Richtschnur. hatte. Die Toilette am Ende des Wagens war sehr, sehr lange nicht Wir sahen viel Interessantes und lernten allerhand Menschen gereinigt worden; sitzend konnte man sie nicht benutzen. kennen. Die Eingeborenen saßen in ihren Holzhäusern um den rie- Schön war die Landschaft, durch die wir fuhren, ein wenig be- sigen Samowar, und das Gewehr stand griffbereit in der Ecke. Ka- wohntes Gebiet. Weite Wälder und immer wieder Seen mit kleinen relien war gewissermaßen ein Pionierland. Aber die Fremden, die Inseln, bis ans Ufer bestanden mit Fichten, Tannen und Föhren. ich dort antraf, damals 1922, waren durchaus nicht alle Pioniere. Leider war damals mein Denken zu verbohrt auf das rein Politi- Von vielen hatte man den Eindruck, daß sie sich in den kapitalisti- sche gerichtet, und so hatte ich wenig Sinn für die Schönheit des schen Ländern nicht zurechtgefunden hatten. Man hatte ferner den

210 211 Eindruck, als seien manche dieser Ingenieure, Landmesser, Schrift- Schriftsteller und Künstler, um das Projekt einer kulturellen An- steller, Organisatoren und Berater oft nicht so ganz freiwillig hier näherung zwischen den Sowjetliteraten und den sympathisieren- oben im wilden Norden, als hätte man manchen von ihnen aus den Schriftstellern der westlichen Länder zu besprechen. Während Moskau oder Leningrad sanft hierher abgeschoben. Eine Revolu- Sinowjew noch auf sich warten ließ, unterhielt uns sein Sekretär tion zieht ja neben gesunden, hochachtbaren und talentierten Tivel. Es war dies ein kleiner, charmanter, papageienartiger Mensch. Menschen immer auch viele solche an, die im bürgerlichen Leben (Man hatte ihn außerdem in eine papageienartige kaukasische Uni- als sogenannte Weltverbesserer, Exzentriker, harmlose Irre und als form gesteckt; dies sollte den Eindruck von Breite machen, und es unentwegte Pläneschmiede und Erfinder bekannt sind. In dieser wirkte auch exotischer und für uns Westler belebender als die üb- Beziehung verstand man in Sowjetrußland keinen Spaß. Daß oft lichen khakifarbenen Blusen.) Er mußte tatsächlich in einem frü- auch die Besten und Tüchtigsten später versagten oder daß der heren Leben einmal ein Papagei gewesen sein, denn er konnte so Kampf um die Macht viele von ihnen verschlang, steht auf einem geschickt hin und her hüpfen wie ein Vogel. Er sprang von Bank zu anderen Blatt. Bank, auf den Tisch, und saß plötzlich auf dem Fensterbrett wie Mancher meiner hohen Bekannten von damals ist in diesem auf einer Stange. Ein hin und wieder in den Mund gesteckter Son- Kampf untergegangen: unter anderen Grigorij Sinowjew, der ein- nenblumenkern machte die Ähnlichkeit noch unheimlicher. Er mal als unumschränkter Diktator über Leningrad herrschte. Er war nie ganz still und zwitscherte in allen Sprachen der Welt, wie war ein mittelgroßer Mann, eher zur Rundlichkeit neigend. Wie eben ein kluger Papagei. bei fast allen höheren Kommissaren hatte man den Eindruck von Er hatte den Auftrag, der kurzen Rede seines Herrn später die großer Überarbeitung und zu wenig Bewegung in frischer Luft. Er richtige Interpretation zu geben. Sinowjew sprach mit einem hohen sah bleich aus und herzkrank. Es war eine Zeit der tausend Büros, Stimmchen, das so klang, als wäre es zwischen zwei nassen Tüchern in denen Tag und Nacht gearbeitet wurde – besonders nachts, da hindurchgequetscht. Aber das, was er sagte, war nicht gequetscht. die meisten Russen die Nachtarbeit sehr lieben. Sinowjew war ein Es war, wie üblich, scharf intellektuell, oft ein wenig herablassend. freundlicher Mann und sprach sehr gut deutsch. Er lud uns meh- (Wir sympathisierenden Westler waren ja nur eine unsichere Ge- rere Male ein, und in seinem Auto besichtigten wir Leningrad und sellschaft – so dachte er, ohne es auszusprechen; man fühlte es aber.) Umgebung. Leider kann ich wenig Persönliches von ihm berich- Er legte uns ein großzügiges Projekt dar: alle literarischen Bestre- ten, denn eigentlich waren alle Volksbeauftragten und hohen bungen sollten auf eine große Superkolossalzeitschrift konzen- Funktionäre sehr farblos. Sie hatten auch meist kein Privatleben, triert werden. Da er uns sowieso nicht für voll nahm, kam es ihm und ihre Gespräche mit Fremden waren immer auf die Fremden auf ein wenig Aufschneiderei und Übertreibung nicht an. Der Sitz abgestimmt. Viele wirkten wie lebende, rot eingebundene Bro- der Redaktion sollte in Berlin und Paris sein. Die Zeitschrift sollte schüren und waren darauf noch stolz. Natürlich versuchten sie, da die »enorme Größe der kulturellen Front der Sowjetunion« allein es eine Zeit der Massen sein sollte, ihr bißchen Individualität gänz- schon in Aufmachung, Druck und Bildmaterial widerspiegeln. Die lich zurückzudrängen, und hätten am liebsten als Gesichter graue allerbesten und größten Geister würden daran interessiert sein Pappscheiben gehabt, mit roten Nummern darauf an Stelle von oder doch in ganz kurzer Zeit schon, durch den kulturellen Nie- Namen. dergang in ihren eigenen Ländern enttäuscht, mit Freuden bereit Eines Tages versammelte man eine kleine Gruppe ausländischer sein, sich der kulturellen Front der Arbeiter- und Bauernunion

212 213 anzuschließen. Eine internationale Redaktion müsse sofort gebil- irgendwelche »individualistische« Kunst. Sie wollten reine Ge- det und mit allen nötigen Vollmachten, ja auch mit Geld, und zwar brauchsware und hätten am liebsten ein Dutzend amerikanischer viel Geld, versehen werden, denn die Zeitschrift sollte alles zusam- »commercial artists« importiert, um ihre Parolen zweckentspre- menfassen, was bisher zerstreut und unwürdig vertreten war. Wir chend und gefällig zu illustrieren. sollten nur das Weitere unter uns erst einmal durchsprechen, sein Sekretär Tivel werde uns mit Rat und Tat zur Verfügung stehen. Er, Leningrad wirkte sehr »russisch« im Sinne jener Schriftsteller, die Sinowjew, müsse sich nun leider von den Genossen verabschieden, wir alle gelesen hatten. Ich sah hier jene Häuser, wie sie der große er habe an einer sehr dringenden Sitzung des Leningrader Arbei- Humorist Dostojewskij beschrieben hat. Es wohnte ihnen der- ter- und Soldatenrates teilzunehmen, das Auto warte schon – es selbe unerbittliche, etwas melancholische Humor inne, aber dabei lebe die Sowjetunion und die Weltrevolution! »Weltrevolution«, auch vergangene Vornehmheit, Breite und Größe. Ich wohnte bei krähte der Papagei Tivel vom Fensterbrett, da war auch schon hin- einem gewissen Rotkegel, einem ehemaligen deutschen revolutio- ter dem Volksbeauftragten die Tür zugefallen. nären Matrosen. Der hatte, als der Sozialdemokrat Noske in Wir waren ungefähr acht Schriftsteller und Künstler aus ver- Deutschland im Bunde mit den sehr reaktionären Freikorps die schiedenen kapitalistischen Ländern. Arthur Holitscher wurde Ruhe und Ordnung wiederherstellte, seine Heimat verlassen müs- zum Sekretär für Deutschland gewählt, denn erstens war er alt und sen und, da er außer seiner revolutionären Energie auch organisa- würdig, zweitens glaubte er fast alles, was man ihm erzählte. (Dies torisches Talent besaß, hier in Leningrad eine Verwaltungsstelle führte späterhin, als er die Wahrheit erfuhr, zu einer argen Verbit- gefunden. Er lebte in einer jener großen, vornehmen, ehemaligen terung und Enttäuschung.) Martin Andersen Nexö war der natür- Bourgeois-Wohnungen. Man sah verblichenen Glanz, ein bißchen liche Beauftragte für Dänemark. Er glaubte zwar alles nicht so vermottet: mannshohe vergoldete französische Spiegel, wo oben schnell und nicht so heftig, aber er war von Natur zum Bürovor- jemand hineingeschossen hatte und deren Glas Sprünge zeigte wie steher geschaffen. Auch Max Eastman war dabei; er fiel mir auf ein Spinngewebe, auf vergoldetem Tablett davor Kämme und durch seine besonders schönen amerikanischen Stiefel mit roten Bürsten mit adligem Namenszug und Doppeladlern, silberne Fla- Gummisohlen. Ich kann nicht viel mehr über ihn sagen, denn er schen und Flakons und unabgestaubte Plüschrahmen mit signier- beteiligte sich wenig an der Diskussion, sondern las dauernd in ten Photographien, langsam brüchig gewordene kostbare seidene einem englisch-russischen Wörterbuch, während wir anderen mit Vorhänge mit Rokokomustern. Im großen französischen Dop- heißen Köpfen diskutierten. Wußte er vielleicht mehr als wir? Er pelbett lag der gute Rotkegel behaglich ausgestreckt und ließ sich sah auch sehr gut aus, hatte weiße Haare und immer ein freund- sein Frühstück auf silbernem Tablett servieren, während er in der liches Lachen, was angenehm abstach von manchem fanatisch- »Prawda« die Fortschritte der Weltrevolution studierte. Schnee- gläubigen Apostelgesicht unter uns. flocken trieben vor den Fenstern, im riesigen Kachelofen brannte Natürlich war dieses ganze Superkolossalprojekt – der Leser ein gemütliches Feuer, und ein kleiner Wodka am Morgen war ahnt es schon – ein Potemkinsches Dorf, Wortkulisse und Rederei, auch nicht schlecht. wahrscheinlich nur ein Mittel, uns abzulenken und zu beschäfti- Natürlich wohnten nicht alle Proletarier so komfortabel; man gen. Denn in Wahrheit, das merkten die »Künstler« unter uns sehr mußte schon seine besonderen Verdienste haben. Es gab Restau- bald, hatten die Arbeiter und Bauern keinerlei Verwendung für rants. Bier gab es auch, in merkwürdigen langen Flaschen. Delikate

214 215 Krebse konnte man bekommen, auch gute Suppen, zum Beispiel In Rußland hatte der Konstruktivismus zahlreiche Anhänger, verschiedene Arten Borschtsch, mit saurer Sahne oder mit Fleisch, und als ihren Führer bezeichnete man einen gewissen Tatlin, einen mit Fisch, Gemüse oder Gurken. Sehr gut waren eingemachte seltsamen, naturburschenhaften Russen. Tatlin kam aus einer wohl- saure Steinpilze und die vielen Sorten Kaviar; in einem Schaufen- habenden Familie und hatte vor dem ersten Weltkriege Deutsch- ster drehten sich an einem Spieß Hammelstücke und Nieren: land bereist. Er war damals Mitglied einer berühmten Balalaika- Schaschlik, das Nationalgericht der Kaukasier. In den Restaurants Kapelle und eines Chors gewesen und erzählte mir, sie hätten sogar aßen viele Ausländer, aber auch wohlgenährt aussehende Männer vor Kaiser Wilhelm bei Hofe gespielt. Er wurde dann Maler und in Lederjacken, die sich ein gutes und reichliches Essen leisten studierte auch an einer technischen Schule; weiteren Kreisen konnten. wurde er aber erst bekannt, als er sein großes Denkmalsprojekt in Einmal gingen wir in ein Hotel, man hatte gerade das Ende der Moskau ausstellte. Das heißt, er würde es kaum Denkmal genannt sogenannten »neuen ökonomischen Politik« verkündet. Wir saßen haben – dieses Wort wäre zu altmodisch-romantisch gewesen; er unter alten, etwas staubigen künstlichen Palmen, alter Damast nannte es den »Turm der Dritten Internationale«. Das Modell die- deckte den Tisch bis zum Boden, und warteten auf das Essen. ser ganzen gewaltigen Konstruktion war über drei Meter hoch. Es Plötzlich sah ich drüben über die weiße Kante des Tischtuchs einen bestand aus allerlei Stangen, die mit Absicht schief über- und kleinen braunen Punkt mit Beinen herankrabbeln. Ganz gemäch- untereinander angebracht waren. Der »Turm der Dritten Interna- lich nahm er seinen Weg quer über das Tischtuch. Keiner von uns tionale« stieg nicht etwa senkrecht zum Himmel – o nein, er neigte sagte ein Wort. Der höhere Russe, der uns eingeladen, sagte auch sich stark nach links, eine Neigung, die von begeisterten Kritikern nichts. Es war so, als hätten wir uns stumm geeinigt, diesen krab- als symbolisch gedeutet wurde. Wie es in einer den Besuchern belnden Punkt, der nichts weiter war als ein Wänzlein, nicht zu be- überreichten Broschüre hieß, würde dieser schiefe »Turm der achten. Diese Indifferenz gegen Ungeziefer traf man damals häufig Dritten Internationale« zweimal so hoch werden wie das Wool- an, als sagte man: »Selbst wenn wir die eine hier töten… was worthgebäude – das war damals der höchste Wolkenkratzer in den tut’s… nitschewo… hat ja doch keinen Zweck… hinterher kom- usa. Aber er würde nicht stillstehen, sondern sich dauernd in sich men Millionen, immerzu… immerzu. Laß sie laufen…« selbst bewegen, und zwar würde sich ein Teil des Turmes von rechts nach links drehen und der andere entgegengesetzt; diese Be- Es gab damals eine Kunstrichtung, die nannte sich Konstruktivis- wegungen wären eben der Ausdruck der permanenten Kräfte der mus. Sie hatte diesen Titel offenbar gewählt, um damit auszudrük- Revolution. Obendrauf sollten als Verzierung Hammer und Sichel ken, daß ihre Anhänger auf der Seite der konstruktiven Kräfte angebracht werden (es war dies vom rein orthodoxen Standpunkt standen, im Gegensatz zu den destruktiven Kräften. Sie stand un- ein Kompromiß und Verstoß gegen die konstruktivistische Lehre), ter dem Einfluß der technischen Zivilisation und zog den Anblick und diese Verzierung würde aus Glas sein. einer elektrischen Turbine dem Anblick einer Landschaft vor. Der Man war begeistert. Donnerwetter, sagten unsere modernen Mensch wurde auf ihren Bildern weggelassen, oder wenn einige Kritiker, die Russen – kolossal, kolossal… Nur einer goß Wasser ihn doch darstellten, so verwandelten sie den Menschen in ein Rad, in den Wein des allgemeinen Entzückens. Dieser eine war Leo in einen Zylinder oder in eine gehorsame Puppe, der Maschine Trotzki, damals noch nach Lenin – der sich um Kunst, soweit sie untertan. nicht Propaganda war, wenig bekümmerte – der stärkste und be-

216 217 liebteste Führer. Trotzki, der einen scharfen Verstand hatte und ge- An Lenin erinnere ich mich gut. Er stand plötzlich mitten unter legentlich schneidend höhnisch sein konnte, sah sich den »Turm uns, die wir, sorgfältig ausgewählt und gesiebt und mit besonderen der Dritten Internationale« an und fragte, warum sich denn das Pässen ausgestattet, in einem der rot dekorierten Säle des Kreml Ding drehen sollte und warum immer im Kreise um sich selbst und versammelt waren. Er war nicht sehr groß, sein Gesicht wirkte auf der Stelle? Diese Frage konnte nicht zu Trotzkis Befriedigung leicht tatarisch, es haftete seiner ganzen Erscheinung nichts Bedeu- beantwortet werden, und so fiel das gigantische Projekt der Ver- tendes an. Man hatte den Eindruck, dieser Mann sei immer so und gessenheit anheim, wie der gesamte Konstruktivismus überhaupt. nicht anders gewesen. Es war auch nichts Ehrfurcht- oder Schrek- Tatlin verschwand vollkommen in der Versenkung. Andere Kon- kenerregendes an ihm, eher schon spielte ein kleines undeutbares struktivisten gingen, wenn sie konnten, ins Ausland – erst nach Zwinkern in seinen Augen, aber tatarische Augen haben das ja oft, Berlin und dann nach Paris oder London. Mittlerweile siegten die ohne daß es ein Lächeln bedeutet. Massen. Sie siegten insofern, als man mehr als früher auf sie hörte Er schüttelte uns die Hände, begleitet von einigen Sekretären; und alte verbitterte Maler, die man bisher als kleinbürgerlich be- ich bemerkte Bucharin und Radek. Alles ging sehr schnell und zeichnet hatte, aus der Verbannung zurückholte. Sie erwiesen sich ohne große Förmlichkeit. Lenin sollte sprechen. Neben mir stand nun als bessere Illustratoren als alle modernen Hitzköpfe und In- der amerikanische Korrespondent Albert Rhys Williams, ein sym- tellektuellen. pathischer Mann, der mir vertraulich erklärte, daß Lenin – er hielt Ich besuchte Tatlin, den großen Narren, noch einmal. Er seine Rede auf deutsch – infolge seiner Krankheit hin und wieder wohnte in einer alten, kleinen und vernachlässigten Wohnung. den Faden verliere oder ein Wort nicht finden könne. Ab und zu – Die Hühner, die er sich hielt, schliefen zum Teil in seinem Bett. In wir standen ziemlich weit entfernt von Lenin – konnte man hören, einer Ecke legten sie Eier. Wir tranken Tee, und Tatlin plauderte wie man ihm Worte oder auch ein Datum leise zurief. von Berlin, vom Kaufhaus Wertheim und von seiner Vorstellung Ich war ein wenig deprimiert. Die Worte von Williams hatten bei Hofe. Hinter ihm, an der Wand, lehnte eine völlig verrostete mich beeindruckt, und ich sah dort oben nur einen kranken Mann, Stahldrahtmatratze, ein paar Hühner saßen darauf und schliefen, der hin und wieder den Faden verlor. Merkwürdigerweise dachte den Kopf in die Federn gesteckt. Dies rahmte den guten Tatlin ich an eine Tante von mir, die einen Tumor im Gehirn hatte und bei ein, und als er dann auf seiner selbstgemachten Balalaika spielte – der plötzlich ähnliche Sprachstörungen auftraten. So etwas um- draußen, vor dem vorhanglosen Fenster, dessen Scheiben teil- florte das Bild ein wenig… Lenins Zustand verschlechterte sich weise durch kleine Holzbrettchen ersetzt waren, wurde es schon auch bald darauf, und er sollte sich nicht wieder erholen. Als er dunkel –, da erschien er mir keineswegs als einer jener ultramo- seine, ich glaube einstündige, Rede beendet hatte, brach starker dernen Konstruktivisten, sondern als ein Stück echten, alten Beifall aus, und gleich darauf verließ Lenin, von seinem Arzt Rußlands, wie aus einem Buch von Gogol, und ein melancholi- unterstützt, die Rednertribüne. Er soll meine Arbeiten geschätzt scher Humor war plötzlich im Zimmer. Ich habe ihn nie wieder- haben, besonders mein Buch »Das Gesicht der herrschenden gesehen und auch nie wieder von ihm und dem seinerzeit so viel- Klasse«. Er sah darin wohl ein weiteres Mittel, den verhaßten Ka- diskutierten »Tatlinismus« gehört. Er soll einsam und vergessen pitalismus zu zersetzen. Wie viele täuschte er sich über die Wir- gestorben sein. kung solcher Zerrbilder in jenem neuen Mittelalter, in das wir jetzt eintreten. Die Zeit der Karikatur als Instrument im Kampf für den

218 219 »Fortschritt« ist vorbei. Will man heute schon hetzen, so tut eine zug der Regierung kennen. Es war ein pompöser, ganz neuer Photographie mit passender Unterschrift sehr viel bessere Dienste. Eisenbahnzug. Die Lokomotive hatte vorne ein großes Emblem, Leo Trotzki hatte äußerlich mehr von einer sogenannten »Dik- Hammer und Sichel, mit großen Scheinwerfern beleuchtet. Die tatorenhaltung«. Als ich ihn damals sprechen hörte, trug er eine Wagen waren nagelneu, alles war erstklassig und sehr sauber, ganz einfach geschnittene Uniform aus dem lehmgelben Tuch der Papierblumen standen auf dem kleinen Tischchen am Fenster. Ich Roten Armee – keinerlei Orden, es gab damals auch nur wenige. teilte mein Coupé mit dem schon erwähnten Arthur Holitscher, Beim Sprechen hielt er sich sehr gerade; als glänzender Redner der einige gute Bücher über Rußland geschrieben hatte und einer wußte er, daß man beim Sprechen auch auf die Figur achten muß. der wenigen wertvolleren bürgerlichen Schriftsteller war, die sich Er machte im Gegensatz zu Lenin einen soldatischen Eindruck für die Sowjetunion einsetzten. Um Mitternacht durften wir Lu- und unterstrich seine Worte mit knappen Gesten. Er sprach rus- natscharski in seinem Abteil einen Höflichkeitsbesuch machen. sisch und ließ seine Ausführungen sofort übersetzen. Ich sehe ihn noch – immer wieder mußte ich auf seine kleinen Da- Radek lud mich zu sich in den Kreml ein. Er war ein sehr kluger menfüßchen blicken, die in kleinen, kokett wirkenden schwarzen Mann und wußte, wie man »Künstler« zu behandeln hat. So sah ich Schuhchen mit Lackspitzen steckten. Neben ihm saß ein echt rus- denn auf seinem Schreibtisch einige meiner Werke liegen, als hätte sischer Volkskommissar, ein richtiger Arbeitertyp, dessen Füße in er sich gerade mit ihnen beschäftigt. Natürlich sollte ich den Ein- groben, dicken Filzsoldatenstiefeln verschwanden, wie man sie so druck bekommen, als ob er, Radek, jeden Tag mindestens ein- bis häufig in Rußland sieht. Der Gegensatz dieser westlichen Schuh- zweimal darin blättere. Er sagte mir Schmeicheleien, und ich nahm chen und der derben russischen Stiefel erschien mir wie ein Sinn- sie demütig beglückt in Empfang – denn er war ein großer Mann bild. damals, und wir Künstler, ehrgeizig, wie wir nun einmal sind, wer- Lunatscharski – er war in kulturpolitischen Dingen immer sehr den ja sofort weich, wenn wir der Macht nahekommen; ob diese westlich ausgerichtet – versuchte, Brücken zu schlagen. Ich dachte Macht rot war oder eine andere Farbe hatte, das war, solange sie als dabei an Dostojewskij und Turgenjew, und an den Hohn, den Do- milde Sonne auf uns niederstrahlte, ganz gleichgültig. stojewskij über diesen westlich orientierten Schriftsteller in einem Ich brachte als Gegengeschenk guten englischen Tabak in Büch- seiner Bücher ausschüttete. Lunatscharski war ein sehr kultivierter sen mit, denn Radek war ein großer Pfeifenraucher. Hinter seinen Mann; er trat übrigens, wo er nur konnte, für die Bewahrung alter enorm dicken Brillengläsern blickten die Augen trübe, der Backen- russischer Kulturwerte ein – und das war damals gar nicht so ein- bart gab ihm etwas Biedermeierhaftes, man dachte an die Jahre und fach, denn eine gewisse nihilistische Strömung hätte gern tabula Menschen um 1825; im ganzen wirkte sein Kopf wie der einer selt- rasa gemacht und alle überkommenen Werte zerstört. samen neuen Art von Eule. Sein Studierzimmer im Kreml war vol- ler Bücher, Magazine und Zeitungen. Diese Zeitungen und Bücher, Wir sprachen über den sogenannten Proletkult, eine neu gegrün- diese Magazine und Broschüren aus allen Ländern der Welt benagte dete Organisation mit dem Zweck, von unten her, aus den Prole- er hie und da wie ein großer Käfer und fügte sie dann, verdaut, zu ten, eine eigene proletarische Kultur zu entwickeln. Der Name war Leitartikeln und Polemiken zusammen. schlecht gewählt; eine proletarische Kultur konnte es doch nicht Lunatscharski, den damaligen Volkskommissar für Bildung und geben, wenn man den Sinn des Wortes nicht grob verfälschte. Ent- Kultur, lernte ich auf der Fahrt nach Leningrad in einem Sonder- wickelte sich der Prolet nach oben, zur Kultur hin, so war er eben

220 221 kein Prolet mehr in dem Sinne, wie man bisher das Wort verstan- den hatte – denn dieses Wort bezeichnete ja gerade etwas Unten- stehendes, Ungebildetes, Gemeines im Gegensatz zum Gebil- deten. Der Proletkult fiel auch bald zusammen, weil man eben Talente und Begabungen auf kulturellem Gebiet, wie Dichtung, XII Mit wem ich umging Malerei und Musik, nicht von Klassen und vom Wirtschaftlichen, vom sogenannten Milieu, herleiten kann. Zum Künstler, Dichter und Maler gehört eben heute, wie immer, Begabung, aber die ist ch kam zurück in die Stadt, die für das nächste Jahrzehnt mein angeboren, ein Geschenk der Musen und nicht die Folge sozialer IDaheim sein sollte, bis New York an ihre Stelle trat. Das Berlin Umgebung oder unverbrauchter Volkskräfte. der Zwanzigerjahre wurde für mich fruchtbar und sehr faszinie- Mein Aufenthalt näherte sich dem Ende. Eines Tages bekam ich rend. Ich war damals geselliger als heute, immer neugierig auf in- die nötigen Papiere und fuhr auf einem kleinen Dampfer von teressante Menschen, unbekannte Plätze und ungewöhnliche Er- Leningrad nach Stettin. Wir hatten schwere See. Ich teilte meine lebnisse. Ich hatte Eva kennengelernt, bei Professor Orlik an der Kabine mit einem Grafen Zeppelin, einem jener merkwürdigen Kunstgewerbeschule, hatte mich in sie verliebt und sie geheiratet. Agenten, die damals so häufig zwischen Deutschland und Rußland Das war 1920 gewesen, und seither führten wir ein gastfreies Haus. hin- und herreisten. Er sagte, er habe Flugzeugmotore nach Ruß- Meine Mutter pflegte zu sagen: »Essen und Trinken hält Leib und land verkauft. Es war übrigens ein recht reaktionärer Herr. Seele zusammen«, und danach richtete ich mich. Meine Reise war kein Erfolg gewesen. Das geplante Buch kam Unsere Wohnung glich manchmal einem Bahnhof und oft einem nicht zustande. Ich war nicht enttäuscht, aber auch nicht gerade er- Wartesaal. Ich lernte ständig neue Menschen kennen, Freunde für freut über all das, was ich gesehen hatte. Den Splitter, der damals in einige Zeit, aber viele davon sind meinem Gedächtnis entschwun- meinen Augen saß, und mit dem ich die westlichen kapitalistischen den. Denn nicht jeder, den man trifft, kommt einem wirklich nahe – Länder sah, diesen Splitter wurde ich auch in Rußland nicht los. Es und wie wenige sind überhaupt richtige Menschen? Viele sind war kein Land für mich und meine Art, das fühlte ich deutlich. doch nur Schatten, nebelhaft und zerfließend. Manche sind aus Und da ich kein Proletarier war, konnte ich auch nicht »befreit« Gallert und schwanken beim geringsten Anstoß hin und her; an- werden. Man kann mich unterdrücken, man kann meine Arbeiten dere sind aus Lehm, weichen im Regen auf und fließen in die Erde. verbieten, man kann mich verhungern lassen oder körperlich be- Und die paar, die in der großen Fabrik aus Hartholz gemacht wur- strafen – meinen Geist kann man nicht unterdrücken. Man kann den, in denen ist dann auch noch meistens der Wurm drin… weder Gedanken ins Konzentrationslager sperren noch die Bilder in meinem Kopfe, und damit schalte ich natürlich als Anhänger Pascin in Paris: Licht, Stimmengesumm, Sommerabend am jedes Massenbefreiers aus. Für die Politik der Übermenschen habe Boul’Miche und Boulevard Montparnasse, Fremde aller Länder ich ein tiefes Mißtrauen, keine Liebe. auf den Terrassen, Teppichverkäufer… Die Zeit ist 1924. Die Bäume sind grün, wie gefärbt, grün wie der Menthe à l’eau. Es drängt und schiebt sich aus allen Nationen. Viele sind Amerikaner. In der Bar du Dingo sitzt ein amerikanischer Kunststudent, das seit

222 223 ewiger Zeit nicht benutzte Skizzenbuch unter dem Arm, die ganze machtest, sie mit einem angenäßten Streichholz rötlich koloriertest Benediktinerflasche am Munde – vielleicht ein früherer Cowboy. und von hinten leicht anräuchertest. Kleine, niedliche, obszöne Jazzmusik klingt aus den kleinen bunten Bars. Le Jockey hat eine Dingerchen, und so unheimlich geschickt, daß wir alle an Deinem gestrandete Schiffsbesatzung als Kapelle. Da sehe ich Pascin wie- Tisch staunten: was für ein Meister! Da saß Professor Orlik, der der… mein Lehrer gewesen; da saßen der Maler Levy, genannt Levy vom Eintretend, mich zwischen tanzenden Paaren durchzwängend, Dôme, der Deutsch-Franzose mit der väterlichen Baßstimme, und sehe ich zur Musik hinüber. Ein kleiner, schwarzgekleideter Mann, der Bayer Paul Thesing, der wie ein alter Korpsstudent und Säbel- den steifen Hut auf dem Kopf verrutscht, bedient das Schlagzeug. wetzer seinen Spazierstock an die Bordsteine schlug, weil er raufen Er spielt aber nur damit. Die Arme schwingen wie bei einer vom wollte und jemanden dazu brauchte, und der Bildhauer Ernesto di Alkohol gelähmten Puppe; gleich platzt einer, und Sägemehl oder Fiori und der Schwede Nils de Dardel. Hin und wieder saß auch Watte fällt heraus… Alles ist wie verschwommen hinter dickem Matisse dort und sah aus wie ein deutscher Professor. Zigarettenrauch. Der kleine Mann ist glücklich. Weil er betäubt ist. Aber das ist lange her, und Montparnasse war noch unentdeckt. Und betäuben wollte er sich, wollte von etwas fort, freiwillig fort. Du gingst dann nach Amerika, und nach dem großen Krieg war es Er lief in den Rausch hinein – wußte er, daß die Welt schon anfing, zwar viel lustiger und vielleicht auch ein wenig wilder, aber wir wa- sich zu verdunkeln? War das hier ein Totentanz, der Totentanz ren alle verändert. Oft zog eine geheime Sehnsucht Dich plötzlich einer Schmetterlingswelt? All die süßen, kleinen, bunten Schmet- fort; da hieß es dann, Pascin sei in Italien gewesen und habe Raffael terlinge, die dicken Totenkopfschmetterlinge, die gelben Zitronen- neu entdeckt… Zum letzten Mal sah ich Dich an einem jener falter – flatterten die noch einmal wie Motten um das zum letzten Abende, als wir die ganze Nacht hindurch von einem Lokal ins an- Mal hell strahlende Licht von Paris-Montparnasse? dere zogen, bis zum frühen Morgen, faire la bombe. Und immer Die Getränke schimmerten so süß und bunt, die Frauen rochen mehr Freunde und Anhänger kamen dazu, denn Du bezahltest wie aufgeblühte oder schon verwesende Blumen. Aber sie waren alles. Du warfst das Geld weg wie schmutzige Lappen, aber es flat- doch zauberhaft, wenn sie so halbnackt waren – waren sie das terte Dir immer wieder nach und in Deine Taschen zurück. Du nicht, Freund Pascin? Hattest Du sie nicht immer und immer wie- konntest es einfach nicht loswerden. Ich saß neben Dir; unsere der so dargestellt? Waren Deine Blätter nicht wie mit Schmetter- Köpfe schwammen in Musik und Alkohol, und mit Deiner leisen lingsstaub gemalt? (Aber einen kleinen ironischen Stachel hattest Stimme erzähltest Du mir dieses einzige Mal, wie es in Dir aussah. Du auch – Du, den ich oft wie einen seltsamen Mistkäfer sah!). Du Und nicht lange danach schnittest Du Dir die Pulsadern durch, wie lebtest ja selbst das Leben eines flatternden Schmetterlings. Ja, hier Du die schmutzigen Enden Deiner Manschetten abschnittest… warst Du zu Hause – kaum in Amerika, das Du so liebtest… Hunderte von Blättern kritzelte Deine unermüdliche Hand, Mit Walter Mehring wurde ich durch Theodor Däubler bekannt; aber Du kümmertest Dich wenig darum. Sie lagen überall ver- der brachte ihn eines Tages in mein Atelier, das damals in Südende streut, auf den Tischen und Stühlen Deines Ateliers am Boulevard lag und eher einer romantischen Höhle glich. Wir verstanden uns Montparnasse, Ablagerungen gleichsam, verstaubt und ungenutzt, gut, Walter und ich, vom Beginn unserer Freundschaft. Er war der wie ein Vogel Federn verliert. Ich sehe Dich noch, als Du 1913 im Sohn eines Berliner-Tageblatt-Redakteurs und hatte von seinem alten Café du Dôme kleine Zeichnungen auf Zeitungspapierfetzen Vater Witz, Sarkasmus und Berlinertum geerbt. Als ich ihn ken-

224 225 nenlernte, stand er ein wenig unter dem Einfluß futuristischer Und dann fuhr er nach Manhattan und lebte jahrelang im Schatten Dichtung, doch hatte er schon damals seine eigene Linie und sein der großen, kalten Häuser am Riverside Drive, die so ganz anders eigenes Talent für Tempo und dramatische Bewegung. Er war eine und doch ein bißchen so ähnlich aussahen wie die des Kurfürsten- gute Mischung: ein François Villon von der Spree, mit etwas Hein- damms im fernen, verschollenen Berlin von 1923… rich Heine versetzt. »Weiße mit Schuß«, würde der Berliner sagen. Nur lebte Walter nicht wie Villon im Schatten von Notre-Dame, Kurt Tucholsky hatte ich sehr gerne. Er war einer der wenigen, die sondern im Schatten der Gedächtniskirche und der geschmack- den wirklichen Berliner Witz verstanden und auch wirkliche Ber- losen, aber protzigen Häuserkulissen des Kurfürstendamms. Dort liner Dialoge schreiben konnten – ein Erbe Glasbrenners und des trug er seine Gedichte und Chansons vor – auf Friedrich Hollaen- vormärzlichen Humors. Und in einer Zeit, da der Humor in Berlin ders Bunter Bühne, in Trude Hesterbergs Kleinkunsttheater, in von oben befohlen wurde und säuerlich schmeckte, gab es solche Max Reinhardts Schall und Rauch. Für ein von Erwin Piscator Leute bald überhaupt nicht mehr! inszeniertes Ernst-Toller-Drama schrieb er das Chanson »Hoppla, Ich habe ihn in Frankreich besucht, wo er in Le Vésinet bei Paris wir leben!«, das überall Sensation machte und von links bis ganz wohnte. Wir verbrachten den Abend mit einer Gruppe von Fran- nach rechts Anstoß erregte. zosen, die den Herausgeber der Zeitschrift »L’Europe nouvelle« Er wurde viel nachgeahmt, und seine Nachahmer unterboten umgaben und von mir Zeichnungen brachten – nicht etwa des nicht immer seine Preise, wenn auch meist sein Niveau. Walter künstlerischen Wertes wegen, sondern wegen der vermeintlich an- Mehring hatte zum Chanson unserer Zeit etwas hinzugefügt, etwas tideutschen Tendenz. Mir war das nicht sehr lieb, denn ich hatte aus moderner Dichtung Stammendes, denn ein richtiger, versteck- meine schrecklichen Blätter nicht gerade gezeichnet, um einem ter Dichter war er auch. Eine dichterische Form, die in Deutschland französischen Chauvinismus Vorschub zu leisten. geschlummert hatte, wurde durch ihn wiedererweckt und auf eine Tucholsky liebte Frankreich, wie viele deutsche Intellektuelle neue literarische Höhe gebracht. Sein größter Schlager aber war jener Zeit; er glaubte immer noch an ein schon damals nicht mehr und blieb ein Seemannslied, das überall gesungen wurde. Wie man- existierendes Frankreich von 1793. Von Schweden aus, wohin er che Nacht saßen wir in der Taverne und grölten: sich schon 1929 zurückgezogen hatte, schaute er in die Zukunft. Und die war so schauerlich, daß er es vorzog, sie nicht mehr mit- Wir haben die ganze Welt gesehn, zumachen. Heute ist er auferstanden. Noch zur Zeit? Von Boston bis Trapezunt; Wir sahen Walküren, wir sahen Feen – Ein anderer Freund von mir war Bert Brecht, der in Deutschland Die Welt ist überall rund –! und sogar im Auslande durch Chansons und Balladen im alten Bänkelsängerstil bekannt wurde. Es waren wirkliche kleine Kunst- Ja, rund ist die Welt – und so durchfuhr Walter sie denn auch bald werke – wenn auch nicht so durchschlagend erfolgreich wie seine auf dem kleinen, immer dem Umkippen nahen Boot seiner Lie- von Villon und der altenglischen »Beggar’s Opera« angeregte, von der… Er fuhr nach Frankreich, das er von allen Ländern am mei- Kurt Weill vertonte »Dreigroschenoper«. (Eine Zeitlang hörte sten liebte und am Ende doch verlassen mußte, er fuhr über den man überall, wo man abends hinkam, seine Lieder: »Und der Hai- Ozean, ins sagenhafte Hollywood, aber das war nichts für ihn. fisch, der hat Zähne –« oder »Ein Schiff mit acht Segeln und dreißig

226 227 Kanonen« oder das beste von allen: »Nur wer im Wohlstand lebt, milde melancholisch wie die meisten Lyriker; er war gar nicht pas- lebt angenehm –«.) siv. Was er sagte, war stets originell und oft besser als das, was er Brecht war ein seltsamer Mann. Im Wohlstand geboren, begann schrieb, und obwohl er alles andere als ein farbloser Mensch war, er als expressionistischer Dramatiker. Seine Stücke »Baal« und liebte er das Graue, nicht das Undurchsichtige, sondern das nüch- »Trommeln in der Nacht« wurden von der jüngeren Kritik geprie- tern, unromantisch Graue des Theoretikers, Erklärers und Schul- sen. Seine Balladen machte er nebenbei und sang sie im Freundes- meisters. Er hätte gewiß an Stelle des Herzens gern einen feinen kreise, sich selbst sehr eigenartig auf der Laute begleitend. Er blieb elektrischen Zählapparat gehabt und an Stelle der Beine Speichen aber nicht im Expressionismus stecken, sondern beschäftigte sich wie ein Automobilrad. mit Aufklärung, Statistik und Sozialismus, um das, was er da ge- Er kleidete sich persönlich. Wie ein Mann, der viel mit Maschi- lernt hatte, in sogenannte Lehrdramen umzusetzen. Er schwärmte nen zu tun hat oder mit der Ölkanne unter Autos liegt, trug er stets für Pestalozzi und ließ seine Bücher wie Schulbücher drucken, da- eine dünne Lederkrawatte – ohne Fettflecke natürlich. Im Gegen- mit sie nach außen hin nüchtern und sachlich wirkten. »Ich satz zu anderen Westen ließ er sich welche mit Tuchärmeln anferti- schreibe Schulbücher«, sagte er mir einmal, »darauf kommt es gen; im Schnitt seiner Kleidung betonte er etwas amerikanisch heute an.« Auch seine Gedichte wurden immer schärfer auf Erzie- Sackartiges, wenn ich so sagen darf, mit wattierten Schultern und hung und Zweck eingestellt – denn es war damals in gewissen Krei- keilförmigen Hosen. (Richtige Amerikaner gingen natürlich längst sen Mode, nicht einfach hinzunehmen, was einer zu dichten oder nicht mehr in solcher Tracht. Nur in Deutschland wirkte sie ameri- auch zu malen hatte. (»Bevor Du die Medizin einnimmst«, sagte kanisch.) Er trug nie einen Hut, meist eine Ledermütze und bei man, »laß uns erst mal untersuchen, was drin ist und was für kühlem Wetter eine Lederjoppe. Ohne das mönchartige Gesicht soziale Bestandteile sie enthält…«) mit dem in die Stirn gekämmten Haar hätte er ausgesehen wie ein Brecht interessierten englische Schriftsteller und chinesische Chauffeur mit einem Schuß russischen Volkskommissars. Philosophen. Er las Swift, Butler und Wells, aber auch Kipling. Brecht war ein glänzender Autofahrer, einer der schnellsten und Alles, was er schrieb, verriet irgendeinen Einfluß. Er vertrat offen unvorsichtigsten meiner Bekanntschaft. In Langeland in Däne- den Standpunkt, man solle Vorhandenes ruhig benutzen, wobei er mark, wo ich ihn in den Dreißigerjahren besuchte, fuhr er ein ur- unter anderem auf Shakespeare hinwies. Das nahmen ihm manche altes Fordmodell, das man noch ankurbeln mußte, worauf es, wenn Kritiker und sentimentalere Kollegen sehr übel, aber ohne Erfolg, es überhaupt ansprang, heftig zu zittern anfing. Aber dem Brecht denn Brecht war ein intelligenter Mann, der genau wußte, was er war es völlig untertan und gehorchte ihm trotz Altersschwäche. tat. Er umgab sich auch gern mit Menschen, die nicht eigentlich zu Als ich ihn damals wiedersah, wie er in Arbeitsanzug und Leder- seinem Fach gehörten, wie zum Beispiel dem Boxer Samson-Kör- mütze neben dem schlotternden Ford stand, mußte ich laut lachen; ner – das erfrischte ihn und gab seinen Gedanken oft eine unlitera- es war wie ein Bild einer Brechtschen Varieténummer: »Bert und rische Originalität. sein komisches Automobil«, mit Kurbelmusikbegleitung. In seinem Zimmer hatte er eine große Landkarte, denn er dachte Ich denke gern an jene ferne Zeit und an unsere unvergeßlichen nicht nur an den Berliner Stadtplan. Er liebte die Moskauer Unter- »Gespräche im Wald von Langeland«. Noch war Frieden, wenn es grundbahn und war stolz darauf, daß die »Prawda« ein langes Ge- auch ab und zu am Horizont schon wetterleuchtete. Ich fuhr bald dicht von ihm auf der ersten Seite abgedruckt hatte. Er war nicht wieder zurück nach Amerika. Später kam auch Bert als Flüchtling

228 229 dorthin, auf dem Umweg über Rußland. Er ließ sich in Hollywood mitarbeiter waren Däubler, die Lasker-Schüler, die Maler Daw- nieder, doch gelang es ihm nicht, in dieser großen Maßschneiderei ringhausen und Mense, ich, der Dr. Friedländer, der unter dem einen Zuschneiderposten zu bekommen, obwohl er doch immer Namen Mynona Grotesken und Satiren schrieb, und gelegentlich für Maßschneiderei und die Umarbeitung des Menschen gewesen der Jugendbewegungsführer Blüher und der Pazifist Kurt Hiller, war… Nach dem Kriege ging er nach Deutschland zurück, mit der zum sogenannten »Aktivismus des Geistes« aufrief. einem amerikanischen Literaturpreis in der Tasche und dem Dank Als Wieland eines Tages wieder ins Feld mußte, trat ein neuer eines amerikanischen Untersuchungsausschusses für die Bereit- Mann der Redaktion bei: der Dichter und Gewaltmensch Franz willigkeit, mit der er schwor, er sei nie Kommunist gewesen. Jung. »Die Neue Jugend« bekam gleich ein anderes Gesicht. Sie wurde sehr aggressiv. Ihr neues Format war amerikanischen Zei- Wieland war mein erster Verleger. Schon vorher war er mein tungen entnommen, und Heartfield entwickelte aus Collagetech- Freund, und er blieb es, obwohl er mein Verleger wurde. nik und einer kühnen Typographie einen ganz neuen, äußerst amü- Er war klein von Wuchs, wie auch sein Bruder John Heartfield, santen Stil. Schwarze Zeigefinger standen zwischen willkürlich der »Dadamotor« der Dada-Bewegung; er hatte einen feinen Kopf verrückten großen und kleinen Buchstaben, daneben zwei ge- und trug, als ich ihn kennenlernte, sogenannte Ponyfransen. Diese kreuzte Riesenknochen, ein kleiner Sarg, eine schelmisch lächelnde und ein ihm eigenes, süffisant überlegenes Lächeln gaben ihm etwas Frau hinter einer Maske, ein Stück Ziehharmonika, ein Bleisoldat. Kokettes, aber wenn er, damals noch zur Schule gehend, mit seinen All das ergab einen Sinn, der das ungewohnte Auge schreckte und Büchern unter dem Arm der Straßenbahn nachrannte und sich im über einfache Klebekunststückchen hinausging. Es lag ein Stück Fahren auf die rückwärtige Plattform schwang, erschien er mir als Zeitgeist darin: so zerstückelt war unsere Welt! ein Bild jugendlicher Kraft. Für seine Freunde einzutreten war ihm Wir lachten wenig und weinten nur heimlich. Unser Ausdruck selbstverständlich. Sprach jemand respektlos über sie, so setzte es war ein herausforderndes Grinsen. Zwischendurch schrieb Jung oft Backpfeifen und kleine Schlägereien. Die Dichterin Else Las- Artikel voll anarchistischen Vitriols. Ich schrieb ein Essay: »Kannst ker-Schüler hatte ihn »Roland« getauft. Als ein bekannter Literat du radfahren?« und viele Varietékritiken. (Wir alle liebten die da- sich einmal über sie lustig machte, warf Wieland-Roland ihn aus maligen Varietés.) Unter dem Einfluß scharfer Getränke verliefen dem Café des Westens hinaus… unsere Redaktionssitzungen meist stürmisch. Ab und zu knallte Während des ersten Weltkrieges verlegte Wieland, wiederholt Jungs Revolver über jemand hinweg in die Wand oder ins Bücher- durch Einziehung zum Militär unterbrochen, eine literarische Zeit- regal… schrift: »Die Neue Jugend«. Darin veröffentlichte er Gedichte sei- Wieland hingegen war eigentlich Optimist. Er sah nicht nur ner Freunde, Gedichte von sich, Gedichte von mir und ganzseitige sich; er sah Massen antreten, die er in seiner Phantasie mit seiner Zeichnungen von mir. Er liebte meine Blätter und sah damals viel- eigenen Gläubigkeit und Noblesse begabte. Er kam immer mehr leicht mehr darin als ich selbst, denn er begann sich schon zum ins politische Fahrwasser, dichtete weniger, ließ Dada Dada sein Politischen hinzuentwickeln. Die Zeitschrift machte er allein. Er und gründete einen Verlag, der nach einem Roman der Lasker- trieb das Geld dafür auf und war stets auf den Beinen, in der Druk- Schüler »Malik-Verlag« hieß und fast alle meine frühen Mappen kerei, bei den verschiedenen Buchbindern – man mußte oft wech- und Karikaturenbücher brachte, sowie die Werke Leonhard seln, wenn Kredit und Gutmütigkeit erschöpft waren. Die Haupt- Franks, Upton Sinclairs, Maxim Gorkis und Tolstois. (Einer da-

