IV. DIE NATIONALSOZIALISTISCHE ZEIT (1933-1945)

Mit voller Wucht erreichte das selbst ernannte „Dritte Reich“ Lübeck erst in- folge der Reichstagswahl vom 5. März 1933, bei der die NSDAP mit 42,8% der Stimmen die SPD erneut als stärkste politische Kraft ablöste.684 Unter dem Druck der Nationalsozialisten und der bürgerlichen Senatsmitglieder erklärten die vier sozialdemokratischen Senatoren, unter ihnen der seit 1926 amtierende Bürgermeister Paul Löwigt, sowie der Demokrat Heinrich Eckholt am Tag nach der Wahl ihren Rücktritt. Am selben Tag übertrug der bürgerliche Rumpfsenat dem nationalsozialistischen Ingenieur Walther Schröder die kommissarische Leitung der Lübecker Polizei.685 Ohne auf demokratische Ge- genwehr zu stoßen, hatten die Nationalsozialisten am Abend des 6. März auch in Lübeck die Macht übernommen.686

IV.1 Lübeck in der NS-Zeit

IV.1.1 Rahmenbedingungen

IV.1.1.1 Staatsrechtliche Entwicklungen

Am 11. März, keine Woche nach der Übertragung der politischen Verantwor- tung an die NSDAP, setzte Reichsinnenminister Frick auf Grundlage der „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28.

684 Lübecker Ergebnis der Reichtagswahlen vom 5.3.1933: NSDAP: 42,8% (32.217 Stim- men); SPD: 38,4% (34.180); KPD: 8,2% (7.296); DNVP: 5,6% (5.035). STATISTISCHES AMT, Notzeit, 104. Vgl. SCHREIBER, Hakenkreuz; PETROWSKY, Stadtführer; DERS./ARBEITSKREIS (Hg.), Lübeck; MUSEUM (Hg.), Nationalsozialismus; MEYER, Weltkrieg, 707-773. 685 Am 6.3.1933 forderten die Senatoren