230 231 mals grassierenden Unsitte zufolge beschnitt er leider manche sei- Auch an Gutkindt erinnere ich mich. Der wiederum war in erster ner Autoren, darunter Tolstoi und Goethe. Mir gefiel das nie; ich Linie mit Däubler befreundet und war einer der wenigen, die wirk- wollte immer auch die Stellen lesen, in denen ein Dichter etwa von lich die drei Lexikonbände des »Nordlichts« gelesen hatten; er der »Linie« des Verlegers abwich.) Auch die »Roten Malikbücher« konnte es auch auslegen und wußte bei jeder Zeile den geheimen, erschienen da, eine Sammlung von Freiheitsgesängen aller Zeiten mystischen Sinn, der sich in ihr verbarg. Mit seiner Frau, die einen und Länder. Madonnenscheitel mit einem Knoten tief im Nacken trug, wohnte All das hörte natürlich mit Hitlers Machtantritt auf. Wieland er in einem netten Haus in Neubabelsberg, ruhig, vegetarisch und wurde ein Flüchtling wie hunderttausend andere. Der große deut- kinderlos. War man mit Däubler dort, so vergingen Nachmittag sche Verleger mußte sich jahrelang als kleiner amerikanischer und Abend in Gesprächen über das »Nordlicht«, und bei sternkla- Briefmarkenhändler abplagen. Und doch: was lange währt, wird rem Wetter trat man ab und zu an ein großes Fernrohr, das im Zim- endlich gut. Heute ist er Professor… mer stand, und Gutkindt sprach über astronomische Probleme und höhere mathematische Berechnungen. Ein gewisser Ignaz Jezower war ein Mann aus demselben Kreis, Er mußte etwas Geld haben, denn er konnte sich ganz seinen mit dem ich mich bald anfreundete. Jezower hatte Geld, lebte in eigenen Neigungen und Studien widmen. Er war ein sogenannter einem Vorort und beschäftigte sich mit Literatur. Zeitweilig arbei- Privatgelehrter. Die Inflation muß ihn überrascht haben, denn ich tete er in dem alten Berliner Verlag von Richard Bong. Er kam aus sah ihn einmal am hellichten Tage am Café Josty vorbeigehen, in Polen und sprach von seiner Frau stets in der dritten Person mit eine andere Welt versunken und in Frackmantel und Cape geklei- Vor- und Zunamen. Er fragte niemals: »Haben Sie meine Frau ge- det. Es war damals nichts Besonderes, daß einer sich keinen richti- sehen?« sondern: »Haben Sie Trude Jezower gesehen?« Oder er gen, einfachen Mantel leisten konnte und deshalb seine frühere sagte: »Trude Jezower wird uns jetzt Kaffee machen. Langen Sie Ballkleidung auftrug – und doch erschrak ich, als ich Gutkindt so nur zu, Herr Grosz; Trude Jezower hat diesen Kuchen erst gestern abgehärmten Gesichtes in der Menge verschwinden sah. Wo mag abend gebacken!« sein Fernrohr jetzt sein? dachte ich. Und seine schönen Bücher? Es klang wie eine barocke, eigenwillige Form. Ignaz trug graue Versetzt, für ein paar Lappen wertlosen Papiers –? Gehröcke, wie sie kaum noch Mode waren, dazu rosafarbene Hemden und graue Gamaschen. Es lag etwas Biedermeierhaftes in Eduard Fuchs war ein ganz anderer Typ. Er hatte auch manches dieser grauen Tracht, als hätte Ignaz zur Zeit Jean Pauls oder von einem Käfer, aber von der Sorte, die immer etwas herum- E.T.A. Hoffmanns gelebt. Er wirkte wie ein großer, grauer Käfer. schleppt. Er war Sammler und besaß die größte Daumiersamm- Die tief heruntergehenden Gehrockschöße hätten tatsächlich Flü- lung in Europa, als Teil einer riesigen Karikaturensammlung von gel sein können – aber keine Vogelflügel, sondern Insektenflügel, vielen tausend Blättern. Fuchs sammelte alles Mögliche, Gutes und Käferflügel. Er sah manchmal aus, als ob er zu einem Kostümfest Schlechtes, doch seine Liebe gehörte Daumier. gehen wollte oder sich verkleidet hätte, um etwas zu verstecken. Da konnte er vor einer kleinen Daumierskizze stehen und fra- Merkwürdig. gen (er sprach süddeutsch): »Wisse Se, wo der Daumier immer Vielleicht war es auch nicht so merkwürdig. Denn er hatte ja ang’fange hat? Hajo – des wisse Se net – des könne Se aach net wirklich einiges zu verstecken… wisse…« Hier betrachtete er schief, ganz nah von unten nach

232 233 oben, das Daumierblatt und legte den Zeigefinger auf ein paar das vorchristliche Rom mit seinen Phalluskulten. Das Pech war, undeutliche Striche. »Sehe Se, Herr Grosz, sehe Se, der Daumier, daß seine Bücher ganz anders aufgenommen wurden, als es wohl hajo, der hat bei die Naas ang’fange, hat der, der Daumier – bei die seine Absicht war, obgleich ja auch diese sich nicht so eindeutig Naas«, fuhr er fast schreiend, als wäre man schwerhörig, fort, »bei feststellen läßt; denn ich zum Beispiel glaubte immer, daß er an die Naas hat der ang’fange!« Er strahlte mich an, über seine Ent- seinen Büchern den gleichen Spaß gehabt haben muß wie seine deckung triumphierend. Leser… Die Bücher hatten jedenfalls einen enormen Erfolg, vor Er hatte schlechte Augen, und das führte oft zu komischen allem durch die abgedruckten Bilder und die mitgelieferten Ergän- Situationen. Einmal zeigte er meinem Freund Fiedler und mir seine zungsbände, die noch deutlicher auf das Thema eingingen und Sammlung von Thomas Rowlandsons. Die Blätter waren, schon wirkliche erotische Abbildungen aus allen Kulturepochen West- der Reihe nach geordnet, aus dem extra dafür gemachten Kasten europas enthielten, bis zu gewissen Photographien aus unserer Zeit. genommen worden zu näherer Besichtigung, als Fiedler und ich Alles Material dazu hatte Fuchs im Lauf der Jahre fleißig gesam- beim Umwenden plötzlich auf eine recht eindeutige Rowlandson- melt und hob es nun in seiner von einem modernen Architekten sche Schaukelszene stießen. Wir sahen gleich, was da dargestellt gebauten Villa auf. Es war wie ein richtiges Museum; sogar im war. Fuchs beugte sich über das Blatt, hob es dicht vor seine Augen Badezimmer hingen Bilder, Kupferstiche, Handzeichnungen – eine und dozierte: »Des hier« – er wurde fast würdevoll, wie vor einem neben der anderen, vom Boden bis an die Decke und manchmal ganz unschuldigen Publikum – »des hier isch ein hocherotisches noch an der Decke. Und überall lagen geschickt versteckte Drähte, Blatt, isch des… Mache Se de Tür zu; Fraue brauche des nit zu an die man unbedingt rühren mußte um, wenn der Strom angestellt sehe!« Todernst erklärte er das Herstellungsdatum und noch einige war, die Polizei herbeizurufen, denn es waren ja unwiederbring- Details. Es war hochkomisch. liche Schätze, die hier lagerten. Eduard wurde allgemein »der Sittenfuchs« genannt wegen seiner Eduard Fuchs war eines der ganz wenigen wirklichen Originale immer wieder neuaufgelegten Sittengeschichte. Dafür sammelte er unserer Zeit. Ich bin froh, daß ich ihn noch gekannt habe. seine vielen Blätter und schrieb dazu dann einen populären Text mit allerlei Auszügen aus Büchern, Biographien, Gedichten, Me- Es gibt Mäzene und Mäzene. In einem früheren Kapitel sprach ich moiren und Werken der Philosophie und Medizin. Er wies nach, von meinem Freund Falk, der Unsummen an Krieg und Scheuß- daß alle Kunst auf Erotik beruhe. Wenn zum Beispiel Daumier sei- lichkeit verdiente und sie in Schönheit anlegte, der uns Künstlern ner Meinung nach jede Zeichnung bei der Nase anfing: »Hajo – des zukommen ließ, was er der Heeresleitung abnahm, und in dessen isch ein Symbol, isch des«, erklärte er. Doch gehörte er nicht zu der Haus ein Kommandierender General und ich, der Urlauber vom späteren psychoanalytischen Schule, die ja auch fast alles dem Ersatzreserveregiment, gemeinsam ins Klosett kotzten. Es gibt Sexualtrieb in die Schuhe schob, sondern er durchsetzte seine Er- aber auch geborene Mäzene. So einer war Lix… klärungen mit sozialer Bedeutung, als hätte ein fortschrittsgläubi- ger Sozialdemokrat sie verfaßt. Eine merkwürdige Mischung! Ich lernte Dr. Felix Weil durch unseren gemeinsamen Freund Mark Nacktheit, Sinnlichkeit und die tiefer damit verbundenen eroti- Neven Dumont kennen, der eines Tages mit einem verlockenden schen Kräfte waren für ihn etwas Schönes. In seinen Büchern we- Plan zu mir kam: »Böff« – das war mein Spitzname – »wie wär’s, nigstens hatte er nichts gegen griechisches Heidentum oder gegen wenn ihr ein paar Wochen mit mir nach Italien kämt, Eva und Du?«

234 235 »Wäre großartig«, sagte ich. »Aber wie? Bin nämlich gerade fen und durchnäßte Strohkörbe, wie sie um die Chiantiflaschen ge- etwas knapp; Du weißt ja, wie das geht – neue Wohnung und so…« flochten sind, um die Köpfe zu schlagen. Ich sehe ihn noch auf sei- »Wenn’s weiter nichts ist, da laß Dir keine grauen Haare wach- nem winzigen Balkönchen stehen, hoch über uns, die wir einer Boje sen,« erwiderte Mark. »Das sage ich Lix, und es ist erledigt. Der ist im klaren, blauen Mittelmeer zuschwammen, und mit lauter enorm reich – Weizen aus Rio, weißt Du – und Deine Sachen kennt Stimme vor den angeblich dort lauernden Haifischen warnen… er auch.« Und erst die Mahlzeiten, die uns in großem Stil im alten Refekto- »Kannst’s ja versuchen«, meinte ich. »Versprich Dir bloß nicht rium des Castello Brown serviert wurden, bei offenen Fenstern und zu viel, Mark. Jedenfalls nett, daß Du an uns gedacht hast.« Türen und im Mondschein lauer, fast unwirklich traumhafter Wenige Tage später kam jedoch ein eingeschriebener Brief: zwei Nächte! Fahrscheine nach Portofino an der italienischen Riviera, Schlaf- Lix hat der Stadt Frankfurt ihre Hochschule geschenkt und in wagen für Eva und mich, ein Scheck für kleine Reisespesen, ein New York ein sozialwissenschaftliches Institut begründet, mit paar liebenswürdige Zeilen. Ganz comme il faut, dachte ich, als ich einer Zweigstelle in Kalifornien, die ihn immer noch beschäftigt. noch hörte, Dr. Weil hätte für sich und seine Freunde das berühmte Später war er oft auch mir behilflich, wenn mein Weg als Künstler Castello Brown in Portofino gemietet. etwas zu steinig wurde. Ich malte ein lebensgroßes Porträt von Deutschland war damals noch immer auf Hungerrationen. Um ihm, das jetzt in seiner New Yorker Wohnung hängt, aber erst eine so mehr genossen wir im Züricher Bahnhofsrestaurant die heißen Zeitlang zusammengerollt auf einem Speicher lag, weil es in die Kasserollengerichte und bei Huguenin den Bohnenkaffee mit kleinen Räume unserer Zeit nicht paßte. Schlagsahnebaisers. Wohlgelaunt reisten wir weiter. Die Fahrt Von Zeit zu Zeit treffen wir uns noch mit ihm und seiner Frau über die Corniche war unvergeßlich. Wir hatten in Genua herrlich Helen. Bei ihnen findet man immer interessante Leute und interes- zu Abend gespeist, und nun zog ein altmodisches Pferdegespann sante Gespräche. Lix sieht nicht mehr so knabenhaft aus wie in uns durch die fast theatralische Szenerie der italienischen Dämme- Portofino. Heute trägt er eine Art Schnurr- und Spitzbart und hat rung. Ein schmiedeeisernes Tor ging auf, ein galonierter Diener etwas von einem El-Greco-Typ – nur weltlicher, möchte ich sagen. übernahm unser Gepäck. Dann begrüßte uns unser Gastgeber. Und um die Mitte hat er sich neuerdings etwas gerundet. Aber Er war ein hochgewachsener junger Mann, jünger als wir ihn uns wenn wir nicht aufpassen, neigen wir dazu ja alle… vorgestellt hatten. Er gefiel uns auf den ersten Blick, sprach nett von unserem Freund, dem Sittenfuchs, und seinen Forschungen und er- Alfred Flechtheim war mein Kunsthändler und gleichzeitig mein zählte begeistert von der sozialwissenschaftlichen Hochschule, die Freund. So ein Verhältnis ist vollkommen unnatürlich, aber wie er seiner Geburtsstadt Frankfurt am Main schenken wollte. Aber manchmal bei Hund und Katze machte in unserem Fall die Natur Lix war nicht nur ein an wirtschaftlichen und sozialen Fragen inter- eine Ausnahme, und wir vertrugen uns immer ganz gut. essierter Bücherwurm – diese Seite seines Wesens war mir so fremd Eigentlich war Flechtheim ein Fossil. Das heißt, er war einer der wie alle statistischen und spekulativen Gebiete, über die mich auf- letzten Überlebenden einer älteren, nun längst ausgestorbenen klären zu lassen ich gar nicht versucht bin. Er hatte auch etwas Kna- Kunsthändlergeneration, die in Kunst nicht nur Ware sahen und benhaftes und Verspieltes. Wir gingen zusammen schwimmen und sich oft überhaupt nicht wie Händler verhielten, sondern wie Mä- rudern und hatten unseren Spaß daran, einander über Bord zu wer- zene. Solche Typen gab es früher hie und da in Europa, damals, als

236 237 die Fürsten aufhörten, sich für lebendige Kunst zu interessieren, In diesem gemütlichen Hause lernte ich eines Abends »Svengali und reiche Bürgerliche und somit auch Kunsthändler an ihre Stelle Joe« kennen. traten. Es war dies der Spitzname des Regisseurs Josef von Sternberg Flechtheim war Kunsthändler, Kunstliebhaber, Mäzen, Samm- aus Hollywood, der Marlene Dietrich für den Tonfilm entdeckt ler und Spekulant. Er war ein »man about town«, der jeden kannte und weltberühmt gemacht hatte. Er verdankte den Spitznamen und überall zu Hause war; er war Zeitschriftenverleger (Begründer einem ironischen Berliner Kritiker, der fand, Sternberg habe wie und Herausgeber des »Querschnitts«) und Weltreisender, Gour- der unsterbliche Svengali die damals kaum bekannte kleine Schau- met und Gourmand, Weinkenner und Förderer des neuerstande- spielerin und Kabarettistin unter seinen Einfluß gebracht und sei- nen deutschen Boxsports, in dessen Auftrage ich damals Max nen geheimsten Wunschvorstellungen nachgebildet. Sein Einfluß Schmeling mit dem blauen Meisterschaftsgürtel malte. war so mächtig, daß sich Marlene nie davon befreien konnte oder Aus reichem Hause, in seiner Jugend zum väterlichen Getreide- wollte. Sie blieb verzaubert, eine lebendige Verwirklichung der handel bestimmt, legte er, wie er mir einst erzählte, die gesamte Sternbergschen Phantasie – seine Beatrice, wenn ich so sagen und Mitgift seiner Frau auf seiner Hochzeitsreise in Paris – es muß so einen Filmregisseur mit einem Dichter von Gottes Gnaden ver- um 1905 gewesen sein – in moderner französischer Kunst an. Zum gleichen darf. Schreck seiner Schwiegereltern kam er ohne einen Pfennig heim. Aber wenn man von Hollywood spricht, werden ja die Verglei- Dafür brachte er einen Haufen unverständlicher kubistischer Bil- che sofort dementsprechend. Später, als Svengali Joe längst nicht der mit, die außerdem noch schön und sogar wertvoll sein sollten. mehr mit ihr arbeitete, suchten gar viele andere Ritter, Prinzen und Aber seine Spürnase, die auch äußerlich enorm war, hatte ihn nicht Filmleute Marlenen aus seinem Bann zu erlösen, aber keinem ge- betrogen. Was er vorausgeahnt hatte, traf nach ein paar Jahren ein, lang es. Die Fee mit den schönen Beinen, die ja ein Stückchen des und seine modernen französischen Bilder brachten das Doppelte Sternbergschen Wunschtraums waren, mußte bis an ihr Lebens- und Dreifache der in ihnen angelegten Mitgift. ende dieselbe bleiben – im Film jedenfalls. Und ich stelle mir Sven- Im Gegensatz zu manchen ähnlichen Typen war Alfred kein gali Joe vor: hinter sorgfältig verhängten Fenstern in seinem Glas- Geizhals. Seine Privatwohnung war eigentlich eine intimere Fort- haus sitzend, inmitten eines magischen Kreises, ein lebensgroßes setzung seiner Galerie am Lützowufer; die Wände hingen buch- Bild seines Traums über sich, die dunklen Mächte beschwörend, stäblich von oben bis unten voller Bilder, meist moderne Franzosen, daß der Traum immer so bleiben und keiner außer ihm imstande denn die liebte er am meisten. (Auch ein paar deutsche Maler hingen sein möge, ihn zu verändern. da, aber die wirkten wie Stiefkinder und kamen nicht recht gegen Auf mich hatte Sternberg dadurch Eindruck gemacht, daß er die Franzosen auf.) Er war sehr gastfreundlich, und seine Diners auf seinen Photos in den illustrierten Zeitungen nie lachte. Das waren berühmt. Man traf dort immer einen Kreis interessanter fiel mir auf. Warum lacht er nicht? fragte ich mich. Alle seine Menschen, und wem die Menschen nicht behagten, der konnte sich amerikanischen Filmkollegen lachten doch immer, wenn sie sich an Speise und Trank gütlich tun. Neigte Flechtheims Kunstge- photographieren ließen. Hatte er Sorgen? Aber nein, das hätte ein schmack zum Ultramodernen, so übertrug er dies nicht auf seine so erfolgreicher Mann sich nie öffentlich anmerken lassen, und Tafel: bei ihm wurde nicht nach Kalorien und Vitaminen gegessen, ein Amerikaner schon gar nicht. Vielleicht war er eitel wie alle sondern man wurde noch mit altrheinischer Gastlichkeit bewirtet. Filmregisseure, kannte sein Gesicht genau und hatte festgestellt,

238 239 daß Lachen ihm nicht stand? Oder war er feinfühlig und anpassen- bloße Imitation einer europäischen Sitte. Er war eine Art Fetisch der Natur, hatte bemerkt, daß man in Europa und besonders in für seinen Besitzer, ein Zauberstock, der Glück brachte, wenn er Deutschland lange nicht soviel lachte wie in seiner Heimat, dem getragen, und Unglück, wenn er einmal stehengelassen oder ver- Land der Heiterkeit und des »Keep smiling«, und sah ein, daß hier- gessen wurde. Es hieß, daß sich eines Tages, während Josef einen zulande ein ernstes Dreinschauen würdiger wirkte als fortwähren- neuen Film drehte, jener merkwürdige Stock von selbst unsichtbar des Zähneblecken? gemacht hätte und trotz verzweifelten Suchens nirgends auffind- Was mich weiter an Svengali Joe beeindruckte, war seine Garde- bar gewesen sei. Und richtig: der Film fiel durch. Nachher sei der robe. Die menschliche Individualität, die heutzutage so geschätzte Spazierstock plötzlich wieder zum Vorschein gekommen. kleinere und größere Verschiedenheit des einen vom anderen, die »No – ich bin nicht abergläubisch«, sagte Joe, als ich einmal dar- man oft auch Persönlichkeit nennt, drückt sich häufig zuerst in der auf zu sprechen kam, »nicht im gewöhnlichen Sinne – aber, see Kleidung aus. Sternberg machte von dieser Regel keine Ausnahme. here, dieser Stock hat gewisse unerklärliche Fähigkeiten wie zum Seine Oberkleider waren nie ganz so, wie die allgemeine Konfektion Beispiel eine Wünschelrute – was ja der Ast, aus dem er gemacht sie hervorbringt. Selbstredend waren sie von erstklassigen Schnei- ist, einmal gewesen sein mag, ohne daß man es beim Absägen dern nach Maß gearbeitet, nur die Revers der Jacketts waren abwei- wußte. Reden wir lieber von etwas anderem«, fuhr er fort, »zu viel chend, als Schalkragen geschnitten und ohne das übliche Knopfloch sprechen zerstört das Geheimnis…« für die Ansteckblume. Auch trug er Westen mit Ärmeln von glei- In Babelsberg bei Berlin besuchte ich ihn im ufa-Atelier, wo er chem Anzugstoff, wie ich sie schon bei dem ebenfalls sehr indivi- den Tonfilm »Der Blaue Engel« drehte. Er ließ vor ein paar Freun- dualistischen Bert Brecht gesehen hatte. Darunter trug Sternberg den einige eben gedrehte Szenen daraus vorführen; dann nahm er weiche, weite, bequem geschnittene Hemdkragen mit langen, ein uns mit in den Raum, wo sein Gehilfe dabei war, einige Filmstrei- wenig heraushängenden Ecken. War er empfindlich gegen Druck fen zu »schneiden«. Den Gehilfen hatte er aus Hollywood mitge- am Halse? Modern und romantisch zugleich, war seine Krawatte bracht. Sie hatten beide Baskenmützen auf und dicke Wollshawls stets irgendwie »künstlerisch« gebunden, als wäre sie dereinst eine um den Hals, als frören sie. Von uns nahmen sie keine Notiz. Wie lustig flatternde Lavalliere am Halse eines kecken, freien Künstlers ein Zaubermeister und -gehilfe im Märchen, dachte ich mir. Sie un- aus der Zeit des Alfred de Musset gewesen. Eine verborgene, unbür- terhielten sich in einer unverständlichen Pfeifsprache, wie die gerliche Welt wurde dadurch dezent angedeutet, ohne die Gesetze Vögel. Und plötzlich bekam der Raum, in dem wir uns befanden, des gutgekleideten Gentleman zu sehr zu überschreiten. und alles darin etwas ganz Exotisches, Treibhausartiges. Er ging nie ohne einen Spazierstock, dieses letzte Überbleibsel Ein anwesender Freund von mir, ein richtiger Professor, der sich des einst von den Rokokokavalieren durch die Rocktasche ge- nebenbei mit Studien über Seelenwanderung befaßte, behauptete steckten Zierdegens. (In Amerika längst außer Mode, galt der später, jener Regieassistent müsse in einem früheren Leben einmal Stock in Deutschland immer noch als Zeichen eines »Herrn« – und ein Kanarienvogel gewesen sein. Als aufgeklärter Mensch hielt ich in Verbindung mit Handschuhen und Ledermappe als Zeichen das natürlich für glatten Unsinn. Dachte ich dann aber an das leise, eines Ex-Korpsstudenten, Generaldirektors oder Bergsteigers. Mit kanarienvogelhafte Pfeifen – und sonderbarerweise erinnerte ich einem Wort, er war ein Symbol von etwas Höherem.) In Stern- mich sehr oft daran –, so überkam mich doch ein leicht unheim- bergs Hand aber war jener einfache Spazierstock mehr noch als liches Gefühl, als habe der Professor recht gehabt…

240 241 Nun, wie gesagt, hatte ich Sternberg eines Abends bei Flecht- Ich saß Svengali Joe gegenüber und sah, wie es ihn verstimmte, heim kennengelernt. Sein Deutsch war besser als mein Englisch; er nicht ins Gespräch und nicht richtig zur Geltung zu kommen. Er sprach so gut deutsch, daß ich manchmal den Eindruck hatte, er wartete direkt fühlbar auf eine Gelegenheit, in vollem Glanz her- hätte eine Zeitlang in der Nähe von Wien gelebt. Ich wußte leider vorzutreten und zu zeigen, wer er war. Nach einiger Zeit stockte wenig von seinen filmischen Leistungen, aber ich hatte mich vor- momentan das Gespräch. Sternberg beugte sich über den Tisch – sichtshalber bei einem Freunde, der alle in Berlin aufgeführten sein Gegenüber war der fischköpfige, als geldgierig bekannte Bild- Sternbergschen Filme kannte, vorher danach erkundigt, und so hauer Rudolf Belling, der ihn sicher etwas Finanzielles gefragt war ich unterrichtet. Wir sagten uns beide Komplimente und faß- hatte – und sagte mit erhobener Stimme, so daß es auch keinem der ten sofort Zuneigung zueinander – ich, weil er mein »Ecce Homo« Tafelrunde entging: »Ich, dear Rudolf? Nein, ich verdiene gar nicht kannte und mich als Zeichner bewunderte, und er, weil ich das so sehr viel. Höchstens vielleicht dreimal soviel wie der Präsident »Künstlerische« seiner Filmregie so artig zu betonen verstand. Un- der Vereinigten Staaten.« ter Beteuerungen gegenseitiger Bewunderung setzten wir uns zu Wir hatten es alle deutlich gehört. Dem Mädchen, das eben Joes Tisch. Bei mir war natürlich ein Hintergedanke die Hoffnung, er Glas neu auffüllen wollte, blieb vor Ehrfurcht der Mund offen, werde mir eventuell etwas abkaufen, denn Joe sammelte Kunst. und fast hätte sie vorbeigegossen. Wir sahen Joe, der mit seinem Und zwar war er auch in dieser Hinsicht anders als die anderen: er Dessertteller beschäftigt war, überrascht und beeindruckt an. Dem sammelte moderne deutsche Kunst. Das war damals nicht allge- geldgierigen Bildhauer klappte das Kiemenmaul auf und zu, und mein üblich; wer reich war und die Marotte des Kunstsammelns man konnte förmlich seine neidischen Gedanken lesen: »Dreimal hatte, der sammelte in erster Linie Franzosen. soviel – dreimal soviel –«. Sternbergs Tischnachbarinnen kam es An jenem Abend war es wie immer bei Flechtheims: erlesene erst jetzt zum Bewußtsein, was sie da versäumt hatten, und meine Speisen, Weserlachs, ein wunderbarer, richtig gekühlter Mosel eigene Tischdame, eine langweilige, etwas maulfaule Bankiersfrau, dazu, ein extra servierter Rheinwein dazwischen, der Bordeaux stieß mich an und fragte leise: »Was hat er gesagt? Dreimal soviel zum Braten. Als Tischdekoration standen Plastiken der Renée wie der Präsident? Ja, womit denn? Ich dachte, das wäre so ein Sintenis auf dem Damasttischtuch, zwischen altem Silber und Künstler –?« Kristall, in dem das Kerzenlicht funkelte. Es war erstklassig, aber Ja, Svengali Joe war auf einmal interessant geworden. Das mit nicht etwa steif und langweilig. Der Wein tat bald seine Schuldig- dem Präsidenten hatte gewirkt. Sehr geschickt übrigens, weil jeder keit und brachte eine lebhafte Unterhaltung in Gang. Nur unser nun sich selbst fragte: »Wieviel verdient eigentlich der Präsident Freund Sternberg saß etwas verloren zwischen seinen zwei Tisch- der Vereinigten Staaten?« damen, die offenbar keine Ahnung von seiner Bedeutung hatten, Denn an Flechtheims Tisch saßen gar manche Großverdiener; zumal er, exzentrisch und eigenwillig wie immer, in einem salop- aber die hätten sich lieber die Zunge abgebissen, als offen zuzu- pen Anzug erschienen war und sie den Gast mit dem losen geben, was sie im Jahre verdienten, und dabei womöglich noch den Künstlerkragen und melancholisch hängenden Bärtchen auf der damaligen deutschen Präsidenten zu zitieren. Oberlippe sicherlich für einen tiefsinnigen jungen Maler oder vielleicht Musiker hielten. Bei Flechtheims traf man ja die merk- würdigsten Leute.

242 243 Freiheit und ein, oh, so prächtiges, wärmeres, besseres Über- morgen! Das waren die Themen, die in jener Zeit jeden angenehm bewegten und erregten. Überall disputierte man darüber, wie herr- lich es sein werde, wenn erst der neue Tag angebrochen sei. Der XIII Ein Märchen neue Tag, der schon einmal angebrochen war und viele Menschen befreit haben sollte, hatte ein wenig an Glanz eingebüßt, und so sah man denn häufig im Chor singende und im Gleichschritt sich be- s war einmal ein mann, der hieß Schulze. Da er in Deutsch- wegende Kolonnen junger, zukunfthoffender Menschen durch die Eland lebte, wo gar viele Menschen Schulze heißen, nannte er Straßen ziehen. Da Schulze von Vatersseite aus einer freiheitlie- sich zum Unterschied von den anderen Schulzes Schulze-Leipzig, benden Familie stammte – sein Vater war Soldatenrat im letzten denn in dieser Stadt war er geboren. Da er zudem kunstgewerb- großen Kriege gewesen –, war es nur natürlich, daß er alsbald vom liches Talent hatte, das heißt, ein wenig zeichnen konnte, wurde er Gesang gepackt wurde. Er spielte auch wunderhübsch auf der Gebrauchsgraphiker. Auf einer großen Schule in seiner Vaterstadt Zupfgeige und gehörte daher sofort zu einer der Gruppen, die so lernte er allerlei Nützliches, schnitt in Holz, lernte Buchtitel ent- schöne Freiheitslieder sangen und, den dicken Stock geschultert, werfen und Lampenschirme bemalen und konnte auch kleine soldatisch ausgerichtet einhermarschierten. Vignetten zeichnen, zum Schmücken von Büchern. Die vielfache Nachdem die Menschen nun einige Jahre marschiert waren und Beschäftigung mit ihrer Ausstattung hatte zur Folge, daß er auch in Gruppen oder einzeln für sich von Freiheit und Weltverbesse- gelegentlich in den Büchern las, für die er die Titelköpfe oder die rung gesungen und geträumt hatten, wurden sie der ewigen Frei- Anordnung der Schrift entwarf. heitsgesänge plötzlich müde. Auch standen über Nacht einige Es fügte sich, daß Deutschland damals das freieste Land der Welt sogenannte Führer auf, die als gute Menschenkenner einmal zur war, und da die Freiheit immer viel mit Büchern zu tun hat – man Abwechslung das genaue Gegenteil singen ließen. Und siehe da, kann sich Freiheit ohne Bücher ja eigentlich kaum vorstellen –, also die meisten Gruppen und Vereine merkten gar nichts, denn son- kurz und gut, unser Held las besonders gern in Büchern, in denen derbarerweise ließen sich ebenso gut auch andere Worte zu dersel- von Freiheit die Rede war. Dann sank ihm das Holzschnittmesser ben Melodie singen. Nur der Gleichschritt und der Knüppelstock aus der fleißigen Hand, und Schulzes Backen glühten vor Begeiste- über der Schulter blieben unverändert. rung über die feurigen Strophen der freiheitlich gesinnten Dichter Zu diesem Zeitpunkt beginnt eigentlich unsere Geschichte. und ihre flammenden Manifeste. Oder er saß bis in die späte Schulze war – zu seinem Unglück müssen wir es anführen – einer, Nacht, vertieft in die strengen, dogmatischen Auseinandersetzun- dem zwar die Melodie noch so gut gefiel wie ehedem, nicht aber gen der damaligen Hohen- und höchsten Priester des dialektisch- der neue Text. Er konnte ihn nicht leiden, und da sein Vater ein Sol- materialistischen Fortschritts, der seit hundert Jahren angesagt war datenrat gewesen war, fühlte auch er in sich etwas Rebellisches – und nun anfangen sollte. Ja, es gab ein Büchlein eines besonders wohl ererbt. »Schulze«, sagten seine ehemaligen Marschgenossen, großen Aufklärers, das Schulze immer mit sich herumtrug, um es »Schulze, mach Dich bloß nicht unglücklich mit Deiner Opposi- hie und da bei einer Auseinandersetzung mit unaufgeklärten tion!« Schulze wurde immer einsamer. Er ging viel im nahen Walde Freunden oder Zweiflern aufzuschlagen und anzuführen. spazieren und nährte innerlich einen tiefen Groll. Er zweifelte an

244 245 etwas, wußte aber nicht genau, woran. Er wurde auch individuali- und wenn ich die hundert Arten durchprobiert habe, fange ich stischer und las die Zeitschrift »Aktion«, die für die Abschaffung wieder von vorne an. So habe ich gesunde Abwechslung in meiner der Maulkörbe für Hunde in aller Welt eintrat. Mit einem Wort: Diät.« Schulze wurde verbohrt. Solche Gedanken hatte denn auch unser jugendlicher Held. Er Es traf sich außerdem, daß man plötzlich oft auch mit einer Mil- hob seine letzten Ersparnisse ab, die allerdings nur wenige Millio- lion Mark nichts mehr kaufen konnte. Denn es gab da irgendwo – nen betrugen, aber das Glück war ihm hold: In einem alten Anzug, es sollte im Rheinland sein, flüsterte man sich zu – einen Mann, der den ihm seine Schwester aus Kalifornien geschickt hatte, fand er war so mächtig, daß er alles, aber auch alles kaufen konnte, und zu beim Ausbürsten – er war bis zu seinem schrecklichen Ende ein dem kam auf unheimliche, mysteriöse Weise auch das kleinste sehr ordentlicher und sauberer Charakter – zufällig 25 amerikani- Stückchen Seife. Bei diesem Mann, hieß es weiter, gäbe es haushohe sche Cents. Heißa! Schulze war ein reicher Mann. Flugs wechselte unterirdische Gänge und Riesenvorratskammern, in denen meilen- er die Devisen um – das heißt, er kaufte erst noch einen leeren weite Reihen von Seife lagerten, Fässer mit der schönsten Molkerei- Waschkorb mittlerer Größe, denn die Summe, die er bei der Um- butter, kilometerweit Brote und Hunderttausende von Zucker-, wechslung bekam, war so gewaltig, daß eine einfache Reisetasche Kaffee- und Teesäcken und amerikanischer Büchsenmilch. Die nicht gereicht hätte. Nachdem ihm der Schalterbeamte noch zu sei- Leute sagten, der Mann, den niemand beim Namen nannte oder gar nem Glück gratuliert hatte, packte er den Waschkorb auf einen kannte, sei eben unermeßlich reich, und wer unermeßlich reich sei, Schubkarren und verließ guten Mutes seine Vaterstadt, um hinaus dem liefe eben der Zucker oder der Kaffee von selbst zu. Es gab je- auf das ersehnte Land zu ziehen. In einem zusätzlichen Koffer doch auch gelehrte Männer mit Brillen, die Tag und Nacht vor sta- hatte er alle seine Bücher. Da von den Gebrauchsgraphikern, die tistischen Tabellen und Berechnungen saßen, manche von ihnen nicht umgesattelt hatten, in jenen Jahren viele an Unterernährung sogar in der Regierung, und die bewiesen haargenau, daß das alles zugrunde gingen, sagte sich unser Schulze mit vollem Recht: »Ach, nicht ewig so weitergehen könne und ein nur ihnen verständliches die vielen Bücher nehme ich mit, vielleicht kann ich hin und wieder Geheimgesetz von ökonomischer Ebbe und Flut die Seifen, den mit den Bauern tauschen« – denn man tauschte in jenen Tagen all- Zucker, das Mehl, die Butter und die Büchsenmilch ganz von selbst gemein, womöglich sogar Eier oder Kartoffeln. Hungrig, wie ja wieder zu dem seit Jahren ungewaschenen, ausgehungerten und damals jeder war, sah er im Geiste die freundliche Vision eines ge- durstigen Verbraucher zurückführen müsse, wenn der nur noch waltigen, lieblich brutzelnden Bauernfrühstücks aus mindestens ein wenig warte und sich gedulde. sechs oder acht Eiern und drei Pfund Bratkartoffeln. Dies war die Zeit, die viele aufs Land ziehen sah. Da gab es Fel- Wie er nun hinauskam aufs Land, da war alles so schön grün, die der, auf denen Mohr- und Zuckerrüben wuchsen und die herr- Vögel sangen in den Bäumen, die kleinen Seitenwege waren mit lichste aller Früchte, die Kartoffel. Und ein jeder, der so hinauszog, lustigen roten Backsteinen gepflastert, und die Häuschen der Bau- sagte sich: »Während ich auf das Zurücklaufen der guten Sachen ern und Kleingrundbesitzer wirkten schmuck und sauber; in den warte, mache ich mich einstweilen selbständig und baue meine Fenstern standen nett bemalte ehemalige Konservenbüchsen mit Mohrrüben. Davon habe ich schönen Mohrrübenkaffee, und die all den bunten Blumen, die gerade blühten; karierte Laken und Zuckerrüben, die sind wie Koteletts, und jeder weiß, daß man Kar- blaue Arbeitskleidung flatterten überall, und dazwischen pickten toffeln auf hunderterlei Art bereiten kann – das gibt mir Auswahl, und gackerten Hühner. Das gefiel ihm gleich großartig. Er hatte

246 247 sich als geborener Binnenländer – Leipzig ist ja nur im Studenten- hende Möbel, die in ihrer noch schönen Gliederung und Verzim- lied eine Seestadt –, also er hatte sich für ein hübsches kleines Ost- merung von einem heute nicht mehr vorhandenen Stil zeugten. Die seedorf entschieden. Reich war er ja nun, dank der 25 amerikani- Bücher standen reihenweise in Regalen, und viele neue waren da- schen Cents, von denen er vorsichtigerweise nur 15 gewechselt zugekommen. Ein sonniger Bodenraum war als Atelier ausgebaut, hatte. Die restlichen 10 hatte er für ein paar Notmilliarden sorgfältig und das Handwerkszeug des Graphikers hing schön säuberlich ge- in sein Sacktuch eingeknüpft – also passieren konnte da gar nichts. ordnet an der hellblau gestrichenen Wand oder lag gebrauchsfertig Am nächsten Tage ging er auf die Häusersuche und kaufte noch am auf dem alten, soliden Holztisch. selben Nachmittag von einem uralten Bauern, der schwerhörig war Schulze war zufrieden und glücklich, war er doch eigentlich hei- und noch in einer vergangenen Welt lebte, für mehrere Milliarden terer Natur und, wenn auch rebellischen Wesens, ein an sich opti- Mark eines jener netten Ostseebauernhäuschen mit großen Bäumen mistischer Charakter. Hätte er die Gabe gehabt, in die Zukunft zu drum herum und einem leicht verwahrlosten Gemüsegarten dabei. blicken, die ja manchen Menschen verliehen ist, er wäre wohl vor Er kaufte es, wie es war, mit den alten, beschnitzten und verzier- Schauder erbleicht; aber da er ein durchaus aufgeklärter Mensch ten, vom Alter und den Seewinden gekrümmten und gebeizten war, glaubte er weder an Kartenlegen noch an Kaffeesatz. Leider Balken. Besonders erfreute ihn ein altertümlicher Türklopfer, denn glaubte er auch nicht an Gott – im Gegenteil. Seine Aufklärungs- als Gebrauchsgraphiker liebte er derlei ornamentale Dinge. Er war sucht und sein Freidenkertum schienen durch den Aufenthalt in da grundverschieden von den Bauern, die wollten ja alles neu und Gottes freier Natur, im Garten und an der See, nur zuzunehmen. poliert haben, obwohl sich einige Herren, die einen »Verein zur Man fragt sich, ob da vielleicht etwas im Seewasser oder in den Erhaltung alter Bauernhäuser und volkstümlicher Trachten« ge- Hühnereiern war, etwa ein Phosphor oder Jod oder sonst irgend- gründet hatten, vergeblich bemühten, den immer mehr aufs Städ- ein Salz oder Vitamin, das besonders auf die rebellischen Drüsen tisch-Moderne sich richtenden Geschmack der Dorfbewohner zu Einfluß nimmt? Das fragte sich Schulze wohl selbst. Denn wie je- heben. der Aufgeklärte pflegte er zu behaupten, der Mensch bestehe eben Die Dinge nehmen eben ihren unbeirrbaren Lauf. Noch war das aus Salz, Wasser und Eiweiß und einer Art elektrischen Leims, Schicksal Schulzen wohlgesinnt: er arbeitete im Garten; das weswegen denn auch ein verwesender Leichnam so süßlich nach Bäuchlein, das oft gerade Gebrauchsgraphiker durch vieles Sitzen Leim rieche. Schulze war allmählich durch das viele Lesen ein recht bekommen, verschwand; seine Haut wurde braun, seine Augen gebildeter Mann geworden. Es gebe da auch noch so etwas wie gewannen wieder die Fähigkeit, wie Katzen im Dunklen zu sehen, Komplexe und Verdrängungen, wußte er, die durch richtiges Aus- in seinem Garten gediehen Mohrrüben und Salate, Erdbeeren und sprechen erst mal erkannt und dann gedeutet und aufgeklärt wer- Kartoffeln, an den Büschen hingen die reifen Johannisbeeren, den müßten, dann erfolge die Heilung ganz einfach von selbst. munter scharrten die Hühner im drahtumspannten Hühnerstall, Eine Seele gebe es ebensowenig wie Gott; überhaupt entspreche die und eine zwischen zwei schönen Kirschbäumen gespannte Hänge- Auffassung des Menschen als einer reinen Maschine dem modernen matte lud zum Schläfchen im Freien ein. Es war friedlich, und die fortschrittlichen Weltbilde. Man solle da ruhig einmal unbeeinflußt Stadt war verblaßt, wie die unechte Farbe eines billigen Hemdes. den Blick nach dem Osten lenken, meinte er, und sehen, wie da in Möbel waren angeschafft oder teilweise voller List erhandelt wor- Rußland die Bauern sich unter dem wohltätigen Einfluß allgemei- den: alte, unbeachtet in Hinterzimmern oder Bodenkammern ste- ner Aufklärung von oben fast wortwörtlich in Maschinenteile ver-

248 249 wandelten. Das sei doch durchaus eine herrliche Weiterentwick- selbst, oder auch pensionierte Schiffskapitäne, die ihre Häuser und lung der Darwinschen Theorie und ganz zum heutigen Kultur- Lauben während der Sommersaison vermieteten. Die Fischer wie- bilde passend. derum waren ein anderes Kapitel; die wohnten in einem ganz an- Dem Wort »Kultur« gab Schulze, wie aus meinen Tagebuchauf- deren Dorf, das man in zwei Stunden mit dem Fahrrad erreichte. zeichnungen hervorgeht, eine besondere Betonung und meinte, er Schulze lernte einen dicken Arzt kennen, einen starken Alkoholi- fände den ewig menschlichen Ausweg rührend, wie dort in jenem ker, der immer halb im Rotweinrausch seine Sprechstunde in der »größten Experiment der Weltgeschichte« – diesen Satz habe ich Kneipe des Dorfes abhielt. War er betrunken, so legte er sich in der mir extra notiert – »selbst Kosenamen und Liebesworte vom Le- Sägemühle nebenan in das Sägemehl und schlief seinen Rausch aus. ben und Weben der Maschine abgeleitet« wurden. So hatte er von Von weitem, das stiebende Sägemehl aus der Nase pustend, sah er einem Mann, der dort weit unten im großen Magnitogorsk gewe- da aus wie ein verwunschener Walfisch auf dem Trockenen… sen, gehört, daß in Situationen, in denen man früher zu sagen Mit dem Arzt hörte Schulze eines Abends in der Dorfkneipe un- pflegte: »Du mein zuckersüßes Kätzchen« oder »Du mein kleiner ter der Petroleumhängelampe – Elektrizität gab es nicht – auch die Honigpopo, Du Schnuckelputz« und so weiter, es jetzt hieß: »Du Schauergeschichten eines damals unterirdisch in den Ostseedör- mein fein vernickeltes Schraubenschlüsselchen« oder »Du mein fern agitierenden patriotischen Geheimbündlers. Sie saßen in der starker Dampfpflug!« Er erwähnte eine ganz neue Schriftsteller- Hinterstube auf dem gemütlichen Wachstuchsofa und aßen das schule, in der dies auch theoretisch gelehrt werde, und sprach von Nationalgericht des Landes, warme geräucherte Flundern mit Salz einem Roman, in dem der ehemalige Bauer, der zum pflichttreuesten und köstlichem, dunklem Landbrot. Die Flundern wurden der und schnellsten Industriearbeiter geworden, sich auf dem Totenbett Sitte gemäß direkt mit den Händen aus dem Papier gegessen, und nach dem nicht vorschriftsmäßig funktionierenden Kran erkundigt: dazu trank man einen stärkenden Kartoffelschnaps, der schön »Genosse, was macht der Kran – ist – ist – ist er wieder in Ord- wärmte und angenehm zu Kopf stieg. Währenddem hörte man nung?«, bis sein Sohn hochatmend zur Tür hereinstürzt, dem ster- durch die halboffene Türe, wie die Franzosen unseren Agitator an- benden Vater zuschreit: »Vater, Vater, unser Kran arbeitet wieder!« gespuckt, seinen Mund als Aschenbecher benutzt und ihm zum und der Alte verklärt die Augen schließt: »Er arbeitet… dann kann Schluß unmenschlich den unteren Rücken vermöbelt hätten. Als ich ruhig sterben…« der Agitator nach feurig beendeter Rede seinen Rücken entblößte, Ich gebe das nicht nur deshalb so genau wieder, weil unser Held begann die Apothekersfrau leise zu weinen, und viele Frauen so dachte und solche Ideen und Spekulationen sein Innenleben weinten mit. Schulze erzählte mir später in seiner aufklärenden ausmachten (verzeih mir das Wort, Freund Schulze; Du hättest nur Art, es sei eine einfach tolle Hetze gegen Polen und Frankreich ge- gekichert: »Innenleben? Seele? Quatsch – zieht Blasen, das ist al- wesen, und so wirksam, daß er seinem Gott im Stehen gedankt les!«), sondern auch, weil gar viele damals so dachten. Jener Roman hätte, daß er und sein Freund, der dicke Dorfarzt, keine Polen oder war ein Zeitdokument, seine Wirkung gab der Zeit das Kolorit. gar Franzosen gewesen… Mit den Bauern in seinem Dorf traf Schulze schon zusammen. Der Arzt war, wie man vielleicht schon erraten hat, unglücklich Aber es stellte sich bald heraus, daß viele, die wie Bauern oder ge- verheiratet. Saß er so recht beim Rotwein oder Schnaps in jener wissermaßen verbauert wirkten, gar keine richtigen, waschechten Hinterstube, so erschien stets die leicht hinkende Frau Doktor – Bauern waren, sondern meist ebensolche Stadtflüchtige wie er sie praktizierte auch –, von Kopf bis Fuß schwarz angezogen, und

250 251 wandelte wortlos und ohne jemand anzusehen, einem griechischen ihnen. Paßte Schragen irgend etwas nicht, so riß er das große Tisch- Gespenste oder einer Ibsen-Figur gleich, durch den Raum und ver- tuch mit allen Tellern, Weinflaschen, Gläsern vom Tische, stellte schwand. Sie kam pünktlich auf die Minute jeden Nachmittag um sich laut lachend auf einen Stuhl und brüllte in den Festsaal: »Ich halb sechs. Schulze nannte sie nach einem Roman »die Geisterfee« sage nur, Schrage kann alles! Alles kann der, sage ich, nicht bloß ein und stellte seine vorgehende Uhr nach ihr, so regelmäßig kam sie. Schiff abwracken!« Dann mußten die Dienstmädchen und der Der dicke Doktor sagte natürlich kein Wort, bestellte aber immer Wirt alles wieder aufbauen, neue Tischtücher herausgeben, neues gleich nach ihrem Durchgang ein Rotweinglas voll Kartoffel- Essen auftragen, und dann fing das Ganze von vorne an. Das wie- schnaps, trank es in einem Zug mit zugeklappten Augen aus, derholte sich oft mehrere Male am Abend, und da Schrage alles in schüttelte sich und machte: »Brrr«. ausländischem Geld bezahlte, war man ihm eifrig ergeben und So verging der Sommer, und alles war nett und gut. Ach, Schulze, dienstbar, und er galt vielen als ein wunderbarer Herr. Schulze – wenn Du nur geahnt hättest, was die Zukunft Dir be- Schulze war anderer Ansicht. »Du siehst, mein Freund, schon scheren sollte, Du würdest noch selbigen Tages nach Leipzig zu- allein deshalb muß man das Geld abschaffen, weil es jeden Unsinn rückgekehrt sein! und jede Ausschweifung erkaufen kann und den Menschen zu Hin und wieder ging er auch ein wenig landschaftern. Ich besitze einem würdelosen Kobold erniedrigt« – also sprach er und bewies noch einen kleinen Holzschnitt von ihm: »Fischerboot im Wind«. damit so recht seine feine, taktvolle Gesinnung. War jedoch das Ge- Er zeichnete auch das »Einziehen der Lachsnetze«, wobei er den lage vorbei, so ließ Herr Direktor Schrage seinen Wagen anspannen Fischern selber half, und fertigte auf Bestellung Kopien alter Fami- und fuhr, auf die Pferde einhauend – es war ein leichter Zweispän- lienbilder und in einem benachbarten Hafen sozusagen auch Por- ner –, in wildem Tempo mit drei oder vier Saufkumpanen und träts von Schiffen an, das heißt, nicht ganz auf Bestellung. Er malte leichtfertigen Frauenzimmern den Ostseestrand entlang, manch- diese dänischen oder norwegischen oder Bornholmer Zwei- und mal auch spaßeshalber tief in die Wellen hinein, bis alle weidlich Dreimaster sauber ab und bot die fertigen Bildchen gegen däni- durchnäßt wurden. sches oder norwegisches Geld den Kapitänen an, die so ein Bild Schulze war, wie wir bereits gesehen haben, kein Schrage. Auch gern als Andenken mit nach Hause nahmen. So hatte er immer ein mit dem dicken Doktor verband ihn keineswegs nur die Rotwein- paar dänische und norwegische Kronen – und da es im Westen im- flasche, sondern eine Art gemeinsamen Diskutierens über Ideen. mer noch jenen sagenhaften Krösus gab, dem allmählich ganz Er hatte erfahren, daß der Arzt einem der damals überall bestehen- Deutschland gehören mußte, so bekam Schulze für jeden Cent den Geheimbünde angehörte, der auf einem versteckten Gutshof ausländischen Geldes viele Pfunde deutschen Papiers… heimliche Waffenappelle und Schießübungen abhielt und als sein Hin und wieder kamen seltsame Menschen in diesen Teil des Ziel die Befreiung des Vaterlandes aus den Ketten der Tyrannei, des Landes, die nannten sich Abwracker. Sie kauften gestrandete jüdischen Großkapitals und des Diktats von Versailles bezeich- Schiffe, ließen durch gemietete Arbeiter das Holz und alle Eisen- nete. Der Bund trug nach einem im geheimen Sabotagekampf wäh- teile zerlegen und machten das ganze alte Holz, Eisen, Messing und rend der Ruhrbesetzung erschossenen Mitgliede den seltsamen so weiter zu Geld. War das Schiff abgewrackt, gaben sie Riesenge- Namen »Schlagetot« – und darüber ließ sich selbstredend viel dis- lage, zu denen jedermann eingeladen war. Sie waren abenteuerliche kutieren. Der gutmütige dicke Doktor war keinesfalls ein Fanati- Figuren voller Lebenslust. Herr Direktor Schrage war einer von ker; er mußte aber dabeisein, weil ihm sonst der einflußreiche

252 253 Gutsherr, der Chef der Schlagetot-Bewegung, keine Patienten sogenannte »permanente« Literatur und war sehr stolz auf eine empfohlen hätte. Und ohne Patienten kein Rotwein. Goetheausgabe, die er von einem dialektisch gebildeten Professor Schulze begleitete den Doktor gelegentlich auf seinen Fahrten im Sinne der neuesten ökonomischen Aufklärungstheorien hatte zu Patienten. Und so sah er denn wieder ein Elend und eine Ver- kürzen und bearbeiten lassen. Dieser junge Verleger war neben sei- kommenheit, die man ansonsten nur in den ärmsten Bezirken der nem Idealismus ein guter Kopf und sah geschäftlich überall danach Großstädte antrifft. Er sah die häßlichen kleinen Zweifamilienhäu- aus, wo und wie er seine Bücher am besten vertreiben könne. Sein ser und sprach öfters mit den Bewohnern, die kaum etwas Besseres Wahlspruch hieß: »Ich bin erst zufrieden, wenn nicht nur jeder waren als einstige Leibeigene. Manche hatten, obwohl sie nur ein deutsche Arbeiter, sondern jeder deutsche Mann, jede deutsche paar Kilometer von der Ostsee wohnten, weiß Gott noch nie das Frau, jedes deutsche Kind schlechthin ein Buch von mir besitzt«. Meer gesehen, soviel Arbeit wurde ihnen aufgepackt. Am Fenster Und deshalb ließ er sich auch keine Möglichkeit entgehen, eines lagen die Bibel und ein abgegriffener landwirtschaftlicher Kalen- seiner Bücher dem Käufer näherzubringen. der; in einer alten Zigarrenschachtel stand das ausgetrocknete Tin- Damals kamen die sogenannten Bücherstuben auf – kleine, intime tenfaß, und der Federhalter mit der verrosteten Feder war offenbar Plätze, wo man nach Herzenslust in Büchern blättern konnte. Die jahrzehntelang nicht benutzt worden. Schulze fand dieses Stilleben jungen Buchhändler, die solche Stuben unterhielten, waren ange- typisch, eben was das Bildungsniveau dieser ausgebeuteten Leute nehme, verbindliche, gelegentlich aus anderen Berufen kommende anging, und Tinte und Feder erschienen ihm bereits als Bildungs- Leute. Man konnte mit ihnen plaudern, und sie boten einem sogar symbole. manchmal im Hinterzimmer Tee und Zigaretten an. Die Bücherstu- In Schulze verdoppelte sich allmählich der alte Rebellerich. Im ben trugen sinnige Namen, fast wie altertümliche Kneipen. Sie hie- Sommer kam natürlich eine Menge Gäste, viele davon aus soge- ßen zum Beispiel »Bücherbrille« oder »Goldschnittstube« oder nannten intellektuellen Berufen, und da sich bekanntlich gleich auch nur schlicht »Zum Einband«. Manche hießen »Die Rote Ecke – und gleich einander gerne zugesellt und Schulze ja auch eine Art fortschrittliche Bücherstube«; andere wieder waren obskurer und Intellektueller war, so bahnten sich bald neue Beziehungen an. Da deuteten in ihrem Titel nur ein wenig die Richtung der bei ihnen be- gab es Sozialreformer, die Nacktkultur betrieben, ohne Hut und in vorzugten Bücher an, wie etwa die »Drei kreisenden Ringe« oder ganz kurzen Hosen gingen und aus umgehängten, selbstgehäkel- »Strumitz – Wer liest, läuft – Sei kein Wurm und krieche!« ten Säckchen Nüsse aßen. Da gab es sozialistisch beeinflußte, So etwas hatte unser junger unternehmungslustiger Verleger im heimlich malende frühere U-Bootkapitäne, junge Musiker, die für Kopf, als er die Dorfstraße entlangkam. Er war ein Mann, der Hindemith schwärmten, heißblütige Lyriker und drogenessende seine eigene Tüchtigkeit hegte und pflegte, ja sich selbst auch ein Mitglieder eines modernen Künstlervereins. Eine fortschrittliche wenig bewunderte. Hatte er sich, vor ein Bücherstubenfenster tre- junge Dame turnte mit ihren Schülern nackt weiter unten am tend, erst einmal in der Scheibe gespiegelt, so sahen seine Augen Strande, und abends traf man sich und diskutierte oder saß im ganz stolz zuerst nur seine von ihm verlegten Bücher. Und da seine Dorfwirtshaus, vor dessen Tür eine schwarz-weiß-rot angestri- Bücher, wie gesagt, damals in fast jeder Buchhandlung im Fenster chene, ehemals englische Mine als Wahrzeichen lag. standen, wies er immer mit befriedigter Armbewegung darauf hin: Es fügte sich, daß eines Tages ein junger Verlagsbuchhändler aus »Sehen Sie, wieder eines meiner Roten Rucksackserie – wieder ein Hannover in das Ostseedörfchen kam. Er verlegte hauptsächlich Schritt vorwärts zur Sonne, zum Fortschritt! Sehen Sie nur das

254 255 Titelbild, das hat der Gebrauchsgraphiker Schulze alles aus alten allerlei zu erfahren: wie man hierorts über alles dachte, was so im Magazinen geklebt – jaja, mir gefällt’s gut – wie gefällt’s Ihnen?« Lande vorging, und ob man hier – und wer, wenn überhaupt – den Sein Verlag hieß der Rote Rucksackverlag, weil sein Besitzer sich Roten Rucksackverlag kenne. Die Unternehmungslust beflügelte von ganz klein emporgeschwungen hatte und man von ihm er- seine Schritte, er fand im Dorfwirtshaus schnell Schulzens Adresse zählte, er habe seine ersten Bücher eigenhändig per Fahrrad in heraus, und bald sah man ihn vor dem Häuschen, den Türklopfer einem rot angestrichenen Rucksack an seine Kunden geliefert. Wie schwingend. alle Männer mit genialen Ideen war er ein einseitiger Mensch. All- Schulze war zu Hause bei der Arbeit, war aber hocherfreut, den überall – im Wald, an der See, im Gebirge – sah er eine Buchhand- Verleger, von dem er schon allerlei gehört und der ja auch gelegent- lung vor sich, ein Schaufenster, und darin seine Bücher. Genau so lich sein Brotherr gewesen, nun persönlich kennenzulernen. Man ein Schaufenster sah er nun oben am Weg, der die Dünen entlang- trank Kaffee und Kornschnaps und besprach alles zur Zufrieden- führte. Es war ein völlig leeres Schaufenster und hatte früher zu heit. Schulze fand die Idee einfach großartig. Er meinte, man einem jener kleinen Geschäfte gehört, in denen man Andenken- schlage so zwei Fliegen mit einer Klappe: man kläre die etwas zu- krimskram kaufen kann: Muschelkästen, Seelöwen, die eine Kugel rückgebliebene Bevölkerung auf und mache gleichzeitig auch ein aus Glas balancieren, kleine Schippen für die guten Kinder, mit paar Prozente. Ehrenfried versprach, alles auf Kredit zu liefern; Krabben und Hafenansicht verzierte Blecheimer, Rettungsringe Schulze solle sich da vorläufig gar keine Sorgen machen, nicht im als Nadelkissen – kurzum alles, von dessen Anblick man sich so geringsten; die Abrechnung komme immer noch früh genug. gerne an die schöne Ferienzeit erinnern läßt. Wieso ein paar leere Der kleine Pavillon in den Dünen wurde also gemietet und Holzkisten, ein Packen schmutziger Holzwolle und ein Stapel zu- knallrot angestrichen. Denn Rot war nicht nur die Farbe der ge- sammengebundener Exemplare der »Zeitung für Hinterpom- kochten Krebse, sondern auch die der Aufklärung und des Feuers. mern«, die man durch die Scheibe sah, den Verleger plötzlich an Den Namen »Rote-Rucksack-Bücherdiele« malte Schulze eigen- Schulze erinnerten, wissen wir nicht. Vielleicht waren es die Zei- händig und sehr schön in Schwarz und Rot als Ladenschild auf die tungen in Verbindung mit der Holzwolle, denn unter dem Einfluß Türe und darunter: Hermann Berthold Schulze-Leipzig, Inhaber. – einer damals sehr bekannten kunstgewerblichen Klebeschule hatte Dieses war der Beginn einer Kette von Ereignissen, deren einzelne Schulze, der ja immer voran war, aus diesen Materialien das Titel- Glieder sich lose aneinanderreihten, deren letzter Sinn Zerstörung blatt für ein aufklärendes Buch des Roten Rucksackverlages über war und deren geheime, mit der Zeit nur in immer tieferes Dunkel die kapitalistische Holzindustrie gemacht. Herrgott, fiel es da un- gehüllte Kräfte wir wohl nie enträtseln werden. Sahen wir bislang serem Verleger ein, dieser Schulze lebt ja hier im Ort, wenn ich Schulzen wie auf einem modernen impressionistischen Gemälde nicht irre! Im Geiste sah er den leeren kleinen Pavillon schon wie- im hellen, zerstreuten Licht der Wissenschaft und Aufklärung er- der geöffnet, das blankgeputzte Schaufenster bis obenan sinnvoll strahlen, sozusagen im Sonnenlicht der Neuzeit, so wird nunmehr mit Roten Rucksackbüchern dekoriert – und da er Schulzen als seine Figur der Mittelpunkt eines in geheimnisvolles Helldunkel aufgeklärten, fortschrittlichen Menschen kannte, beschloß er, ihn getauchten und von Dämonen geklecksten Schreckbildes von Nacht aufzusuchen. und Untergang. Unergründlich schwarze Schatten huschten ab- Ehrenfried – so hieß unser Verleger – war ein Mann der Tat und wechselnd mit grellen Lichtern darüber hin. Es war, als habe eine schneller Entschlüsse. Gesagt, getan. Er hoffte dabei auch gleich verborgene Macht einen Fluch losgelassen, der blitzartig, obwohl

256 257 unberechnet von irgendwoher ins blaue Dunkle gefeuert, gerade schließen wollte, brach die Klinke mittendurch, und als er sich da- unseren Hermann Berthold Schulze-Leipzig getroffen. Aber grei- nach bückte, hörte er höhnisches Lachen. Er richtete sich schnell fen wir den Dingen nicht vor… auf und sah sich um, doch niemand war zu sehen. Schulze war also nun neben seiner Gebrauchsgraphik auch Schulze ging an den Strand, legte sich nieder und deckte sich, da Buchhändler geworden. In seinem Schaufenster lagen die hübschen es heiß war, mit einer mitgebrachten Zeitung zu. Geweckt wurde Holzschnitte und Radierungen von seiner Hand neben Reihen er unsanft dadurch, daß ein großer Mann in Badehosen ihm einen jener Roten Rucksackbücher, die soviel Fortschrittsonne ausstrahl- dicken Bambusstock in den Bauch stieß, böse schreiend: »Sie – ten. Den Ehrenplatz erhielt ein damals weltberühmtes Buch: »Im wollen Sie gefälligst aufstehen und mitsingen?« Westen nichts Neues«, eingerahmt von ein paar schwarz-rot-golde- Die Sänger sah man gerade den Strand entlangziehen, angeführt nen Bändern und Fähnchen. Zuerst fiel ein großer Stein ins Schau- von einem ebensogroßen Mann wie dieser hier, der Schulzes Zei- fenster. Dann fand Schulze ein Stück einer Gasröhre, an das ein tung, den »Berliner Aufklärer«, auf seinen Bambusfahnenstock Zettel gebunden war: »Für Dich, mein Freundchen, wenn Du gespießt hatte. nicht hören willst«, von unbekannter Hand auf seinem Ladentisch »Da seh’ mal einer her«, rief er, von neuem auf den lendenlah- deponiert. Nach ein paar Tagen, an denen nichts passierte, ging men Schulze einfuchtelnd, »deckt sich mit dem ›Aufklärer‹ das plötzlich gegen Abend das Gas aus, und als er eines Morgens vor Gesicht zu – na so was! Hast woll provozieren wollen, wie? Na, seine Haustür trat, lagen da Exkremente, als hätten zwei bis drei Dich werden wir schon kleinkriegen. Deckt sich mit dem ›Aufklä- große Hunde hier ihre Notdurft verrichtet. rer‹ zu, gerade wenn die Musik ankommt, das ist doch die Höhe. Viele, die er früher gut gekannt, sahen weg, wenn Schulze ihnen Geh nur nach Hause, sage ich, und sei froh, daß Du noch so gütlich auf der Straße begegnete. Als er am Geburtstage der deutschen weggekommen.« Republik als einziger die Kühnheit hatte, deren schwarz-rot-gol- Schulze war gar nicht so gütlich weggekommen. Man hatte ihm dene Flagge zu hissen, hörte er zufällig durchs geöffnete Fenster, eine Rippe eingestoßen, und sein Kopf war erschüttert und be- wie ein wild aussehender, bärtiger Mann in grüner Kleidung, die nommen. Verreisen wollte er aber nun erst recht nicht. Das Flinte über die Schulter gehängt, erklärte: »Ich schwöre bei mei- Schlimme war, daß er etwas Anlage zum Märtyrer hatte – nämlich nem Bart, daß dieser Herr seinen Dreckfetzen noch einmal eigen- eben jene Märtyrertugend, die andere Menschen dazu bringt, einen händig herunterholen wird!« Was meinte der Mann wohl? zu demütigen und zu verprügeln. Es wurde immer dunkler. Legte Ging Schulze nachts aus oder durch die Dünen nach Hause, so er zum Beispiel am Strande eine sogenannte Sandburg an (er liebte glaubte er hinter sich Tritte und Stimmen zu hören. An einer dunk- das, denn er war ja im Grunde ein ganz kindlicher Mensch), grub er len Straßenecke traf er einmal einen seiner Freunde; der sah sich also eine Kuhle – eigenartig, am nächsten Morgen stank der Sand scheu um und flüsterte Schulzen zu, er solle doch auf Urlaub ge- und das Wasser im Graben auch. »Leider stinkt er, der Schulze«, hen, eine Weile zur Erholung verreisen – er habe gehört, daß hörte er einmal von einer Frauenstimme, aber auch diesmal war Schulze krank sei und an Halluzinationen leide. Am nächsten niemand zu sehen. Mißtrauisch roch Schulze an sich selbst. Er Morgen war sein Schaufenster mit einem braunen, stinkenden Brei stank nicht. beschmiert, ebenso die Türklinke. Als er mühsam mit Dünengrä- Schulze setzte sich auf einen Stuhl. Die Lehne gab nach, er fiel sern und Blättern den Brei einigermaßen entfernt hatte und auf- hintenüber und brach sich den Unterarm. Der Doktor erschrak

258 259 sichtlich, als Schulze hereinkam. Er verriegelte die Tür, horchte Also blieb man ziemlich lange beieinander und war den Umstän- zum Fenster hinaus, ließ die Vorhänge herunter, dämpfte seine den entsprechend fröhlich. Stimme: »Sagen Sie um Gotteswillen niemandem, daß Sie bei mir Am anderen Morgen wollte sich Schulze in die Hängematte waren!« und setzte beschwörend hinzu: »Und fahren Sie doch ein legen. Bums – pardauz – und er lag unten in einem Haufen mit stin- bißchen nach Leipzig. Ich meine es gut…« kendem Brei bedeckter Glasscherben. Es schien ihm, daß sie sehr Schulze blieb. sorgfältig mit Gras bedeckt gewesen sein mußten, denn er hatte Eine schwarzhaarige Freundin, die bei ihm wohnte, ging nachts nichts gesehen, und nach Dung roch es damals ja sowieso noch auf dem spitzen Dach spazieren und war außerdem eine Hexe, die überall auf dem Lande. die umgebenden Hühner und Kühe verwünschte und den Schwei- Er ging ins Haus zurück, um die verunzierte Hose auszuziehen, nen den Rotlauf anhexte. Schulze wußte davon nichts, bis einer und eben als er sie heruntergelassen hatte, klopfte es energisch an der wenigen Freunde, die er noch hatte, es ihm erzählte. Der der Vordertür: »Herr Schulze, machen Sie sofort auf, im Namen Freund versicherte höflich, er glaube es zwar auch nicht, obwohl des Gesetzes, oder ich muß Sie verhaften!« Schulze, kreidebleich an sich solche Dinge ja schon vorgekommen sein sollten. Tatsache noch und wütend von seinem Fall, öffnete. Da standen der Gen- sei, sagte er, daß die Dorfbewohner davon sprächen; sie hätten es darm und zwei Förster, alle mit ihren Fahrrädern und umge- auch schon dem Förster und dem Pfarrer erzählt, und der Förster schnallten Revolvern. hätte gesagt, er habe von seinem Großvater noch ein paar silberne »Kommen Sie mit, und zwar sofort, zum Landrat. Wenn Sie sich Kugeln… widersetzen, muß ich Sie fesseln oder von meinem Dienstrevolver Schulze blieb. Gebrauch machen – also fügen Sie sich im guten. Pfui Deibel, Es beunruhigte ihn schon, aber er blieb dennoch. Er fing etwas stinkt das aber hier«, sagte der eine Förster. mehr zu trinken an, manchmal schon vormittags. Einige Freunde »Kein Wunder bei so einem Landesverräter«, fügte der andere waren ihm angeblich treu geblieben: ein verkrachter Lehrer, der hinzu. Hühner hypnotisieren und, wenn angetrunken, Heine auswendig Schulze – er wußte als Buchhändler genau, was man in solchen zitieren konnte, ein ehemaliger U-Bootskapitän, der Nichtraucher historischen Augenblicken der Demütigung zu sagen hat – sagte war und nebenbei malte, zwei schwarzhaarige junge Tanzschüle- nur: »Ich bin bereit, meine Herren, und muß mich wohl fügen«. rinnen, die sich von rhythmischer Gymnastik ernährten, und ein »Du hast Dich hier gar nicht zu fügen, Du hast das Maul zu hal- materialistisch aufgeklärter stellungsloser Redakteur, der einen ten«, sagte der Gendarm. Brief von Romain Rolland besaß. Mit diesen feierte Schulze seinen Der Landrat, ein gemäßigt aufgeklärter und gemäßigt fort- Geburtstag. Das Grammophon ging noch, Gott sei Dank, und ein schrittlicher Mann, der der damaligen Regierung nahestand, emp- paar Platten waren auch noch ganz. Man aß, trank Kornschnaps fing Schulzen mit hochgezogenen Augenbrauen und erhobenem und tanzte nach den Klängen einer damals sehr erfolgreichen Ka- Zeigefinger, indem er sagte: »Aber Schulze, Schulze, was hört man pelle. Der verkrachte Lehrer trug ein wenig angedudelt Heine vor denn da nur für Sachen! Sie bringen ja nicht nur sich und mich, und erzählte von seinen hypnotischen Erfolgen bei Hühnern. Der nein, unser ganzes, gutes Dorf in Verruf. Sind Sie sich denn eigent- Redakteur, etwas ängstlicher Natur, wollte beim Austreten hinter lich klar, daß das, was Sie da treiben, Landesverrat ist – jawohl, dem Hause Schritte gehört haben, aber gesehen habe er niemand. Herr Schulze, ich betone extra: Landesverrat – und daß darauf

260 261 Zuchthaus steht, Herr Schulze? Na, nun setzen Sie sich mal hin musik gespielt wird, das lassen wir hier lieber auch unerörtert. und dann werden wir Ihre Aussage zu Protokoll nehmen. Aber die Höchst merkwürdig, Herr Schulze, daß ein deutscher Mann heut- Wahrheit, bitte ich, die reine, klare, preußische Wahrheit – denn ich zutage an nichts anderes denkt, als sich an seinem Geburtstag kann auch grob werden, Herr Schulze, und Freunde haben Sie ja amerikanische Negermusik vordudeln zu lassen. Und hat nicht sowieso nicht mehr allzuviele. Dühling, Sie nehmen das Protokoll außerdem ihr Freund, der Redakteur Wirrnitz, die Internationale auf. Also Sie haben doch da, Herr Schulze, so ’ne kleine, so ’ne, wie gesungen und bolschewistische Gedichte rezitiert?« soll ich denn das nennen –« »Herr Landrat, es war das Gedicht von den gefangenen Grena- »Herr Landrat gestatten, daß ich unterbreche, eine Geburtstags- dieren und dem Kaiser –« feier war es. Es war mein fünfundzwanzigster Geburtstag, und »Aha, von dem Juden Heine. Na, das sagt ja genug. Das wird da –« wohl auch das letzte Mal sein, den Wirrnitz kennen wir ja schon »Ich habe das Wort, Herr Schulze. Reden Sie nur, wenn Sie lange –« gefragt sind. Also Sie haben da ’ne – na schön, nennen wir’s mal Das Protokoll wurde abgefaßt und unterschrieben und Schulze Geburtstagsfeier gehabt. Waren da nicht auch Mädchen dabei, für dieses Mal noch entlassen. Herr Schulze?« Vielleicht wäre es besser gewesen, man hätte ihn gleich dabehal- »Sie meinen die beiden Tänzerinnen von der Strohkorkschule?« ten. Alles, was er von nun an tat, bekam einen doppelten Sinn. »Soso, sehen Sie mal an, sogar Tänzerinnen – ist ja sehr interes- Spielte er heimlich hinter geschlossenen Läden einen amerikani- sant. Also fünfundzwanzig Jahre sind Sie geworden? Na, ich muß schen, damals beliebten Schlager, so hörte es das ganze Dorf, und ja sagen, zu meiner Zeit waren bei meinem Geburtstage keine Tän- die Tanzrhythmen wurden in den Ohren der Umwohnenden zu zerinnen dabei. Haben Sie das, Dühling, mit den Tänzerinnen? – etwas Provokativem, Landfremdem und Staatsfeindlichem. Alles Herr Schulze, da haben Sie doch auch, wie mir berichtet wurde, wurde in dämonischer Weise verwandelt. Schulze fing über Nacht Grammophonmusik gemacht? Der Förster Nietracht, der in der zu altern an. Die Schläfen des Fünfundzwanzigjährigen ergrauten Nacht auf dem Fahrrad an Ihrem Hause vorbeifuhr, sagt, es hätte wie Eis. Jeder Tag war voll unbekannter und unvorhersehbarer ganz so geklungen wie russisch. Was sagen Sie denn dazu, Herr kleiner Schrecknisse. Kalk fiel von der Wand, Geleimtes hielt Schulze?« nicht, Bilder purzelten herunter, Tische und Stühle fingen an, be- »Es kann gar nicht russisch gewesen sein, Herr Landrat, denn denklich zu wackeln, und das Brot verschimmelte schon beim An- ich besitze gar keine russischen Platten –« schneiden. Schulzes Wohnung wurde plötzlich feucht, und auf »Aber russische Bücher besitzen Sie doch, wie? Das wollen Sie dem Fußboden, der sich mit einem Male senkte, bildeten sich doch nicht etwa abstreiten?« kleine grüne Tümpel, in denen nachts kleine Frösche quakten. »Die Platte, die da gespielt worden ist, Herr Landrat, das ist eine Der Pavillon in den Dünen war längst aufgegeben und vom Ver- berühmte amerikanische Musikkapelle, die Revellers – die sind mieter mit starken Brettern vernagelt worden. Sonderbarerweise jetzt sehr bekannt und werden überall gespielt –« verblaßten eines Sonntags die bis dahin so schönen Einbände der »Erstens mal, Herr Schulze, ob derartige, na ja, Musik sehr be- Roten Rucksackbücher und nahmen eine fade grünrosa Farbe an. kannt ist, will ich dahingestellt sein lassen – ich kenne sie jedenfalls Manche platzten, wenn Schulze darin blätterte, wie giftige Bowist- nicht. Und was das ›überall‹ angeht, wo solche degenerierte Neger- pilze. Einmal krachte ihm die schwere Eichentür auf den Kopf, die

262 263 Scharniere komplett vom Rost zerfressen. Das Ende nahte. Die gend genau so zu lassen, wie sie zu Urzeiten gewesen. Schulzen Petroleumlampe brannte nicht mehr an; das Petroleum war wie war es plötzlich, als habe er lange, lange schon hier gelebt, eigent- dünnes, stinkendes Wasser. Die Hühner legten keine Eier mehr, lich immer, wie im Traum. Nebel hing überall. Und die Revellers und manche fand man mit kleinen Schlingen um den Hals, als hät- spielten. Ein Fahrrad fuhr an ihm vorbei, drohend, gespenstig, ten sie sich selbst erdrosselt. Die Obstbäume gaben kein Obst stumm. Schulze ging und ging. mehr. Als Schulze einmal nach Kartoffeln buddelte, hielt er nur die Er wurde nicht mehr gefunden. Nur ein Kind fand einmal ein verwelkten Blüten und Blätter in den Händen. Die Kartoffeln kleines hölzernes Schiffchen, darauf stand, offenbar mit einem schienen wie mit einem Messer fortgeschnitten und die losen Sten- Taschenmesser eingekratzt: »Es ist zuviel.« gel dann sorgfältig wieder eingepflanzt. Eines Mittags stürzte ein Stück Hausgiebel ein. Ein fremder Schiffszimmermann, der von allen Geheimnissen dieses Dorfes nichts wußte und somit gegen den bösen Blick gefeit war (auch hatte er gute norwegische Valuta), sah sich die Bescherung an. »Aber die Balken waren ja noch wie neu!« sagte er zum müde resignierenden Schulze. »Gute, dicke Eichenbalken, die hätten nochmal 300 Jahre gehalten. Wissen Sie, daß drei dieser Balken glatt durchgesägt worden sind, Herr Schulze? Oder glauben Sie etwa auch an den Sägekäfer, der Ihr Haus langsam, aber sicher zer- nagen wird, wie die Dorfbewohner mir sagten?« Der Zimmermann sah mit seinem braunen Bart fast wie eine biblische Figur aus. Er sagte noch: »Lassen Sie doch alles stehen und liegen, packen Sie ein paar Sachen zusammen und kommen Sie mit mir aufs Schiff. Ich bringe Sie schon durch, und drüben bei uns können Sie nochmal neu beginnen. Morgen abend stechen wir in See.« Und er fügte hinzu: »Wenn der Sägekäfer im Haus ist, Herr Schulze, dann ist es höchste Zeit. Ich kannte da mal einen Kapitän, da war auch der Sägekäfer drin – im Schiff, meine ich –, und weg sackte es, einfach ihm unter den Füßen weg; die Planken fielen aus- einander wie Streichhölzer. Prost, Herr Schulze«, sagte er. Der gütige Bote ging. Das Schiff fuhr ohne Schulzen. Am näch- sten Morgen ganz früh – es regnete und roch so süß und heimlich nach nassem Laub, fast wie auf dem Kirchhof, und kein Vogel sang – ging Schulze in den Darß hinaus. Alles wucherte dort auf einmal wild durcheinander, denn die Regierung hatte befohlen, diese Ge-

264 265 Dies war mein Traum: Ich biege in eine Nebenstraße ein. Es geht bergab – nicht steil, aber doch merklich; man verlegt immerhin ein wenig sein Ge- wicht. Die Straße wird enger und plötzlich auch dunkler, wie be- XIV Luftveränderung schattet von einer großen Hand oder von Wolken – nein, es kommt mir vor, als sei da auf einmal eine Hochbahn hinter mir; es saust und dröhnt auch – natürlich, das macht die Straße so dunkel. Wie ft fragt man mich: »Ja, Herr Grosz, wie konnten Sie denn beim Gleisdreieck, denke ich im Weitergehen. Oalles so genau vorher wissen? Und wie kam es, daß Sie recht- Aber wie ich zurücksehe – da war nämlich eine Uhr –, ist keine zeitig aus Nazideutschland fortgingen? Hatten Sie Informationen Hochbahn da. Die Häuser, alle ohne Balkons, stehen ein wenig oder hatten Sie eine Vorahnung? Haben Sie vielleicht eine Wahrsa- schief. Merkwürdig. Ich meine, Himmel sieht man nicht – weder gerin befragt oder sich die Karten legen lassen? Ist Ihnen das Buch Mond noch Sterne, gar nichts –, vielleicht sind die Häuser auch be- des Sehers Nostradamus in die Hände gekommen? Wieso haben sonders hoch… Na gut. Das Licht ist kalt, weiß mit Preußisch- Sie sich gerade noch vor Torschluß davongemacht – sechs Wochen Blau. Ausgesprochen kalte Töne sind das, ein wenig ins Grünliche nach Ihrer Abfahrt fiel ja die Tür ins Schloß, der Reichstag brannte, spiegelnd. Übrigens muß es hier geregnet haben, vielleicht wurde und alle Menschen, die wie Sie auf der Liste standen…« auch einmal gesprengt; es fühlt sich glitschig an unter den Füßen. Was geschah jenen Menschen? Sie wurden von der damals so Man rutscht ein bißchen. Ist es Leim? Vielleicht eine Leimfabrik stark regierenden Volksmacht gepackt, eingesperrt, gequält und und deren Abwässer. Es klebt ja sogar, man bekommt kaum die oft sogar dem unbekannten, aber desto mächtigeren Volksgotte Füße hoch – unerhört, daß so etwas von der Obrigkeit geduldet geschlachtet. Denn die Blutopfer – obwohl ein wenig anders wird! ausgelegt – waren von den Massen wieder verlangte und geliebte Im Vorbeigehen sehe ich links in ein Fenster zu ebener Erde. In Zeichen ihrer eigenen Unterwürfigkeit geworden. Die Lustge- dem gelblich beleuchteten Viereck erkenne ich eine Art Frauen- fühle der Angst, des Getretenwerdens, des Erniedrigt- und körper. Das Hemd ist weiß und ganz unmodern mit blauen Bänd- Beherrschtseins erfaßten beinahe jeden, als die neue Zeit an- chen durchzogen – klar erkennen kann ich es nicht. Es ist ein Bild brach. ohne Schärfen, ohne Konturen, wie ein willkürlich verwischtes Mich erfaßten sie nicht, denn ich gehöre nicht zur Masse. Nach Ölbild. Ja, da hat jemand achtlos, ohne es zu wissen, seinen Anzug schweren Kämpfen gelang es mir, aus dem amorphen, wesenlosen daran abgewischt. Vielleicht war der Maler auch unzufrieden mit Haufen, dem auch ich einst angehörte, herauszukriechen. Und so seinem Ölbilde. Ich verweile aber nicht länger… beginnt denn auch die Geschichte, warum ich Deutschland recht- Herrgott, klebt der Leim an meinen Schuhen! Ich muß mich ja zeitig verließ, mit einem Traum, in dem mir eine höhere Macht, ein anstrengen, richtig mit Kraft ziehen, um die Füße zu setzen… Na, unbekannter »Mechaniker«, ein Zeichen gab. Oder ist das alles da ist ja endlich die Türe. Eine der Türen, will ich sagen, denn es schierer Unsinn, nichts als elektrischer Leim, der Blasen wirft, gibt hier mehrere. Ich zähle ein ganzes Dutzend, und da hinten oder eine Geschichte, die man bei einem Glas Bier an der Theke er- geht’s immer noch weiter. Die Straße freilich stoppt hier, sie endet zählt? in Türen. Aber es sind Gott sei Dank keine Haustüren, gewöhn-

266 267 liche Zimmertüren sind das – also die sind ja sowieso offen. Schlüs- von, wenn man nicht aufpaßt, denke ich; also gehe ich mal einfach sel habe ich nämlich nicht. Wer sollte mir auch Schlüssel gegeben da lang, sozusagen der Nase nach… Hätte ich mich vielleicht doch haben? Ganz abgesehen davon, daß ich hier niemand kenne und, noch einmal umsehen sollen? Ach, Quatsch. Wozu denn? Diese außer jener völlig verwischten Frau gegenüber, auch niemand da Türe führt zum Gang. Ich lese ein Schild: Curt Hodapp, Bürsten- ist, den ich eventuell um Schlüssel bitten könnte. macher. Kommt mir mächtig bekannt vor. War ja ein Mitschüler Ich will mich ja hier auch nicht zu aufdringlich benehmen. Ich von mir an der Oberrealschule! Aber daß der ausgerechnet hier bin also noch auf der Straße; da ist ja der Rinnstein… Ich drücke wohnt… die Klinke herunter und bin in einer Art Passage zwischen großen Die Tür führt in einen dunklen Gang. Also beileibe nicht ste- Schaufensterscheiben. Hier müssen sicherlich mal Kaufläden ge- henbleiben, sage ich mir, ganz ruhig weitergehen… Habe ich denn wesen sein. In einem der Schaufenster, das heißt dahinter, liegt eine die richtige Tür aufgemacht? Jetzt ist keine Zeit mehr für weitere alte Frau im Bett und strickt an einem ungeheuren Strumpf. Ihr Überlegungen, aber daß ich die Türen vorher nicht so genau be- Sohn, oder gar ihr Mann, das muß ein Riese sein – acht bis zehn merkt habe – da sieht man doch, wie schlecht unsereiner beobach- Meter groß. Womöglich arbeitet er im Zirkus. Aber der dicke tet. Die Straße muß tiefer liegen als gewöhnliche Straßen; alles ist Wollstrumpf (aus Hasenwolle) fällt unten, wo sowieso alles ins so ein bißchen kellerartig. Aber ganz tief liegt sie auch wieder Halbdunkel übergeht und unerkennbar wird, wieder auseinander. nicht, denn unter mir müssen noch andere leere Räume sein; es Die eben gestrickten Maschen lösen sich – von selbst, denn wer klingt so eigentümlich hohl beim Auftreten. In diesem schlauch- sollte sie sonst auflösen? – lösen sich von selbst auf und steigen artigen Durchgang schimmert ganz hinten etwas Licht – da geht es durchsichtig hoch, wie Blasen im Wasser… ins Freie, denke ich, da geht’s raus – richtig, der Gang führt ein Ich sehe nun auch, daß das Zimmer, wenn man das Schaufenster wenig schräg nach oben. Also doch ein Keller… überhaupt so nennen kann, feucht zu sein scheint. An der Schau- Sollten das Fässer sein, links und rechts? Könnte sein. Ein fensterscheibe tropft Wasser, wie bei einer beschlagenen Brille. Das Weinkeller, vielleicht. Aber wenn ich mir dann die arme alte Bett der alten, ehrwürdigen Frau nimmt den ganzen Raum ein. Es Dame da unten in ihrem feuchten, verschimmelten Bett vorstelle ist einfach riesig. Vielleicht schläft der Riese darin, für den sie den – man erinnert sich ja so leicht an Häßliches –, nein, ich kann mir enormen Hasenwollstrumpf strickt… Schimmel ist an der Wand, nicht denken, daß dies ein Weinkeller ist. Das sind eben nur das kann man wohl sagen. Jetzt sehe ich auch, daß sogar die Bett- Kübel, große Kübel, die hier aufbewahrt werden. Die Feuchtig- laken verschimmelt sind – denn die Flecken da können nichts an- keit macht, daß diese Kübel nicht in sich zusammenfallen, das ist deres sein, grünliche und bräunliche Flecken sind es – natürlich, da es. Genau das. tropft es ja auch von der Decke in einen alten, verbeulten Email- Hauptsache, ich komme erst mal hier heraus. Mir ist, als habe ich topf, den ich vorher gar nicht bemerkt hatte. Wie ungesund die hier keinen Sinn mehr für Entfernungen und als sei ich schon einmal wohnen! Es können ja auch arme Leute sein, denke ich, die an so hier gewesen; aber das muß unaufgeklärt bleiben. Ziemlich myste- etwas gewöhnt sind… riös alles; aber da tut ja die schlechte Beleuchtung – nämlich gar Die alte Dame hat mich bis jetzt komischerweise nicht bemerkt. keine, bis auf das bißchen Licht da hinten – das Ihre dazu. Wenn Ich gehe also lieber gleich weiter. Aber ich finde auf einmal die Tür ich nur eine Taschenlampe hätte! Die Schritte tönen ungeheuerlich, nicht mehr, durch die ich hereingekommen bin. Das kommt da- der steinerne Fußboden und der Kellerschlauch werfen ein Echo,

268 269 was mich übrigens nur beruhigen kann, denn da fühlt man sich Händen winkend. Einige Fensterläden öffnen sich bereits, und doch nicht ganz so einsam… mehr getrocknete Fische fallen heraus und um mich herum – wie Menschen gibt es hier ja wohl überhaupt nicht. Vielleicht ist die Herbstblätter, denke ich, obwohl der Vergleich nicht recht Sonntag, und die sind alle auf dem Feld zum Fußballspiel. Trotz- stimmt – wie die Herbstblätter. An mir vorbei, auf mich herunter dem werde ich den Verdacht nicht los, als folge mir jemand oder ich fallen sie. Schon werden meine Schultern von den fallenden Fischen werde hinter den Kübeln hervor beobachtet, immer aus dem glei- gestreift, einer bricht im Fallen mitten durch, und ein stinkendes, chen Abstand… Ich denke aber doch, es sind leere Weinfässer, ein- grätiges Stück Rückgrat bleibt an meinem Anzugstoff hängen. fach weil mir dieser Gedanke sympathisch ist. Wie ich im Freien bin Mehr Fensterläden gehen auf, und es regnet buchstäblich Fische und mich erst mal an das Licht gewöhne, mich blinzelnd umsehe, von allen vier Ecken des Hofes – doll… erkenne ich einen viereckigen Hof, mit Kopfsteinen gepflastert, Jetzt wird es mir selbst zuviel. Schon reichen mir die getrockne- zwischen denen langes Gras hervorwächst. Ist da jemand? Nein, ten Kadaver bis zum Knie; das Proviantamt muß ja wieder mal zu hier ist niemand. Ringsherum haushohe Wände, darin Fenster, aber vollgepackt gewesen sein. Einfach oben reingeschüttet hat man die mit Holzläden von außen zugemacht. Jetzt plötzlich bemerke ich Fische, ganz unsinnig, wie in eine Kiste, und nun halten eben die auch den faden Geruch. Also eine Fischtrocknerei ist das hier. Fensterläden den Druck nicht mehr aus. Anzeigen sollte man den Na so was – nein, halte mal – richtig, das ist ja Sturms Proviant- Proviantmeister! Ich wate förmlich durch die getrockneten Fisch- amt! Sturms Proviantamt ist das! Aber das ist doch schon so un- leichen… Hatschi! Wie das in der Nase kribbelt, da muß man ja endlich lange her, als ich ein kleiner Junge war. Ich versuche, den niesen, wahrhaftiger Gott – schöner Dreck, dieses Proviantamt. einen Fensterladen zu öffnen; die Riegel geben auch nach, und ein Na, und wie ich erst schön stinken muß! Aber vorsichtig sein… ziemlich großer, bleicher, gelblich vertrockneter Fisch fällt mir Ich steige mit diesem Entschluß die Wendeltreppe hinauf, dem entgegen. Aber pfui Deibel – der lebt ja noch! Ich sehe, wie er sich kleinen Mann in Schwarz folgend. Da bemerke ich erst, daß das bewegt, obwohl man das Fischgrätenskelett durch die lederartige Proviantamt eingegraben gewesen sein muß (sonst könnte ich Haut schimmern sieht. Wahrscheinlich eine optische Täuschung. doch kaum zur ebenen Erde hinaufsteigen!) wie eine versenkte Aber der Fischgestank wird unerträglich. Auch wird es plötzlich Festung – gegen Fliegerangriffe, sage ich mir, oder weil es so warm… stinkt… Aber solche Fragen darf ich jetzt nicht stellen, denn kaum Da erst sehe ich in der einen Ecke drüben eine sich nach oben stecke ich den Kopf über die letzte Treppenstufe, da kommen auch windende Wendeltreppe, wie bei einem Aussichtsturm. Ein klei- schon Kohlenstücke geflogen. Aha, denke ich, ich werde also hier ner, schwarzgekleideter Herr in einem sogenannten Tanz- oder schon erwartet. Aber ein bißchen unhöflich ist der Empfang; ist Diplomatenanzug, mit schwarzen Borten an Jackett und Hosen doch merkwürdig, daß man dich hier mit Kohlenstücken bewirft, und einem steifen Hut auf dem Kopf, springt äffchenhaft von Stufe denke ich. Dann fällt mir plötzlich ein, daß all dies vielleicht einen zu Stufe die sich spiralig windende Treppe hinauf. Er winkt mir doppelten Sinn haben könnte. Vielleicht bedeuten die Kohlen- dauernd lustig zu: »Kommen Sie mit«, höre ich ihn rufen, »kom- klumpen etwas… men Sie um Gotteswillen – beeilen Sie sich, bevor es noch mehr Ich merke auch, daß ich ja gar nicht das Ziel bin, nach dem hier stinkt…« Immer höher und kleiner werden sehe ich ihn, in grotes- geworfen wird. Darüber bin ich natürlich ein bißchen enttäuscht: ker perspektivischer Verzerrung, mit den weißbehandschuhten bin also gar nicht so wichtig, sieh mal an… Um mich noch mehr zu

270 271 verwirren, vermisse ich plötzlich meinen neugekauften Hut. Hatte Als neunjähriger Junge war ich von der Lektüre von Coopers »Le- ihn doch noch auf, als ich die eiserne Wendeltreppe heraufgerannt derstrumpf« so begeistert, daß ich das ganze Buch vom »Letzten kam – komisch, die Treppe ist auch nicht mehr da! Es war also ein Mohikaner« hintereinander fein säuberlich in Rundschrift ab- Fahrstuhl, keine Wendeltreppe – die Bilder verschieben sich so schrieb. Das Buch hatte mir ein Freund geliehen, dem ich es leider schnell –, wo nur der verdammte Hut geblieben ist? Meine Schuhe wieder zurückgeben mußte. Ich aber liebte diese Indianerge- kleben am Boden wie in heißem Gummi; alles aufgeweicht, komme schichte, ich wünschte sie ganz für mich allein zu besitzen und da- kaum vorwärts… rin lesen zu können, wann immer ich wollte – also schrieb ich sie Was ist denn das? Der bärtige Mann dort – ja, Herrgott noch ein- ab. Ich saß auf unserem Balkon, der wie ein Vogelkäfig über Eck an mal, das ist aber wirklich die Höhe – wirft nach mir mit großen der Fassade des häßlichen Mietshauses klebte, in dem wir damals in Kohlenstücken! Ist ja toll, wo hat er die nur her? In hohem Bogen Berlin wohnten. Unter mir verchwanden Straße, Kohlenplatz und kommen sie angeflogen, wie mit der Schleuder, und der Mann, der Schule; ich war weit fort, war mit dem Kundschafter bei den India- sie wirft und übrigens noch dazu lacht, sieht genau aus wie Lenin. nern, bei dem edlen Greise Chingachgook und seinem Sohn und Oder ist es etwa Eduard Fuchs, der sogenannte Sittenfuchs und Erben Unkas. Ich sah den tapferen Major Hayward, den einfälti- Daumierkenner? (»Wisse Se, der Daumier, der Daumier, der fing – gen Prediger und Mabel und Cora von den schrecklich bemalten hajo, der fing an bei die Naas, haha – hajo, bei die Naas hat der Irokesen bedroht; an meiner Hüfte hing ein Pulverhorn, ein Jagd- ang’fange…«) Ich will ihm gerade zurufen: »Hör mal«, will ich ru- messer stak in meinem Gürtel, und eine lange Kentuckyflinte, das fen, »hör mal, Eduard, laß doch das, hier mit Kohlenstücken zu Schloß sorgsam gegen Nässe umwickelt, lag in meiner Hand. Die- werfen« – aber in dem Augenblick ändern sich Eduards Gesichts- ses Buch von James Fenimore Cooper war das erste Stück Ame- züge, und es ist nicht mehr der Sittenfuchs, sondern Kurt Birr, und rika, das ich in mein Herz schloß. Kurt ruft mir laut und deutlich zu, ich höre es noch: »Warum gehst Aber auch die große, ein wenig ausgebleichte Photographie Du nicht nach Amerika?« – liebte ich, die an der Wand hing. Sie zeigte einen mächtigen Damp- Ich erwache und erzähle den ganzen dummen Traum meiner fer auf der Fahrt nach New York; mit rauchenden Schornsteinen Frau. Kaum sitzen wir beim Frühstück, da klingelt es, und der passiert er eben den Rotesand-Leuchtturm. Dies Bild, so hieß es, Depeschenbote bringt ein Telegramm aus Amerika! Es ist abge- hatte ein Onkel von mir einmal zurückgelassen. Näheres über den sandt von der »Art Students League« in New York. Sie bitten mich Onkel konnte ich nie erfahren. Man schwieg ablenkend, gab mir darin, nach New York zu kommen und den Sommer über an ihrem aber zu verstehen, daß er einmal auf jenem Schiffe nach Amerika Kunstinstitut zu unterrichten. Also habe ich im Traum eine Art gefahren sei. Es war geheimnisvoll und schön, sich da unter den Voraussicht gehabt – denn woher die Stimme? Es war das erste kleinen Pünktchen an Bord einen Onkel vorzustellen, wie er da so Telegramm, das ich bekam. Warnte mich da jemand? Doch nicht nach Amerika fährt… die Sekretärin der »Art Students League«, der war der Sinn der Ge- Amerika war noch das »freie« Land in den ersten Jahren des schichte völlig verborgen. Aber wer? zwanzigsten Jahrhunderts. Dorthin wanderte man aus, wenn es zu Heute weiß ich, daß eine bestimmte Kraft mich aufsparen wollte. Hause zu eng wurde, wenn man nicht zwei oder drei Jahre dienen Wozu, weiß ich nicht zu sagen. Vielleicht als Zeugen? Jedenfalls wollte, wenn man der elfte oder dreizehnte Sohn war. Dorthin kam ich so nach Amerika. wanderten ganze Volksgruppen aus, vor allem Polen und Juden,

272 273 denen damals in Rußland das Leben nicht sehr angenehm gemacht von selbst den Pflaumenkern ausspuckten. Und bald darauf las wurde und die den ständigen Pogromen entgehen wollten. Aber es man von einem kalifornischen Gärtner namens Luther Burbank, wanderten auch Leute aus, die etwas auf dem Kerbholz hatten: der sollte Pflaumen gezüchtet haben, die überhaupt keine Kerne Liebeskummer, oder aus Versehen einen getötet; verkrachte Adlige mehr hatten! Was war das nur für ein verrücktes Land, in dem so und Offiziere, die man abschob, weil sie der Ehre der Familie und etwas möglich war? des Offizierskorps Abbruch taten wegen Spielschulden oder Wei- Aus Amerika kamen Briefe an meine Mutter, in denen man ihr beraffären oder Duellen. Wenn in einer Familie von Auswande- besonders billig den Beitritt zu einer weltumfassenden »mysti- rung eines Familienmitglieds die Rede war, so wurde gleich ge- schen« Gemeinschaft anbot. Für nur 12 Dollar offerierte man ihr fragt, »Ja, was hat er denn ausgefressen?« Natürlich kamen bei sofortiges Lebensglück und das Gelingen aller ihrer Pläne, ferner manchem oft rein romantische Gründe dazu, oder auch einfach ein Erfolg und dadurch Reichtum bis ins höchste Lebensalter. Denn, Herauswollen aus kleinen, provinziellen Verhältnissen, aus der so hieß es in jenem erstaunlichen Brief, das Paradies sei hier auf Er- ewigen Bürokratie und Bevormundung, unter der wir Deutschen den, der unterzeichnete Meister Knowles habe den Schlüssel dazu ja seit Hunderten von Jahren gestanden hatten und standen. und könne daher für einen ganz lächerlichen Betrag (»Nur 12 Dol- Was andererseits aus Amerika kam, war der »Amerikanismus«, lar – bitte senden Sie es noch heute, damit Sie morgen gleich mit ein vielzitierter und -diskutierter Ausdruck für einen fortgeschrit- dem neuen Glücklichsein beginnen können!«) meiner Mutter Ein- tenen technischen Zivilisierungsprozeß, der unter Führung der laß gewähren… Erstaunliches Land, wo Geschäftsgeist, Mystik Vereinigten Staaten um die ganze Welt ging. Neue Formen der und wirklicher technischer Fortschritt so durcheinanderliefen! Rationalisierung, der sogenannten »efficiency«, die Kundenwer- Wir hörten von den Brüdern Orville und Wilbur Wright, den bung nach amerikanischem Muster (»advertising and selling«), der Vätern des modernen Flugwesens, aber auch von neuen »fads« und Kundendienst (»service«), das berühmte »keep smiling«, der ganze »crazes« aus usa: vom Teddybären, von Billiken, dem Schutzgeist moderne Arbeitsprozeß, bei dem die Arbeit in einzelne, genau be- der Automobilisten, und von den neuen Sportspielen. Eines Tages rechnete Teile zerlegt wird, die Systeme von Taylor, Ford und an- spielten wir plötzlich alle Diabolo. Mit einem Bindfaden, der zwi- deren – all das kam aus Amerika. Amerikanische Nachrichten, die schen zwei Stöcken gespannt war, die man in den Händen hielt, in deutschen Zeitungen gedruckt wurden, waren immer sensatio- warf man einen sanduhrförmigen Kreisel in die Luft und fing ihn nell. Las man etwas Unglaubliches, wo war es geschehen? Immer beim Herunterkommen geschickt wieder mit dem Bindfaden auf. in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wo sonst Dazu summte man die Melodie des Tages: »Since my old man gab es diese fabelhaften Reichtümer, wo sonst konnte man noch, caught the latest craze of Di – Ei – E – Bi – Olo –« ganz egal, wo man herkam, als Schuhputzer, Zeitungsjunge oder Man bestaunte amerikanische Touristen, die es wagten, ohne Tellerwäscher anfangen und endete dann doch als vielfacher Mil- Hut auf die Straße zu gehen. Man bestaunte ihre Kleidung, die lionär, ob man wollte oder nicht? Hatte nicht selbst der vorsichtige enormen auswattierten Schultern, die keilförmig sich nach unten alte Goethe von seinem Olymp aus gedichtet: »Amerika, Du hast verjüngenden Hosen – wie umgekehrte Tüten – und die nach innen es besser«? Aus Amerika kamen die tollsten Geschichten. Da sollte gebogenen Schuhe, die vorne an der Spitze in einer hohen Nase es handtellergroße Pflaumen geben, so gezüchtet, daß sie, wenn ausliefen. Im Kaufhaus des Westens gab es original-amerikanische man sie mit einem bestimmten Worte ansprach, sich öffneten und Anzüge zu kaufen. Ich erstand einen und fühlte mich ganz ameri-

274 275 kanisch mit meinen riesig breiten Schultern, dem Ledergürtel und halbdiamantenen Manschettenknöpfe. Und dann zog so ein John, den unten ganz engen, »wasserziehenden« Hosen. Und im Cines- der einst Hans geheißen hatte, – also John zog die eine Hand aus palast am Nollendorfplatz,einer italienisch-amerikanischen Gruppe der Hosentasche, ließ die Münzen auf der Theke rollen und rief gehörend, sah ich zum ersten Mal kurz vor dem Kriege die Vorläufer nachlässig, die Pfeife im Mund, so daß man den Goldzahn sah: der heutigen Swing- und Jazzmusikanten, die Ragtimesänger- und »Los«, rief er, »laß ma anfahren – all hands to the bar…« -tänzergruppen. Noch lange nachdem so ein Märchenonkel verschwunden war, Cocktails fingen an, bekannt zu werden, und jedes internatio- sprach man über ihn und wünschte heimlich, so zu sein wie er. nale Hotel hatte natürlich eine »American Bar«, wo »american Meine Chance, diesen Lieblingswunsch erfüllt zu sehen, kam drinks« verabreicht wurden. Sechstagerennen wurden, glaube ich, erst spät in Gestalt besagten Telegramms, das mich aufforderte, in zuerst in Chicago abgehalten, eroberten sich aber in kurzer Zeit die den Sommermonaten als Gastlehrer an der New Yorker »Art Stu- ganze Welt und verdrängten vollständig die bis dahin populären dents League« eine Aktklasse zu unterrichten. So fuhr ich denn im Fliegerrennen oder das Dauerfahren hinter Motoren. Die besseren Juni 1932 auf dem Dampfer »New York« nach New York. Kinotheater führten meistens amerikanische Filme vor. Wie lieb- ten wir die ersten Vitagraph-Cowboyfilme, wie lachten wir über Ich wohnte in der 57. Straße im Hotel Great Northern. Von dort den lustigen, dicken John Bunny und seine Schnurren! Wenn wir waren es nur ein paar Schritte zur »Art Students League«; das Ge- auch viel Französisches sahen, zum Beispiel die Pathéfilme mit bäude lag dem Hotel schräg gegenüber. Mein Freund I.B. Neu- Max Linder und dem kleinen Fritzchen Abélard, so hatte doch mann hatte mir das Great Northern empfohlen, weil, so sagte er als nichts die dramatische Spannung und entsprach so sehr unserer ein im Umgang mit Künstlern erfahrener Mann, in diesem Hotel jugendlichen Phantasie wie die damaligen Filme aus Amerika. die ältesten Leute Amerikas abstiegen, und somit die einem Künst- Kein Wunder, daß in vielen von uns der Wunsch rege wurde, dieses ler nötige Ruhe gewährleistet sei. Neumann war in jener ersten wunderbare Land einmal kennenzulernen. Zeit mein Freund und Kunsthändler. Er konnte stundenlang über Es war auch so, daß fast jede deutsche Familie einen näheren oder Kunst reden mit seiner weichen, dunklen Stimme, die warmen, ein entfernteren Verwandten in Amerika hatte. Wie oft hatte ich nicht wenig erschreckten, aber auch wieder pfiffigen braunen Augen auf Eltern erzählen hören: »Ja, der Bruder Deines Großvaters, der ging einen Klee gerichtet. Die ihm eigentümliche Kunstbegeisterung damals nach drüben. Er hat dann noch ein paarmal geschrieben, ließ ihn leider Gottes nur zu oft die finanzielle Seite der Kunst ver- aber später haben wir nie wieder was von ihm gehört…« Das war gessen. Man dachte immer, wenn man mit ihm zusammen gewe- typisch. Manchmal kamen auch welche zurück, aber meist nur für sen: der I. B. sollte gar nicht mit Kunst »handeln«, der sollte lieber kurze Zeit, zu Besuch, und das war immer eine kleine Sensation, unendlich viel Geld haben und für uns alle, die er in sein großes wenn so ein Amerikaner in der Kleinstadt auftauchte, wo jeder je- Herz geschlossen, ein fabelhafter Mäzen sein… den kannte. Der »gab denn auch feste an« – das heißt, das bißchen Mir gefiel New York. Ich fand die Stadt genau so, wie ich sie mir Geld, das er sich drüben erspart hatte und in Traveller Checks bei vorgestellt hatte. Mein Wunsch war in Erfüllung gegangen, und ich sich trug, wurde schnell ausgegeben. Man bestaunte seinen großen, war nicht enttäuscht, was selten genug vorkommt. Meine Lehr- nagelneuen Koffer mit all den Schiffsetiketten darauf, den fabel- tätigkeit begann sogleich. Ich war im Juni eingetroffen; es war sehr haften blauen Anzug und die Lackhalbschuhe, die Pfeife und die heiß, und ich besaß nur europäische Kleidung. Ich schwitzte

276 277 furchtbar. Das Wasser lief mir buchstäblich unten aus den Hosen- Warum brüllen die sich gegenseitig gleich so an? Warum ist da röhren heraus und bildete Lachen auf dem Fußboden. An solche gleich immer bei einem die Würde verletzt?«) feuchte, tropische Hitze muß sich der Körper eben erst langsam Mir gefiel New York. Vielleicht gefiel ich New York auch, denn gewöhnen. Mein verstorbener Freund Max Morgenstern sagte man muß ja lieben, bevor man wiedergeliebt wird. Außerdem immer, man fühle sich dabei wie »Gelée im Anzug«. fehlte mir von jeher die verbreitete deutsche Eigenschaft, alles so- Als ich 1932 nach Amerika kam, war dort noch Alkoholverbot fort mit der Heimat zu vergleichen und von deren Standpunkt aus (»Prohibition«), und es gab keine öffentlichen Bars, in denen man zu kritisieren. Ich gab mich gern den neuen Eindrücken hin und sich bei der Hitze an einem kühlen Gläschen Bier laben konnte. ließ mir Zeit mit dem Urteil. Ich lernte erst einmal die Sprache und Ich probierte die sogenannten »soft drinks« – denn man bekam versuchte dabei, das Fremde zu begreifen und zu verstehen. Durst von dem vielen Schwitzen –, aber diese Getränke bekamen In der »Art Students League« hatte ich eine volle Klasse. Ich mir nicht. Es war mir nachher immer so, als hätte ich einen Blase- hatte schon vor meiner Ankunft das Glück gehabt, als Stein des An- balg verschluckt, der meinen Magen nun wie einen Ballon von stoßes im Brennpunkt einer Auseinandersetzung zu stehen. Über innen aufpustete. Auch Icecream-Esser war ich nicht, aber die vie- meine Berufung war nämlich ein Streit ausgebrochen, bei dem sich len verschiedenen Sorten und die Bedienung, die sie verabreichte, die Studentenschaft gespalten und der alte Kämpe John Sloan, der imponierten mir doch. Mich freute die Sauberkeit, die ich fand. für mein Kommen war, als Protest den Vorsitz der League nieder- Ich liebte die abgedunkelten Korridore. Die hatten etwas Kühles, gelegt hatte. Der Fall erregte ziemliches Aufsehen und ging durch Ruhiges, besonders im heißen Sommer. alle Zeitungen. Ich erfuhr noch in Berlin davon, konnte mir aber Es war der Tiefpunkt der amerikanischen Depression. Man sah dort kein richtiges Bild machen. Jedenfalls gab mir diese Reklame, im Winter Frauen in Pelzmänteln auf der Straße Äpfel verkaufen, die mir ohne mein Zutun in den Schoß gefallen war, von vornherein und manch gutgekleideter Passant stand in der Schlangenlinie vor einen guten Start in jenem ersten New Yorker Sommer, in dem ich den Hearst-Wagen an, wo Brot und Suppe gratis verteilt wurden. nicht nur äußerlich, sondern, wenn ich so sagen darf, auch innerlich Aber ich hatte durch so viele Jahre Schlimmeres wahrgenommen weidlich schwitzte. und zu Papier gebracht, daß mir diese ja auch nicht besonders auf- Ich hatte nämlich bis dato überhaupt noch nicht öffentlich ge- dringlichen Erscheinungen keineswegs abnorm vorkamen. Was lehrt, hatte weder ein »System« noch eine »Methode« und stand mich erstaunte, war die allgemeine Freundlichkeit der Menschen noch sehr auf dem Kriegsfuß mit der englischen Sprache. Ich untereinander, selbst wenn sie zum »Dienst am Kunden« gehörte. kannte wohl die berühmten 300 Worte, mit denen sich, dem Buch Das war doch ganz anders als im damaligen Deutschland, wo man und der Sage nach, alles Notwendige ausdrücken läßt, aber hin und so wenig fröhliche Gesichter zu sehen und soviel Unlust und Zän- wieder hatte ich doch etwas mehr zu sagen, und dann haperte es. kerei zu hören bekam. Man hatte den Eindruck, diese Amerikaner Wenn jedoch die Worte nicht ausreichten, pflegte ich mich kleiner aller Rassen, Klassen und Berufe seien einverstanden mit der Welt, Zeichnungen zu bedienen, mit deren Hilfe ich meine Randbemer- und ihre amerikanische Welt war ja trotz der Wirtschaftskrise auch kungen und Kritiken klarmachen konnte, und so war ich trotz äußerlich immer noch viel bunter und reicher als die deutsche. (Bei allem mit Feuereifer bei der Sache. Die Schüler fühlten das wohl uns in Deutschland fragte man sich immer: »Die sind nicht ein- auch, denn sie waren alle sehr nett zu mir. Ich war so erfolgreich als verstanden, da gärt etwas – warum sind die alle so leicht gereizt? angehender amerikanischer Lehrer, daß ich für den Fall meines

278 279 Bleibens schon daran dachte, selbst eine Privatzeichen- und Mal- unter uns, der sich durch irgendeine Besonderheit hervorgehoben, schule zu eröffnen. gleichsam damit abzustempeln – und so hatte man mich zum Kari- Weniger Erfolg hatte ich mit meinen eigenen Arbeiten. Doch da katuristen gestempelt. muß ich erst weiter ausholen und dann meiner Geschichte etwas Ich merkte aber bald, daß mein Ruhm in Amerika ein sogenann- vorgreifen. Bei meiner Ankunft an jenem denkwürdigen Junitag ter »kleiner Ruhm« war und zudem ein schwer verkäuflicher. Bei hatte ich das dunkle Gefühl – eine Art Ahnung, möchte ich hier einer Ausstellung, die I.B. Neumann für mich im Hotel Barbizon einmal sagen –, als sei dieser Tag eine Wende in meinem Leben. Plaza veranstaltete, drückte ich ungefähr tausend Leuten die Und das war er auch. An ihm entschied sich, mir unbewußt, mein Hand. Es war wunderbar; jeder freute sich, mich, von dem man Schicksal, das mich zu einem Amerikaner machte. Vielleicht, (»Oh, sure!«) schon soviel gehört hatte, persönlich kennenzuler- dachte ich mir damals, kann ich ein paar Jahre in New York oder nen, aber leider war es, wie oft bei I.B., nur ein moralischer, kein sonst irgendwo in Amerika leben und fahre bloß ab und zu in die finanzieller Erfolg. An ein Unterbringen meiner Bücher war nicht alte Heimat zurück, denn hier in Amerika kann man natürlich zu denken. Versuche in dieser Richtung, bei denen der mir von mehr Geld machen… Ich war ja immerhin nicht unbekannt. Man seinen Deutschlandreisen her bekannte Journalist J.P. McEvoy kannte mich als den Mann, der »Ecce Homo« und »Das Gesicht freundschaftlich half, scheiterten ausnahmslos. Ich machte hie und der herrschenden Klasse« gezeichnet hatte, als den unbarmherzi- da ein paar Gelegenheitszeichnungen, doch wurde mir immer wie- gen Verspotter des deutschen Bürgertums und deutscher Einrich- der bedeutet: »Nicht zu deutsch, Herr Grosz! Not too bitter – you tungen. Bei meiner Ankunft brachte das Magazin »Time« einen know what we mean, don’t you?« Artikel mit der Überschrift, »Mild Monster Arrives«, sanftes Un- Es handelte sich dabei meist um »feine« Zeitschriften für die geheuer trifft ein, und im »New Yorker« stand von einem Feld- oberen Zehntausend, wo es wenigstens noch etwas Geld gab. Die stecher zu lesen, den ich stets bei mir trüge, damit mir, wenn ich »linken« Blätter kamen für mich nicht in Frage, denn wie überall etwas abzeichnete, auch nicht die kleinste Einzelheit entgehe. auf der Welt wollten die – das war bei Idealisten geradezu Tradition Also warum sollte nicht die eine oder andere Zeitschrift etwas von – alles umsonst haben. Und das hatte ich weiß Gott die Hälfte mei- mir bestellen oder mich vielleicht als regelmäßigen Mitarbeiter nes Lebens getan; jetzt hatte ich es satt. Ich war wieder zu dem ein- aufnehmen? fachen Grundsatz von Ware und Geld zurückgekehrt. Der Ein- Warum nicht? Die mich hier kannten, bewunderten mich als zige, der mich nahm, wie ich war, war mein Freund Alexander Satiriker. Sie schätzten in mir den Zeichner, der jahrelang haßvolle, King, der Amerikas erste und einzige satirische Zeitschrift, die bittere Grimassen über seine Mitmenschen geschnitten hatte. Fast »Americana«, herausgab und darin regelmäßig Blätter von mir alle hielten die Zeit, in der ich ein beißender Kritiker der deutschen brachte. Er beschnitt einem weder die Flügel noch die Fingernägel: Nachkriegswelt gewesen war, für meine beste. Für viele war ich »Kratz Du denen ruhig die Augen aus, George«, pflegte er mir zu schon fast wie eine Legende, ein Überbleibsel aus den »roaring sagen, »je toller, je besser.« Leider ging sein ausgezeichnetes Blatt twenties«, den tollen Zwanzigerjahren. Natürlich meinten die, ich später ein, doch das war eine andere Geschichte. könne überhaupt nichts als Karikaturen zeichnen. Mit unseren In jener Zeit nun, während ich mich so bemühte, den Amerika- Vorurteilen, unserem beschränkten Begriffsvermögen und bösen nern zu liefern, was sie von mir wollten, und ihnen zu verkaufen, Willen haben wir Menschen immer die Tendenz, den Einzelnen was sie von mir kannten, trat unversehens in mir selbst eine Wand-

280 281 lung ein. Wie sie kam, weiß ich nicht genau zu beschreiben. Mei- es leider bis auf einige lächerliche kleine, schlechtbezahlte Aufträge nem Gefühl nach trat der Künstler in mir mehr in den Vorder- niemanden, der meine Begabung gebrauchen konnte. grund. Jedenfalls packte mich plötzlich der Ekel, und ich konnte Aber wo sich Dinge und Menschen einem verschließen, öffnen keine satirischen Fratzen mehr sehen. Jetzt rächte sich die jahre- sich plötzlich ganz wo anders neue Welten. Die Natur trat mir lange Clownerie. Hatte ich kleinere Aufträge, so mußte ich mich näher in all ihrer Einfachheit, Einheit und Schönheit, doch auch in wohl zwingen und machte hie und da noch einige Versuche in der der unerbittlichen Gesetzmäßigkeit ihrer Elemente. Stundenlang Richtung, denn mein Zeichentalent ließ sich ja, wenn ich wollte, konnte ich am Cape Cod durch die Dünen streifen und demütig, von meinem Verstand kommandieren. Aber über mein Herz hatte nichts weglassend und nichts hinzufügend, versuchen, mit meinen ich keine Macht, und das war nicht dabei. Kunst ist ja nicht wie kleinen Mitteln meine Empfindungen angesichts der Natur wie- Kohlenschippen. Mich interessierten einfach die Menschen, als derzugeben. Die großen, idealistischen Worte und Phrasen waren Einzelwesen mit ihren komischen Eigenheiten, nicht mehr so wie wie nasser Zunder zerfallen. Ich wollte ein freier Künstler sein und früher. Glichen sie sich nicht wie ein Ei dem anderen? So groß war bin es, glaube ich, seither auch gewesen. bereits mein Abstand von ihnen. Auch Schrecknisse leben noch in mir, aber diese Visionen, diese Doch je ferner mir die Menschen schienen, desto näher kamen Träume sind nicht mehr Zerrbilder. Sie sind auch weder erfunden mir Landschaft und Natur. Baum und Strauch, Gras und Blatt sah oder ausgedacht noch »innerlich gesehen«, um den Menschen zu ich nun genauer, wie auch Fliege, Schildkröte und Ameise. Es kam helfen oder sie gar zu erziehen. Sie sind aus apokalyptischem Stoff eine Zeit, in der meine Landschaften einsam und menschenleer wur- gemacht und geben Kunde vom Dualismus der Welt und von ihrer den. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen für meine Ent- anderen Seite – nicht der des Blühens, nein, von Mord, Brand, wicklung? Ich weiß heute, daß es ein gutes Zeichen war. Es war kein Grauen und Tod. Ich fühle, das glaube ich sagen zu können, in mir Herausgehen, keine Flucht; es war ein Herantreten und Hinein- ein gutes Erbteil alter deutscher Tradition. Es liegt an dieser Tradi- gehen. Und was die lieben Mitmenschen anlangte – hatte ich meine tion, daß ich eben immer die Zweiteilung sehe – Leben und Tod – Empfindungen über die nicht in Tausenden von Blättern aufge- und nicht mehr flach optimistisch immer nur rufe: »Leben! Leben! zeichnet? Leben!« Ja, der zweite Abschnitt meines Lebens spielt in Amerika und begann mit einem inneren Konflikt mit meiner Vergangenheit, Es war Oktober 1932, als ich aus Amerika zurückkam. Obwohl einer Vergangenheit, die ich zum Teil auch jetzt noch verdamme. die Sommermonate sehr anstrengend gewesen waren, unmensch- Ich verweise heute mehr denn je die Karikatur auf einen rückwär- lich heiß und besonders ungemütlich für mich in dem backofen- tigen Platz in der Kunst und halte Zeiten, in denen sie zu sehr her- haften, überfüllten Atelier – trotz dieser und anderer Nachteile vortritt, für Verfallszeiten. Denn Leben und Sterben sind, mit Ver- hatte mir Amerika gut gefallen, vor allem dies verzauberte, groß- laub gesagt, große Themen – es sind keine Themen für Hohn und artige New York. Über manches sah ich wohl einfach hinweg, oder billige Späße. ich sah es überhaupt nicht. Meine romantischen Neigungen kamen Nun, solche inneren Konflikte sind nicht gerade dazu geeignet, einem mehr praktischen »Anpassungssinn« durchaus entgegen. Ja, Einnahmen zu verschaffen. In meiner ersten Zeit in Amerika war ich würde nach Amerika zurückkehren und für einige Jahre dort ich noch willens, mein »illustratives« Talent auszunützen; nur gab leben. Mein Vertrag mit der »Art Students League« war erneuert

282 283 worden; das Gehalt war nicht hoch, aber vielleicht deckte es doch für Übersee verpackt oder verschenkt und weggestellt werden. die Miete. Und das andere, was man zum Leben braucht – na, man Um so ein Auflösen einer Wohnung, in der man lange gelebt hat, würde ja sehen. Erst einmal wieder drüben sein. Da blieb immer ist etwas Merkwürdiges: als zerstöre man ein Schneckenhaus oder noch meine Fähigkeit, Bücher zu illustrieren, und nötigenfalls die eine Muschel. Heute wurde dieses Stück abgeholt, morgen jenes. geplante Schule. Langsam bröckelte alles ab. Schon stand ich mit dem Schrauben- Dennis McEvoy, den Jungen meines Journalistenfreundes, nahm zieher, um den Kronleuchter abzuschrauben. Unser Freund Pauli ich mit nach Deutschland, wo es damals ein paar berühmte, nach sah zu, er bekam ihn zum Andenken. Was sollte man auch mit den modernsten Prinzipien geleitete Schulen gab; in einer solchen einem Kronleuchter in New York? sollte Dennis seine Kenntnisse in der deutschen Sprache vervoll- Nein, es war nicht nur das sentimentale Abbauen einer Woh- ständigen. Wir landeten in Bremen. Es erschien uns klein und nung an sich, im Grunde genommen war es meine Angst vor der spielzeughaft, die Häuser fast so flach wie Hütten. Aber der Wein eigenen Kühnheit. Auf einmal, wie ich da auf der Leiter stand und und das Essen im verräucherten Ratskeller waren echt deutsch und am Kronleuchter hantierte, fiel mir fast die Decke auf den Kopf – gemütlich. Meine Frau hatte mich in Bremerhaven erwartet, und bildlich gesprochen, meine ich. Auf einmal wurde mir klar, daß ich ich erzählte ihr noch auf der Schiffstreppe, daß ich nur gekommen ja all meine Berichte von drüben viel zu rosig und silberglitzernd sei, um gleich wieder abzufahren. Mein Entschluß stehe fest: gleich gemalt hatte, ich Aufschneider. Ein kalter Schrecken überfiel mich. nach Weihnachten würde ich sie und die Kinder nach Amerika Der Schraubenzieher entsank meiner Hand. Durch die angelehnte bringen. Man dürfe ja keine Zeit verlieren und müsse sich sogleich Türe hörte ich nebenan Eva unseren Freunden von den Wundern innerlich wie äußerlich auf die bevorstehende durchgreifende Ver- New Yorks erzählen und von meinen angeblichen Erfolgen. änderung vorbereiten. Ich war plötzlich sehr ernüchtert. Die rosige Romantik war ver- Ich war wie ein Junge von vierzehn Jahren. Meine Backen glüh- schwunden. Ich sah New York im Regen, grau mit glitschigen ten vom Wein und von Begeisterung. Ich erzählte und erzählte von Straßen. Ich sah zerlumpte Männer vor einem Lastwagen Schlange den Wundern der neuen Welt, und daß wir dort unser Glück ma- stehen, die auf eine heiße Tasse Kaffee und ein Brötchen warteten. chen, ja, und selbstredend auch reich werden würden. Mit einem Einer zeigte auf mich, spuckte aus und lachte höhnisch: »Hahaha, Wort: ich log in meiner Romantik, was das Zeug hielt – sagen wir, natürlich, wollte New York erobern – da kommste ’n bißchen spät, so fifty-fifty, denn zur Hälfte glaubte ich das, was ich sagte, wohl my friend, hahaha« – und mit Schrecken sah ich, daß ich das ja selbst. Muß man nicht immer ein wenig übertreiben, wenn man selbst war, nur viel älter, unrasiert und das weißlich-graue Haar Eindruck machen will? hinten über dem fettigen Überzieherkragen stehend… In Berlin begannen wir gleich mit den Vorbereitungen zur Aus- Die alten venezianischen Spiegel hingen noch. Ich stieg von der wanderung. Wir hatten eine große Wohnung in der Trautenau- Leiter und sah hinein: nein, ich sah noch ganz manierlich aus, hatte straße, und um die Ecke, in der Nassauischen Straße, hatte ich ein sogar rote Bäckchen, und rasiert war ich auch. Also keinen Miß- großes Atelier. Wir besaßen eine Menge schöner, alter Möbel, und mut! Ich stieg wieder zum Kronleuchter hinauf, indem ich mir wie im Atelier stand allerlei Kram herum, nebst meinen Bildern, Map- eine Formel immer wieder vorsagte: »Never say die, never say die, pen voll von Zeichnungen und gesammeltem Material – all das never say die –« füllte Möbelwagen. Es mußte nun nach Jahren der Seßhaftigkeit Fast hätte ich laut geschrien, daß das ja alles Unsinn sei – Unsinn,

284 285 dummes Zeug, dieses ganze Amerikaprojekt – laß es sein, call it lungen« und guter »Beziehungen«. Obwohl der gute J.P. McEvoy off! Laß die Möbel, wo sie stehen, laß den Kronleuchter hängen! mit mir sozusagen treppauf, treppab von einem Verlagshaus zum Wir haben geträumt, Eva, ganz hübsch geträumt; was sollen wir anderen gelaufen war, war alles doch nur in purer Höflichkeit und bloß in Amerika? Gibt es da überhaupt »Kultur«? Wer interessiert gegenseitigem Komplimentieren versandet. sich denn dort gar für Kunst? Na, siehst Du, dummer Romantiker? Ich wußte also, daß wir nicht so ohne weiteres unser gewohntes Erfolg und Geld, Freundchen, die zählen. Und die 150 Dollar, die Leben würden fortsetzen können. Hier in Berlin war ich bekannt Du da bekommst, die sind die einzige Realität; die sind Wirklich- geworden, ich hatte mir einen Namen gemacht. Und nicht nur in keit, aber bei Gott eine recht knappe Wirklichkeit. Wie weit Berlin; ich hatte sogar einen kleinen europäischen Ruhm, wenn ich kommst Du damit? Miete, Radiergummi und Tabak für die Pfeife – so sagen darf. Auch Geld hatte ich in den letzten Jahren verdient. that’s all, George. Bleibe im Land Deiner Väter. Sieben Jahre in der Verleger gaben mir Arbeit, und ich konnte die Arbeit in meinem Fremde bellt der Hund nicht mehr, sagt ein hebräisches Sprich- Stil machen. Ich war »etwas geworden«. Und all das gab ich jetzt wort – und so wirst Du sieben lange Jahre dienen müssen, denn erst auf, für eine Chimäre. In Amerika, das hatte ich schon gemerkt, kommen immer die sieben mageren Jahre, jawohl, und dann erst war ich nur einer von vielen. Die Konkurrenz war hart, und ein die sieben fetten… Ausruhen bei gefüllten Fleischtöpfen würde es da kaum geben. All das ging mir plötzlich durch den unausgeschlafenen Kopf. Und dennoch trieb es mich fort. Wie ein Stück Holz wurde ich Ich hatte mich ein wenig aufgespielt, hatte übertrieben, und jetzt, von einem mir noch unbekannten, ja unterirdischen Strom fort- in der grauen, auflösenden Wirklichkeit dieses echt Berliner No- geschwemmt. Ich war natürlich kein unschuldiges Kindlein und vembertages, kam mich plötzlich das Gruseln an. Immer wieder wußte, wie es um Deutschland bestellt war. Ich sah deutlich, wie hatte Eva gefragt: »Ja wie stellst Du Dir das eigentlich vor? Wie der Fußboden Risse bekam, wie diese und jene Wand zu wackeln werden wir denn dort leben? Wir können ja gerne einige Zeit hin- begann. Ich sah, wie mein Zigarrenhändler über Nacht ein Ha- über, es wird neu und sicher auch interessant sein, aber können wir kenkreuz im selben Knopfloch stecken hatte, das früher stets ein denn dort so leben wie hier? Rechne mal: wir sind vier, wir beide rotemailliertes Hammer-und-Sichelabzeichen aufwies. (Vielleicht und Martin und Peter – wie weit bringen uns denn die 150 Dollar?« hatte er auch nur die Sichel und den Hammer in ein Hakenkreuz Eva war sehr skeptisch. Sie kam aus einer sachlichen Familie und verbogen…) war Realistin, wie sie es mir von ihrer Großmutter erzählte. In Es war wie vor der Premiere eines großen Dramas oder wie vor ihrer Familie gab es Bergleute und Topographen, aber keine Korb- dem Beginn einer Schlacht. Man räusperte sich überall und sah im- macher; sie hatte auch nicht wie ich Coopers »Lederstrumpf« gele- mer wieder nervös nach der Uhr, denn in den Zeitungen stand täg- sen. Alle ihre unangenehmen Fragen hatte ich mit rosig gefärbten lich, es sei nun ganz kurz vor zwölf. Was dann kommen würde, Lügen beantwortet. Ich würde illustrieren, sagte ich, und auch die nach zwölf, war immer nur angedeutet, aber es war nichts Erhe- Schule würde ein erstklassiger Erfolg – jeder sage das drüben… bendes, nichts Freundliches für mich und meine engeren Freunde. »Jeder« war leider nur mein etwas unzuverlässiger Freund I.B., Ich war damals noch ein politisch interessierter Mensch, aber mein aber das verschwieg ich ebenso wie meine Mißerfolge in puncto Glaube an die Massen war schon ins Wanken geraten – und das Illustrieren und das geringe Interesse, das die amerikanischen Ver- heißt eigentlich, um ehrlich zu sein, der Glaube an die »Mission« leger meinen Arbeiten entgegenbrachten, trotz netter »Empfeh- meiner Kunst. Ich hatte allmählich eingesehen, daß diese Art von

286 287 Propaganda weidlich überschätzt wurde, daß die Agitatoren ein- York an. Die Überfahrt war ziemlich stürmisch gewesen, aber wir fach die Wirkung ihrer Agitation auf sie selbst mit deren Wirkung waren beide seefest und sahen von der Deckkajüte aus dem Toben auf die »geliebten proletarischen Massen« verwechselten, daß die des Meeres zu. »Führer« bei all ihren schönen Schlagworten jene Massen ganz Am 30. Januar wurde Hitler Reichskanzler in Deutschland. richtig als Hammelherde betrachteten und sich selbst als Leitham- Die »proletarischen Massen« wehrten sich überhaupt nicht, son- mel voran. Meine Ernüchterung vollzog sich langsam, aber sicher. dern liefen in hellen Haufen zu dem Erfolgreichen über. Ich habe Sie trug viel dazu bei, daß ich gern von Deutschland fortging. Und dieses einfache Umsinken des tönernen »roten Kolosses« nie schließlich und endlich war und blieb ich ja zu einem guten Teil ganz begreifen können, obwohl ich, im Gegensatz zu vielen An- auch noch ein reiner, individueller und alleinstehenwollender dersdenkenden, schon damals das Gefühl von Hitlers völligem, Künstler. langewährenden Sieg hatte. Ich war nicht mehr recht froh während dieser letzten Monate in Dann kam die Nachricht vom Reichstagsbrand, der alles schauer- Deutschland. Ich wollte fort, in anderer Umgebung ein neues Le- lich erleuchtete. Da sah ich, daß eine Vorsehung mich hatte aufspa- ben beginnen. Schreck und Lebensangst verflogen. Es wird schon ren wollen – und im kleinen Hotel Cambridge in einer der Seiten- gehen, dachte ich, es wird schon gehen. straßen von New York dankte ich heimlich meinem Gott, daß er Dann kamen noch ein paar Wochen, in denen alles gepackt mich so vorsorglich beschützt und geführt hatte. Bald kamen Briefe, wurde, in denen ich Abschied nahm von meinem alten, vertrauten aus denen ich erfuhr, daß man in meiner nun leeren Berliner Woh- Atelier, das ich seit 1918 bewohnt hatte. Eva und ich hatten be- nung nach mir gesucht hatte, desgleichen in meinem Atelier. Daß ich schlossen, vorläufig allein zu fahren und die Kinder – Martin war da lebend davongekommen wäre, darf ich wohl bezweifeln. drei Jahre alt, Peter fünf – bei einer Tante in Berlin unterzubringen. Ich beantragte sofort meine »ersten Papiere« als Einwanderer in Wir würden erst alles einrichten und sehen, wie die Dinge liefen, die Vereinigten Staaten und nahm meine Lehrtätigkeit an der »Art dann konnte Eva die beiden im Sommer holen. Den Tag des Ab- Students League« wieder auf, die mich viel Zeit kostete. Abends schieds sehe ich noch vor mir: die Hängelampe brannte über dem saß ich dann noch und zeichnete oder aquarellierte; mit dem Öl- großen Tisch bei Tante Lisbeth, und ich malte den beiden Jungs malen begann ich erst viel später. New York und meine neue Um- noch etwas Komisches. Bald werden sie ja an einem amerikani- gebung liebte ich nach wie vor. Eva hatte hin und wieder schreck- schen Tisch sitzen, dachte ich, und: die Boys sind all right. Ich liches Heimweh, und ich versuchte sie zu trösten, so gut es ging. schaute mich noch einmal um, blickte noch einmal über das Tem- Wir waren aus dem Cambridge in das etwas größere Hotel Raleigh pelhofer Feld hinaus und noch einmal die Belle-Alliance-Straße gezogen, wo frühmorgens die Schnellzüge der damals noch existie- hinunter; dachte an die großen, feinen, uniformstrotzenden Para- renden Hochbahn an unserem Zimmer vorbeidonnerten: »Wie den und an den einsamen Baum, unter dem der Kaiser immer ge- Meeresrauschen«, sagte ich. »Fabelhaft –!« Aus dem Fenster sah halten hatte. Eva weinte leise. »Auf Wiedersehen«, sagten wir. man auf die Neonlichtreklame eines Leichenbestattungsgeschäfts, Aber da innen drin hatte ich das Gefühl, als sähe ich all das zum aber ich dachte nicht ans Sterben. Da war mir die Auslage des jüdi- letzten Male. schen Restaurants von Isaac Gellis schon lieber, wo es soviel zu Am 12. Januar bestiegen wir in Bremerhaven den Norddeut- essen gab, als man nur fassen konnte. Besonders die sauren Gurken schen-Lloyd-Dampfer »Stuttgart«; am 23. kamen wir in New waren prima.

288 289 Allmählich verblaßten auch die schauerlichsten Greuelgeschich- ten, wie einst die auf den schaurig-schön bemalten Leinwänden der Schaubuden auf den Jahrmärkten meiner Kindheit in Stolp. Auch gab es ja in den Dreißigerjahren nicht nur in Deutschland Konzen- trationslager und staatlich beschleunigte Todesfälle. Von Amerika XV Wie ich ein amerikanischer aus gesehen, schien halb Europa sich wieder einmal zurückver- Illustrator werden wollte wandelt zu haben in einen jener höllischen Zustände, wie sie Bosch und Breughel, in seinem »Sieg des Todes«, noch am Ausgang der angstträumenden mittelalterlichen Welt gemalt. War die Welt denn ls ich mich in amerika für immer niedergelassen und be- immer so gewesen? Waren die fast 50 Jahre europäischen Friedens, A schlossen hatte, nie wieder in meine einstige Heimat zurück- in die ich noch hineingeboren war, eine bloße Illusion? zukehren, da war es mein Wunsch, mit der Staatsbürgerschaft auch Deutschland – das war jetzt nur noch eine Erinnerung. Aber den alten »deutschen« Menschen abzulegen, wie man einen abge- manchmal stieg das Grauen wieder in mir auf, und die Schrecklich- tragenen Anzug ablegt. Meine Bitterkeit ging so weit, daß ich be- keiten kamen hervor aus dem blutigen dreizehnten Zimmer, in das schloß, alles hinter mir zu lassen und zu vergessen, wer und was ich ich sie verbannt hatte. Dann strömte die Erinnerung in meine Bil- gewesen war – mit einem Wort, ein neues »amerikanisches« Leben der: Menschen wateten durch Sümpfe und blutige Nebel, die Kno- zu beginnen. chen klapperten, das Fleisch fiel ab, der Abgrund war flach und Ich war gerade an vierzig, als ich Deutschland den Rücken lang und ewig und niemals zu Ende, und im knisternden, lodern- kehrte, noch nicht zu alt, um mich anzupassen, mich richtig und den, schwelenden Schein der verbrannten Hütten und der vergifte- geschickt in die amerikanischen Verhältnisse zu fügen. Ich wollte ten Erde trotteten sie wie Gespenster, ohne Hoffnung und ohne nicht so sein wie manche, die ich von drüben getroffen und die auf Ziel. ihre Unfähigkeit, sich einzuordnen, womöglich noch stolz waren. Amerika schien mir nach den verrückten und aufgeregten deut- schen Jahren sehr normal, und genau so normal wollte ich werden. Ich war streng gegen mich selbst. Da ich mich ganz und gar assi- milieren wollte, drängte ich alles, was mir an mir selbst zu Gro- szisch, zu originell, zu teutonisch schien, geziemend zurück. Das heißt, ich legte nicht nur meine europäische Einbildung ab, son- dern mit der Zeit auch meinen Künstlerstolz. Oft hatte ich das Ge- fühl, ich sei eigentlich überhaupt kein Künstler, sondern eher ein Handwerker, was hier nicht im kleinbürgerlichen Sinne gemeint war, sondern einfach Normalität ausdrücken sollte, bewußte Ab- kehr von Anarchie, Nihilismus und jenem »Anders-sein-als-die- andern«, das in den Kreisen der Kenner und Snobs so geschätzt wird.

290 291 Ebenso ablehnend stand ich der Haltung gegenüber, die damals kann das aus eigener Erfahrung bezeugen – ist wirklich schöner, von vielen der sogenannten »voluntary exiles« kultiviert wurde, wenn man ja sagt, anstatt nein zu sagen!) von den im Gegensatz zu den späteren »refugees« freiwillig nach Einem europäisch erzogenen Menschen und besonders einem Amerika Emigrierten. Deren ewig vages und scheinbar geistrei- Künstler fällt natürlich diese gleichsam totale Anpassung nicht im- ches Gerede von der europäischen Kultur und amerikanischen mer leicht. Es bedarf ständiger Übung, jeden Tag zu allem ja und Unkultur schien mir übertrieben, ein Beweis dafür, daß diese Leute amen zu sagen. Hin und wieder erleidet der sich Anpassende sich einfach nicht anpassen wollten und es auch nicht konnten. Rückfälle in seinen alten Pessimismus und in seine Spengler-Ideo- Hätten sie in Amerika mehr Erfolg gehabt, so würden sie wohl logien. Anstatt »Yes, indeed« und »Everything is fine« entströmen auch etwas anders gesprochen haben. Sie begingen den Fehler, sich Schimpfreden und Flüche seinem Munde. Sofern dies jedoch nicht als Maßstab zu setzen und aus der Tatsache, daß in einem Land ihre zu häufig und nicht allzu öffentlich geschieht, wird es dem Anpas- Poesien nicht gedruckt, ihre Stücke nicht aufgeführt, ihre Bilder ser nicht schaden. Am nächsten Tage wird er wieder alles so schön nur mäßig bewundert wurden, den Schluß zu ziehen, diesem Land finden, wie es ist, und wird mit seiner Belohnung oder Strafe – je fehle es an Kultur. nachdem, was das Schicksal oder der höhere »Mechaniker« ihm Ich trat ganz anders auf. »Zuerst«, sagte ich zu mir, »mußt Du zugeteilt hat – ganz einverstanden sein. Dich erniedrigen. Mache Dich klein – nein, noch kleiner, immer Ich selbst hatte bald das angenehme Gefühl, daß meine Anpas- noch kleiner – vernichte Dich sozusagen. Sei wie ein gutes Lösch- sung Fortschritte mache. Meine Weltanschauung wurde die eines blatt, sauge alles Nützliche auf und bewundere. Laß Dich ruhig Spielers an einem großen Roulettetisch; ich verlor meine europäi- von der Härte der basarhaften Konkurrenz schrecken. Laß Dich sche Arroganz oder, besser gesagt, ich tauschte sie in eine mir ame- von der Überfülle der Begabungen blenden. Du bist auf einem Rie- rikanisch vorkommende Überlegenheit um. Ich bekam Anwand- senjahrmarkt; gestalte Deine Schaubude so anziehend wie mög- lungen von Kunstfeindlichkeit. Mein Streben ging dahin, meine lich…« Begabung zu unterstützen und zu einer Art Wünschelrute umzu- Niemand zu Leide, allen zur Freude – das wurde nun mein biegen, mit der Geld aufzuspüren war. Ich kam zu dem Schluß, daß Wahlspruch. Die Assimilation ist keine Kunst, wenn man nur erst Macht und Erfolg tatsächlich den Sinn des Lebens ausmachen und einmal den stark überschätzten Aberglauben vom »Charakter« alles andere mehr oder weniger nette Verzierungen sind. Daraus überwindet. Mit dem Wort »charaktervoll« bezeichnen wir meist folgte zwangsläufig meine Bewunderung der großen pragmati- eine sture Unbeugsamkeit, die nicht immer vom Alter herrührt; schen Normalität, meine Achtung vor den hohen Wochenschecks ein Mensch, der vorwärtskommen will und auf Geld aus ist, sollte und schließlich auf meinem Gebiet der Respekt vor den großver- am besten gar keinen Charakter haben. dienenden amerikanischen Illustratoren. Die zweite Regel, wenn man sich anpassen will: alles schön fin- Ich verliebte mich in ihre Genauigkeit, ihre photographische den! Alles – auch das, was in Wirklichkeit nicht schön ist. Je gründ- Treue, und verfiel in tiefes Mißtrauen gegenüber allen »künstleri- licher einer diese alte chinesische Weisheit beherzigt, desto besser schen Auslegungen«. Die Imitation schien mir von Anbeginn aller für seine Anpassung. Eines Tages merkt er, daß tatsächlich alles Kunst an deren einziger, ewiger Zweck gewesen zu sein, als hätte schön ist – und siehe da, nach ein paar Jährchen andauernden Lü- man eigentlich immer nur auf die Erfindung der Photographie ge- gens ist die Lüge zur Wahrheit geworden… (Denn das Leben – ich wartet, als hätte schon der erste Steinzeitmaler sich, wäre das mög-

292 293 lich gewesen, lieber eines Kodaks bedient als seines steinernen wundert, aber diese Fähigkeit, deren Vergangenheit man Anerken- Griffels. Die Kunst unserer Zeit, einschließlich meiner eigenen nung zollte, war kein Mittel zum Geldmachen. Ich fand allen Ern- Versuche mit Feder, Pinsel und Farben, erschien mir dubios. Die stes, ich sei eine gescheiterte Existenz – »a failure«. Ich fragte nicht hohen erklärenden Phrasen konnten mich kaum berühren, ge- mehr nach »innerem Reichtum«, ich fragte ganz realistisch: »Was schweige denn beruhigen. Es war eine Spaltung in mir; immer wie- verdienst Du pro Woche?« Und das genügte, um mich als geschei- der wurde ich zwischen Phantasie und Wirklichkeit hin und her tert zu kennzeichnen. gezogen – zwischen meinen phantastischen geheimen Einbildun- Wie gesagt, ich wartete auf meine Glückschance wie ein Karten- gen und dem einfachen, großartigen Formenreichtum eines Zwei- oder Lotteriespieler. Vom fahrenden Sänger und Künstler blieb ges voller Blätter. mir nichts als eine vage, schöne, romantische Hoffnung: »Warte, Wenn ich den Erfindungsreichtum der uns umgebenden Wirk- mein Jungchen – sei geduldig, demütige Dich, riskiere noch einen lichkeit sah – die Agonie eines sterbend abfallenden Blattes, die Einsatz – paß auf, eines Tages hast Du einen ›comeback‹ und bist seltsamen Falten einer hingeworfenen Serviette, die kühlen und wieder obenauf!« Dazwischen aber sah ich mich manchmal als warmen Töne einer Muschel, den Eindruck des Windes auf Dünen- alten, zittrigen Mann irgendwo im unteren New York auf einer gräser, all diesen Rhythmus und Gegenrhythmus – ach, da kamen Nachtasylstufe sitzen, an einem Zigarrenstummel lutschend, und mir die eigenen »erfundenen« Formen klein und begrenzt vor! Wie hörte noch einen im Vorbeigehen sagen: »Siehste den? Der hat mal viele künstliche Blumen konnte man schon erfinden? Aus dem ›Ecce Homo‹ gezeichnet…« puren Nichts überhaupt keine, und aus unbewußtem Erinnern höchstens drei oder vier. Dagegen gab es in der Natur immer neue Für mein Leben gern wäre ich ein amerikanischer Illustrator ge- Entdeckungen und Überraschungen. Sie war endlos und nie lang- worden, einer jener Erwählten, die für die populären Magazine die weilig; ihre Formen wiederholten sich millionenfach, glichen einan- Bilder zu den Kurzgeschichten machen. Als junger Anfänger der oft genug, und doch war jede kleine Form etwas anders; wie es schon und auch später, als ich auf verrückten dadaistischen Irr- und die Bilder Altdorfers wohl am besten zeigen. Abwegen wandelte oder expressionistisch »eckig« zeichnete und Es geschah damals etwas Merkwürdiges: je »amerikanischer« malte, besah ich mir gern heimlich derlei naturgetreue Illustratio- ich dachte, desto besser malte ich. Ich kann dieses Phänomen auch nen. Hier war wirklich etwas für die Masse. Das verstand jeder, heute noch nicht erklären, aber meine Ölbilder wurden reicher, ohne hochtrabende Kunsthistoriker und wichtigtuende Erklärer. meine Farben und Texturen besser, meine Modellierungen plasti- Es war eine Art Düsseldorfer Genrekunst, nur in modernerem Ge- scher. Nach außen hin wurde ich immer zynischer und bekam wande und freilich auch weiter verbreitet. Und das Schönste an manchmal direkte Wutanfälle gegen Kunst und Künstler. Beide, diesen bunten oder schwarz-weißen Textbegleitungen war ihre mich selbst eingeschlossen, erschienen mir völlig unnütz, und ich Normalität. wäre am liebsten umgesattelt. Solche Anfälle traten natürlich im- Gewiß, es war viel Banales daran und auch eine beschönigende mer dann ein, wenn ich nichts verkaufte – und das geschah oft Tendenz, aber eben dieses halbe Verzuckern und Verniedlichen monatelang. Ich lebte, wie der Amerikaner sagt, von meinem Witz; mochte ich. Ich mochte es lieber als die umgekehrte Säuerlichkeit das heißt, genau gesprochen, ich steckte diesen Witz in meine und sich künstlerisch gebärdende Unechtheit in Form und Farbe. Lehrtätigkeit. Mein Zeichentalent wurde hie und da höflich be- Insgeheim lag mir das amerikanische Mittelstandsideal näher als

294 295 die teils wirklich, teils schein-verrückte Sonderwelt, in der die Cornwall, Norman Rockwell, Harold von Schmitt oder den erst- froschartigen Größen der sogenannten Avantgarde der Kunst leb- klassigen Floyd Davis, ganz abgesehen von Modezeichnern wie ten und leben wollten. Leider war ich selbst, anstatt ein normaler Goodman, Fellows oder dem hervorragenden Eric. Gewiß, die Illustrator zu sein, auch nur einer von diesen aufgeblasenen Frö- amerikanischen Zeitschriften waren eigentlich große Kataloge mit schen, und meine Zeichnungen waren Zerrbilder einer schiefen, eingestreuten Geschichten. Es ließ sich manches gegen sie einwen- krummen, von den pseudo-wissenschaftlichen Gesichtspunkten den. Aber wirkten sie, wenn man sie im Ausland in die Hand des Marxismus und Freudianismus aus gesehenen und gedeuteten nahm, nicht doch alle als höchst anziehende Propaganda für ihr Welt. Dieses Zeug, fand ich, gehörte mit Recht der Vergangenheit sauberes, leckeres, hochmodernes Land? Da lag kein Stäubchen, an, und hätten die Deutschen es nicht verbrannt, so hätte ich wohl alles blitzte und lächelte freundlich, wie belebend nach dem sauer- selbst einen Haufen aufgeschichtet und ein Streichhölzchen daran- töpfischen Europa. Ich wußte natürlich, daß es diese saubere Mit- gelegt. telstandswelt nur in der Phantasie der Herren und Damen gab, die Die saubere amerikanische Normalität hingegen zog mich in jenen Zeitschriften eine Unmenge meist maschinell erzeugter enorm an. In der Verschönerung und oft süßlichen Verschleierung Waren ab- und umsetzen halfen, aber trotzdem war mir die Lüge unseres Erdenlebens sah ich – eine Erklärung mußte ja sein! – so sympathischer als die Wahrheit, und im geheimen sehnte ich mich etwas wie ein maskiertes Griechentum. Was hier idealisiert wurde, nach der Märchenwelt dieser Bilder, wie nach einem frischen, glatt- war ja zumeist die Welt, die der durchschnittliche »kleine Mann« rasiert lächelnden Traum. sich erträumte. Die Götter waren vom Olymp herabgestiegen und Ja, ein Illustrator im typisch oberflächlich amerikanischen Sinn gingen tagsüber in Tweed-Anzügen und abends im Frack spazie- wäre ich gern geworden: einfachen Geistes, gehorsam, treu der zu ren. Die Höhepunkte spielten in nicht zu billigen Nachtlokalen, bebildernden Geschichte folgend und von vornherein schon wegen von Swing-Kapellen begleitet. Selbst die Annoncen waren mit die- der zu erwartenden Leserbriefe besorgt, ob auch alles stimme, ob sem griechischen Zucker bestreut. Im Grunde waren diese großen, kein Knopf zu wenig da sei und kein Haar zu viel. Es gab, beson- reichbebilderten Zeitschriften einfach Märchen- und Bilderbücher; ders bei den eleganteren Modemagazinen, auch noch eine andere es waren Wunschträume kleiner, eigentlich häßlicher Erdenbewoh- Art von Illustratoren, die eigentlich vom Skizzierenden herkamen: ner mit schlechter Verdauung, Herzfehlern, Leberkrebs, unheil- halbkranke Nervenbündel, deren Stil von Malerruinen wie Lautrec barer Trunksucht, zerrütteten Ehen und heimlichen Aborten. Gar und dem verzweifelten Pascin beeinflußt war und deren Zeichnun- keine schlechten Wunschträume übrigens nahmen hier Gestalt an, gen sich neben Dürer, Menzel und Doré ausnahmen wie Spuren wie aus einer sauberen, oftmals chemisch gereinigten Spielzeug- von dünnen, halbtoten Fliegenbeinen, müde übers Papier ge- schachtel! schleift. Sie waren reizvoll, doch ihr Reiz war ganz und gar morbid. All das versuchten wir ja in Deutschland zu imitieren, aber den Von diesen Leuten spreche ich hier nicht; sie standen außerhalb der wahren Glanz, die eigentliche Eleganz erreichten wir nie. »Die Masse und wirkten nur auf alles Schwächliche und Ungekonnte. Dame« und »die neue linie« (letztere ein bißchen den amerikani- Was ich werden wollte, war ein Illustrator für das große Publikum. schen »Esquire« nachahmend) wirkten doch irgendwie plumper. Hatte ich nicht als Junge schon neidvoll die täuschende Echtheit Auch unsere Illustratoren konnten es mit den Amerikanern nicht Grütznerscher Mönche bestaunt oder den Schwung der Husaren- aufnehmen. Wir hatten niemand wie Charles Dana Gibson, Dean ritte an den Wänden des Stolper Offizierskasinos? Liebte ich nicht

296 297 von jeher unseren großen Menzel, der durchaus populär illu- Natürlich bekam ich den Auftrag weder morgen noch übermor- strierte, der nichts verzeichnete, dem die moderne, oft aus purem gen. Und teuflisch, wie es nun einmal war: Wenn ich wirklich Nichtskönnen stammende Willkür vollkommen fernlag, der ganz etwas der Art illustrieren sollte, fand ich selbstverständlich eben normal war und doch ein großer Künstler? diesen Ausschnitt nicht. Ich hatte meine Morgue ja nur vage geord- Als Illustrator mußte man vielerlei Formen beherrschen und net, und allmählich war sie mir über den Kopf gewachsen. Etwas völlig richtig und genau zeichnen können, denn im Photoapparat pedantisch veranlagt, wie ich war – nicht sehr pedantisch, nur so ein hatte man eine ungemein scharfsichtige Konkurrenz. Ich kaufte bißchen –, hatte ich auch Schwierigkeiten mit den Titeln. Wohin mir Bücher über amerikanische Illustration und erstand im Waren- gehörte z. B. der wunderbare zahme Löwe? Zu den wilden Tieren haus Macy’s einen dreiteiligen Spiegel, um mir, falls ich ein Modell natürlich, oder unter Afrika – nein, warte mal, der kam ja weder aus bräuchte und keines bei der Hand hätte, selbst Modell stehen zu Afrika noch aus dem Zoo; der war aus irgend einer Zirkusmenage- können. Dann begann ich Ausschnitte zu sammeln. Alles, wovon rie. Also wohl unter Zirkus. Auf alle Fälle konnte man ihn unter ich glaubte, daß es mir später einmal nützlich sein könnte, wurde vier Titeln kreuzweise eintragen. Tadellos, sagte ich mir, und das ausgeschnitten und kam in eine sogenannte »Morgue«, ein »Lei- schöne Löwenbild legen wir zunächst obenauf; ich werde alles chenschauhaus«, wie so eine Sammlung im Zeitungsjargon (und schon noch richtig ordnen. Vorläufig kann es da liegen bleiben, und laut jenen Büchern auch beim amerikanischen Zeichner) heißt. Da am nächsten regnerischen Sonntagabend nehme ich mir das Ganze ich ein Sammler von Natur bin, füllten sich bald Mappen und alte vor… Pappschachteln mit Ausschnitten: Trachten, Operationen, Schiffe, Inzwischen hatte ich ein paar kleine Zeichnungen für »Esquire« Tiere, Soldaten, Überschwemmungen, Küchentische, Gesichter, zu machen, darunter ein Interieur einer Wäscherei. Ich wußte, daß exotische Bäume, fremde Landschaften, Großaufnahmen von ich kürzlich so etwas aus einem Katalog geschnitten hatte, und ver- Stoffen, Falten im Wind, flatternde Fahnen, Blumen, Käfer. Eine brachte einen Nachmittag auf der Suche nach diesem »clipping«. ganze Morphologie und eine chaotische Formenwelt häuften sich Wie gewöhnlich war es verschwunden. Ich mußte das Blatt ohne in meiner Morgue. Hilfe eines Ausschnitts machen, auf undeutliche Erinnerung ange- Ich schnitt aus und dachte bei jedem Bild, das ich ausschnitt, ge- wiesen. Es wurde trotzdem fast naturgetreu; über alles, was ich rade dieses würde ich gewiß einmal brauchen können. Zuerst legte nicht wußte, schwindelte ich mich mit Strichen und Tupfen hin- ich alles nach bestimmten Gesichtspunkten in verschiedene Map- weg. Natürlich hätte ich es lieber ganz genau gemacht, aber der pen. In einer zum Beispiel befanden sich »Tiere, zahme«, in der verdammte Abschnitt war nicht mehr zu finden. nächsten »Tiere, wilde«. Hier lagen »Bäume in Landschaften«, Als ich die Zeichnung längst abgeliefert hatte und wieder einmal dort wieder »Landschaften mit Bäumen«. Ich schnitt und schnitt meine geliebte Morgue durchblätterte, lag das Wäscherei-Interieur aus. Die Mappen schwollen an, und die Pappkartons flossen über, obenauf. Es überraschte mich keineswegs. So ging es immer. Nur aber der Strom, der sich täglich aus Zeitungen und Magazinen er- wurde ich der ewigen Sucherei, des ewigen Verlegens und Nicht- goß, schien uneindämmbar. Immer wieder dachte ich, wenn ich ein mehrfindens allmählich müde. Ein paar »clippings« hatte ich in Bild auszuschneiden versäumte, hätte ich etwas Wichtiges verpaßt – »scrap books« geklebt, aber – wie sollte es anders sein? – gerade morgen schon würde ich einen Auftrag bekommen, wozu gerade diese, die ich so schön säuberlich geordnet hatte, benötigte ich nie. diese Cowboytracht… Es war da sichtlich ein spaßhafter, leicht irritierender Atelierkobold

298 299 am Werk, der es immer so einrichtete, daß man das gerade ge- unter Wetter – gelbe Mappe – oder unter Regen – hellblaue: Natur wünschte Bild nicht fand. Toll, so etwas… und Naturereignisse – oder auch unter Wasser schlechthin auf Da besann ich mich auf meinen alten Freund Wieland. Der hatte Regen triffst, und damit auf Regenschirm. Selbst wenn Du das ja mal einen großen Verlag geleitet und war ein Meister im Organi- ursprüngliche Stichwort, in diesem Fall Regenschirm, vergessen sieren gewesen – nicht nur in der doppelten Buchführung, sondern haben solltest, wirst Du doch unfehlbar in kurzer Zeit sowieso auf auch in der Anlegung modernster Kartotheken. Ich trug ihm einen Regenschirm stoßen«. meine Sorgen vor: daß ich zwar alles schön ausgeschnitten und auf- Ich war immer für Klarheit und Einfachheit gewesen – nur keine bewahrt, aber nicht die Kraft gehabt hätte, meine lawinenartig auf Vermanschungen! –, und nun sah ich, wie einfach im Grunde so schon fast zehntausend Ausschnitte angewachsene Sammlung zu eine Kartothek war, wenn man sie nur richtig organisierte. Mir ordnen, und ob er mir nicht wenigstens die Anfangsgründe bei- schwirrte der Kopf. Also lebende Dinge hellblau, tote Dinge rot; bringen könne? Regenschirm unter den toten Dingen suchen, also grüne Mappe Wieland meinte, es sei ganz einfach, solche Unordnung in Ord- nachsehen; dann Unterabteilung Wasser, siehe Naturschauspiele, nung zu verwandeln. Er habe das öfters für seinen Verlag getan, oder siehe braune Mappe für Wasserfall und Wolkenbruch. Wun- und es mache ihm außerdem Spaß. Natürlich bräuchten wir etwas derbar. Material. Ich müsse farbige Kartonblätter bestellen – eine billige Ich besorgte eine große Papierschere, zwei Flaschen Leim, Quelle dafür hatte er an der Hand –, und dann setzte er mir aus- schwarze Tinte und eine dicke Schreibfeder. Wieland saß tagelang einander, wie die ganze Sammlung erst einmal in diverse Sektionen an einer langen, improvisierten Tafel im Wohnzimmer des kleinen einzuteilen sei. »Etwa so: tote Dinge meinetwegen hellblau oder Hauses, das wir damals gemietet hatten. Der Raum war bald knie- grün; lebendige Dinge unter rote Deckel –« tief mit Ausschnitten angefüllt. Er beschnitt und sortierte jeden »O. K.«, sagte ich. »Großartig.« meiner Ausschnitte nach einem ihm anscheinend verständlichen »Da findest Du Dich dann sofort zurecht. Rot und grün – System. Es war ein Vergnügen, zu beobachten, wie Ordnung in brauchst Du z. B. einen Regenschirm, so greifst Du erst mal in die mein Durcheinander kam. grünen Kartons.« Mittlerweile machte ich ein paar Zeichnungen für Ben Hecht. Es »Wunderbar«, pflichtete ich ihm bei. »Genau, was ich immer waren nur Randzeichnungen, aber ich wollte doch genau sein, und wollte!« dazu brauchte ich leider das Bild eines alten Telephons, von dem »Übersicht und Einfachheit sind immer meine Prinzipien. Siehst ich bestimmt wußte, daß ich es einmal aus einem Artikel über den Du«, fügte er hinzu, »und wenn wir erst alles in einfache große Ab- Erfinder Bell herausgeschnitten hatte. Wieland und ich begaben teilungen, rot, grün und blau, eingeteilt haben, dann machen wir uns auf die Suche. Unter den viertausend, die er schon durchgear- Unterabteilungen – etwa gelb, violett und weiß. Wenn Du also den beitet hatte, war der Ausschnitt nicht. Nachdem das festgestellt Schirm suchst und hast die allgemeine grüne Sektion »Tote Dinge« war, stärkten wir uns mit einigen Glas kalifornischen Weines und vor Dir, dann gehst Du gleich weiter in die diversen Unterabteilun- gaben für diesen Abend das Suchen auf. gen – vielleicht hellgrün für alte tote Dinge, hellbraun für moderne Am nächsten Tage suchten wir nicht weiter, denn nun mußten tote Dinge, und so weiter. Dann werde ich Dir noch einmal alles wir auf die farbigen Pappdeckel warten, an denen man die Mappen kreuzweise und doppelt einteilen, so daß Du zum Beispiel auch mit den einzelnen Sektionen erkennen sollte. Endlich würde ich

300 301 hier etwas finden, dachte ich. Wunderbar, wie der Wieland das warum in Gottes Namen arbeitest Du denn nicht für den ›New organisierte! Zwar dauerte es nun schon mehrere Wochen, aber es Yorker?‹« war ja auch eine Lausearbeit. Außerdem war es Juli und unerträg- »Gern«, sagte ich, »aber selbstredend. Sure.« lich heiß. Fadiman war damals noch kein Literaturpapst und Radiostar, Eines Morgens hielt ein Lieferwagen vor dem Haus und brachte sondern Buchkritiker für das illustrierte Magazin »New Yorker«. die Pappkartons. Es waren fünf große, ungemein gewichtige Pa- Er versprach, mit den Leuten zu reden; meine Sachen wären be- kete; Papier ist ja bekanntlich sehr schwerwiegend. Wieland und stimmt etwas für den »New Yorker« – aber klar, das wäre doch ich mußten beide mit anfassen, um es ins Haus zu bringen. Ich noch schöner… zimmerte noch in meiner Werkstatt ein solides Gestell dafür, wäh- Wie die Regel in solchen Fällen: ich habe nie wieder etwas davon rend Wieland sorglich die Mappen mit den geordneten viertausend gehört. Dort war mein Platz also nicht. Ausschnitten anfüllte. Beim »Esquire«, einer schönen Zeitschrift für College-Boys und Was aus den damals nicht bearbeiteten sechstausend wurde, andere Junggesellen, bekam ich später eine Stelle als Briefmarken- weiß ich nicht mehr. zeichner. Ich meine das natürlich nur bildlich, weil meine groß Schließlich war aber alles in bester Ordnung, aufgeklebt und be- angefertigten Zeichnungen so klein wie Briefmarken in den Text schriftet. Die Morgue war da – tadellos –, und noch heute stehen all gedruckt wurden, als sogenannte »spots«. Da war ich also ein ame- die schönen Mappen hübsch bunt in einer Ecke meines Ateliers. rikanischer Illustrator, aber die großen, schönen, bunten, süßen, Benutzt habe ich sie seit der großen Neuordnung nicht mehr. Viel- anziehenden Bilder meiner Sehnsucht wurden mir nicht erlaubt. leicht wird mein Sohn einmal ein amerikanischer Illustrator; der Immerhin, es war ein guter »job«. Ich bekam immer drei bis vier kann dann meine Ausschnitte verwenden, falls sie nicht inzwi- Kurzgeschichten auf einmal und genügend Zeit; bezahlt wurde schen zu sehr veraltet sind. nicht viel, aber da ich am Spieltisch die Karte mit einer Guggen- heim Fellowship gezogen hatte, was ein zweijähriges Stipendium Merkwürdigerweise konnte ich selbst die von mir so sehr bewun- bedeutete, konnte ich einigermaßen frei leben. derte Einfachheit und Normalität der amerikanischen Illustration Ich konnte sogar in ein größeres Haus ziehen und mich immer nicht erreichen. Mir zerfloß immer alles ein wenig, besonders wenn mehr der geliebten Ölmalerei widmen, die ich damals nach langen ich mit Aquarell malte. Die Farbe floß über die Randlinien; die Ge- Jahren wiederaufnahm, in denen die Farben vertrocknet und die sichter wurden mittelalterlich und häßlicher, als ich es eigentlich Pinsel, soweit aus Kamelhaar gefertigt, von den Motten zerfressen wollte. Wie gern hätte ich auch das Nette, Niedliche, Normale in worden waren. Hie und da machte ich noch ein paar Blätter für mein Repertoire gebracht! Oft sah ich mir Raffael an; der hatte Frank Crowninshields damals noch existierendes »Vanity Fair«. zwar auch »erfunden« und übertrieben, aber da war immer alles Oder Mister Brodovitch von »Harper’s Bazaar« gab mir einen der »gekonnt« und für jeden verständlich, wie bei jeder »gesunden« mehr gruseligen Beiträge für sein Magazin zu illustrieren, denn ich Kunst. Ich stand nicht etwa höher, weil ich ungehorsameren Gei- galt als Experte in morbiden und grausigen Sachen. Man schrieb es stes war. Ich liebte das gut Mittelmäßige, die gemeinverständliche meinem »teutonischen« Erbteil zu, daß ich alles so gut darstellte, Sprache, aber ich konnte sie leider nicht ganz meistern. was mit Tod und Skeletten zusammenhing. Schon im Jahre 1933 hörte ich von Clifton Fadiman: »George, Mein bester Auftrag – von George Macy, dem Herausgeber der

302 303 Limited-Editions-Bücher – war die Illustration von O.Henrys sagen meinen Mann und geriet allmählich in den Ruf eines positi- ausgewählten Geschichten, zu denen ich viele ganzseitige Aqua- ven, glücklichen, lachenden, zufriedenen Optimisten. Und den- relle malte. Noch heute sehe ich mir diese Bilder und das ganze, noch blieb da etwas Unveränderliches, etwas von mir – denn ich vorbildlich ausgestattete Buch oft mit Genugtuung an. Für Caresse will mich ja anpassen! – als schizophren Verdammtes, das in mir Crosby und ihre berühmte Black Sun Press zeichnete ich »Inter- liegt wie ein schweres, unbewegliches Gewicht aus Stein. regnum«, eine 60-Blatt-Mappe politischer und teilweise propheti- scher Karikaturen aus einer Zeit, in der man Hitler noch für ein ziemlich lokales, ungefährliches und vorübergehendes Problem hielt. Die zwei letztgenannten Publikationen, obwohl beide gut bezahlt, fielen, wie man so sagt, unter den Tisch. Die Kritik beach- tete sie kaum; heute sind sie vielleicht schon Sammlerobjekte. Meine amerikanische Illustratorentätigkeit hörte bald ganz auf. Nach zwei Jahren Arbeit für »Esquire« kündigte man mir dort. Ich war nicht mehr vonnöten. In derlei Zeitschriften geht es ja wie in einem Modehaus zu; man braucht und verbraucht dauernd Neues oder neu hergerichtetes Altes. Zudem gab es eine Menge jüngerer Leute, die bereit waren, in meine Fußtapfen zu treten und ähnliche Arbeit noch ein wenig billiger zu machen. Was ja auch nur recht und billig war… Es ist eigentlich merkwürdig, daß ich bei aller Bewunderung für diesen von den Kunstmalern verachteten Zweig der Kunst mich nicht mehr umbiegen konnte – ich, der ich ursprünglich doch als Illustrator im amerikanischen Sinn angetreten war, der ich unsere Fritz Koch-Gotha und Hermann Vogel-Plauen verehrte, der ich einst glaubte, mich um den begehrten Menzelpreis für junge deut- sche Illustratoren bewerben zu können. Seltsame Karten, die man am Spieltisch bekommt! Meine europäische Entwicklung, meine Berufung zum deutschen Satiriker ließ sich – ich gebe das ruhig zu – eben doch trotz aller Anpassungsbestrebungen nicht mehr unter die einstigen Neigungen meines Jünglingsstadiums beugen. Ich war heiß bemüht, dem großen Walt Whitman nachzueifern, der einmal schrieb: »Ich enthalte Vielheiten, und warum sollte ich mir nicht widersprechen?« Ich nahm mir dies zum Vorbild, übte mich täglich fleißig in der Selbstverleugnung, stellte auch im Ja-

304 305 um Hilfe geschrien. Er nahm ihn in seine kräftigen Arme und schwamm auf dem Rücken, den Reglosen mit sich ziehend, ans Ufer. Dort bettete er ihn aufs weiche Moos, stellte ihn auf den Kopf, bis das garstige Wasser aus ihm herauslief, bog seine Arme XVI Abstecher auf der Goldsuche vor und zurück – mit einem Wort, er belebte ihn wieder. Nach einiger Zeit schlug der arme Sohn die Augen auf. Er kannte den reichen zwar von der Schule her, doch standen sie nicht ie gesagt fing ich in amerika von vorne an. Zuerst ver- auf sehr freundschaftlichem Fuße. Nun aber ergriff der Arme des Wlegte ich mich aufs Illustrieren, dann versuchte ich auch Reichen Hand, drückte sie sacht, denn er war noch immer sonst noch allerlei – und darauf bezieht sich die nun folgende Ge- schwach, und flüsterte dankbaren Blickes: »Victorle, Victorle… schichte. Ich erzähle sie ein wenig eingekleidet, da ein paar der ich danke Dir von Herzen, daß Du mich gerettet hast… Victorle, darin vorkommenden Personen noch leben; und wenn sie nicht jetzt hab ich nichts als Worte; aber wenn ich Dir je einmal einen von A bis Z wahr wäre, könnte man sie ganz gut auch symbolisch Gefallen tun kann… ich tu’s bestimmt, Victorle, denn Du bist auffassen. Ich nenne sie »Die Geschichte von der De Vilbiss- mein Lebensretter…« Spritze, oder: Wenn einer in Amerika sein Glück gemacht hat.« »Schon gut«, sagte Victor, »schon gut, Carl.« Vor langer Zeit lebten im südlichen Teile Deutschlands zwei Fa- Er war kein Freund des Dankes. Was er getan, war simple Men- milien: Die eine war lange dort ansässig und sehr reich. Die andere schenpflicht gewesen; Dank zu begehren – nein, das war nicht war auch lange dort ansässig und ärmer – nicht sehr arm, aber auch Victors Art. Und so fängt unsere Geschichte an. nicht sehr reich, wie das nun einmal auf dieser Welt so ist. Beide Jahre vergingen. Jahrzehnte wurden im großen Kalender umge- Familien hatten Kinder, und eines Tages im Sommer ging der Sohn blättert, ein Krieg brachte Schrecken und Elend über die Men- der reichen Familie im nahen Flusse baden. Zufällig war der Sohn schen, und dann war wieder Friede. Victor war in der großen der ärmeren Familie auch baden gegangen, und so trafen sie sich Reichshauptstadt ein bekannter Arzt geworden, und hohe Herr- und gingen beide ins kühle Wasser. schaften, Prinzen und Prinzessinnen kamen zu ihm und erbaten Das Wasser war aber stellenweise reißend und tückisch. Es gab seinen Rat. da Nixen und verborgene Strudel, die den unvorsichtigen Schwim- Und Carl? Ja, Carl war übers Weltmeer ausgewandert, nach dem mer leicht in die Tiefe zogen. Und richtig, an jenem Tag, da der rei- fernen Amerika, und man hatte nie wieder von ihm gehört. Erst als che und der ärmere Sohn dort badeten, erklang plötzlich Geschrei der Krieg endlich vorbei war, und die Menschen sich wieder den von der Mitte des Flusses her: »Hilfe! Hilfe! Hilfe, ich ertrinke!« Himmel und die Sterne anzusehen getrauten, ohne Furcht, daß Der gurgelnde Laut drang an das Ohr des reichen Sohnes, der ihnen von dort oben gleich eine Sprengladung auf die Köpfe fiele, nach beendetem Bad am Ufer lag und sich sonnte. Als beherzter, da kam Carl eines Tages zurück. Carl, der kleine, arme Carl, war geübter Schwimmer sprang er sofort kopfüber in die Fluten, er- nämlich reich geworden – und zwar sagte man, er sei jetzt noch viel reichte mit ein paar Stößen die Stelle, von der die Schreie kamen, reicher als Victor! faßte den Untergehenden am Schopf und zog ihn aus dem Strudel. Er kam mit vielen buntbeklebten Koffern, wovon manche so Da erst erkannte er, daß es der ärmere Sohn war, der so flehentlich groß waren wie kleine Häuser. Er kam mit prächtigem Gefolge,

306 307 darunter auch Fürsten und bezaubernd schöne Prinzessinnen, nur artigen, in Kopfhöhe angebrachten Löchern starrten und dabei waren es keine von Geblüt, wie Victor sie als Patienten hatte, son- seitlich an einer Kurbel drehten. Und da Onkel Carl die geheim- dern Kinoprinzessinnen und Dollarfürsten. Carl brachte viele Be- nisvolle Fähigkeit hatte, alles zu erwerben, was er anfaßte, so ge- diente mit, sowie ein Rudel gelehriger Hunde und buntgefiederte hörten ihm bald alle diese Apparate samt den vielen Rollen, auf Papageien, die alles nachsprechen konnten, was »Uncle Carl« ihnen denen Bilder aufgerollt waren und die man mit der Kurbel in den vorsagte. Und er und sein ganzes Gefolge kamen in riesigen, nagel- Kästen herumdrehte. Dieser Apparat mit den beweglichen Bildern neuen, vergoldeten Automobilen. hatte sich dann weiterentwickelt; aber Onkel Carl hatte nun ein- Der Bürgermeister begrüßte sie vor dem Stadttor, von dem nur mal seinen Spaß daran – und da jeder Spaß, den Onkel Carl hatte, noch die Hälfte stand; die andere Hälfte war bei einem Flieger- zu Geld wurde, dauerte es nicht lange, bis er ein reicher und mäch- angriff weggeblasen worden. Der Bürgermeister ging Onkel Carl tiger Kinofürst war. entgegen und überreichte ihm den rasch noch vergoldeten Schlüs- (Im zweiten Teil dieser Geschichte muß ich meinen Stil etwas sel zum Rathaus – denn er war ein kluger Mann und brauchte Geld ändern, denn ich komme nun persönlich darin vor…) für die verarmte Stadt. Onkel Carl hatte viel Geld. Bald war ein Wieder vergingen Jahre, da fügten es die Umstände, daß Victor Bankett gerüstet, und Onkel Carl gab dem Bürgermeister einen und ich und auch Onkel Carl in New York waren. Victor war mitt- großen Beutel voll schöner Goldstücke, um damit ein neues Rat- lerweile mein Schwager geworden. Auch er hatte Deutschland ver- haus und ein ganz neues Schwimmbad zu bauen. lassen, denn es regierte dort ein früherer Gefreiter, der seine Hor- Von einem Poeten, den Onkel Carl eigens zu diesem Zweck mit- den nicht nur auf alle hetzte, die ihm nicht gehorchten, sondern gebracht hatte und der es in vielen Strophen beim Festmahl zur auch die Menschen gesetzlich nach ihrer Schädelform einteilte, Harfe erzählte, erfuhr man dann auch, wie es zugegangen war, daß wobei gewisse Schädel sehr schlecht wegkamen und deshalb viel- der arme Junge so unermeßlich reich geworden. Anfänglich hatte fach auswanderten, ehe das Gesetz auf sie Anwendung fand. er mit Schnürsenkeln gehandelt; erst mit wenigen Paaren, dann mit In Amerika gab es dies alles noch nicht. Es war noch ein freies mehreren, bis ihm endlich alle Schnürsenkel gehörten, die es dort Land. Doch obwohl es frei war, war es dort oft schwer, das Geld zu drüben gab, und er sie nicht mehr eigenhändig verkaufte, sondern verdienen, mit dem man die Freiheit ja erst so richtig genießen nur bei einer großen Zählmaschine stand, die die täglichen Einnah- kann. Damals gab es viel mehr Menschen, die arbeiten wollten, als men automatisch registrierte. Allmählich, so erzählte der Poet, Arbeit da war, besonders auf meinem Gebiet, denn in Kunst stellte hätten ihm auch die Ösen gehört, durch die die Schnürsenkel ge- ich ja etwas her, was letzten Endes reiner Luxus war. Aber ich zogen werden, dann die Schuhe selbst und dann das Leder für die mußte doch auch leben! Das Unterrichten war ja ganz schön, aber Schuhe. Damals sei Onkel Carl schon reicher als reich gewesen, es wurde leider zu schlecht bezahlt. Meine Frau und die Kinder aber auch das habe ihm nicht genügt, denn er wollte höher waren noch in Deutschland. Ich mußte Geld für ihre Überfahrt hinaus… und für die erste Zeit hier auftreiben. Aber ich verdiente nur gerade Eines Tages, in der großen Stadt Chicago, die man die windige genug zum Leben, und dann ging es mir immer wie dem Tantalus Stadt nennt und aus der die vielen Fleischkonserven kommen, sei in der griechischen Sage: schon waren die goldenen Früchte in er nun in einen Durchgang getreten und habe beobachtet, wie Reichweite, schon streckte ich die Hand danach aus – schwupp, mehrere Leute belustigt in eine Maschine mit zwei augengläser- zog man sie mir vor der Nase weg…

308 309 Aber da Amerika kein Land ist, wo man die Flinte ins Korn das erste Mal mit Onkel Carl – aber wie die Dinge lagen, könne wirft, tat ich es auch nicht. Immer wieder suchte ich von neuem man in diesem Fall ja eine Ausnahme machen. Zufällig werde er nach meiner Chance. Schließlich fiel mir beim Grübeln und Über- Onkel Carl dieser Tage bei einem Empfang sehen, und ich könne legen, wo ich hier eventuell hineinpassen könnte, etwas ein: Ich sicher sein, daß er tun werde, was möglich sei. hatte früher häufig Bühnenbilder entworfen. Vielleicht ließ sich Alles verlief plangemäß. Ich wurde aufgefordert, meine Büh- dieses Talent verwerten? Und da ich ja Geld verdienen wollte, nenbilder und Kostümfiguren und alles, was ich sonst von Thea- dachte ich sofort an Hollywood. terentwürfen bei mir hatte, da und dahin einzusenden. Das Datum Ja, das war es. Hier lag mein vergrabener Goldschatz; ich meiner Privataudienz mit dem fast legendären Onkel Carl, der aus brauchte ihn nur zu heben. Wunderbarer Gedanke! Aber – ein einem armen, kleinen Jungen einer der Regierenden im Reiche des Aber war dabei, nämlich: wie bekomme ich Beziehungen? Es war Films geworden war, würde mir noch mitgeteilt werden. klar, daß ich nicht einfach mit der Mappe unter dem Arm losziehen Ich »ging auf Luft«, wie der Amerikaner sagt, so schön leicht war und an die Ateliertür klopfen konnte: »Guten Tag, Herr Regisseur, das Leben plötzlich! Ich sah alles rosig, schmiedete große Pläne und können Sie nicht einen erstklassigen Bühnenbildner brauchen?« baute schaumige Luftschlösser. Beschwingt kabelte ich an meine Nein, da wäre ich nicht weit gekommen. Schon der Portier hätte Frau, sie solle mit dem Absenden des Lifts und aller Sachen noch mich abgewiesen. Hinein kam man nur durch Beziehungen, und warten – »hochbezahlter Job in California Hollywood in Aus- diese fehlten mir – die richtigen, meine ich. Denn es durften nicht sicht«. Das Wort Hollywood ließ ich noch extra einfügen. Am einfach gewöhnliche Beziehungen sein, nicht bloße Visitenkarten liebsten hätte ich der Beamtin am Western-Union-Telegraphen- mit Empfehlung; wenn da wirklich etwas in der Art eines höheren schalter alles genau erzählt, aber das Western-Union-Girl hatte gar Wochenschecks herausspringen sollte, dann mußten es die besten kein Interesse daran; für sie war es ein Kabel wie andere auch. Ich Beziehungen sein. Aber woher nehmen? aber sah mich schon im Geiste als Bühnenentwerfer für eine der Bei einem Abendbrot auf dem Dachgarten des Madisonhotels führenden Filmgesellschaften – doll. Jaja, dachte ich, das ist Ame- erzählte ich meinem Schwager von Plänen und Sorgen und daß rika. Junge, Junge, plötzlich hast Du über Nacht eine Riesenstel- alles soweit gut und schön wäre, wenn ich nur zu einem der »big lung. Natürlich werde ich sparen – Mensch, und wenn ich dann nach shots« der Filmindustrie die richtigen Beziehungen hätte. Victor drüben gehe! Den Wagen nehme ich mit, klar – überhaupt, sich mal dachte nach, füllte die Gläser aufs neue mit kühlem Hochheimer Europa vom Auto aus ansehen und noch dazu mit einem amerikani- und sagte, so eine Beziehung hätte er. »Du weißt ja«, sagte er, schen Paß – Donnerwetter, waren das Aussichten! Jawohl, mit der »Onkel Carl ist sehr groß, wenn auch nicht mehr so groß wie frü- einen Fußspitze war ich schon über den Graben hinüber, auf der her – aber immerhin, wenn der sich Deiner annimmt, dann bist Du Seite der goldenen Zahlen. vorläufig raus…« Eines Tages kam der erwartete Brief: ich solle mich an dem und Und nun erzählte mir Victor, warum er und Onkel Carl zwar dem Tage im New Yorker Privatbüro des großen Onkel Carl ein- keine intimen Freunde werden konnten, aber doch so halb und finden. Er wolle mich kennenlernen. Hurra, ich hatte gewonnen! halb eine gewisse Jugendfreundschaft aufrechterhielten: es war die Mich kennenlernen, persönlich in Augenschein nehmen, das hieß Geschichte der Lebensrettung. Ja, sagte Victor, er nehme sehr un- doch ganz selbstverständlich, er wollte mich anstellen – aber klar gern jemand anderen in Anspruch und es wäre wahrhaftiger Gott hieß es das. Sonst hätte er mich doch nicht erst bestellt, anstatt ein-

310 311 fach höflich abschreiben zu lassen. Victor hatte natürlich recht zeigte, und sagte dann, zu mir gewandt: »Mister Smithhold wird gehabt; hatte Carl damals nicht gesagt: »Victorle, also wenn ich Dir sich sehr freuen, Sie zu empfangen; er wird Ihnen alles Nötige mit- einmal einen Gefallen tun kann –?« Na, nun hatte er seine Chance. teilen.« Dann händigte sie mir einen weißen Passierschein aus, und I wo, da gab es nichts, der mußte mich irgendwo unterbringen. ein uniformierter Boy führte mich den Korridor entlang. Ach du lieber Gott im Himmel – großartig! Vorbei das öde Unter- Überall sah ich Büros und hörte fleißiges Schreibmaschinenge- richten, vorbei die Quälerei mit schlechtbezahlten Illustrationen, klapper hinter halb angelehnten Türen. An den Wänden hingen auf ins goldene Hollywoodparadies! Ich übertreibe wirklich nicht, überlebensgroße Plakate mit überlebensgroßen Porträts der dama- genau so überschwenglich dachte ich damals. ligen Stars der Firma. Plötzlich stand ich in einem geräumigen Ich bereitete mich also innerlich und äußerlich vor, ließ meinen Zimmer. Ein großer, ungeheuer freundlicher Mann kam lachend Anzug bügeln, band mir eine extra-geschmackvolle Pariser Kra- auf mich zu, ergriff meine Hand, riß sie stürmisch an sich und watte um und schmückte mein Knopfloch mit einer feuerroten schüttelte sie lange. »Oh, ich freue mich so, Sie kennenzulernen«, Nelke, denn der Filmmagnat sollte einen guten Eindruck von mir rief er aus. »O ja, ich kenne alle Ihre Sachen. Nein, welche Freude, bekommen. Respektvoll und zugleich frei, fröhlich und offen daß Sie hier sind!« wollte ich ihm unter die Augen treten. Trotzdem kam mich auf ein- Er sprach fließend deutsch und lachte bei jedem Wort, aber man mal – wie so etwas doch in einem festsitzt! – ein so ein klein wenig hatte trotz aller Herzlichkeit ein Gefühl, als sei er von irgendwem unbehagliches Gefühl an, wie wenn ich in der Stolper Oberreal- aufgezogen worden und schnurre nun eine Melodie ab wie ein schule zum Direktor gerufen wurde. Gott sei Dank verschwand Apparat. das wieder. Und als ich innerlich und äußerlich gebügelt auf dem »Nein«, sagte er und hieb mir auf die Schulter, »nein, wie sich Omnibusverdeck meinem Bestimmungsort zuschaukelte, war ich erst Onkel Carl freuen wird! Hahaha –« voll schöner Zukunftsträume, voll dankbarer Gefühle für Victor, Damit hob er den Hörer von einem der vier oder fünf Telephone in die ich großmütig schon Onkel Carl mit einschloß, und voller auf seinem Schreibtisch ab, und plötzlich sprach aus einen dane- Zufriedenheit mit Amerika und der Welt. benstehenden Kasten ein quäkendes Stimmchen. Der Freundliche Ja, hier mußte ich aussteigen, und dort drüben lag das Gebäude, antwortete dem Kasten – »O.K., Boß!« – während er gleichzeitig das die Zentralverwaltungs- und Privatbüros des großen Film- an einem Telephon eine Nummer wählte, in ein zweites hinein- mannes enthielt. Ich trat ein, ging an dem üblichen Zeitungs-, Ziga- horchte und zu mir sagte: »So, jetzt können Sie hineingehen.« Er retten- und Schokoladestand vorbei zum »office directory« und streckte die Hand mit dem Telephonhörer aus: »Ja, hier den Gang studierte noch einmal die tausend Namen auf der Tafel. Ja, hier war lang, wo die beiden Herren stehen, und denen zeigen Sie Ihren es, ich wußte es ja schon – sechste Etage. Ich stieg in den Fahrstuhl weißen Passierschein. Viel Glück, haha – und auf dem Rückweg und sagte: »Six, please.« Die Türe schloß sich, öffnete sich wieder sehe ich Sie, nicht? Hahaha –« und ich stand im Korridor. Noch im Gange hörte ich sein dröhnendes Gelächter. Das ganze Stockwerk gehörte Onkel Carls Filmgesellschaft. Vor Die zwei Männer, an die er mich verwiesen hatte, tasteten mich mir war eine Türe und neben der Türe ein kleines Schalterfenster, ab und erkundigten sich, ob ich Waffen bei mir trüge. Sie sahen sich dahinter saß eine Dame mit einem Sprachrohr vor dem Mund. Sie den Passierschein genau an, dann nahm ihn der eine an sich, ver- nahm meine Karte und den Brief, den ich befehlsgemäß sofort vor- schwand durch eine benachbarte Tür, kam wieder heraus, gab mir

312 313 den Schein zurück und sagte, über die Schulter winkend: »O.K., der auf einem silbernen Tablett eine sogenannte De Vilbiss-Spritze Buddy.« balancierte. Er stellte das Tablett ab, nahm die Spritze zur Hand Die Tür, auf die ich nun zutrat, schien etwas verschnörkelt und und ging zu Onkel Carl. Onkel Carl neigte wie bei einer verabre- feiner geschnitzt als die anderen. Auf einmal sah ich, daß es keine deten Zeremonie sein Haupt etwas zurück und sagte nichts als: Schnitzerei war, die sie bedeckte, sondern ein Gitterwerk aus »Spritz!« Er hielt den Mund offen, gab ein Zeichen mit der Hand, Eisen, offenbar zur Verstärkung der Türe nachträglich angebracht! hielt einen Augenblick inne, hob wieder die Hand und sagte noch Alles fiel mir jetzt ein und erklärte auch die Gegenwart der Detek- einmal: »Spritz!« tive: Wie ich kürzlich gelesen, hatten böse Kidnapper gedroht, dem Ich war plötzlich vollkommen ernüchtert. Ich war mitten in guten Onkel Carl seinen Sohn oder Enkel zu entführen. Na, ich einer feurigen Rede unterbrochen worden, und nun war mir so, als war ja gottlob kein Kidnapper… werde nicht Onkel Carls Gaumen und Nase bespritzt, sondern Ich klopfte an. Ein schwaches »Come in« erklang, und ich stand ich, und zwar mit kaltem Wasser. Ein schöner Abschluß, eben als dem großen Filmmagnaten gegenüber. Er war sehr klein und ging ich ihn da hatte, wo ich ihn haben wollte! In noch zwei Minuten etwas gebückt, aber man hatte den Eindruck, er sei immer so ge- hätte ich den Vertrag in der Tasche gehabt, und jetzt war alles Essig. gangen und nicht nur unter dem Druck der Jahre. Gute kleine Zu dumm, daß er gerade in dem Augenblick nach der Spritze klin- Äuglein hinter einer Brille sahen einen freundlich an, ein wenig geln mußte! seitwärts von unten nach oben. »Je, Se könne deutsch mit mer Als der Diener sich wieder entfernt hatte, war alles anders, rede«, gestattete er mir. Er hatte meine Zeichnungen bei sich; grauer und häßlicher. Onkel Carls moderner, weitgestreifter Hol- jemand hatte sie sogar hübsch ordentlich auf einem Stuhl beim lywoodanzug schien mir auf einmal viel zu jugendlich für den alten Fenster aufgebaut. Mann. Die Dinge hatten den rosigen Schein verloren, der sie umge- Ich war guter Dinge. Onkel Carl, die Hände auf dem Rücken ge- ben hatte, als ich eintrat. Meine Zeichnungen erschienen mir auch faltet, blieb stehen und forderte mich zum Sitzen auf. Ich blieb aber am falschen Platz. Wenn ein Wind sie plötzlich aus dem Fenster ge- auch stehen; ich hatte das Gefühl, ich könne im Stehen besser weht hätte, wäre es mir ganz recht gewesen. Und wie in der grie- reden, besser mit den Armen unterstreichen, mehr schauspielern, chischen Sage fing es jetzt auch draußen zu regnen an… mehr aus mir herausgehen. Ich erzählte und sah, wie meine Erzäh- Onkel Carl zog seine goldene Uhr, sagte »Danke sehr«, er habe lung Onkel Carl ergriff. Ich wurde dramatischer, hob und senkte sich gefreut, und ich würde die Zeichnungen mit der Paketpost zu- die Stimme. Ich merkte – so etwas merkt man ja –, wie Onkel Carl rückerhalten; wenn etwas frei werden sollte, würde ich von ihm weich wurde… Langsam ging er nach hinten, auf seinen großen hören, und so weiter. Er drückte wieder auf den Knopf und im Hi- Schreibtisch zu; ich folgte, immer noch auf ihn einredend. Ich war nausgehen sah ich noch seinen schief nach hinten gelegten Kopf sicher, ich hatte gesiegt. Gleich würde er auf einen Knopf drücken und den Diener in Eskarpins, der die De Vilbiss-Spritze bediente. – natürlich lag das Vertragsformular schon da – und richtig, jetzt Mir war unendlich traurig zumute. Ich hatte einen tüchtigen sah ich, wie er, ohne hinzusehen, auf einen mir bis dahin verborge- Schlag ins Wasser getan. Mit einem Bein, tröstete ich mich, mit nen Knopf drückte… einem Bein wenigstens war ich ja schon hineingetreten ins große Eben wollte ich alles noch einmal dramatisch zusammenfassen, Glück; vielleicht, dachte ich, während ein großer Schauspielerkopf da ging eine Seitentür auf, und es erschien ein Lakai in Eskarpins, mich lächelnd von der Wand herunter anbleckte, vielleicht trete ich

314 315 nächstes Mal mit beiden Beinen hinein? Wir Menschen hören ja nie daß auch die nicht ganz echt war. Sie war ganz einfach Onkel Carls zu hoffen auf… Ach was, forget it… Methode, sich in die Wirklichkeit zurückrufen zu lassen, und er Der freundliche Mann, dessen Zimmer ich jetzt wieder durch- wandte sie immer an, wenn er sich weich werden fühlte und fürch- schritt, hantierte nach wie vor wie eine Art Jongleur mit seinen vier tete, er könne eventuell nachgeben. Dann drückte er auf den Knopf oder fünf Telephonen und sprach zugleich auf einen künstlerisch und die De Vilbiss-Spritze gab ihm die nötige Härte der Entschei- aussehenden Menschen ein, diesmal auf polnisch oder russisch dung zurück. oder in einer Balkansprache. »Hahaha«, lachte er den künstlerisch Und das ist das Ende der Geschichte, wie ich fast einen hoch- aussehenden Menschen an, riß dessen Hand genau so an sich, wie bezahlten Posten in Hollywood bekommen hätte. er es mit der meinen getan hatte, und schlug ihm freudestrahlend krachend auf die Schulter. Dann wandte er sich zu mir, sprach ins In Amerika war ich auch einmal bei Hofe. Das heißt, es war natür- Telephon, hörte in den quäkenden Kasten hinein, sagte, »O.K., lich kein richtiger Hof im europäischen Sinne, aber es war immer- Boß«, stellte die Telephone hin, kam auf mich zu und sagte, meinen hin amerikanische Aristokratie, die mich auffordern ließ, ihr einen Arm aus dem Gelenk hochreißend: »Haha, Sie – wundervoll, ganz Monat lang Malunterricht zu erteilen. Die Sängerin Lucrezia Bori wundervoll, Sie getroffen zu haben, Herr Grosz! Ganz wunder- hatte mich eines Tages zu sich bestellt und mir mitgeteilt, daß Mrs. voll«, schloß er laut lachend, »hahaha, haha…« Garrett in Baltimore bei mir Stunden in der Kunst der Malerei zu Noch im Fahrstuhl hörte ich sein Gelächter. Und hin und wie- nehmen wünsche. Alles Nähere wurde verabredet, und bald dar- der höre ich es immer noch, wie einem das manchmal so geht, auf fuhr ich nach Baltimore, wo die Garretts ein altes, herrlich in wenn man ganz allein ist und an all die Schläge ins Wasser denkt, einem großen Park gelegenes Herrenhaus bewohnten. Ein kleine- die man getan hat. res Haus im Park war für eingeladene Künstler bestimmt. Darin Ja, mein Paket mit Bühnenzeichnungen bekam ich schön ver- wohnte ich. packt wieder zurück. Ich bekam auch noch ein Schreiben voll schö- Mrs. Garrett war sehr kunstliebend. Sie liebte die Malerei, die ner Phrasen. Viel später erfuhr ich, daß jener freundliche Herr, der Musik und den Tanz. Den bekannten spanischen Maler Zuloaga immer lachte und einem schmeichelte, nur zu diesem Zweck da war. hatte sie zwar nicht entdeckt, wohl aber in Amerika »gemacht« – Er war der »Lacher« – der lachte alle Unerwünschten fort, oder er das heißt, sie hatte sich so energisch für ihn eingesetzt, daß er da- lachte sie in etwas hinein, in ein falsches Selbstvertrauen oder was mals, vor dem ersten Weltkrieg, so berühmt war wie Picasso heute. immer dieses Gelächter hervorrief. Denn Onkel Carl hatte ein Allerdings malte Zuloaga Porträts, und viele reiche Damen der Ge- Motto: »Keiner, auch nicht der Unwillkommenste, soll unbefrie- sellschaft waren glücklich, ihm zu sitzen. Mrs. Garrett hatte es digt von mir gehen, und sei es auch nur ein albernes oder bewun- mehrmals getan. Ein großes Bild von ihr – Zuloaga malte lebens- derndes Lachen und Händeschütteln, das er mit sich hinausträgt, groß – hing gleich im Foyer, wenn man die Treppe hinaufstieg. Sie hahaha… Ich kann nicht alle Autoren, alle Schauspieler, alle meine schwärmte mir oft von ihm vor, von seiner Privattierzucht und Verwandten anstellen oder ihnen etwas abkaufen, aber ein Lachen seinen Stierkämpferfreunden und von der guten, alten Zeit in Spa- und einen Händedruck der Bewunderung kann ich jedem mitge- nien vor dem Kriege. »Armer Zuloaga!« unterbrach sie sich zuwei- ben, haha…« len, »wer weiß, ob er noch lebt. In der Zeitung las ich neulich, die Was die De Vilbiss-Spritze angeht, so muß ich leider berichten, Loyalisten hätten ihn und seine Stiere erschossen und seine Bilder

316 317 verbrannt.« (Das stand aber, wie sich bald herausstellte, nur in der sogar dem angestammten Tonfall des amerikanischen Südens Platz Zeitung, und Zuloaga lebte natürlich noch.) machte. Mr. Garrett war einst amerikanischer Botschafter in Italien ge- Mr. Garrett würzte unsere gelegentlichen Unterhaltungen mit wesen. Man merkte das an den vielen Photos von Mussolini mit Hinweisen auf meine deutsche Abkunft. Ich hatte das Gefühl, er eigenhändiger Widmung, die auf einem Tisch im Vorraum der mochte die Deutschen nicht sehr. Natürlich sagte er nicht etwa: Bibliothek standen. Mr. Garrett besaß kostbare alte Bücher, soge- »Wissen Sie, mein Lieber – ich mag die Deutschen nicht«. Er sagte, nannte Inkunabeln; wenn er guter Laune war, stieß er mit seinem etwas ärgerlich mit seinem Stock aufstoßend: »Ihre Vorfahren ha- Stock auf, winkte mich heran und zeigte mir mit überlegenen Hin- ben nicht viel Gutes hierhergebracht! Sehen Sie dort«, er deutete in weisen seine Erstausgaben. Dabei hielt ich mich stets in respekt- den Garten auf ein Spatzenpärchen auf der besonnten Terrasse, voller Entfernung, weil ich annahm, das sei ihm lieber. »sehen Sie die Sperlinge? Ja, die haben Ihre deutschen Vorfahren Mr. Garrett hatte außerdem eine der feinsten Münzensammlun- hier eingeschleppt, und das war nicht das Beste für unsere Blumen gen der Welt. Wollte er die zeigen, so wurde der Teppich in der gro- und Knospen!« ßen Wohnhalle von Dienern beiseite gerollt, dann kam eine eiserne Ich verbeugte mich und beteuerte meine Unschuld. Ich verur- Falltür zum Vorschein, und darunter führte eine eiserne Wendel- teilte die früheren deutschen Ansiedler gelinde und beobachtete treppe in die Tiefe, in ein kleines Kabinett mit einem Schrank, der dabei eine verirrte Biene, die um Mr. Garretts Kopf surrte. Hof- die Münzen enthielt. Dort lagen die Unbezahlbaren wohlgeordnet fentlich gibt er uns nicht auch die Schuld an der Biene, dachte ich. auf herausziehbaren Tabletten, und um sie herum war alles Stahl »Die Deutschen«, brummte er, immer noch ein wenig böse. und Eisen, wie im Kassengewölbe einer Bank. Auf Zehenspitzen zog ich mich leise zurück. Widersprochen Auch Mrs. Garrett war Sammlerin. Sie sammelte französische hatte ich nicht. Ich wußte, er brauchte so ein bißchen Brummig- Bilder. So hingen zum Beispiel sechzig Aquarelle von Raoul Dufy keit – und doch erschienen mir von da an alle Spatzen als garstige in ihrem extra angebauten Theater, wo alljährlich um die gleiche kleine Sendboten Adolf Hitlers. Zudem hatte ich Manieren und Zeit Quartette konzertierten und private Tanzvorführungen statt- Courtoisie eines Hofinstrukteurs bereits gelernt… fanden. All das war noch im ganz großen Stil – zwar nur mehr in Einmal besuchte ich meinen Freund George Biddle im nahen dem einer untergehenden Zeit, aber Stil hatte es. Washington. Er arbeitete gerade an seinem großen Fresko im Ju- An die Gesellschaftsräume schloß sich eine große Terrasse, die stizpalast, und da ich von ihm bislang nur kleine Staffeleibilder auf einen kunstvoll angelegten und gepflegten Garten hinausging. kannte, war es höchst interessant, ihn mit einer kleinen Palette, das Den Garten beleuchteten allabendlich Scheinwerfer, die vom heißt einer Untertasse mit ein paar Farben am Rande, sorgsam Hause aus eingeschaltet wurden. Am späten Nachmittag traf man Stück für Stück richtiges Fresko malen zu sehen. Später kam er mit sich auf der Terrasse, und die Diener servierten Mint-Juleps in sil- einigen der »Boys«, die damals in der Freskenabteilung des Ar- bernen, außen geeisten Bechern, die man mit der Serviette anfaßte. beitsbeschaffungsamts (W.P.A.) in Washington tätig waren, zu Dazu wurden kleine Delikatessen gereicht. Es war sehr nett, dort einer Gesellschaft bei Garretts herüber, die sozusagen mir zu zu sitzen und das kühle Whisky-und-Pfefferminzgetränk (»May I Ehren stattfand, denn Mrs. Garrett war es inzwischen zu Ohren replenish your drink, Sir?«) in sich hinabrinnen zu lassen, während gekommen, daß ich nicht nur einer jener obskuren Künstler war, rings der oft betonte britische Akzent verschwand und hie und da denen man durch ein paar Malstunden weiterhalf.

318 319 Was Mrs. Garrett bei diesem Unterricht von mir bekam, waren ich davon gar nichts. Ich verließ morgens vergnügt unser etwas gesprächsweise erläuternde Bemerkungen. Auch hob ich ihr den dunkles Hotel, log ein wenig zu meinen Gunsten und tat so, als Pinsel auf, wenn er herunterfiel. Ich sah ein, daß meine Rolle in meldeten sich jeden Tag ein bis zwei Schüler. Wo denn die Schecks dieser Hofhaltung zum Unterhaltungsteil gehörte, und das war blieben, fragte Eva. »Ach so, ja, die Schecks – na«, sagte ich, »Du mir ganz recht. Mir imponierten die Garretts, weil sie so reich wa- weißt doch, wie das hierzulande ist. Als Künstlerlehrer rangiert ren und ich als echter Künstler von vornherein lieber mit reichen man gewissermaßen mit einem Dentisten oder praktischen Arzt, Leuten umging als mit armen. Im Grund genommen war der Rei- und die werden ja auch nicht gleich bezahlt.« che so langweilig wie der Arme, aber er hatte wenigstens Geld. Sein Ich kam mir wie ein Vogel Strauß vor und steckte den Kopf in Geld gab den Ausschlag, denn davon konnte bei einigem Geschick den Sand. Irgendwie muß es doch gehen, dachte ich. Mittlerweile doch etwas in meine eigene Tasche gelangen. machte mein Freund Alexander King in seiner Zeitschrift für Dem empfindsamen Leser mag dies wie das Bekenntnis eines meine Schule Reklame. Ich hatte mir wirksame Texte ausgedacht, Parasiten erscheinen – aber was kann ein reiner Künstler in einer beispielsweise: »Cézanne wußte, wie man aus nichts einen Apfel Gesellschaft wie der heutigen anderes sein? Womit ich nicht etwa macht. Auch du kannst das lernen!« Dazu machte ich eine der Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft Ausdruck verleihen Schwarzweiß-Zeichnung eines halbierten Apfels. Oder wir be- will, denn die Kunst von morgen wird wahrscheinlich nichts als deckten eine Seite mit allerlei Kritzeleien, Tintenflecken, Punkten, Dauerunterhaltung sein, und die Gesellschaft von übermorgen, die Häkchen, Strichelchen und willkürlichen Klecksen und druckten der Bürokraten und Kommissare, wird gewiß überhaupt keine daneben: »weisst du, was das bedeutet? – Es sind die Urelemente Kunst mehr brauchen. der Graphik… Ungeordnet liegen sie in Dir. Nütze sie! Lerne zeichnen!!!« Andere meiner Annoncentexte waren einfacher, Die beste Lösung meiner finanziellen Schwierigkeiten schien von etwa »Zeichnen macht Dich glücklich« oder »Auswendig nach der Anfang an die Eröffnung einer eigenen Schule. Eine Gelegenheit Natur«. dazu bot sich bald, als ich durch I. B. Neumann mit dem erfolgrei- Ich war sehr stolz auf meine Einfälle, fand sie ganz amerikanisch chen amerikanischen Maler Maurice Sterne bekannt wurde. Der und war recht enttäuscht, daß sie nicht mehr Schüler herbeizogen. war so freundlich, mich in seiner bestehenden, gutgehenden Mal- Die paar, die sich doch meldeten, waren ausschließlich Damen – schule im Raymond & Raymond-Gebäude mit unterrichten zu und ich glaube, sie kamen weniger auf meine Reklameschlagworte lassen, wo Mr. Ben Raymond mir einen Raum zur Verfügung hin als auf Empfehlung wohlmeinender Freunde, die mir auf diese stellte. So fing ich an. sanfte Weise ein wenig helfen wollten. Das war mir auch recht, Aus der »Art Students League« hatte ich mir einen »Monitor« wenn ich nur überhaupt Schüler bekam! Ich mußte natürlich für mitgebracht, den Maler Marshall Glazier, einen meiner begabte- meine Klasse ein Modell stellen, und obwohl Mr. Raymond, ein sten Schüler, der mir über die Einsamkeit hinweghalf. Denn einsam netter, großzügiger und stets hilfsbereiter Mann, mich nicht mit waren wir. Meine »Schule für Malerei, Zeichnung, Komposition der Miete drängte, blieb mir kaum etwas übrig. Mir war oft recht und Kunstschätzung« (art appreciation) bestand nämlich nur aus elend zumute, und ich tröstete mich dann in einer kleinen Bar, wo Marshall und mir. Schüler hatte ich nicht. Es war etwas deprimie- sich schon nach ein paar »Planters-Pünschen« die graue Gegen- rend. Meiner Frau und meiner Schwester Cläre nebst Mann sagte wart in eine bessere Zukunft verzauberte…

320 321 Es gibt ein altes englisches Sprichwort, das heißt: »Wer was Es war damals so eine Art Regenzeit in meinem Leben. Aber kann, tut es; wer nichts kann, lehrt es.« Aber wie die meisten merkwürdigerweise machte mich der Regen nicht traurig. Mein Sprichwörter stimmt es eben nur zum Teil. Ich konnte doch etwas, Traum von Amerika blieb genau so bestehen wie ehedem, ob ich und lehren – das heißt, mich den Schülern verständlich machen auch hie und da einmal in der Nacht aufwachte und mich, von und ihnen weiterhelfen – konnte ich auch. Ich konnte es sogar be- Schrecken gepackt, einen Augenblick fragte: Wenn nun alles nicht sonders gut, da ich ja selbst noch aus einer Zeit stammte, in der man wahr wäre – wenn gar die Wirklichkeit noch wirklicher wäre, als uns alles verekelte. Und zwar verekelte man es dadurch, daß man sie sowieso schon ist –? uns die Wahrheit sagte: »Na, nun können Sie’s ja wohl«, sagte der Doch das hielt nie lange an, ich glaubte sofort wieder an meine Professor höhnisch, wenn der arme, krumme Schüler sich die eigene Gaukelei; und bald hellte sich das Leben auch wirklich auf, größte Mühe gegeben hatte, es zu »können«… als nämlich eines Tages der berühmte Maurice Sterne, in dessen Die amerikanische Art, einem die Wahrheit in unkenntlicher, Malschule ich ja sozusagen als Partner geduldet war, zu mir kam: gleichsam verkapselter Form zu sagen, gefiel mir viel besser. Unter »George«, sagte er, »ich habe einen großen Auftrag in Kalifornien dem Einfluß des bekannten Dale Carnegie (»How to Win Friends bekommen. Ich gebe die Schule auf und werde meinen Schülern and Influence People«) verstand ich meine Schüler bald so zu be- raten, bei Dir weiterzumachen.« Das war recht angenehm, und ich handeln, wie sie behandelt werden wollten. Meine ehemalige Ar- war Maurice sehr dankbar. roganz ließ ich in der Versenkung verschwinden; einen etwas nihi- Indessen mußten wir aus bautechnischen oder sonstigen Grün- listisch-selbstgefälligen Zug meines Wesens verbannte ich in den den aus dem Gebäude von Raymond & Raymond ausziehen. Es Keller meiner Natur. Es gelang mir bald, schönklingende Sätze und hieß, die Schule anderswo unterzubringen, was nicht leicht war, Schmeicheleien zu sagen, an die ich selbst nur halb glaubte. Ich denn wo sollten wir wieder einen Ben Raymond finden? Da hatte lernte, wie man die schwierige Kunst des Zeichnens durch Lob bei- meine damalige Sekretärin, die Französisch-Amerikanerin Mrs. bringen kann, und da ich von Natur aus kein Urteil besaß, fiel es Brevannes, einen guten Einfall. Eine meiner Schülerinnen war die mir leicht, meine Schüler zufriedenzustellen. Tochter eines sehr reichen Mannes namens Palmer, und diesem Kunst ist nämlich – wie weit auch die gegenteilige Ansicht ver- wiederum gehörte das Squibb Building, Ecke Fifth Avenue und breitet ist – erlernbar. Man kann z. B. lernen, wie man einen Ge- 57.Straße. »Mr. Grosz«, sagte meine Sekretärin, »schreiben Sie genstand und später auch einen Kopf oder einen Menschen ab- doch einfach einen Brief an Mr. Palmer! Er weiß doch, wer Sie sind; zeichnet. Man kann auch nach Vorlagen sozusagen »auswendig« vielleicht können wir einen Speicher im Squibb Building haben, zeichnen lernen – aus dem Gedächtnis nach der Natur, wie es in wenn er darauf eingeht.« einer meiner Annoncen hieß. Leichter zu erlernen ist das soge- Ich schrieb den Brief und erhielt nach einigen Tagen die Auffor- nannte »Schöpferische« in der Kunst, und verhältnismäßig am derung, zu Mr. Palmer ins Büro zu kommen. Er war ein vielbeschäf- leichtesten ist das Abstrakte. Dabei braucht man nur an Rorschach- tigter Mann, wie alle Männer seiner Alters- und Vermögensklasse. Tests, an Stoffmusterentwürfe oder an technische Planzeichnungen Ich wußte, wie ich mich zu benehmen hatte: kurz und sachlich. Und zu denken. Kunst benötigt heute eigentlich keiner mehr, seit jeder richtig, sobald ich eintrat, sagte er mir: »Ich bin ein vielbeschäftigter sie ausübt. Ich liebe aber den amerikanischen Optimismus, daß Mann; ich gebe Ihnen ausnahmsweise zehn Minuten. Wenn Sie mir man alles erlernen könne, ohne ganz daran zu glauben. wirklich etwas zu sagen haben, können Sie das in zehn Minuten

322 323 ausdrücken. Also, was kann ich für Sie tun?« Dabei sah er auf seine um der Sache einen etwas demokratischen Anstrich zu geben. Da- Armbanduhr. bei lag mir Ironie völlig ferne. Ich war stolz auf meine Schülerin- Ich hatte Glück, war schon in sieben Minuten fertig und ließ ihm nen und fühlte mich oft wie der Direktor eines exklusiven Klubs die drei Minuten zum Überlegen. Er war von mir nicht unnett be- beim Anblick der vielen Nerzmäntel, die da am Garderobengestell eindruckt und drückte auf einen der verborgenen Knöpfe an sei- hingen. nem völlig leeren Schreibtisch. Ein großer, irisch aussehender Einzelne meiner Schüler machten mir besonderen Eindruck. Mann trat ein. »Ich übergebe Sie nun Mr. O’Leary,« sagte Mr. Pal- Zum Beispiel hatte ich einen, der war vornehm und reich und fing mer. »Mr. Grosz – Mr. O’Leary.« erst in höherem Alter an, sich für Malerei zu interessieren. In »Glad to meet you, Sir,« sagte Mr. O’Leary. meine Schule kam er auf Empfehlung, um sich auszubilden oder Mr. Palmer fuhr fort: »Er wird alles Nötige veranlassen und in vielleicht zu vervollkommnen. Er brachte seinen Chauffeur mit in Ihrem und meinem Sinne zu beiderseitiger Zufriedenheit handeln, die Klasse, und dieser mußte die von mir bezeichneten Farben- I hope… By the way, ja, was ich noch sagen wollte – habe gehört, tuben aus dem nagelneuen, teuren englischen Malkasten nehmen Sie mögen Bouguereau. Well, Sie müssen mal gelegentlich zu und auf die Palette setzen, die mein Schüler in der weißbehand- Cocktails kommen und sich meine Bouguereaus ansehen. Ich habe schuhten Hand hielt. Es war eine stets vielbewunderte kleine drei. Thank you, good bye.« Zeremonie… Ich war nun Besitzer einer ziemlich großen Kunstschule in Leider behielt ich diesen Schüler nicht lange. Er wandte sich von 32.Stock des Squibb-Gebäudes. Den größten Teil meiner Schüler der bildenden Kunst ab und dem indischen Yoga zu. Ich traf ihn hatte ich ja von Maurice Sterne geerbt; allmählich aber wirkte sich noch einmal zufällig bei einer geräuschvollen, recht animierten auch meine eigene bescheidene Reklame aus. Ich war direkt stolz, literarischen Cocktailparty: er hatte sich in ein Nebenzimmer zu- und bevor ich den Wolkenkratzer betrat, blickte ich oft von der an- rückgezogen, wo er seinen Nabel betrachtete und in tiefste Medi- deren Straßenseite zum 32. Stock hinauf und sagte halblaut vor tation versunken schien. Sein Hemd hatte er über dem gar nicht mich hin: »Junge, Junge, das hätte mal Dein alter Zeichenlehrer mal sehr dünnen Bauch aufgeknöpft, um, wie er sagte, sich selbst Papst sehen sollen! Donnerwetter, ein Riesenatelier im 32.Stock näher zu sein. und davor noch eine Sonnenterrasse – allerhand Achtung –«. Ich Ein anderer Schüler von mir war seit Jahren abstrakter Maler. Er klopfte mir selbst im Geiste auf die Schulter, betrat den Schnell- hatte als solcher schon ausgestellt, auch einigen Erfolg gehabt, und fahrstuhl, der vom ersten bis zum 31. Stock nicht anhielt, und wollte nun sehen, ob er auch anders könne. Er war nicht unbegabt, schwebte selbstgefällig empor. Nicht schlecht, dachte ich. Tolles aber die Zeichnerei nach der Natur schien ihn doch eher zu lang- Land, Amerika… Ich war ja noch verhältnismäßig jung, erst vier- weilen. Ich verstand das auch sehr gut, nachdem er mir einmal aus- undvierzig, und mein Traum lebendiger denn je. einandergesetzt hatte, worauf es ihm bei der Kunst ankäme – auf Die Schülerinnen (meistens waren es ja doch Damen, die ich von den Eindruck nämlich. Maurice übernommen hatte) gehörten fast durchweg den höheren »Ist ja sehr interessant«, sagte ich. »Nichts gegen zu sagen. Was finanziellen Schichten New Yorks an. Das gab meiner Schule etwas meinen Sie denn damit?« gleichsam Feudales, was mir lag. Zugleich übernahm ich aber auch »Die Fallwirkung«, sagte er. ein paar meiner besseren Schüler aus der »Art Students League«, »Wie bitte –?«

324 325 Er erklärte mir seine Arbeitsmethode. Seine eigentlichen Werke ich fragte höflich, ob ich mir die Zeichnung vielleicht auch einmal kamen folgendermaßen zustande: er nahm einen Farbtopf in die ansehen dürfe. Es wurde bejaht, und ich sah den miniaturhaft Hand und ließ die Farbe aus einer bestimmten Höhe auf die am abgezeichneten Fuß, der sich heute im Museum of Modern Art Boden liegende Leinwand fallen. »Das gibt einen Eindruck, nicht befindet. wahr? Dann halte ich den Farbtopf niedriger. Der Eindruck ändert Höflich erkundigte ich mich nach der Härte der verwendeten sich. Ich gehe höher. Er wird wieder anders. Schließlich klettere ich Bleistifte und erfuhr, daß die Zeichnung mit den Graden 5–7 aus- auf einen Stuhl. Sie würden es nicht glauben, Mr. Grosz, wie das geführt worden sei; sie wirkte ja auch ganz silberstiftartig und fast den Eindruck verändert!« wie mit einem Metallgriffel gemacht. Ich hatte mein Französisch »Kolossal interessant«, sagte ich. »Nichts gegen zu sagen…« vergessen und radebrechte schlecht und recht. Die Unterhaltung Einmal rief mich der Kunsthändler Julian Levi an. Es war das war bald zu Ende und damit auch meine Begegnung mit Salvador Jahr, in dem der große Salvador Dali in New York triumphale Er- Dali, an die ich mich sicher besser erinnere als er. folge feierte. Levi war sein Manager und Händler; er wollte wissen, Meine Schule bestand ungefähr vier Jahre. Als ich für zwei Jahre ob Dali wohl in meiner Schule nach dem Modell zeichnen könne. ein Guggenheim-Stipendium bekam, gab ich sie auf. Es tat mir Ich sagte natürlich begeistert ja. Von solchem Besuch versprach ich nicht besonders leid darum. Das Lehren nimmt viel Energie in An- mir mit Recht einige Reklame. spruch. Ich brauchte immer erst eine gewisse Zeit, um mich wieder Dali erschien denn auch, in einem dicken, flauschartigen Mantel, auf eigene Arbeit umzustellen. Die fabelhafte Fähigkeit der Ameri- einer Art Pelzimitation. Um den Hals trug er einen golddurchwirk- kaner, viele Dinge zu gleicher Zeit tun zu können, ging mir ab. Als ten Shawl in den spanischen Farben Rot und Grün; das bekannte Lehrer für Kunst kam und komme ich mir immer vor, als ginge ich Bärtchen zierte seine Oberlippe, hatte sich aber noch nicht zu den mit beiden Füßen zwei verschiedene Treppen hinauf und müsse späteren halbfußlangen Antennen ausgewachsen. Meine ganze arg balancieren, um das Gleichgewicht zu behalten. Klasse war wie elektrisiert durch die Anwesenheit des berühmte- Zugleich mit dem Stipendium bekam ich, wie schon erwähnt, sten Malers neben Picasso. Die Schülerinnen, alle gebildet und einen Posten als Illustrator für »Esquire, das Magazin für Män- weitgereist, fingen halb unbewußt an, französisch zu sprechen. Dali ner«, und war also für den Augenblick der Sorgen ledig. Denn aber war ungemein bescheiden; er bat sich nur ein kleines Bänkchen in Amerika, wo alles und somit auch Schmerz und Leid im aus, hockte sich dicht unters Podium, zog ein altertümliches Skiz- Überfluß vorhanden ist, können von der Kunst der Malerei nur zenbuch hervor, worauf in Goldbuchstaben »Sketches« geprägt wenige Menschen leben. Viele keineswegs schlechte Maler haben war, entknotete die niedliche Schleife, die zum Zubinden diente – praktische Hauptberufe: ein paar sind Dentisten, dort ist einer und niemals aufblickend, in völliger, stiller Konzentration zeich- Barbier, ein anderer sogar Fleischer, wieder einer hilft bei der Post nete er ganz klein den einen Fuß des Modells… aus… Nachher lud er mich in ein Restaurant ein, in den »Russian Tea Kunst gilt als »hobby«, als Liebhaberei. Das alte Frage-und- Room«. Seine Frau Gala, seine unsterbliche und oftbesungene Antwort-Spiel: »Was macht die Kunst? – Sie geht nach Brot!« ist in Muse – nebenbei auch eine tüchtige Geschäftsfrau! –, erwartete Amerika wohl angebracht. Es gibt natürlich auch eine Art Bohème uns schon. Sie verlangte als erstes, seine heute gemachte Zeich- aus jungen und älteren, meist alkoholisierten Gestalten, die sich nung zu sehen. Dali zog das Skizzenbuch aus der Manteltasche; um das Materielle wenig kümmern und oft, nach dem Beispiel van

326 327 Goghs, die Pinsel an ihren ungepflegten Bärten abwischen – aber alles in allem ist diese New Yorker Bohème ein bißchen unecht, eine billigere Kopie jener Pariser Bohème, die um 1900 schon ver- staubt und veraltet war und wie der Cancan oder der Apachentanz nur der Fremden wegen noch fortbestand. XVII Deutsche Dichter und Denker

ch machte nun »a decent living«, wie es auf englisch heißt. IIch hatte mein Auskommen, mehr freilich nicht. Der Krieg lag zwar in der Luft, schien aber doch unwahrscheinlich, die Depres- sion war irgendwie vorüber. Roosevelt war Präsident, Willkie träumte noch lange nicht von »One World«, die Preise waren er- schwinglich, und wir übersiedelten in ein Häuschen nach Bayside. Es lag in einem romantischen Garten unweit des Long-Island- Sunds und gehörte einer uralten Familie Lawrence. Wir kauften einen gebrauchten Willys Knight und hielten uns ein Mädchen, das meiner Frau Autofahren beibrachte. Meine beiden Jungens, Mart und Peter gingen in die gemütliche Bayside Public School, und alles war noch voller Sonne und verhältnismäßig ohne Furcht. Es war eigentlich eine recht unbeschwerte Zeit. Es gab noch keine Kobaltbombe, Hitler wurde allgemein bewundert, und ab- gesehen von einigen verzweifelten und der allgemeinen Anpassung nicht fähigen Refugiés schien alles in Butter. Wir führten wieder ein gastliches Haus. Freunde aus ganz Europa besuchten uns, wenn sie nach den Staaten kamen. Die meisten unserer Freunde waren ja durch den Terror des Hitlermannes weithin verstreut. Manche lebten in der Tschechoslowakei, viele waren in Frankreich untergekommen, das von altersher für ein freies Land galt und es ja nun in Wirklichkeit leider nicht mehr war. Aber meine geflüchte- ten Freunde träumten eben auch ihren Traum weiter, genau wie ich den meinen von usa. Paul Graetz, der großartige Berliner Komiker, besuchte uns auf der Durchreise von England nach Hollywood. Wir aßen Königs- berger Klops und Paule erzählte und erzählte, und die Tränen lie-

328 329 fen ihm und uns über die Backen. Bert Brecht besuchte uns und überwinden glauben. Und so sahen wir zu dem weisen, zurückhal- brachte seinen »Bodyguard« mit, einen wirklichen Proletarier, der tenden Thomas Mann auf, dem zu Ehren der Lunch veranstaltet nicht nur so aussah, sondern auch so sprach und uns einen Buch- war. prospekt daließ, in dem als Motto gedruckt stand: »Kämpfende Wir bewunderten ihn, weil er die Gabe hatte, mit kühler Grazie Bücher helfen die Kämpfer« – woraus wir gleich ersahen, wo der ja und nein zugleich zu sagen, eine Gabe, die nicht jedem Dichter Verfasser herstammte, nämlich aus Berlin-Wedding. Aber damals zuteil wird. Billige Parodisten hatten ihn schon als einen schwan- konnte man noch herzlich über all das lachen. Es war erst halb kenden, unentschiedenen Einerseits-Andererseits-Charakter ver- zwölf auf der großen Zeituhr, vorläufig noch nicht fünf Minuten spottet, und es war, als lege er nun geradezu Wert darauf, dieses vor. Urteil zu rechtfertigen. (Was natürlich nicht ganz zutraf, denn Thomas Mann hatte ich schon lange nicht mehr gesehen. Thomas Manns Humor war nicht nihilistisch genug, um sich selbst Ich war dem berühmten Dichter einst bei seinem deutschen Ver- zu verspotten oder gar zu parodieren.) Ein wenig zu höflich viel- leger S. Fischer begegnet, der von Zeit zu Zeit in seiner Grune- leicht, aber aus der ihm gemäßen Distanz hörte er unserer Konver- waldvilla allerlei interessante Menschen um sich versammelte. sation zu, die doch immer an ihn als den Mittelpunkt gerichtet war. Wäre auf dieser Gesellschaft eine weise Zigeunerin erschienen Er war der Berühmteste unter uns, der heimlich von allen benei- und hätte uns allen aus Kaffeesatz oder Teeblättern die Zukunft dete Träger des Nobelpreises, jener höchsten Ehrung, die einem vorausgesagt, so würde ihr wahrscheinlich nicht einer von uns ge- deutschen Dichter, außer der Verleihung des erblichen Adelstitels, glaubt haben, am wenigsten aber Thomas Mann und ich, die wir widerfahren konnte – und der erbliche Adel kam ja in der noch uns am gleichen Tische gegenübersaßen. Denn sie hätte gewiß ge- bestehenden Republik nicht in Betracht. sagt: »Ihr beide werdet über das weite Meer ziehen und Euch der- Zum ersten Male sah ich den hervorragenden Mann ganz aus der einst in einer großen Stadt wiedersehen, einer prächtigen Stadt mit Nähe. Kaffee und Kognak waren bereits serviert worden. Ein Die- turmartigen Häusern und vielen Fenstern. Ich sehe da auch einen ner reichte auf einem Tablett mit brennender Kerze und allem an- Schatten, einen bösen Mann mit wildem Haar und dunkler Ober- deren Rauchzubehör Havannazigarren und Zigaretten herum, und lippe – vor dem aber, so sagt der Kaffeesatz, hütet Euch und nach dem guten Essen, das wir eingenommen hatten, war die Stim- schließt nachts die Fensterläden!« mung ganz gemütlich. Nachdem man genug über moderne und So hätte jene Zigeunerin gesprochen – wäre sie im aufgeklärten alte Literatur, Berliner Theater und auch etwas über sonstige Zeit- Fischerschen Hause überhaupt vorgelassen worden. Wir hätten na- genossen gesprochen hatte, kam man ganz von selbst aufs Politi- türlich gelacht, und geglaubt hätten wir ihrer Weissagung schwer- sche. Der »alte, brave« Hindenburg, der durchaus nicht so brav lich. Wir saßen an vollen Tischen, festliches Kerzenlicht mischte und weihnachtsmannhaft war, wie man ihn dem deutschen Volk sich auf dem weißen Damast des Tafeltuchs mit den Schatten des präsentierte, und die recht unglückselige Rolle der deutschen Sozi- untergehenden Abendlandes. Unsere Gespräche waren ein wenig aldemokratie als Regierungspartei in einem windschiefen Staate schrill oder geistreich überspitzt; wir wußten alles und konnten bildeten die Hauptthemen des Tischgesprächs. alles gelassen auseinandersetzen, ungeachtet des blutroten Scheins Thomas Mann war selbstverständlich der Mittelpunkt des Ge- am fernen Horizont. Wir glichen Hasen vor einer großen Treibjagd, sprächs, bestimmte aber nicht seine Richtung. Einige von uns, sich die mit Geist und Frivolität die Furcht vor dem Herannahenden zu wichtig vorkommende jüngere Herren mit linken Neigungen, hät-

330 331 ten natürlich gar zu gern herausgefunden, auf welcher Seite und bei auch? war er doch ganz ästhetisch eingestellt und eigentlich nur an welcher Partei ein so berühmter Mann »politisch stehe«. Aber Kunst interessiert –, so warf man ihn nach Äußerung heftiger Er- Thomas Mann bekannte sich zu keiner »Richtung«. schießungsdrohungen in der Nähe der Charlottenburger Chaussee Sein Wesen war kühles Abseits- und auch ein wenig Darüberste- aus dem Auto und ließ ihn laufen. »Lauf und untersteh Dich nicht, hen, was mancher Heißsporn sehr übel aufnahm. Hin und wieder, Dich umzudrehen!« sagte man ihm. Und wie er mir später er- wenn es eben anders nicht ging, gab er sich etwas politischer, aber zählte, war das der schlimmste Moment: »Da hatte ich wirklich auch dann nur mit klugem Zögern, erwägend und weise zurück- Angst und erwartete in jedem Augenblick den Fangschuß…« Man haltend. Es war, als ob er schon damals gewisse Zweifel an der tat ihm aber sonst nichts, und er meldete alles dem amerikanischen Richtigkeit all dieser Parteilinien gehegt hätte, wie sie einem Manne Konsul und verließ Berlin innerhalb von vierundzwanzig Stunden – seiner Abstammung und Geburt auch anstanden. jenes Berlin, das er so liebte wie sein Namensvetter und Lands- Thomas Mann war eben nicht als Werkmeister geboren, sondern mann Thomas Wolfe. als Herr. Das verriet sich nicht nur in seinem länglichen, schmalen Da wußte ich, daß die »Nacht der langen Messer« kein leerer Kopf, in den schlanken, schmalen Händen und Füßen, sondern Wahn gewesen war. Man hatte immer wieder damit gedroht; man auch in Haltung und Kleidung, in Krawatte und Kragenschnitt. hatte auch mich wissen lassen, daß ich, wenn einst »der Tag« käme, Dieser Kragen, dieser Anzug, dieser Hut sind eigentlich heute nichts zu lachen haben würde. Aber ich lag sicher in meinem New noch genau so, wie er sie schon vor vierzig Jahren getragen hat, als Yorker Hotelbett und sah aus dem Fenster auf die Freiheitsstatue, wären sie alle noch bei derselben Firma bestellt und nach Maß ge- die zwar hier in der Sechzigerstraße nur ein Warenhausabzeichen macht – wahrscheinlich sogar bei derselben Firma, wo schon Vater, war, eine kleine, billige Kopie, aber gleichwohl eine Freiheitssta- Großvater und Urgroßvater ihre Garderobe in Auftrag gaben – tue. Wie merkwürdig, dachte ich, welches Schicksal hat dich auf- und nur in Schnitt, Form und Farbe dezent der jeweiligen Mode gespart? Der Schlag, der mir galt, hatte fälschlicherweise meinen angepaßt. Und ganz so konservativ, so wenig wandelbar oder damals einzigen amerikanischen Schüler getroffen – und mir lief es nachgiebig gegenüber den Zeitläuften und -parolen war Thomas kalt über den Rücken. Mann auch als politischer Schriftsteller gewesen. In solcher Zeit denkt man mit Bitterkeit an seine frühere Hei- In Deutschland habe ich Thomas Mann nicht wieder getroffen. mat, und vielleicht trug diese Bitterkeit dazu bei, daß meine zweite Dann erfuhr ich eines Abends aus den »Daily News«, daß ein frü- Begegnung mit Thomas Mann nicht erfreulicher verlief. Es war herer Schüler von mir, ein gewisser Dr. Nathaniel Stein Wolf, in kurz nach Hitlers Machtergreifung, im Sommer 1933. Wir trafen einer Berliner Kurfürstendammpension spät nachts aus dem Bett Thomas und seine Frau zum Lunch in einem Restaurant in Man- geholt und halbbekleidet unter Drohungen im Auto verschleppt hattan: unser Freund Charles Lautrup, ein Kapellmeister seines worden war. Die Schlagzeile in der »News« lautete: »American Zeichens, der von früher her den Bruder von Frau Mann gut Jew beaten by Nazis in Berlin«. Darauf folgte die übliche Ge- kannte, Eva und ich. schichte: man hatte ihn aus dem Bett geholt, mit der Waffe und Ein Unstern waltete über diesem Zusammentreffen. Es begann auch sonst bedroht und vorgegeben, nach verräterischem Material schon mit einem groben Verstoß gegen die guten Manieren, da zu suchen. Da er aber nachwies, daß er Amerikaner sei, und man wir unseligerweise eine volle halbe Stunde zu spät kamen. So gut außerdem keinerlei rote Literatur bei ihm fand – wie sollte man wir konnten, entschuldigten wir uns mit einem gerade heute aus-

332 333 fallenden Zug der Long-Island-Bahn, und wie es bei geschwin- von der Seite meiner Mutter, eine ganz leichte prophetische Ader. delten Entschuldigungen eben zu gehen pflegt, verstärkten wir Und dazu kamen noch meine gesunde Skepsis, meine Neigung, die Unglaubhaftigkeit noch durch einen unterwegs geplatzten eher zu verneinen als zu bejahen, und meine Beobachtungsgabe, Autoreifen. die mir immer wieder bestätigt hatte, daß die Masse der Menschen Das war kein verheißungsvoller Anfang, und Frau Mann, die ein Sauhaufen ist, eine lenkbare Herde von Kälbern, die sich ihre diesmal ihren Gatten begleitete, warf uns nicht gerade freundliche Metzger zufrieden selber wählen. Ich sah nie besonders viel Gutes Blicke zu. Bald saßen wir an einem kleinen Tisch vor den frischge- im Menschen, und wenn ich sehr schlechter Laune war, wurde ich füllten Wassergläsern. Bier gab es, glaube ich, noch nicht – oder zum Verächter des Menschengeschlechts überhaupt. wenn, dann war es noch sehr dünn und ähnelte dem sogenannten In so einer Stimmung muß ich gewesen sein, als ich Thomas »Nearbeer« –, aber Thomas Mann war ja Gott sei Dank keiner Mann und Gemahlin in Manhattan wiedertraf. Oder hatte mich die jener deutschen Landsleute, die alles in der Fremde nach der Qua- Frau des Dichters gereizt, indem sie mir zu verstehen gab, daß man lität des dort gebrauten Biers beurteilen. Das Lunch war jedenfalls in Gegenwart ihres Mannes nicht ganz so unbeherrscht von der reichhaltig, auf riesigen Platten serviert. Bald waren wir mitten in Leber weg redete? Wie dem auch sei, ich war unnötig aggressiv, einer Debatte über Hitler, seine Nazis und deren Aussichten. Tho- höhnisch und misanthropisch und ließ deutlich merken, daß meine mas Mann vertrat die Auffassung, Hitler könne sich unmöglich Menschenverachtung vor unserer kleinen Tafelrunde keineswegs länger als höchstens sechs Monate an der Macht halten, eine Auf- haltmachte. Ich nahm keinen aus von meiner Respektlosigkeit und fassung, die er allerdings mit einer ganzen Reihe sehr gut infor- Verdammnisrede; mit einem Wort: ich benahm mich unmöglich. mierter Menschen teilte. Hitler schien mir – und ich sprach das offen aus – der Deutschen Hatte nicht die kluge Dorothy Thompson Hitler persönlich in würdig, die sich ihn erwählt. Und obwohl einer neben mir saß, Augenschein genommen und erklärt, so ein Gesicht könne nicht wollte ich auch von den sogenannten »besseren Deutschen« nichts von Bestand sein? Aber nicht nur sie und andere amerikanische mehr wissen. Ich ergoß die Flut meines Hohns über Freund und Deutschlandkenner, auch viele einflußreiche Industrielle, Bankiers, Feind; ich war in einer Scheiterhaufenstimmung, und der Diplo- Nationalökonomen, Journalisten, manche sonst skeptischen Di- mat, der ich immer gern sein möchte und oft auch bin, war damals plomaten und Berufspolitiker aus aller Welt gaben Hitler nur eine eindeutig Thomas Mann und nicht ich. Auch auf Frau Mann hätte kurze Frist. Eine lächerliche Episode, gewiß, aber schließlich ich wohl einen besseren Eindruck gemacht, wenn ich mich ein würde dieser Dilettant rasch an seiner staatsmännischen Unerfah- wenig beherrscht haben würde. Aber ich dachte: zum Teufel mit renheit scheitern. Was hatte er bisher denn weiter gezeigt als Bega- den Konventionen, was schert mich der Eindruck – und so floß alle bung zum Demagogen und Volksverführer? Glaubte man viel- aufgestaute Bitterkeit und Ironie zu falscher Stunde und in ganz leicht, das Offizierskorps werde sich von so einem kommandieren falscher Gesellschaft aus mir heraus wie aus einer umgestürzten lassen? Und wo sollte er denn das Öl hernehmen? Und das Geld? Gifttonne. Eva stieß mich wiederholt unter dem Tisch an, aber das O nein – höchstens ein halbes Jahr. beachtete ich kaum, so verliebt war ich in meine eigene Bosheit. All das hörte ich von Thomas Mann im Sommer 1933 bei unse- Plötzlich griff Frau Mann in die Unterhaltung ein und fragte, rer zweiten Begegnung. Nun muß ich, bevor ich fortfahre, schnell indem sie mich gereizt ansah: »Ja, Herr Grosz, wie lange glauben noch etwas einfügen: Ich hatte nämlich von jeher, wahrscheinlich denn Sie, daß der Hitler an der Macht bleiben kann?«

334 335 Ich erwiderte prompt und ebenso gereizt: »Wenn auch Sie mit teuerungen klangen viel weniger aufrichtig und überzeugend als den sechs Monaten rechnen, an die Ihr Mann glaubt, dann täu- meine pessimistischen Prophezeiungen vorher. schen Sie sich aber schwer. Meiner Meinung nach wird das eher an Thomas Mann war aber sehr nett; er sagte in beschwichtigendem sechs Jahre dauern – vielleicht sogar zehn, gnädige Frau«, fügte ich Ton zu seiner Frau: »Laß doch Herrn Grosz reden! Es hat jeder stechend hinzu. »Auf jeden Fall viel länger, als Sie und Ihr Herr seine Ansichten –« Und was meinen Pessimismus und Nihilismus Gemahl sich das vorstellen!« und meine Glaubenslosigkeit an das Gute anbetreffe – (Nihilis- So eine Prophezeiung klang damals herausfordernd und ganz mus, sagte er!) –, was das anbetreffe, fuhr er mit verborgener Ironie unglaublich. Nur ein völlig verantwortungsloser oder boshafter fort, so habe er derlei Anwandlungen als jüngerer Mensch auch ge- Mensch mochte – rein des Widerspruchs wegen – behaupten, habt und könne sie gut verstehen. Wie in jeder Frage gebe es da er könne sich Hitler ganz gut zehn Jahre lang an der Spitze zwei Standpunkte, ein Einerseits und ein Andererseits, und man Deutschlands vorstellen… Thomas Mann und ich sahen uns böse müsse die Gedanken nur genügend zügeln können und dürfe sich an. Wir merkten plötzlich, daß wir einander eigentlich nicht lei- von der gegenwärtigen Dunkelheit und der dadurch bedingten den konnten. teilweisen Blindheit dem mehr optimistischen Ausblick gegenüber Frau Mann griff noch einmal ins Gespräch ein und sagte: »Sechs nicht überwältigen lassen. »Ja, gewiß«, fügte er noch einmal hinzu, oder gar zehn Jahre geben Sie dem – diesem Anstreicher? Pfui, »solche Anwandlungen kenne ich auch…« Herr Grosz, Sie sind ja ein ganz ekelhafter Mensch, wenn Sie sich Unser Gespräch war plötzlich wie verlöscht, als habe jemand das überhaupt vorstellen können!« Dabei griff sie, wie um ihre etwas zwischen uns ausgeblasen. Gleichzeitig sahen wir alle nach Worte zu bekräftigen, in der Lebhaftigkeit der Rede nach meinem der Uhr; gleichzeitig erinnerten wir uns alle dringender Verabre- Arm, und mit Schrecken sah ich auf einmal, daß ihre Nägel ganz dungen. Auch merkten wir, daß wir schon viel zu lange dasaßen. spitz geworden waren, wie die einer Katze. Bevor wir uns richtig verabschiedet hatten, waren wir schon mei- Eva gab mir noch einen warnenden Tritt auf das Schienbein. Ich lenweit voneinander entfernt. Aus unseren Mündern kamen nur war plötzlich ernüchtert. Hätte ich nicht ruhig bleiben und ruhig noch kühle Höflichkeitsfloskeln, und unser Gespräch verendete in auf die Wunschvorstellungen des Ehepaars Mann eingehen kön- jenem seichten Geplauder, das in Gegenwart bedeutender Zeit- nen? Was sollte das alles? Warum nicht zustimmen, daß wir alle in genossen immer nach höfischer Etikette, aber auch nach ironischer einem halben Jahr wieder zu Hause sein würden, in einer besseren, Verkleidung klingt. befreiten Heimat? Wie unsinnig, solch Gestreite –! Wie stets nach solchen zu nichts führenden Gesprächen fühlten Wir saßen beim Abendbrot in Douglaston, wo wir nun etwas wei- wir uns alle unbehaglich. Die reale Umgebung war plötzlich glas- ter von der Stadt in einem etwas größeren Hause wohnten. Es war klar um uns, mit allen Restaurantgeräuschen und -gerüchen. Um ein regnerischer, dunkler Tag gewesen; frühmorgens war es schon unseren Tisch lag allgemeine Verstimmung, wie dicke Luft. Ich so dunkel wie sonst nachmittags um sechs. Es regnete noch immer. machte noch einen ganz verfehlten Versuch zur Rettung der Situa- Wir waren ein paar Freunde und hatten uns lange nicht gesehen. tion, indem ich einlenkend sagte: »Gott, ich kann mich natürlich Ich hatte zur Feier des Tages ein paar Flaschen Steinwein entkorkt, auch irren – ich irre mich sicherlich; es ist ja durchaus möglich, daß als plötzlich das Telephon klingelte und wir die Nachricht von Hitler nur sechs Monate –« und so weiter. Aber diese meine Be- Ernst Tollers Tod erhielten.

336 337 Es war der 22. Mai 1939, und Toller war in einem Hotel in Man- Er sah gut aus. Große Augen loderten unter dunklen Augen- hattan von seiner Sekretärin an der Tür seines Badezimmers hän- brauen hervor, dunkle, gewellte Künstlerhaare schmückten die gend aufgefunden worden. Er sollte, so wurde berichtet, sich hohe Stirn. Die Frauen waren ihm zugetan – und er den Frauen. Er schon vorher mit selbstmörderischen Gedanken getragen, auch liebte das gute Leben, war kein Asket und verschmähte Genüsse vor Freunden merkwürdige Reden geführt und sich nach der nicht. Oft sah man ihn nach einer flammenden Rede in einem klei- Funktion eines Gasherdes mit Hähnen erkundigt haben. Er habe nen französischen oder russischen Restaurant sitzen, was ihm von die ganze letzte Zeit unter Depressionen gelitten; alles habe sich den typischen linken Kleinbürgern oft ganz dumm vorgeworfen gegen ihn gewandt; seit dem Zusammenbruch der spanischen wurde. Er war aber nicht zynisch genug, um diese dummen Rede- Loyalisten sei er nicht mehr derselbe… reien einfach an sich abgleiten zu lassen, sondern wurde jedesmal Meine Erinnerungen an ihn gehen weiter zurück, nach dem ge- innerlich getroffen. Alles an ihm war in gewisser Weise edel, und er wesenen Deutschland. Dort habe ich ihn häufig getroffen. Ein lernte nie, daß man, um die Massen zu beherrschen, eine Reitpeit- Abend in seiner Wohnung fällt mir ein: Der Schriftsteller Emil sche bei sich haben muß, selbst wenn man nie Gebrauch von ihr Ludwig war auch dabei, und wir hatten eine lebhafte Auseinander- macht und sie nicht einmal aus dem Einwickelpapier nimmt. setzung über die Chancen Hitlers, der gerade vor seiner Berufung Seine Konflikte waren von mancherlei Art. Tollers Dramen ver- zum Kanzler stand. Ludwig verließ sich auf Hindenburg und den alteten allmählich, kamen aus der Mode und wurden nur noch hie konservativen Einfluß der Armee, Toller verließ sich auf die Ar- und da auf kleinen Bühnen gespielt. Seine Hoffnungen auf den Sieg beiterschaft – ich aber sah nichts, worauf ich mich hätte verlassen einer großen sozialen Bewegung – wobei er sich als einen Führen- mögen. Wir schieden ein wenig verstimmt. den einbezog – zerbrachen. Wie vielen edlen, aber etwas ver- Toller hatte in der Münchner Räterepublik eine Rolle gespielt schwommenen Idealisten geschah ihm, daß er gleichsam zwischen und war gleichzeitig ein erfolgreicher, überall aufgeführter Büh- zwei Stühlen saß: die Kommunisten griffen ihn an, weil er die von nenautor gewesen. Er hatte eine beträchtliche Popularität erlangt Moskau bestimmte Parteilinie nicht einhielt, und die Sozialdemo- und mußte diese dann dauernd rechtfertigen. Anstatt zu ver- kraten wiederum waren ihm nicht revolutionär genug. Andere, schwinden und weiter Stücke zu schreiben, versuchte er eine Art innere Sorgen und Schmerzen kamen dazu. Er konnte schließlich Führer zu werden. Er war jedoch keine Führernatur; er verwech- nur noch mühsam schreiben. Er hätte abtreten müssen, sich zu- selte Dichtung mit Politik und seine blendende Rednergabe, die rückziehen, weg von allen Telephonen, von der scheinbaren Ge- ihm immer großen Beifall eintrug, mit wirklicher Überlegenheit. schäftigkeit – wie Grimmelshausens Einsiedler hätte er eine Zeit- So wurde er nie mehr als ein feuriger Agitator. lang in den Wald gehen müssen, sich ausruhen, sich sammeln. Aber Was ihm vorgeschwebt haben mag, war wohl so etwas wie Fer- das konnte Ernst Toller nicht. dinand Lassalle – eine mitreißende Erscheinung mit flatternder Er mußte sich selbst spielen bis ans Ende. Böse Zungen sagten, roter Fahne, von den Massen geliebt, darüberstehend, idealen Din- er habe Primadonnenallüren; ich konnte das nie finden. Er war gen zugewandt, und doch mitten unter ihnen. Zum wirklichen eitel, wie viele Künstler. Er war voll Ehrgeiz, und auch das sind wir Führer fehlte ihm eigentlich alles, in erster Linie die Härte des Wil- doch mehr oder weniger allesamt – es gehört schon ein ganz großer lens und die Verachtung der Masse. Er war romantisch und senti- Erfolg oder eine krankhafte Menschenverachtung oder die Weis- mental und sah Schwalben und Menschen poetisch. heit eines Brahmanen dazu, es nicht zu sein. Toller konnte auch

338 339 anders sein, wenn man allein mit ihm war. Dann war er oft ganz Doch im geheimen in seiner Kammer natürlich. Aber die Natürlichkeit verschwand sofort, wenn er Zu- Beschrieb er der Menschheit ganzen Jammer. hörer hatte und das Schauspielerische in ihm durchbrach. Im Zenit (Aus G. G., »Gesammelte Gedichte«) seines Ruhmes war er zu oft der Mittelpunkt gewesen, um sich nun freiwillig an den Rand begeben zu können. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich mit dem stets hilfs- Einmal kam er zu uns nach Douglaston heraus. Ich holte ihn bereiten Ezeh unter der brütenden Hitze nach Ellis Island hinaus- vom Bahnhof ab; es war Frühling und alles blühte, aber in Toller fuhr, um einem gerade aus dem deutschen Konzentrationslager war es Herbst, und die Bäume standen kahl. Ich merkte sofort, wie eingetroffenen Freunde beizustehen, dem Borchardthans, – denn niedergeschlagen er war. Wir gingen untergehakt durch die blü- nun hatte er ja statt der bloßen Nummer wieder seinen Namen. hende Landschaft, es war so friedlich und geruhsam. Und Ernst Ezeh, immer hilfsbereit, hatte durch seine Beziehungen die nöti- sagte mir, ich hätte es gut; er wolle auch hier draußen wohnen, in gen Papiere besorgt, die uns gestatteten, das Schiff schon jetzt zu Ruhe arbeiten und endlich wieder Stücke schreiben – er wolle dem betreten, bevor es gedockt hatte. Diesen Ezeh hätte ich schon frü- ganzen Betrieb den Rücken kehren und zu sich selbst kommen. her kennenlernen sollen, als mir mein Kunsthändler Flechtheim in Ob ich ihm nicht etwas finden könne, hier in der Gegend –? Berlin von dem Nudelkönig aus usa erzählte, der angelangt sei und Es klang echt, aber es war nicht echt. Er spielte sich selbst etwas ein paar Sachen von mir gekauft habe. Es kam dann aber nicht vor. Er kam nie los von jenem eingebildeten Mittelpunktsein. Bei dazu, der große Mann mußte weiter, und erst 1932 haben wir uns ihm mußten Telegramme einlaufen und Reporter erscheinen; er getroffen, im alten Café Royal, wo man fast so sitzen konnte wie in brauchte das stete Gefühl des Begehrt- und Benötigtwerdens. Ich einem Wiener Caféhaus, bei Zeitung und einem Glase Wasser. sehe ihn noch in seinem Hotelzimmer nach der Ankunft in New Hier also brachte mich der Doktor Plaut mit Ezeh zusammen. York: Ein halbes Dutzend Journalisten waren da, als ich eintrat; Unser Lunch stand im Zeichen der weißen Farbe. Ich wußte noch zwei Sekretärinnen saßen und schrieben, Toller schilderte gerade gar nicht, daß Weiß die Lieblingsfarbe dieses Kunstfreundes war. eindringlich die Hinrichtung eines nazifeindlichen Arbeiters na- Tatsächlich hatte Ezeh eine ganze Menge Bilder des Malers Klein- mens André, ein Page brachte Telegramme, es war Betrieb, Toller schmidt erworben, in denen es viel Weiß gab. Dieser Kleinschmidt war glücklich. malte mit ganz fetter Farbe, die wie Butter aufgeschmiert war in Leider durchschaute er den Betrieb nicht. Und als er dann im den verschiedensten weißlichen Tönen, vom hellsten Gelbweiß einsamen Zimmer saß und keine Reporter und Telegramme mehr hinüberspielend bis ins kühl geblaute Weiß. Nun, die beiden Her- kamen… ren trugen weiße Leinenanzüge, was in der tollen Hitze begründet Ein früher Ruhm ist oft gefährlich. Aus alten Zeitungsausschnit- erschien. Aber sie bestellten auch nur Speisen, die wie weiße An- ten baut man sich kein neues Leben auf. züge aussahen und tranken Milch dazu. Ich hätte eigentlich gern etwas Rotes oder Blaues gegessen, aber ich unterdrückte meine In Deutschland, da lebte ein kleiner Mann, koloristischen Wünsche, immer bereit, mich anzupassen. Borchardthans so hieß er, Später ließ mich Ezeh seine Sammlung sehen, die fast das ge- Den stellten sie als Lehrer an, samte graphische Werk des in Amerika wenig bekannten Lovis Er lebte wie ein Spießer. Corinth umfaßte und alles von Käthe Kollwitz. Er war einer der

340 341 gar nicht so häufigen Sammler aus reiner Freude an den Werken, Das Lager erschien ihm als ein grausiger Hohn, als eine Hölle, in der ohne alle hochtrabenden Begriffe auskam und nicht nach Mo- der die gemeinsam Verdammten durchaus nicht solidarischer wur- den fragte. Außerdem ein fabelhaftes Modell, dem das Sitzen ge- den. Die Mitangeschnallten waren vollkommen durchsichtig ge- radezu Spaß zu machen schien. Sein Umfang hatte wirklich etwas worden, wie Gallerte, die Schreie mit Stroh umwickelt. Es ging Königliches, etwa wie ein französischer Küchenchef sah er aus, die dort überhaupt sehr leise zu, viel leiser als in der wirklichen Welt. personifizierte Ruhe und Solidität, aber belebt durch die spezifi- Auch die Maschinenpistolen hatten Schalldämpfer. Und die schön sche Grazie und Leichtigkeit der Dicken. Ich habe ihn mehrmals laute Lagermusik verdeckte alle verdächtigen Geräusche mit Wag- porträtiert. ner und herzinnigen Liedern. Wir fuhren also zusammen auf einem Journalistenboot dem War man gärtnerisch begabt, so durfte man den Hinrichtungs- Dampfer entgegen, der Borchardthans gebracht hatte. Aber die platz verzieren. Sehr schön habt ihr es hier, sagte mal ein großer Einwanderungsbestimmungen sind streng – der Gelandete konnte Führer, der sie besuchen kam. Blumenrabatten um die Baracken. nicht landen, denn ihm fehlte ein Finger an der linken Hand. Man Was bist du denn von Beruf? – Studienrat, Herr Oberscharfüh- hatte ihn, der kein Wort Englisch konnte, beiseite gestellt und rer. – So, ach sieh ma an, Studienrat, was! Nu will ich dir ma saaren, wollte wissen, was mit der Hand los war. Verdattert, verängstigt was du bist: du bist eine alte Judensau… Was bist du also? – Ich bin saß er nun herum, ohne Jackett, nur den Regenmantel gleich eine alte Judensau, Herr Oberscharführer. – Na also! – überm Hemd. Unter der brennenden Sonne eine etwas auffällige Das zerhauene Ohr lief. Das Moor war ewig. Gab’s das überhaupt Erscheinung. noch: eine Dusche und dann ein frisches Nachthemd? Studienrat, na Hans war Oberlehrer gewesen an einer sogenannten fortschritt- sieh ma an! Bist du tapfer? – Jawohl Herr Oberscharführer, ich bin lichen Schule. Er hatte seinen Beruf geliebt, ungleich so manchen tapfer. – Na, wenn du tapfer bist, was willst du dann? – Sterben, seiner Kollegen, die an falscher Stelle schufteten, tüchtig, bissig Herr Oberscharführer… – Na großartig, der Herr Studienrat will und böse. Auch sie waren in ihrer Art Idealisten wie der Bor- sterben! – chardthans, das Versprechen eines feinen Übermorgens hatte auch Endlich mal wieder ein kleiner Spaß, na was denn. Vielleicht sie hypnotisiert, aber ihnen war es von anderen Svengalis verhei- würde er es heute nacht Hannchen erzählen. Man sollte natürlich ßen. die Schnauze halten, aber Hannchen war schließlich eine alte bdm, Im Konzentrationslager befand sich Hans nicht allein, und seine die hielt schon dicht. Also ma’n paar Mann her zum Eingraben, der Nummer war eine ziemlich hohe. Schon viele tausend Idealisten Herr Studienrat will nämlich sterben. Haste Angst? – Nein, Herr waren vorher mittendrin geholt und angeschnallt worden. Allein Oberscharführer, ich habe keine Angst. – Seht euch den ma an, ihr war er gewiß nicht, aber entsetzlich einsam. Er litt seit jeher am Schweine, da könnt ihr euch ’n Beispiel dran nehm! – Waschzwang (wie es in der Psychoanalyse heißt) und war un- »Hei, wie sich da welche vordrängelten, um mich einzugraben«, glücklich, wenn er nicht täglich dreimal duschen konnte. Ein erzählte mir Hans später, »mit welchem Genuß sie schippten, schlechter Mensch riecht auch schlecht, pflegte er zu sagen. Wo er schon um sich dadurch beim Herrn Oberscharführer beliebt zu jetzt war, rochen alle schlecht. Noch nach langen Jahren, als der machen. Und mit welcher Lust sie schwere, harte Erdbrocken auf Nachtmahr längst vorbei war, rief er nach ausgiebigem Duschen, er mich fallen ließen! Jedenfalls hatten alle, außer mir, ihren Spaß da- könne den Geruch nicht loswerden. bei, nicht etwa bloß der Herr Oberscharführer, der schließlich ge-

342 343 langweilt Halt befahl, als mir die Erde schon bis zum Munde ging. luden auf Loren von beiden Seiten her die Steine auf, munter ange- Schade, sie hätten es doch zu gern gesehen, wie ich wirklich leben- feuert von den Aufsehern. Es war wohl so eine Art Spaß dabei, dig eingegraben worden wäre«, erzählte mir mein Freund Bor- sich gegenseitig die Brocken auf die Finger zu werfen, und der ge- chardthans, als wir dann in Douglaston bei einem Whisky saßen. langweilte Posten hatte solche Spiele gern. Tja, so bin ich um den Oder: »Schutzhaftgefangener Nummer 189654 wird mit 24 Hie- Finger gekommen, und im Revier war man sehr sparsam mit ben über Gesäß und Rücken bestraft, weil er in ›die‹ Kartoffel- schmerzstillenden Drogen. Daß ich nicht die ganze Hand ver- küche Propaganda für seinen dämlichen Gott Jehova gemacht hat. loren habe, die schon dunkel verschwollen war, dafür muß ich So geschah einem jener unbeugsamen Bibelforscher, den sie halb dem Sanitätsgehilfen Klangwardt dankbar sein, der verhältnis- tot schlugen, da er niemals die Hand zum Hitlergruße erhob noch mäßig behutsam war.« sonstwie der damals herrschenden Macht irgendeine Ehrenbezei- Hans hielt diese Hand immer versteckt, die etwas krebsscheren- gung erwies. Die waren die aufrechtesten«, erzählte Hans, »keine haft Häßliches geworden war. Nein, er war nicht etwa stolz auf Quälereien konnten sie eines Besseren belehren, so stark war ihr dieses Mal der abscheulichen Erniedrigung. Glaube an den Tag des Gerichts.« In New York hat der Borchardthans dann ein dickes Buch ge- Dann der sogenannte Rosenkavalier. An den dachte Hans mor- schrieben: »The conspiration of the Carpenters«, – ein verwirren- gens beim Gartensprengen in unserem Garten zu Douglaston am des, schwer zu lesendes Buch, in dem über hundert Leute auftreten; Sund. Der ließ sich beim Abschiednehmen noch einmal den Franz Werfel schrieb ein Vorwort dazu. Manche Beurteiler fanden Schutzhaftgefangenen Borchardt kommen, zu nochmaliger Beleh- es genial, aber es wurde rasch vergessen. Auch ein paar Stücke von rung und Einschüchterung. Den Namen verdankte er seiner Lei- ihm gibt es; eines, noch in Deutschland entstanden (ich hatte da- denschaft für Rosen, und Gefangene, die sich darauf verstanden, mals ein paar Zeichnungen dazu gemacht), hieß »Die Bluttat von welche zu züchten, hatten es ein wenig besser. Als Borchardthans Germersheim«. Er konnte es ebensowenig wie den in Amerika antrat, wedelte er mit behandschuhter Hand eine Rose vor seiner geschriebenen »Pastor Hall« je zur Aufführung bringen. Im Januar Nase hin und her: »Sie werden nun entlassen und gehen nach Ame- 1951 ist er in New York gestorben. Der Doktor sagte hinterher, er rika. Ob Sie (auf einmal wieder Sie) nun sagen, das Lager Dachau habe überhaupt kein Herz mehr gehabt. So fiel er eines Morgens war eine Hölle oder es war ein Sportplatz zur Gesundung und Er- einfach aufs Bett zurück und war gleich tot. tüchtigung des Körpers, das ist ganz gleichermaßen verboten!« Und er schnupperte an der Rose. »Merken Sie sich eins, wir haben ein feines Ohr und einen langen Arm, der reicht auch bis Ame- rika!«… Nun lag der Höllenspuk hinter ihm. Dann und wann allerdings stand noch immer der Rosenkavalier hinter ihm und hielt eine Maréchal Niel an die Nase. Man konnte ja wohl nicht den lieben langen Tag über ausschließlich Menschenschinder sein. Nachher war man eben Familienvater, Brahmsliebhaber und Rosenzüchter. Der Finger? »Ach, der ging mal beim Steineaufladen ab. Wir

344 345 und Farben und Freude. Viele kleine Notizhefte sammelten Skiz- zen ein, die später in meinen Bildern Verwendung finden sollten. Ich habe die großen Busse geliebt, die durch die Straßen polterten, und noch mehr als schon immer die Schaufenster, die Feenpalästen XVIII Amerika ist ein weites Land glichen, wie sie nirgends sonst zu sehen waren. Vieles löste sich da in mir, das Deutschland hatte einfrieren lassen, und ich entdeckte nun in Amerika aufs neue die Lust am Malen. Ab- merika ist gross und weit, und ich fand es oft recht erschrek- sichtlich verbrannte ich mit Sorgfalt einen Teil meiner Vergangen- A kend, wie einem sich diese Größe und Weite in den Städten heit. Und lernte vor allem Englisch. Wenn ich zeitweise unter tiefen aufdrängt. Doch glücklicherweise hatte ich aus meiner Vergangen- Depressionen litt, so hatte das mit Amerika nichts zu tun. Es war heit so manches mitgebracht, das mich in diesem Lande heimisch wie ein zuckender und bedrohender Wetterschein, wie ferne Feuers- machte. Oftmals habe ich in Douglaston oben auf der kleinen brünste und Blutgeruch. Ich malte diese Gesichte von Ruinen, in Brücke gestanden, die die Bahngeleise überquert, und an eine denen der Brand noch wühlte. Das war lange vor dem Kriege. ebensolche Brücke in Stolp zurückgedacht, auf der ich vor langen, langen Jahren zu stehen pflegte. Dort liefen die Stränge in die weite Gleich von Anfang an gewann ich in Thomas Craven einen Berater Welt hinein, bis sie am Rande des Meeres endeten, wo ein mächti- und guten Freund. Wir haben uns vom ersten Tage unserer Be- ges Schiff mit drei Schornsteinen darauf wartete, mich hinüberzu- kanntschaft an ausgezeichnet verstanden. Ich hauste zu jener Zeit nehmen in eine ferne Welt, nach Amerika. in einer kleinen Wohnung in der Christopher Street, und Craven Wenn ich nun so auf der Brücke von Douglaston stand und die erschien dort, um mich im Hinblick auf einen Artikel in seinem Arme ausstreckte, dann war mir, als sei ich zwiefach zu Hause. Ja, Buche »Men of Art« zu interviewen. Ich habe damals, wie ich ge- wirklich zu Hause! Denn nun hatte sich der romantische Traum stehen muß, recht wenig von amerikanischer Kunst gekannt; in meiner Jugend verwirklicht. Deutschland wußte man eigentlich außer von Whistler höchstens Vorher hatte ich in kleinen Hotels gelebt, in kleinen Wohnun- noch etwas über Maurice Sterne, Hunt Diederich und Marsden gen, deren Wände der Lärm der Lastwagen durchdrang, wenn sie Hartley. Und auch die waren nur dem ziemlich kleinen Kreis be- vom Hollandtunnel verschluckt oder ausgespieen wurden. Sie kannt geworden, der sich um den Kunsthändler Flechtheim und dröhnten durch mein Zimmerchen, über mein Bett weg. Dennoch seine Zeitschrift »Der Querschnitt« sammelte. Meine Kenntnisse war ich dort glücklich gewesen. Es lag in Manhattan etwas uner- von amerikanischer Kunst verdanke ich großenteils eben Thomas klärlich Erregendes in der Luft, das die Arbeit anstachelte. Und ge- Craven, und durch ihn bin ich auch mit dem damals gerade hervor- arbeitet habe ich da. Nachdem ich abends von meiner Unterrichts- tretenden Bühnenmaler Thomas Benton bekannt geworden, mit klasse heimgekehrt war, ließ ich die Aquarellfarben nur so über das John Stewart Curry, Reginald Marsh und Grant Wood. Papier strömen, um festzuhalten, was mir tagsüber in der Stadt Einmal sind Craven, Thomas Benton und Charles Henry, der aufgegangen war. Die Stadt war geladen mit Eindrücken, und ich später mein Schüler wurde, mit mir nach Hoboken hinübergefah- brannte vor Schaulust. Das düstere Hotelzimmer mit seinem ein- ren, in das deutsche Viertel dort, und wir haben uns ganz allein in fachen Holztisch beengte mich nicht – ich war erfüllt von Licht einem oberbayerischen Restaurant niedergelassen, wo der Wirt auf

346 347 der Ziehharmonika Schnadahüpferl und Schuhplattler zum besten pflegte er zu sagen: »Sachte, sachte George! Nicht hinter den Din- gab. An den Wänden waren primitiv hingepinselte Dekorationen gen herrennen, sie werden schon auf Dich zukommen.« Oder: zu sehen, die oberbayerische Landschaften darstellten. Es hätte »Sein Glück muß man schlecht behandeln.« Er hat mir für vieles sehr wohl ein richtiges bayerisches Lokal sein können, nur das Bier die Augen geöffnet, das dem Neuling im Lande zunächst verbor- natürlich war damals noch ziemlich dünn. Tom Benton saß da mit gen zu bleiben pflegt. seinem Spazierstock und dem kleinen schwarzen Schnurrbart, vol- Eines Tages nahm er mich in einen Club mit, wo Huey Long ler Energie und geladen mit scharfem Humor. Leider entging mir sprechen sollte. Die Leute meinten, Long habe sich zum Diktator viel, denn meinem Englisch-Verstehen waren noch recht enge von Louisiana gemacht und habe es sich sogar in den Kopf gesetzt, Grenzen gezogen. Hinterdrein landeten wir in einem jener Mu- Diktator der Vereinigten Staaten zu werden. Als ich ihn dann reden schelrestaurants am Hafen und erwärmten unser Inneres mit hörte, gewann ich ein völlig anderes Bild von dem Manne. Seine heißer, köstlich duftender Muschelbrühe. Worte waren witzig und bezeugten einen äußerst schlauen politi- Manche Weekends habe ich in Woodstock bei dem Zeitungs- schen Kopf. Nichts bei ihm von den kalten, häßlichen Zügen in der artikler J.P. McEvoy zugebracht, dem alten Freunde, den ich schon Erscheinung jener menschenfeindlichen Machthaber Europas. Er in Deutschland kennengelernt hatte. Und dort fanden sich wieder gebärdete sich keineswegs, wie Hitler oder Mussolini, als Mann mit neue Menschen dazu. Wir besuchten den Maler Yasuo Kuniyoshi, einer gewaltigen Sendung. als er gerade dabei war, einen kleinen Steingarten anzulegen. Und Rührend, wieviel Zeit sich McEvoy dafür nahm, mich von Ver- nach langen Jahren habe ich damals Archipenko wieder getroffen. leger zu Verleger zu schleppen. Es war sicherlich sein Fehler nicht, McEvoy war von ungewöhnlicher Vitalität. Stets eigentlich fand wenn ich kein Glück entwickelte. Vor meinem Auge steht er als der man ihn in einem Badeanzug bei der Arbeit. Den ganzen Tag lang generöse, großherzige und gastliche Patriarch von Woodstock. schrieb und diktierte er; mitunter kam er rasch mal aus seinem Doch mit der Zeit sah ich immer weniger von Mac. Er zog von Zimmer, um uns einen besonders gelungenen Gag vorzulesen. Er Woodstock fort, unsere Wege liefen auseinander. Ich werde ihm war ein höchst gastfreundlicher Mann, in dessen Garten sich nach- vor allem immer für den Zuspruch dankbar sein, der mich in der mittags oft halb Woodstock versammelte, denn er besaß den größ- Entscheidung bestärkte, in den Staaten zu bleiben. Sein Rat hat mir ten swimming pool in der ganzen Gegend. So wenig wie Churchill vielleicht das Leben gerettet. war McEvoy jemals ohne Zigarre zu sehen. Bei anderen Freunden traf ich einmal den italo-griechischen Eine wohlausgeglichene Persönlichkeit war das, nie unfreund- Maler Giorgio de Chirico. Als ich eintrat, stand er ein wenig miß- lich oder mißmutig. Arbeit und Spiel verbanden sich bei ihm zu mutig gegen den Flügel gelehnt, ein Mann mit einem Pferdekopf wahrer Lebenskunst. Er hat mir mal auf einer unserer Nachtfahr- und großer Nase, sehr ähnlich seinen Pferdebildern. Durch ihn ten nach Woodstock das Geheimnis seines Erfolges und seiner Le- war ja das weiße Pferd in die moderne Malerei eingeführt worden, bendigkeit entwickelt. Er trachtete, harmonisch zu leben, niemals außerdem die zerbrochene Säule. Ich empfing von ihm den Ein- in einer Sache zu viel zu tun und neben der Arbeit auch immer druck stolzer Einsamkeit, in selbstgewollter Übereinstimmung Weib, Wein und Gesang zu ihrem Rechte kommen zu lassen. Es mit seinen sehnsuchtstarren Bildern. Er muß sich wohl selbst eini- war nicht der Typ, der sich mit einem Narkotikum aufpeitschen germaßen verloren gefühlt haben in New York, ähnlich dem klei- mußte – was ihn in Rausch versetzte, war seine Arbeit. Zu mir nen Mädchen, das auf einem der schönsten dieser melancholi-

348 349 schen Gemälde zwischen den Steinwänden der Stadt den Reifen leicht, sein Bild heraufzubeschwören. Er liebte es immer, Versteck treibt. zu spielen, und kann sich sozusagen unsichtbar machen. Daran Einmal kam auch Marsden Hartley zu uns heraus. Wir kannten liegt es wohl. Irgendwo aber muß er doch sein! Ich will weiter- ihn schon aus Deutschland, und seltsamerweise war ich dort vor suchen, vielleicht steckt er in der Wolke dort, in dem Fleck auf der langen Jahren einmal in einem Atelier zu Hause, in dem früher Tapete… Marsden gewohnt und gemalt hatte – wovon ich nichts ahnte. Die Ihn flach zu sehen, ausgeschnitten und aufgeklebt, als eine Bild- Wirtin zeigte mir damals sogar ein paar Ölbilder, die Marsden ein- seite mit leerem Rücken, wie ich doch die meisten sehe, das gelingt fach hatte auf dem Boden stehen lassen. Übrigens beherrschte die- mir bei ihm nicht. Wenn andere Menschen nur eine Seite zu haben ser Maler außerdem noch die schwierige Kunst virtuosen Pfeifens. scheinen, so ist Edward James dreiseitig, mindestens. Sein Anblick Aber er hielt stets darauf, sie diskret und abgewandten Gesichts täuscht das Auge. In seiner Londoner Stadtwohnung hat Edward auszuüben, denn er meinte, sein Mund wirke dabei zu obszön. Spiegel, durch die man hindurchsieht, während man sich darin So kamen und gingen viele Freunde, tauchten auf und verschwan- spiegelt. Dali, den er gefördert, vielleicht für England überhaupt den, wie etwa der nette Däne Charles Lautrup, der in Japan das kai- entdeckt hat, mußte ihm eine surrealistische Küche einrichten. Er serliche Orchester dirigiert hatte und, wie er zu sagen pflegte, einer hat für Edward James auch einen Anzug mit Schubladen entwor- der ganz wenigen war, die dem Kaiser den Rücken zukehren durf- fen anstatt mit Taschen, der aus einem extra biegsamen südameri- ten. In Amerika ist es nun mal so – wie Schiffe in der Nacht. Hier kanischen Holz zugeschnitten worden ist. Natürlich können die geht alles sehr schnell, und es wird rasch vergessen. Ein bißchen un- Schubfachtaschen nicht wirklich aufgezogen werden, sie sind bloß heimlich ist das. illusionistisch aufgemalt, von Dali selbst. Über seinem viktoriani- Mit besonderem Entzücken erinnere ich mich an Edward James schen Kamin befindet sich ein Bild mit einer in der Luft schweben- und die unvergleichliche Lebhaftigkeit seines Geistes, die sich in den Lokomotive. Die Menschen nennt er nicht mit ihren Namen, jedem Gespräch mit ihm offenbarte. Einem schärferen Kopf bin sondern bezeichnet sie durch Farben. Mich zum Beispiel nennt er ich kaum je begegnet. Gebürtiger Engländer, tief vertraut mit Goe- Flaschengrün, und da er gern symbolische Geschenke macht, the, umfassend gebildet, und hinter seinem florettgleichen Wort wollte er mir auch einen flaschengrünen Anzug schenken. Leider das gründlichste Kunstwissen. In diesen Zeiten, da die Menschen war der Stoff, den er im Sinne hatte, nicht mehr in dieser Farbe zu zumeist so leicht drauflosreden, als habe man den Knopf einer Ma- bekommen, und so ist es ein blauer Anzug geworden, gesprenkelt schine angedreht, eine ungewöhnliche Erscheinung. Edward hatte mit Flecken, die kunstvoll eingewebt und dermaßen natürlich sind, etwas an sich von einem Renaissancekavalier; ich habe ihn mir im- daß sie niemand für ein Muster halten würde. Das ist Edward mer so kostümiert vorgestellt, die Beine in Trikots, vielleicht einen James. kleinen vergifteten Dolch an der Hüfte, aber Dante und Vergil im Kopf. Ab 1935 bin ich für sieben Sommer nach Cape Cod gezogen. Die Ich habe seine Gedichte sehr geliebt, die Phantastik seiner Gegend mit ihren schönen, hohen Dünen entsprach ganz einer so- Briefe, die kleinen, zwischen die Zeilen gestreuten Zeichnungen. zusagen »inneren« Landschaft, die ich längst in mir herumtrug und Eines seiner Bücher, »Abenteuer eines Hundes«, bekam ich zu nun hier realiter vorfand. Heute ist Cape Cod von Touristen über- illustrieren. Wir sind Freunde geworden. Aber es fällt mir nicht schwemmt. An allen Ecken gibt es dort Kunstschulen, und wo

350 351 man hinsieht, findet man jemand mit Staffelei und Malkasten sit- kender Herr entstieg, trotz der großen Sommerhitze in einem be- zen. Selbst die Sträucher am Wege sind über und über mit Farbe sonders langen Rock. Bald darauf fuhr der Besucher wieder davon, beschmiert. Die Wege sind bedeckt mit ausgequetschten Farbtuben, doch auch die beiden Burschen verschwanden einige Zeit danach leeren Bierbüchsen und verfleckten Mallappen. Wie eine Art Veits- spurlos. Es bestand unter den frommen Fischersleuten kein Zwei- tanz hat der Malwahn die ganze Nation ergriffen und schlägt sich fel darüber, wer der schwarze Herr gewesen sei. Für sie war es ganz auf die Landschaft nieder. klar, daß sich ihm die beiden Burschen für ein riesiges Lager Das Haus, in dem wir uns untergebracht hatten, stand unter Schnaps verkauft hatten. Und als einige furchtlose Leute aus dem einem »Fluch«. Ebenso auf dem gleichen Grundstück ein älteres Ort zusammen mit aufgeklärten Sommergästen und einem (natür- Gebäude und das Treibhaus eines Blumengärtners, der die von ihm lich protestantischen) Geistlichen in das Haus drangen, da sollen gezogenen Blumen mit seinem Haß verfolgte. Er hätte lieber ein sie ganz sonderbare, riesige Fässer in großer Anzahl darin vorge- Vogelforscher sein wollen, denn die Vögel liebte er, hatte auch funden haben. Niemand konnte sagen, wie die dorthin gelangt wa- schon einen Namen auf diesem Gebiet. Aber aus finanziellen ren, und als man eines mitnehmen wollte, mußte die schmale Gründen kam er von dem Blumengeschäft nicht los und haßte es. Haustür erst ausgehoben werden. Draußen aber zerfielen diese Zuweilen ließ er seine Wut an den kostbaren Orchideen seiner Fässer an der Sonne sofort zu Asche, unter Hinterlassung eines Zucht aus, und es gab ihm die größte Befriedigung, ein recht teures durchdringenden Schwefelgestanks. Sogar wir konnten noch im Exemplar dieser höchst verfeinerten Blüten vor den Augen einer Sommer 1946 zuweilen die Nasen von einem Geruch leicht schwe- entsetzten Kundin in der Hand zusammenzuknüllen oder in kleine feligen Charakters gekitzelt spüren. Fetzen zu zerreißen, wobei er grinsend eine satanische Lache ertö- Eines Tages fuhren wir an dem grauen Haus vorüber, nach einer nen ließ. Seine Frau war deutscher Herkunft, wog nahezu dreihun- etwas unruhigen Party. Es war eine ziemlich nebelige Vollmond- dert Pfund und besaß eine ganze Bibliothek von Kochbüchern. nacht, im Wagen saßen der Maler Georg Biddle, der Spanier Gon- An »Stimmen« und »Wispern« mangelte es ringsum nicht, denn zales, ein junger irischer Dichter, Eva und ich. Biddle erzählte von in welchen älteren Landhäusern gibt es nicht eigentümliche Ge- den beiden Burschen, die man immer noch zuweilen ums Haus räusche. Überdies stand da eine Pumpe, die sich besonders in hetzen sehen will. Da meinte der irische Poet: »Aberglaube oder schlaflosen Nächten wie das ferne Pochen eines Herzens anhörte, nicht, ich habe da eben sich was bewegen gesehen.« »Unsinn«, wenn jemand sie in Bewegung setzte. Man konnte sich schwer da- sagte Biddle, der ein Mann von Welt ist und total aufgeklärt. Wir ran gewöhnen, wir waren wohl auch etwas überreizt. Im Nachbar- fuhren ganz langsam und blieben schließlich stehen. »Doch«, rief haus spukte es. Dort lebten vor Zeiten die beiden »bösen« Bowers- Gonzales, »da bewegt sich etwas.« Ich vertrat die Ansicht, das Burschen, beide tüchtige Trinker, die immerzu miteinander über werde alles mit natürlichen Dingen zugehen, wahrscheinlich leb- irgendwelche Erbschaft stritten. Sie sollen oft gesehen worden ten dort jetzt irgendwelche Sommergäste, vielleicht Kunstschüler sein, wie sie gleich grauen Eichhörnchen hintereinanderher um das oder so, denen es gleich ist, wo sie unterkommen. Wir könnten ja Haus jagten. Eines Tages soll ihnen das Geld und auch der Gin aus- hineingehen und nachschauen, und wer weiß, vielleicht würden gegangen sein. Die ziemlich abergläubischen Nachbarn wollen be- wir auf etwas Trinkbares stoßen. Wir stiegen also aus und gingen obachtet haben, daß plötzlich ein kleiner zweirädriger Wagen mit drauf zu. Na und was fanden wir vor? An einer Schnur wehte aller- einem schwarzen Pferd davor angefahren sei, dem ein etwas hin- lei Wäsche im Mondenlicht. Alles ganz natürlich, wie ich ja gesagt

352 353 hatte. Es wohnten eben Leute dort und hatten ihre Wäsche aufge- Oberschlaukopf schien es darauf angelegt zu haben, die Schüler hängt. Erheitert zogen wir uns wieder zurück und beschlossen das gründlich zu verwirren. Betrat man diese Kunstschule, so ging eine Abenteuer bei uns zu Hause mit ein paar Schlummerschlückchen. merkwürdige Verwandlung im Gehirn vor sich. Es wurde zu einer Am nächsten Morgen aber erzählten wir davon unserem portu- Art altmodischer Kaffeemühle, die alle Begriffe zerrieb. Man be- giesischen Schiffer, der zu einem freundlichen Wort vorbeikam, und gann lauter Zeug gegen die eigene Vernunft und Überzeugung zu gaben unserem Erstaunen Ausdruck, daß nun doch in das verfallene reden. In dem höllischen modernen Atelierlicht dort nahmen alle Spukhaus Sommergäste eingezogen seien. »Was?« sagte der, »in das Dinge des Lebens und der Natur die scheußlichsten Umrisse an. Bowershaus? Nein, nein, bestimmt nicht, das ist ganz ausgeschlos- Wohlüberlegtes verquoll zu schiefen Gedanken, die etwas wie sen, nein, danke schön, Mr. Grosz, nein, ich möchte nichts mehr geistige Seekrankheit erzeugten. Man ertappte sich dabei, den phi- trinken, ich muß nun rasch weiter…« losophierenden Veitstänzer irgendwie zu imitieren, dessen Ge- Etwas weiter am Wege stand ein anderes Haus, genannt das Haus stammel in diesem Kunstasyl maßgebend war. Man konnte nicht des Selbstmörders. Wir wollten uns einmal von den herrlichen einmal umhin, eine Art von Gefallen daran zu finden, solange man Beeren etwas holen, die dort wuchsen, und kamen vor die Gara- da blieb. Vor allem war der Eigentümer dieser Schule ein wohlbe- gentür dieses Hauses. Sie war zu und niemand da, obwohl zu sehen leibter, netter Kerl, der immerfort was zu trinken auffahren ließ, war, daß öfters jemand hinkam. Das Merkwürdige war aber, daß ein im Grunde ganz patenter Mann. Dieser Ben hatte Geld und die Garagentür von unzähligen Schußlöchern förmlich durchsiebt war früher Schauspieler gewesen, und das ist ja immer prächtig. Es war. Hatte da einer erst die Hand geübt, bevor er sich sicher genug befähigte ihn zu herrlichen Persiflagen seines eigenen Unterrich- fühlte, mit einer Kugel in den Kopf sich den Garaus zu machen? tes, indem er bei einiger Anfeuchtung hinreißende Nachahmungen Die Vorstellung war etwas beklemmend. Wir pflückten uns rasch der Führer im Modern Museum und ihrer Erläuterungen der ein paar Beeren und gingen heim. Werke Picassos lieferte. Nichts aber an diesem verhexten Weg war erschreckender als die Von all dem Haß, Wahnsinn und teuflischen Jux hinter den Fas- neuerdings dort etablierte Kunstschule. Beim Eintreten wurde saden der Nachbarhäuser ahnten wir natürlich nichts, als wir unsere man von einem Mann begrüßt, den eine mildere Form von Veits- Sommerwohnung mieteten. Glücklicherweise haben sie vergeblich tanz zu plagen schien. Seine Arme durchfuhren die Luft wie ge- versucht, uns zum festen Ankauf des verfluchten Cottages mitsamt krümmte Windmühlenflügel. Das war der »Philosoph« dieser Treibhaus und sonstigem Zubehör zu überreden. Erst später sollten Kunstschule. Wir mußten immer zu Boden blicken und nicht in wir erfahren, daß die ganze Gegend für geradezu vergiftet galt… seine Augen, sonst wäre sein Gestammel noch verwirrender gewe- Cape Cod war auch sonst nicht ohne Interesse. Halb versteckt in sen. Er kam von Texas und pflegte phantasievoll bestickte Cow- den Dünen lagen die wie versunken aussehenden sogenannten boystiefel zu tragen. Stets ist mir dieser Mann wie das Wahrzeichen Cape-Cod-Häuser, die man für hier gestrandete Schiffe hätte hal- besagter Kunstschule vorgekommen, wo die Schüler gar nichts ten können. Der Strand war meilenweit mit großen Fischen be- lernten, außer »sich selbst auszudrücken«. Und ihr Selbstausdruck deckt, die zu gewissen Zeiten aus den Fluten des Ozeans hierher glich aufs Haar dem langen Veitstänzer. flüchteten und auf dem Sande verkamen. Man mußte an Breughels Ich habe in meinem ganzen Leben nie mehr Quatsch zu hören Bild denken mit den großen Fischen, die die kleineren gefressen bekommen. Es war aber schon wieder faszinierend. Ein kleiner haben. Ähnlich wie die Fische schienen auch manche der Men-

354 355 schen, die hier jahrüber lebten, an Land geschwemmt und langsam Haus lag, – Gespräche über amerikanische Malerei, über Félicien oder schnell der Zersetzung anheimgefallen. Es waren vielfach alte Rops und anderes. Edmund Wilson ist eher ein Hummermensch Kapitäne, die sich mit ihren Diplomen und Erinnerungskisten als etwa ein Fischmensch, und man muß schon einen Nußknacker hierher zurückgezogen hatten. Oder Menschen, die dem nerven- zu Hilfe nehmen, um zum Fleisch vorzudringen. zerstörenden Rattentanz in den großen Städten hatten entkommen Nachts machten wir oft zusammen Besuche, zum Beispiel auch wollen und die nun hier in einer Art Traumexistenz ihr Dasein be- bei Ebon, der es sich als Sohn eines großen Bühnenagenten leisten schlossen; eine besondere Spezies die portugiesischen Fischer, die konnte, ganz unbekümmert um Ausstellen und Verkaufen seiner sich um 1830 hier niedergelassen hatten. Für einige nymphomani- Malerei zu leben und das meiste, was er machte, wieder zu vernich- sche oder perverse Touristen besaßen diese südländisch dunkel- ten. In seinem ererbten Haus war noch alles genau so erhalten, wie haarigen jungen Fischer große Anziehungskraft. Die Stadt Pro- es die Eltern hinterlassen hatten, ein wahrer Schrein der neunziger vincetown erhielt durch sie ein etwas zwielichtiges Gepräge. Jahre, reich verschnörkelt und voller Mahagoni. Wir saßen meist in der Küche mit unseren Highballs, und der Cape-Cod-Wind heulte In der Provincial Street besaß damals John Dos Passos ein reizen- ums Haus. des Haus, von dessen hinterer Terrasse aus man unmittelbar in die »Komm mal mit«, sagte Dos, »ich will Dir was zeigen«. Ich Fluten der Bay steigen konnte. Es wurde denn auch mit nahezu glaubte zu träumen: wir standen auf einem Promenadendeck erster religiöser Regelmäßigkeit gebadet, um sich den Kater vom Leibe Klasse, mit Rettungsringen und Rettungsboot. Das hatte sich zu spülen. Den kleinen Gartenstreifen pflegte Dos höchstpersön- Ebons Vater so hinbauen lassen wie auf einem Ozeandampfer; er lich mit großer Liebe: dieser außerordentliche Schriftsteller hat konnte nämlich das Meer nicht vertragen, dieser Impresario, und nämlich einen grünen Daumen. Nachdem seine Frau auf tragische liebte doch das ewig Bewegte, die Wellen. So ließ er sich denn ein Weise bei einem Autounfall, neben ihm sitzend, ums Leben ge- Stück Ozeanreise hinzaubern… »Es waren eben Lebenskünstler«, kommen war, überließ er sein Haus einem seiner Freunde, einem meinte Dos, »und wer damals reich war, der war es auch. Heute früheren Buchhändler aus Chicago, der nun hier festwuchs wie tarnen sie es ein bißchen mehr – ach, wohin sind die sechzehn eine Seemuschel. Vordem aber haben wir in diesem schönen Hause Gänge beim Dinner entschwunden, es ist aus damit… Sieh mal den an der Meeresbucht so manche gute Stunde verlebt und viele Gäste Mond!« Irgendwie war es plötzlich fast italienisch dort mit dem getroffen, vor allem den eminenten Literaturkritiker Edmund Wil- Provincetown-Turm. Und wir hier hoch über den Wellen in einem son, der hier nicht etwa nur den Sommer zubrachte, sondern für festgemachten Traumschiff. »Na, dann gehen wir wohl wieder immer dablieb. rein«, sagte Dos. »Ja«, sagte ich, »dann gehen wir wohl…« Am besten kenne ich Edmund Wilson im Bademantel die Etwas benebelt sind wir von diesem Ausflug in die Achtziger- Treppe heruntersteigend; wie alle dicken Leute macht er sich be- Jahre heimgefahren. Hin und wieder kreuzten Rehe über die Auto- sonders vorteilhaft von unten gesehen, gleich dem unbekannten straße, da und dort lag Blutiges im Scheinwerferlicht: zerfahrene fetten Kavalier im Prado, der meist dem Velasquez zugeschrieben Schildkröten oder die blutigen Fetzen eines Stinktiers, dessen spar- wird. Wie die Treppe, so gehört das Fahrrad zu seiner Erscheinung; gelartiger Geruch dann an den Rädern haftete und uns noch lange wenn er so dahinradelte, glich Wilson vollends einer Dickensfigur. verfolgte. Ich war angenehm erhoben, dachte an Buffalo Bill, und Unsere Gespräche endeten meist in den Dünen, an denen sein es schien mir, als kreuzten unendliche Büffelherden unsere Straße.

356 357 »Siehst Du«, sagte ich zu Eva, »wir sind auf dem ›Oregon trail‹«. schaukelte wie ein Wilder, auf und nieder, auf und nieder. Maxens »Betrunken bist Du«, erwiderte sie, »wir gehören alle ins Bett!« Frau hatte gerade für diesen Mann eine Wolldecke geholt, die sie Der Hochwald sauste vorüber, aber es waren meist leergefres- ihm kichernd auf die dicken Schenkel breitete, ohne daß er dabei sene Stangen, da hatte eine gefräßige Motte gehaust. Dennoch lag sein besessenes Schaukeln unterbrach. die Undurchdringlichkeit jenseits der Straße, voll von giftigem Roß, der Farmer, lehnte an einer Ecksäule der Veranda, kaute Efeu und einer Ausschlag verursachenden Eichensorte. Wir waren einen Strohhalm und schnippelte an einem Stück Holz. Er erzählte eben in Amerika und nicht in Europa… mir und wies mit der warzigen Hand: da oben befinde sich eine Ungezieferfarm. Ein Deutscher namens Blanck züchte dort allerlei Im Sommer 1942 waren wir am Garnet Lake, so genannt, weil man Küchenschaben, Pferdefliegen, Moskitos in Drahtkäfigen, den darin rote Granatsteine gefunden haben will. Auf der Fahrt dort- ganzen kriechenden, fliegenden und stechenden Dreck, wie er sich hin ging uns bereits ein Reifen kaputt. Lachte da nicht jemand? Die ausdrückte. Mitunter käme er hier vorbei und brächte den Kindern Leute sagten, der See bestünde aus Teufelsspucke, und es sei eine Schaben in Phantasiekostümen oder lustig angeputzte Flöhe in üble Gegend. An dem Farmhaus lief ein Bach vorüber, der eher Streichholzschachteln. Dieser Mr. Blanck sei ein Exterminator, einem Ausguß ähnelte, so eilig hatte er es, hier wieder wegzukom- studiere also die besten Methoden, das verdammte Zeug kaputt zu men. Die Betten waren alt, die Drahtmatratzen verrostet. Gleich kriegen. (Nach dem Lunch habe ich mir übrigens sofort die Zähne neben den Ohren sehr vernehmlich das einzige Klosett, stark fre- geputzt und gegurgelt. Der Ahornsirup hier war kein Ahornsirup, quentiert nach dem schrecklichen, mit Haß zubereiteten Fraße. sondern einfach Melassejauche aus einer Art Eimer im Stall.) Das Brot total verschimmelt, im Schinken fette Maden, und auf Frau Roß kam um die Ecke, angesoffen. Zeigte auf uns und dem Käse wucherten deutlich kleine grüne Pilze. Die Thermosfla- meckerte wie eine losgebundene Ziege, dann machte sie einen sche stank von innen heraus. Dabei waren diese Sandwiches nur Bocksprung und fiel der Länge nach vorneüber. Keiner lachte, Max vier Stunden vorher in Saratoga vor unseren Augen ganz frisch ge- starrte geradeaus, der in seine Decke verpackte kleine Deutsche macht worden. schaukelte in einem fort, auf und nieder, auf und nieder. Maxens Dicke Pferdefliegen und ein Zug roter Ameisen, wie aus Eisen Ehehälfte Marga, eine ehemalige Krankenschwester erster Klasse gestanzt, die aus einer Ecke zur anderen durchs Zimmer zogen. (gute Stellungen in Ia Häusern), beugte sich über die hexenartige Umsonst flitteten wir, sprengten Petroleum. Ein paar tausend von Frau, die aber schon wieder hochkrabbelte. Dann gab ihr der Far- ihnen verbrannten – und erneut zogen sie wie vorher von einer mer einen Tritt in den Hintern, und sie verschwand durch die Tür, Ecke zur anderen. aus der Gerüche von Leichenbraten und ranzigem Fett drangen. Auf der Veranda saß ein Mann im Schaukelstuhl, jedoch ohne zu Der kleine unangenehme Berliner litt an Waschzwang, stand den schaukeln. »Schaukele doch nicht dauernd«, hatte seine Frau zu ganzen Tag auf einer kleinen Steininsel im See und seifte sich heftig ihm gesagt, als sie ankamen, und seitdem schaukelte Max nicht ein. Das tat er wohl zehnmal am Tage und lieh sich die Seife dazu mehr. Max war Schweizer; ohne einen Ton zu reden, saß er in dem von Maxens Frau aus. Ich wollte endlich landschaftern gehen. Mr. zum Schaukeln gemachten Stuhl, wagte aber nicht zu schaukeln. Max kam mir mit einer Axt über der Schulter entgegen. Keiner Ja, er gähnte nicht mal mehr. Noch unerfreulicher war ein kleiner, grüßte einen oder erwiderte ein Hallo. Ich zog es vor, mich seitab apfelbäckiger Deutscher, der saß in seinem Schaukelstuhl und zum See zu halten und das Boot zu nehmen. Erst mußte man das

358 359 Wasser ausschöpfen und die alten Zeitungen rauswerfen. Alles war ihnen eine Lehre sein, meinen Mais in Frieden zu lassen«, schrie unfreundlich, sogar die verfaulten Bäume und die milchige, Mr. Roß. Eva, von jeder Art von Tierquälerei angewidert, fragte schmutzige Sonne. Lauter trügerische Inseln, die Moräste ohne ihn, warum er die gefangenen Waschbären nicht lieber wieder lau- Boden waren. Es hieß, jemand sei unlängst auf so einer Insel ver- fen lasse? »Nicht zu machen«, grinste Mr. Roß, und wir wußten, sunken und nie wieder zum Vorschein gekommen. Das Boot stieß daß er dabei an seine Frau dachte, »erst wollen wir mal unser Späß- gegen einen riesigen Ast unter mir im See, ich bekam einen Riesen- chen haben und ihnen eine Lektion erteilen. Die werden nie wieder schreck, hörte irgendwen laut auflachen, wurde rot und ruderte hierherkommen!« – So wenig wie ich, dachte ich bei mir… rasch davon. Natürlich stand da wieder dieser Deutsche vollkom- men eingeseift auf dem Felsen. Aus einer Hütte drang lautes Ge- schimpfe über das Wasser, das den Schall unheimlich verstärkte. Große blaugrüne Fliegen, rote Ameisen sogar im Boot. Mein mit- gegebenes Frühstücksbrot erwies sich als mit stinkender Wurst beschmiert und ungenießbar. Über einem Auslauf des Garnet Lake lagen ein paar Bretter. »Nicht drübergehn, gefährlich!« war auf eine Papptafel gekritzelt. Vor uns öffnete sich die Tür eines Schweinestalls, als wir weiter wollten – zwei Hermaphroditen schrien uns zu, wir täten es auf eigene Gefahr. »Merkwürdig häßliche Leute«, sagte ich zu Eva, »halb Bock, halb Weib oder Mann.« Eine oder einer hatte einen Ziegenbart irgendwo im Gesicht. Noch ein anderer Deutscher kam hier mit Familie an. Graue, tei- gige Gesichter, graue Haare, graue Frau und grauer Sohn. Es war angeblich ein Psychoanalytiker. Sie wohnten am Ende des lauwar- men, stinkigen Sees in einer Art grauem Stall. Ich kam einmal vor- bei, als sie gerade gebadet hatten, und fand, daß das Spülichtwasser des Garnet Lake grau verfärbt war. Vielleicht hatten sie nur den Moorgrund aufgewühlt? Aber der ist eher grünlich-schwarz, und nun sah das Wasser milchig-hellgrau aus und obenauf etwas ölig. Merkwürdig! Des Nachts bellten und heulten die Waschbären, die der Farmer zu seiner großen Befriedigung in mehreren großen eisernen Fallen gefangen hatte. Alle standen sie beglückt um die Fallen herum: der kleine Berliner, der Schweizer Nußknacker, eine Farmerstochter mit ihrem schreienden Kinde, eine Hexe von Tante. »Das wird

360 361 morgen einen Blick gönnen? Wer wird uns kaufen, wo werden wir enden? Was für lächerliche und doch so geliebte Rahmen! Wieviel Freude steckt darin, wieviel Zerknirschung, wieviel Enttäuschung – und wie wenig Triumph! Ein Fetzen Leinwand, ein paar Holzlei- XIX Der Maler betritt sein Atelier sten – und vielleicht doch ein kleines Stückchen Unendlichkeit? Da steht mein Zeichentisch. Blau habe ich ihn gestrichen und die Fußstütze selbst gezimmert. Was alles hat Dein geduldiges Brett a gehst du durch die tür. Das aufgeklebte Schweinchen miterlebt als Gefährte meiner Träume und Hoffnungen! Hier habe Ddes Cartoonisten begrüßt Dich und die beiden Hufeisen, ich gesessen und durch manche Nacht bis zum Morgen gezeichnet. denn sie bringen bekanntlich Glück. Ja, das ist Dein Raum, hier ist Hier bedeckte sich das Papier mit den dunklen Linien zorniger Deine Welt. Grünewalds Christus ist mit Reißzwecken an die Anklage, aber auch wohl mit Gebilden der reinen Schmuckfreude. Wand gezweckt, desgleichen Rechnungen und eine Farbenkarte. Die Feder lief wie eine große schwarze Fliege mit den in Tinte ge- Zur Linken hängt eine Reproduktion von Rogier van der Weyden: tauchten Beinen übers Papier. Aus Kritzeleien, die niemand deuten Menschen und Frauen stürzen kopfüber in die lodernden, sengen- kann, wird etwas wie eine Landkarte. Das Zeichenbrett ist wie ein den Höllenflammen. Schlachtfeld oder wie ein Hinrichteplatz. Oder es verwandelt sich Hier ist Deine Welt. Dort in der Ecke die roten Hanteln, die in ein lustiges oder bitteres Tagebuch. Was wird gelingen, was wird habe ich selbst angestrichen; daneben der große, schwere Stein, den fehlschlagen? Werde ich es den Auftraggebern recht machen? Die ich vom Sound-Ufer heraufgeschleppt habe. Beide sind Symbole Hanteln, rot angemalt, haben mich manchmal gelehrt, das schein- für die Sinnlosigkeit des Lebens, aber zugleich auch Hinweise, wie bar Sinnlose trotzdem durchzuführen. Du diese Sinnlosigkeit bekämpfen oder verscheuchen kannst durch Viele Pinsel habe ich. Ich liebe die fächerförmigen, mit ihnen Hanteln, Steinstemmen, durch Kniebeuge und Rumpfbeuge. Viel- kann man streichen und streicheln wie mit den fünf Fingern. Aber leicht werde ich morgen die Hanteln und den schweren Stein mit in mein Herz geschlossen habe ich euch, ihr kleinen Miniaturpin- Schmetterlingen bemalen – mit Symbolen der Kurzlebigkeit und sel! Erstaunlich, was für glühende Lichttröpfchen ihr hergebt, des graziösen Flatterns über Blumenkelchen. wenn man euch in dickes, altes, von der Sonne lange bestrahltes Viele Leinwände lehnen mit der Vorderseite gegen die Wand, Leinöl taucht. denn man kann nicht fortwährend seine eigenen Bilder anstarren. Das also ist meine Welt, mein Zimmer. Zum business office ist es Ja, hier ist Dein Raum, hier ist Deine Welt! Aber auch die Schale nicht geworden, hier wird anders gerechnet. Und eigentlich auch einer Austernmuschel, die sich schnell schließt. Oder mitunter nichts verkauft – oder doch nur sehr selten. Eine rechteckige weiße eher das Haus einer empfindsamen Schnecke. Darin schallt es oft Leinwand, wie von Euklid gefordert, also ein Stückchen helle hohl und leer, aber zugleich wie die unendliche Melodie des Mee- Ordnung in all der wirren Dunkelheit um uns herum. Und da bist res. Die Bilder stehen mit den Gesichtern gegen die Wände, de- Du selbst mit Deinen ganzen Einbildungen. Da kannst Du nun mütig und bescheiden. Sie sind ein Stück von mir. Sie stehen wie etwas hinmalen und aufschreiben von Dir und Deiner inneren Kulissen auf einem Bühnenboden und warten, bis sie wieder her- Welt: Linien, Schatten, Licht und die ewige, unendliche Spirale. All vorgeholt werden, um am Spiel teilzunehmen. Wer wird ihnen das hat nirgendwo einen Markt.

362 363 Nein, meine Welt ist keine des Handels, in ihr führen Eingebung Ulrich Becher und Laune das Wort. Hier wird keine Margarine fabriziert, keine Autoreifen noch Fahrräder. Hier wird nichts Eßbares ausgegeben. Hier werden höchstens Phantasiegebilde fabriziert, und obwohl Der große Grosz diese Welt zu nichts zu brauchen ist, besteht sie im geheimen wei- ter. Schließlich besteht die Welt wesentlich aus nützlichen und und eine große Zeit schönen Dingen; wie wir heute wissen, war der Elfenbeinturm viel solider gebaut als manche vermeintlich zweckmäßige Konstruk- Rede, gehalten am 7. Oktober 1962 tion. zur Eröffnung der großen Grosz-Ausstellung Ja, je mehr die Welt der Nützlichkeiten im Zunehmen ist, desto in der Akademie der Künste West-Berlin bleibender wird eine romantisch-irrationale Welt des Nichtnutz- baren im Verborgenen gedeihen. Sie bedeutet keine Verrücktheit, sondern resultiert aus einem ewigen Gesetz. Seltsamerweise wird der Mensch oder, vorsichtiger gesagt, mancher Mensch vom Ab- Ladies and Gentlemen, bild der Dinge oft tiefer befriedigt als von den Dingen selbst. Die alte Legende vom Maler Apelles berichtet, er konnte Früchte so »I dont like walls«, würde Grosz, der so gern sein von deutschem lebensgetreu und so natürlich malen, daß die Vögel und die Insek- Akzent getränktes Amerikanisch sprach, nicht ganz unmöglicher- ten vom Himmel kamen, um davon zu naschen. Wie eingeschüch- weise begonnen haben, wäre ihm beschieden gewesen, dieses vom tert von den Naturwissenschaften klingt da die Erklärung eines Generalsekretär der Akademie, Freiherrn von Buttlar, mit solcher Bescheidwissers, der sagte: ja, die Insekten kämen wohl, aber nicht, Mühe, Verve und Kühnheit zusammengetragene, ein Lebenswerk weil sie die Naturwahrheit erkannten; Insekten hätten ja ganz an- umfangene Pandämonium selber zu eröffnen. »Ich liebe keine dere Wahrnehmungsorgane als wir Menschen. Nein, Herr Maler, Mauern. Keine Ghettomauern und keine Kazetmauern. Deshalb die kamen angezogen durch das frische Malöl, vielleicht Leinöl bin ich zu Anfang des Jahrs Dreiunddreißig auf Langnimmerwie- oder Bienenwachs… dersehn aus meiner Vaterstadt Preußisch-Berlin verschwunden. Das ist genau die Zeit, in der wir leben: wir sind alle so schön Immerhin habe ich sie beizeiten gezeichnet, die Mauer. Die Mauer, aufgeklärt und haben die Phantasie den Geopolitikern überlassen an der später Hunderttausende erschossen wurden…« und den Technokraten. Ja, ich singe noch einmal mein Liedchen für die Lebensnähe, ge- Vielleicht hätte Grosz auch anderes gesagt, etwa ähnlich dem, was gen Konstruktionen des Intellekts und Theorien – noch einmal, der Professor Tillich soeben in der Frankfurter Paulskirche gele- bevor alles ausgelöscht ist auf der grauen Tafel der nahenden Zei- gentlich der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen ten, weggewischt von einem blutgetränkten Schwamm. Buchhandels andeutete, nämlich daß wir den Blick nicht wie hyp- notisiert auf die heute Berlin in zwei einander unzugängliche Wel- ten teilende (im Zeitalter der Weltraumfahrt absurde) Mauer rich- ten sollen, da es derzeit auch andere Mauern gebe. (Dachte der

365 Christ Paul Tillich an die Jerusalem zweiteilende Mauer?) Viel- die Bewirtschaftung des Offizierskasinos, führte den Blücherhusa- leicht hätte Grosz gar gemäß dem Titel seines Memoirenbuchs Ein ren Keller und Küche. Eins der ergreifendsten Ölbilder, die Grosz kleines Ja und ein großes Nein einen kleinen Trost parat gehabt wie je gemalt hat, ist das Bild seiner Mutter: Eine einfach gekleidete, diesen: »Es gab andere Mauern, die Städte teilten – denken Sie an fast zierliche Frau, die verarbeiteten Hände im Schoß gefaltet, das die Stacheldrahtmauern von Schanghai, die die Europäischen Kon- Gesicht von Mühsal gefurcht, draus leuchtend blaue, mißtrauisch zessionen von der Chinesenstadt trennten. Auf der einen Seite prüfende und zugleich heimlich pfiffiglächelnde Augen blicken. tanzten Europäer in Smokings und Pariser Abendkleidern im Grosz hatte die Augen seiner Mutter. Dachgarten des Cityhotels Slowfox und Tango – auf der anderen In jener preußischen Kleinstadt empfing der Knabe die unaus- Seite stiegen Leuchtkugeln, krachten die Geschütze, mit denen die löschlichen Eindrücke, die das Werk des Manns mitbestimmen japanischen Invasoren die chinesischen Verteidiger unter Feuer sollten. Er vernahm das unnatürliche Schnarren, dessen sich die nahmen. Oder denken Sie an San Gimignano. Einst verwandelten wilhelminischen Offiziere nach der Devise »Der Mensch fängt dort miteinander verfeindete Adelsgeschlechter ihre Palazzi in beim Leutnant an« befleißigten. Er blickte auf die in Korsetts ein- Festungen. Ein jeder versuchte, eine stärkere Mauer, einen höheren gezwängten Träger des Blauen Rocks, das zackige Gebaren dieser Turm als der Nachbar zu bauen, um diesen tüchtiger belagern zu zu reitenden Marionetten des kriegerischen Gedrillten. Er tum- können, von oben mit Pech und Schwefel zu überschütten. Und melte sich vor Kasernenhöfen und Manegen, sah die Unteroffi- heute? Heute, meine Damen und Herren, ist San Gimignano eine ziere, jene erbarmungslosen »Mütter der Kompanie« beziehungs- friedliche Stadt in der blühenden Toskana…« weise Schwadron, ihre Mannschaft schinden. Und wenn er auch Allerdings bleibt dahingestellt, ob Grosz über die Mauer, in ein paar Jahre später nicht anstand, zum 150jährigen Regiments- deren Schatten diese Ausstellung eröffnet wird, überhaupt etwas jubiläum der Blücherhusaren ein Festblatt zu zeichnen, schwoll gesagt hätte. Vielleicht hätte er Ihnen vielmehr etwas von Albatros dem Knaben beim Anblick solcher »Erziehung zum Menschen« und Austern erzählt. (Kurz vor seinem urplötzlichen Tod setzte er etwas in die Gurgel, das ihm für Augenblicke das sonst wunderbar einen italienischen Journalisten mit dem Bekenntnis in Erstaunen, unbeschwerte Spielen mit den Gefährten vergällen konnte, etwas er halte sich selber für einen Albatros, ja, für einen Sturmvogel, der zunächst Unbewußtes, etwas dann, das mehr zum Ausdruck als Jahrzehnte hindurch einem ganz bestimmten Schiff gefolgt sei… zum Ausbruch drängte: Haß. während er andererseits seinen zweieinhalb Jahrzehnte währenden Neben dem Anschauungsunterricht, den ihm die Kriegerkaste Aufenthalt am Sund von Long Island mir gegenüber mit der Meta- der Garnisonstadt erteilte, war’s ein zweites, welches der bereits pher rechtfertigte, er sei ein »Austernmensch«, der sich ungern wie ein Seismograph registrierenden blutjungen Künstlerseele Prä- wegführe von seiner Austernbank.) Ich jedenfalls will versuchen, gung gab: Die zivile oder besser pseudozivile Kleinstadt-Sphäre, Ihnen etwas vom großen Grosz in einer großen Zeit zu sagen. der deutsche Kleinbürger. In der von Kartoffelfeldern umlagerten Er wurde im Sommer 1893 in Berlin geboren und wuchs in Kleinstadt sah und roch der Knabe Georg den abstrakten Untertan Stolp, einer kleinen Garnisonstadt Hinterpommerns, auf. Nach in seiner ganzen düster-muffig-öden Ummengtheit, seiner gefähr- dem frühen Tod des Vaters, der die dortige Freimaurerloge bewirt- lich selbstzufriedenen Knechtseligkeit. Die Autokratenkokarde schaftet hatte – bei der Leichenfeier kippte der sechsjährige Georg am Hut eines Forstadjunkten, der gesträubte, schnapstriefende einen Likör namens Persiko-mit-Rosen –, übernahm die Mutter Vollbart eines Franzosenfressers, der Bierbauch eines Festredners

366 367 der Sedanfeier – keine nichtige Blöße, keine triste Lächerlichkeit, Über dem Kriegserlebnis des jungen Kriegshassers waltet qual- die seinem jungen Aug entging; und sein nördlich-eisiger Spott, volles Schweigen. Allein es verlautet, dass er sich der leuteschinde- seine leichte Hand schufen klarlinige – der von ihm früh erfundene rischen »Mutter« seiner Kompanie gegenüber einer nach wilhel- »genähte« Stich! –, unendlich einfache Skizzen daraus, Zerrbilder, minischen Begriffen unfaßlichen Disziplinwidrigkeit schuldig die bereits das Mal trugen, das ihn später so gefürchtet machen machte. Jedenfalls ward er »zur Beobachtung seines Geisteszu- sollte, das Mal der Wahrheit. stands« interniert, was ihn der Gelegenheit beraubte, für seinen Und ein letztes, das ihn prägte: Das Zwielicht, der kalte Spuk. Kaiser zu fallen. In den Stolp benachbarten Fischerdörfern hausten Splitter des Die Sehenden unter den Jungen, die mit dem heiligen Gelübde Stamms der »Kaschuben« (für die Grass noch zuständiger zu sein zum Großen Frieden aus den Hunderttausende Menschenleben scheint als Grosz), Nachfahren von Seeräubern, mit ihren Kobol- zerpulvernden Materialschlachten um Verdun heimgekehrt waren den, gefährlichen Mythen, blutrünstigen Märchen. Ein slawisier- und sich mit hohler Phrase, täppischer Farce deutscher Wandlung ter Wotan oder Odin, der auf dem Sturm reitende Wotan mit sei- grausam betrogen sahen, trumpften die blutige Farce mit unbluti- ner wilden Jagdkumpanei war dort in jeder Hütte zu Gast. Dies ger Farce. ein Schlüssel zur »Dämonologie« seiner Kunst. Während die kleinen Sparer an der Nullenplage der Inflation er- Kriegerkaste, Kadavergehorsam, pseudoziviles Kleinbürgertum, stickten, während der Charleston über die Welt raste, gründeten blutrünstiger Mystizismus – Elementarkräfte, die dem Nazismus einige junge Leute, darunter Grosz der Zeichner, Huelsenbeck der ein Vierteljahrhundert später zum Ausbruch helfen sollten, dran- Schiffsarzt, Wieland Herzfelde der Verleger, die Dada-Bewegung. gen schon damals auf den Knaben ein, prägten ihn negativ, rührten Zu dieser Zeit ging der junge Grosz violett gepudert einher, statt ihn auf. Grosz entwanderte seiner Kindheit als Rebell. des Huts einen aus Pappmaché gefertigten Totenschädel aufge- setzt, den er zum Gruße höflich lüftete. Verfaßte Gedichte, deren Er ging mit sechzehn an die Königliche Kunstakademie Dresden, eines anhob: ward drei Jahre später an der Berliner Kunstgewerbeschule ein Lieblingsschüler Orliks, des bekannten Prager Malers. Frönte Achtung! Achtung! Schrullen, die sein ehrbares Aussehen Lügen straften und in sei- Hier kommt Grosz, nen gutbürgerlichen Musenbrüdern Entrüstung weckten. Sam- der traurigste Mensch in Europa melte kolorierte Postkarten der Serie »Germanische Geschichte in Bildern«, kaufte Fotografen Gruppenaufnahmen ihm völlig Außer solcher Flucht in den bunten Unfug trug ihn ein anderes aus unbekannter Hochzeitsgesellschaften ab. Blitzlichtaufnahmen dem Unheil der Zeit. Geträumte Flucht in die bunte Ferne. Ame- von einem Ball der Schlächter-Innung oder einem Studentenkom- rika, das nicht von bluttriefenden Grenzpfählen gespickte, Ame- mers, verkündete frank den Entschluß, ein Buch »Von der Häß- rika, dahin Europens von der ewig gefräßigen Reaktion verfolgte lichkeit der Deutschen« zu schreiben. »Beim Militär wird sich das Söhne immer wieder geflohen waren, umwob sein sehnsüchtiges Anarchisten-Früchtchen die hochverräterischen Mucken schon Träumen. Grosz gehörte zu den ersten in Deutschland, welche abgewöhnen«, grollten seine frühen Feinde, und schon wurden sie Negerweisen vom Mississippi hersingen konnten. Und als hätte er erhört. seine zweite Heimat Amerika, die ihn vor dem zweiten Völker-

368 369 mord des Jahrhunderts behüten sollte, vorgeahnt, wandelte er schwirren), das Geschrei von Kämpfenden, das Rülpsen der Über- schon damals seinen deutschen Vornamen ins englische »George« satten, das Röcheln der Verhungernden, das eingedrillte Lachen um. käuflicher Liebe, das Fluchen der Verratenen, das raschelnde Atmen auflauernder Mörder. Fünf Jahre später war er der größte, zugleich umstrittenste satiri- Grosz bediente sich naturalistischer, expressionistischer, futuri- sche Zeichner Deutschlands. Wieland Herzfelde gründete den stischer, kubistischer, realistischer, primitivistischer Mittel und Malik-Verlag zum Behuf des Wagnisses, Grosz’ Bilderbücher zu schuf draus ein homogenes Neues, Oftnachgeahmtes, Nieerreich- publizieren. Das Gesicht der herrschenden Klasse, Ecce Homo, tes. Aber sein Werk ist mehr als Nur-Anklage. Wie jedem großen Spießerspiegel u. a. Ein Wagnis, das Aufstände weckte der Begei- Schöpfer war ihm jedweder Doktrinarismus herzensfremd. Wie sterung wie der Entrüstung. Die Staatsanwaltschaft »sah sich zu Shakespeare, Brueghel, Balzac gestaltete er den Jahrmarkt der Eitel- Schritten gezwungen«. Die fortschrittliche Kunstkritik verglich keiten, Süchte und Lüste, die Menschliche Komödie, das große seine Einmaligkeit mit Goya, Daumier, pries sein Werk als voll- Narrenhaus: diese Welt, den Kontertanz von Leibern und Geistern, kommensten Ausdruck, den je eine Epoche gefunden. Mit einer den gespenstisch-bunten, von Todes- und Teufelslarven bevölker- mikroskopischen Schau fürs Detail, einer Schonungslosigkeit son- ten Karneval: dieses Leben. dergleichen, bannte er die grause Verschwörung aus Ober- und Untertan aufs Papier, die Deutschland in den Ersten Krieg gegen Darüber hinaus ist und bleibt er DER Kronzeuge der Tollen Zwan- die Welt gehetzt hatte; die es in den Zweiten hetzen würde, das ziger Jahre – die heute sehr oft allzu romantisch verklärt werden. wusste er. Aus seinen Blättern brodelte der Hexensabbat deutschen Das glaube ich konstatieren zu dürfen, wiewohl ich den größten Kriegs, Nachkriegs, Zwischenkriegs. Generäle, Junker, Schlotba- Teil jenes Jahrzehnts lediglich als Schüler erlebte. Ich erinnere rone, Börsenjobber, kein Schuldiger entrann ihm. Dicklippig zigar- mich, wie ich 1927, als siebzehnjähriger Oberprimaner, ihm zum renlutschende Inflationsschieber, salonkommunistische Literaten, erstenmal begegnete. (In seinen Blättern war er mir vorher schon korrupte Beamte, große und kleine Kokotten tanzten ums Goldne oft begegnet.) Der Zeichenlehrer unserer Schule, ein Mann vom Kalb. Und der Bourgeois, nach Grosz Hauptschuldiger am deut- Bauhaus Dessau, hatte mir angeraten, Maler und Graphiker zu schen Faschismus, der an »Dolchstoß« und »ungerechter« Nieder- werden. Mein Vater war Vertrauensanwalt der tschechoslowaki- lage wildgewordene, nach einem neuen Dresseur ausgaffende Spie- schen Gesandtschaft in Berlin und mit dem Presseattaché befreun- ßer, keine seiner Posen, die ihm entging. Aus seinen Graphiken det, der Grosz kannte und meinetwegen anpeilte. Grosz teilte mit, und Aquarellen dröhnte aber auch ein Tritt von Hunderttausen- er nehme derzeit keine Privatschüler an, dennoch solle ich ihn den. Stampften die Heere der Kriegskrüppel. Die Heere der von dann und dann in seinem Atelier aufsuchen. – Das Atelier lag in Inflation in Prostitution Gestoßenen. Die Heere der Arbeitslosen. einem Hinterhaus der Nassauischen Straße. An der Tür ein Schild: Dröhnen und Schmatzen, Kichern und Stöhnen, Lärm entbrach BESUCH NUR NACH ÜBEREINKUNFT, KLINGELN UND KLOPFEN seinen Bildern, wüster Lärm der Großstadt und der Großen Zeit, ZWECKLOS. Obschon ich nicht grade ein schüchterner Junge war, Stimmengewirr zahlloser brueghelhaft durcheinanderwimmeln- fühlte ich mich etwas beklommen vor dieser schmucklosen Tür. der Masse (reichten Feder und Pinsel nicht hin, seine Gestalten Ich hatte niemals eine Fotografie oder ein Selbstbildnis des großen hörbar zu machen, ließ er ihren Mündern geschriebene Sätze ent- Zeichners gesehen, kannte auch sein genaues Geburtsdatum nicht,

370 371 stellte ihn mir merkwürdigerweise als einen dunkeläugig, scharf Anrufe der Berliner sa – natürlich anonyme. »Hör zu, du Juden- durch blitzende Brillengläser spähenden Mann von 50, mit wirren sau« (nach Nazibegriffen war Grosz reiner Arier), »morgen nacht Haaren und einem schwarzen Spitzbart vor, nun ja, etwa wie kommen wir und schlachten dich samt deiner Brut!« – »Kommt Trotzki. nur«, schnauzte Grosz ins Telefon. »Ich habe zwei Pistolen, meine Ein fabelhaft aussehender, noch junger Mann (Mitte 30) in einem Frau hat auch zwei, und mein Freund Uhl« (so nannte er mich) amerikanischen Holzfällerhemd öffnete mir, rosig-glattrasiert, »hat einen baskischen Stock mit einem Bajonett! Wir werden euch blauäugig strahlend. Sein Profil erinnerte mich an einen römischen schon zeigen, was ’ne Harke ist!« Kaiser; zugleich hatte er etwas von einem Cowboy an sich. Er lud Doch unter solchen »Umständen« konnte selbst ein Künstler, mich freundlich zum Nähertreten in ein kleines Atelier, in dem der so sorgsam darauf achtete, nicht wie ein Künstler auszusehn, peinliche Ordnung waltete, setzte sich mir ohne Umstände gegen- schwerlich arbeiten. Kaum hatte er mit seiner Frau Eva und den über und begann die Farbe von einem soeben benutzten Besteck beiden kleinen Söhnen die Heimat verlassen, ward die Braune Ka- von Aquarellpinseln zu waschen – in einem großen rosa Nacht- serne geweiht. Der Führer ließ Grosz als Deutschlands »Kultur- geschirr, das mit dem Sinnspruch verziert war: NUR EIN VIER- bolschewisten Nr. 1« anprangern. Eine seiner ersten Amtshand- TELSTÜNDCHEN. Aha, dachte ich, der Famulus des Meisters, der lungen war der Befehl, alle Groszbilder aus den deutschen Museen plötzlich aus einem Nebenraum hereinschießen und mich kurz- zu reißen, sämtliche Druckplatten der Groszbücher zu vernichten. angebunden abfertigen würde. »Jetzt erzählen Sie mir mal ein biß- Mit vielem was an Freiem, Großem, Kühnem geträumt, gesun- chen von sich«, sagte der Kaiser-Cowboy ermunternd, wie zu gen, gebildet worden war, verfiel seine Schöpfung dem neudeut- seinesgleichen. Da dämmerte mir, daß ich ihn selber vor mir hatte, schen Autodafé. Am 10. Mai 1933 verbrannten seine Bücher nebst ihn, den Berüchtigt-Berühmten, ihn, George Grosz… Als er denen Mendelssohns, Heines, Einsteins, Freuds, Romain Rol- hörte, daß ich eine Schüler-Jazzband leite, stand er auf, trocknete lands, Barbusses, Gorkis, Thomas Manns, Ernest Hemingways auf sich die Hände, sang mir einen Ragtime vor und steppte dazu, bis Deutschlands öffentlichen Plätzen unter dem Jubel zelotischer die Staffeleien wackelten. Heloten zu Asche. Grosz stand am Strand von Long Island, Von Malerei und Graphik war in dieser Stunde unserer ersten schnupperte über den Ozean, witterte den Tausende Meilen fernen Begegnung kaum die Rede. Geruch des Brandes. Wußte um sein Fortzüngeln, schnupperte den großen Brand voraus, in dem Europa und die Welt auflohen 1932. Ein Sterbejahr. Den Herbst starben in Berlin viele Leute, so würden. der Maler Max Slevogt, als seien sie nichts weniger als neugierig »Ich sehe euch dort drüben, meine Freunde«, schrieb er mir in darauf, das nun Kommende zu schauen. Den Sommer über hatte mein Mutterland, die Schweiz, »wie kleine verlorene Lämpchen in Grosz auf Einladung der New Yorker Kunstschule Art Students der großen brandigen Finsternis.« League zum erstenmal im Riesenland seiner Kindheitsträume ge- Seine provisorische Lossagung vom Kampf des Jahrhunderts weilt: als Gastdozent. 1932. Ein Sterbejahr. Im Oktober zurückge- hatte abgründige Hintergründe. Jene, die zur Zeit des Kaiserreichs kehrt, schon halb entschlossen, mit den Seinen nach Amerika zu und der Republik unerschrocken, unermüdlich gegen die grause übersiedeln, um ein Neues Leben zu beginnen, erhielt er in der Hybris gefochten, die angeklagt, bekannt, prophezeit und Zeugnis Alten Welt, in seiner Wilmersdorfer Wohnung fast allnächtlich abgelegt hatten, wurden von der Wirklichkeit übertölpelt. Wie

372 373 schonungslos, wie seherisch sie auch den deutschen Faschismus Angstgeschrei, wittere fernen Brand- und Blutgeruch.« Und als, entlarvten, er war gründlicher, seine totale Gemeinheit über- mit der Besetzung Prags, die Völkerunterdrückung in Europa an- trumpfte all ihre Prophetie, spottete ihres Kampfs. Der Kämpen hob, als die Ereignisse, einander überjagend, in den Zweiten Krieg einer, Tucholsky, entleibte sich darob in Schweden, andere, wie stürzten, war für Grosz kein Halten mehr. Er breitete die dunk- Carl v. Ossietzky und Mühsam, wurden in den Konzentrations- len Fittiche seiner Vision, flog nachts im Geist über die Meere, lagern zugrabe gefoltert. Grosz war entronnen; seine Würde machte das Leid zu sammeln, die Not, den Hunger, die Tücke und den ihn fürchten, als ein mit der Dornenkrone des Märtyrers verzierter phosphoreszierenden Haß. Der alte Grosz erstand. Er begann Don Quichote zu gelten. Vergrübelt suchte er die Mitursache des seine »Höllenbilder« zu malen. Menschen kauernd in bomben- scheinbar verlorenen Kampfes in sich und seinesgleichen. Der Lauf zerfetzten Häusern. Schmerz, zum Wahnsinn verzerrt. Von Brän- der Dinge belehrte ihn, daß sein und seiner Mitkämpfer Werk nicht den grellende Nächte. Blutüberschwemmte Gefängniszellen. Un- in die deutschen Massen gedrungen, lediglich einer beschränkten tertanen, von einem fürchterlichen Hexenmeister entmenscht und und, wie sich erwies, einflußlosen Schicht linksbürgerlicher Intelli- entmannt, zurückverkrüppelt zu embryonalen Zwergen. Ratten, genz zugänglich gewesen war. Er machte dafür zu Unrecht sich am Leichenfraß gemästete kugelrunde Ratten. Endlose Züge an selbst verantwortlich, begann sein Werk zu mißachten. So floh er in Sklaverei und Krieg Verstörter, Verhungernder, Irrer, die auf von die Vorstadt des Lebens und spielte den frischgebackenen Unpoliti- Skeletten gefügten Straßen ins Nichts marschierten. Bild gewor- schen. Er suchte damit sich selbst und die andern zu täuschen. Er dener Tritt von Millionen, dem wir schon lauschten, gesteigert verkroch sich sommers auf der neuenglischen Halbinsel Cape Cod, ins Visionäre, in die Apokalypse des Zweiten Kriegs. Sein tändle- ging andächtig den Formen und Farben der haushohen Sanddünen rischer Amerikanismus war erlahmt. Trotz seines äußeren Er- nach, zwischen denen portugiesische Fischerhütten nisteten, den folgs, der wenigen europäischen Refugiés so reichlich vergönnt Zirruswolken, den »fast japanischen« Wellen. Er verkaufte seine war wie ihm, verdächtigte er sich: »Ich hab’s wohl nicht weit ge- Bilder ans Metropolitan Museum, ans Museum of Modern Art, ans bracht. Ein richtiger Amerikaner kann ich doch nie werden. So Whitney Museum, erhielt den Blair-Preis, die Beck-Medaille und bin ich im Grunde nichts als – ja, als ein verkommener, verscholle- ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung, das ihm für eine Weile ner Deutscher.« Aufgeben seiner Lehrtätigkeit, vollkommene Konzentration er- Immerhin hatte er zahlreiche Freunde in Amerika gefunden, möglichte; Grosz-Ausstellungen zogen um die halbe Welt, von etwa John Dos Passos. Einmal nahm er mich, der gegen Kriegs- London bis Honolulu. »Ich lebe wie ein mittelalterlicher Malers- ende in den Staaten eingetroffen war, zur Westseite Manhattans auf knecht im Weinberge des Herrn«, schrieb er mir. »Ich glaube, ich eine große Party mit, auf der sich Hollywood-Stars tummelten so- war ein bißchen krank in Deutschland. Krank vor Haß auf die Ge- wie amerikanische und europäische Maler, so Marc Chagall. Grosz meinheit. Hier bin ich ruhiger. Ich kann des Morgens ganz still in und Chagall saßen zwei Stunden lang in einem Chippendale-Dop- den Dünen sitzen, ein kleines Dankgebet auf den Lippen.« pelsitz, einem sogenannten love seat Knie an Knie, nach der Seite hin mit anderen Leuten amerikanisch, französisch, deutsch parlie- Doch war’s ihm nicht beschieden, »ruhiger« zu sein. Des Nachts rend, und ich empfand’s als grotesk. Als grotesk, daß zwei der be- begann seine »Antenne für das Unheil« zu funktionieren. »Nachts deutendsten Künstler Europas, von der Springflut der Hitlerei an höre ich Europa – ohne Radio. Ich höre Tausende Meilen fernes dies Ufer verschlagen, in einem »Liebessitz« beisammensaßen,

374 375 ohne ein einziges Wort miteinander zu wechseln. Auf dem Heim- Der Naturforscher Raoul Francé (der den Knall, mit dem das weg fragte ich ihn: »Warum hast du dich eigentlich nicht mit Cha- Atomzeitalter losbrach, nicht mehr erlebte) hielt für ausgemacht, gall unterhalten?« – Er überlegte länger, drauf sagte er: »Wir hatten daß die Erdenherrschaft des Menschen nach Millionen Jahren von anscheinend einander gar nichts zu sagen.« der der Insekten abgelöst werde, und Grosz, in grimmer Verzweif- Dann platzte DIE Bombe über Hiroshima, vernichtete über lung, nimmt hier den Tag solcher »Machtübernahme« vorweg. Er hunderttausend Menschenleben mit einem Schlag. »Ein nettes hat zu kämpfen aufgehört wie ein Kranker, dessen Abwehrkräfte Ding, das wir da erfunden haben«, erklärte Grosz seinen amerika- gegen die ihn überschwemmenden Bazillenheere versagen. In gifti- nischen Freunden. – »Was für ein Ding?« fragten sie. – »Nun, die ger Buntheit werden die Stadien der Agonie geschildert. Einer der Atombombe. Ein nettes Ding. Nun kann man weitere zehn Millio- »letzten« Menschen, seiner Kleider beraubt, umschlottert von nen im Handumdrehn umbringen. Noch einmal zehn bis zwanzig schlaffem Fett, hat sich in einen Sumpf geflüchtet, wo die Hornis- Millionen Menschen weniger – drauf kommt’s doch überhaupt senmenschen ihn umzingeln und erbarmungslos auf ihn einste- nicht an, nicht wahr?« – und sie widersprachen ihm amüsiert oder chen. Ein mörderisches Surren schlägt aus dem Blatt. Ein anderes indigniert und verstanden ihn nicht. Nein, sie verstanden nicht das zeigt einen nackten rosigen Dicken, der, bei näherem Hinsehn, sich tiefe Leid in seiner schein-nihilistischen Herausforderung. Und von Kopf bis Fuß aus Würsten, Räucherschinken und Speck- wußten nichts von der Nachricht, die er vor Monaten über das schwarten zusammensetzt. (Prophetische Persiflage des damals Rote Kreuz erhalten hatte und geheimhielt. Daß Groszens betagte noch ungeborenen Wirtschaftswunders?) Mutter (indessen der Sohn bei den Alliierten im Exil saß) während Das Räucherwarengesicht grimassiert… vor Angst. Denn in sei- eines alliierten Bombenangriffs auf Berlin unter brennenden nem Rücken geistert ein Stockmann, ein vom Hunger zur Heu- Trümmern begraben worden war. schrecke verhextes halbmenschliches Wesen, das es abgesehen hat Die Leiche der Mutter Grosz wurde niemals gefunden. auf die Wurstpracht. Da ist kein Mitleid und keine Verbundenheit, weder mit dem Dicken noch mit dem Dünnen. Allein das Faktum 1947, kurz vor meiner eignen Heimkehr nach Europa, veranstal- des zwischen beiden anhängigen, unversöhnlichen schleichenden tete eine an New Yorks Fifth Avenue etablierte Galerie eine Grosz- Kriegs wird konstatiert. Ausstellung des Titels The Stickmen. »Nachdem Sie das Nichts so grauenhaft verbildlicht haben – was Waren bislang in der Gestaltung seines »Dreißigjährigen kann nachher kommen? Was werden Sie nachher malen?« fragte Kriegs gegen den Krieg« noch der Kampfwille, sublimierte Zorn, bei der Vernissage ein Besucher den Meister. Der lächelte pfiffig, eisige Spott des Gerechten spürbar, gaben sich die Siebenundvier- sagte drauf: »Natürlich die Unvollkommenheiten einer neuen ziger Aquarelle total desolat, erfüllt von einer Art utopischen Schöpfung.« Pessimismus. Die »Stockmänner«, die diese Blätter bewimmeln, sind bloß noch von ferne menschenähnlich, Wechselbälge aus Viel geehrt, zugleich aber tausendmal mißverstanden und verflucht Mensch und Insekt, Wesen, von Schrecken, Weh, Hunger, Wut worden ist der Künstler Grosz. Von der deutschen Reaktion und ausgedörrt, entartet, degeneriert zu Hornissen- oder Heuschrek- den Muckern. Später im Exil von einem Teil derer, die ihn vordem kenmenschen. Der Mensch, der sich selber zur Heuschrecken- vergöttert hatten und ihn nun einen Abtrünnigen schalten. Viele plage wurde. fragten kopfschüttelnd, warum sein Werk so »böse« sei, so licht

376 377 los unfreundlich, von schneidender Kälte durchschauert; warum den, in engstem Kontakt mit seiner Umwelt, aus seiner Umwelt ihm Daumiers oft herzhaftes Lachen fehle. Antwort: So gemein heraus gearbeitet. Früher… selbst seinen Grimm gegen, seinen war nicht Daumiers Frankreich, so gemein nicht Daumiers Jahr- Haß auf vieles, was er hier zuzeiten des Kaiserreichs und der Er- hundert. sten Deutschen Republik gesehen hatte, er hatte es schöpferisch umzusetzen vermocht. Und dann Berlin, aus dem man fort mußte, Erst sechs Jahre nach Kriegsende, 1951, unternahm Grosz seine um seine nackte Haut zu retten. Und dann Berlin, von wo die erste Reise in die alte Heimat: incognito. Drei Jahre später besuchte schauerlichste Hybris der Zeiten – ausgerechnet unter dem Ober- er Deutschland offiziell; der Pressechef des Hamburger Senats, befehl eines unheilbar psychopathischen Österreichers – auszog, Lüth, begrüßte ihn bei einem großen Empfang begeistert als einen um andere Völker das Fürchten zu lehren. Und heute Berlin, das großen deutschen Seher, der das schauerliche Menetekel beizeiten Phänomen seiner nunmehr durch den Kalten Krieg fast gespen- auf die Wand, auf die Leinwand gemalt und aufs Papier gezeichnet stischerweise geteilten Vaterstadt, Phänomen, das man als etwas habe. Worauf der Gefeierte zur allgemeinen Verblüffung mit wun- geisterhaft Rührendes und Liebenswertes ansehen konnte, zu- derlicher Bescheidenheit entgegnete, danke, aber er sei lediglich gleich als etwas, das einem seltsamerweise Hoffnung gab auf neu- ein Angehöriger der amerikanischen Mittelklasse, sein Patentan- beschwingtes Schaffen. zug aus Manhattans Warenhaus Macy’s sei mit Aluminium gefüt- Seine letzte Postkarte an mich vom 1. Juli 1959 zeigte das Skelett tert und habe 48 Taschen. Wenige genug erkannten, daß er vor- der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nebst Neubauten am Zoo. zog, der im Wortsinn gespaltenen jüngsten deutschen Wirklichkeit In seiner kleinen, überaus deutlichen Graphikerschrift teilte er mit: in der Narrenkappe eines »verfremdeten« Eulenspiegels zu be- »Schön in Berlin, sehr grün und still. Viele alte Frauen mit Stöcken. gegnen. Hatte mehrere Pfund (zeitungspapiermäßig) publicity. In Cuxha- ven kam eine Delegation an Bord. Bot den Herren Feuerwasser an Nach den Staaten zurückgekehrt, schrieb er mir kürzere Weile da- (Scotch Whisky). Please, write soon.« rauf: »Hüben starb Benn, drüben starb Brecht – Berlin, gefähr- Keine Woche später hat ihn ein Herzschlag ausgelöscht. Er starb liches Pflaster.« Darum war sein nicht viel später publik gemachter nicht im Bett. Sondern in einem lichtlos vereinsamten Treppen- Entschluß, seinen »Lebensabend« im Westgebiet der ehemaligen haus, beinahe wie niedergestreckt von fremder Hand, beinahe wie Reichshauptstadt zu verbringen, für manchen seiner nächsten das Opfer eines Treppenhauskillers aus einem seiner frühen Groß- Freunde ein Anlaß zu Bedenken und, ja, Befürchtungen. »There is stadtblätter… Seltene Tragik wie aus einer Kanzone Dantes: Da no road back«, schrieb Thomas Wolfe einst im Gedenken an seine kam ein großer Künstler aus jahrzehntelangem Exil zurück, den Vaterstadt, die ihn wegen seines Buchs Schau heimwärts, Engel Weg zurück – nur um zu sterben. verbannt hatte: Da ist kein Weg zurück. Grosz, der so überaus Ein Mann aus der Nachbarschaft, der dem Spätheimkehrer aus Ahnungsvolle, wagte nach 27jähriger Verbannung diesen Weg zu- dem Westen übel wollte, soll verkündet haben: »Dem schick ich rück, wahrscheinlich wider besseres Wissen, nein: Ahnen. einen Kranz aus Stacheldraht!« Indessen, Preußisch-Berlin, nicht nur seine Wiege, wie jene Grosz hätte darüber gelacht, laut und bescheidwissend. Sehen amerikanische Kleinstadt Thomas Wolfes Wiege gewesen war. Sie, DAS war genau die militarisierte Spießer-Ranküne, die er zeit- Berlin. Hier hatte Grosz seine große schöpferische Periode gefun- lebens bekämpfte!

378 379 Seine Freunde, die ihn liebten und denen er in apokalyptischen Zeitläuften Vorbild, Helfer, Hoffnung war, wissen, was späteren Generationen selbstverständlich sein wird: George Grosz war einer der unabhängigsten, ursprünglichsten, stärksten Künstler- persönlichkeiten des Jahrhunderts. Bildnachweise

Tafelteil I

1. Methusalem 1922 New York, The Museum of Modern Art

2. Der Schriftsteller Walter Mehring 1926 Öl auf Leinwand, 108 x 78 cm Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten

3. Frau im schwarzen Mantel 1927 Öl auf Leinwand, 128,5 x 83,2 Berlin, Pinakothek der Moderne © Bayerische Staatsgemäldesammlungen

4. Selbstbildnis vor Staffelei 1938 Öl auf Leinwand, 118 x 85 cm Berlin, Berlin Museum

5. Kain oder Hitler in der Hölle 1944 Öl auf Leinwand, 99 x 124,5 cm The Estate of George Grosz

6. Republikanische Automaten 1920 Aquarell über Feder, 60 x 47,3 cm New York, The Museum of Modern Art

7. Das Kaffeehaus 1915/16 Öl über Kohlevorzeichnung auf Leinwand, 61 x 40,3 cm Washington, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Smithsonian Institu- tion, Schenkung Joseph H. Hirshhorn Foundation 1966

8. Metropolis 1916/17 Öl auf Leinwand, 100 x 102 cm Madrid, Fundación Colleción Thyssen-Bornemisza

381 9. Ohne Titel 1920 3. George Grosz in seinem Atelier in Berlin, 1928 Öl auf Leinwand, 81 x 61 cm Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz Düsseldorf, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen 4. George Grosz in seinem Garten, 1944 10. Grauer Tag 1921 Getty Images Öl auf Leinwand, 115 x 80 cm Berlin, SMPK, Nationalgalerie 5. George Grosz an dem Gemälde »Kain oder Hitler in der Hölle« arbeitend, 1944 Getty Images 11. Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neisse 1925 Öl auf Leinwand, 100 x 101 cm 6. George Grosz mit seiner Frau, 1944 Mannheim, Städtische Kunsthalle Getty Images

12. Hafen von New York 1936 7. George Grosz auf der Fifth Avenue, New York, 1948 Aquarell, 46 x 34,2 cm Stiftung Archiv der Akademie der Künste New York, Metropolitan Museum of Art 8. George Grosz und Heinrich Maria Ledig-Rowohlt mit dem Stock von Frank 13. Die Besitzkröten 1920/21 Wedekind, Berlin, 1959 Feder, 52,7 x 41 cm Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz Edinburgh, Scottish National Gallery of Art 9. George Grosz auf einem Trümmerberg in Berlin, Juni 1959, Joachim G. Jung 14. Am Tisch 1920/21 Stiftung Archiv der Akademie der Künste Aquarell über Feder, 46,3 x 30,2 cm Warschau, Nationalmuseum, Graphische Sammlung 10. 8. Juni 1959: George Grosz kehrt nach 25 Jahren zurück nach Berlin, 1959 Getty Images 15. Friedrichstraße 1918 Feder, Tusche, 48,9 x 32,4 cm 11. Das Atelier. Nassauische Straße 4, um 1920 Berlin, Stiftung Archiv der Akademie der Künste Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

16. Tragigrotesken des Wieland Herzfelde 1919 George Grosz und Ulrich Becher, 1959 Feder, 44 x 26,8 cm Stiftung Archiv der Akademie der Künste Privatsammlung 12. Von links nach rechts: »Der traurigste Mensch in Europa«. Titelbild des Magazins »Der Spiegel«, Tafelteil II 30. Juni 1954 George Grosz, Berlin–New York, Berlin: Ars Nicolai, 1994 1. George Grosz bei der Eröffnung der »Ersten Internationalen Dada-Messe«, Titelzeichnung für »Prostitutionens Profeter«, 1924 Berlin, 1920 George Grosz, Berlin–New York, Berlin: Ars Nicolai, 1994 Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz Titelzeichnung für »Abrechnung folgt!«, 1923 George Grosz, Berlin–New York, Berlin: Ars Nicolai, 1994 2. George Grosz in seinem Berliner Atelier vor dem Gemälde »Stützen der Titelzeichnung für »Das Gesicht der herrschenden Klasse«, 1921 Gesellschaft«, 1928 George Grosz, Berlin–New York, Berlin: Ars Nicolai, 1994 Stiftung Archiv der Akademie der Künste Anzeige des Malik-Verlages, in: Das Tagebuch 1923 Photoatelier Dietmar Katz

382 383 Titelzeichnung für »Die Pleite«, Januar 1920 George Grosz, Berlin–New York, Berlin: Ars Nicolai, 1994 Wieland Herzfelde, John Heartfield, Jedermann sein eigner Fussball, Titelblatt der ersten Nummer, 1919, Photomontage von George Grosz Wieland Herzfelde, Eva und George Grosz, Rudolf Schlichter und John Heartfield, Berlin, 1922 George Grosz, Berlin–New York, Berlin: Ars Nicolai, 1994

13. George Grosz. A little Yes and a big No. The Autobiography. New York: The Dial Press, 1946

14. George Grosz. Ein kleines Ja und ein großes Nein. Sein Leben von ihm selbst erzählt. Hamburg: Rowohlt, 1955

15. Dückers, Alexander. George Grosz. Das druckgraphische Werk. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Propyläen, 1979

Für die Werke von George Grosz © VG Bild-Kunst, Bonn 2009

Eigenwilligkeiten in Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden aus der Erst- ausgabe weitgehend übernommen; offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert, ebenso falsche Namen oder Ortsangaben. Der Verlag ist für Hinweise auf Text- bzw. Setzfehler dankbar.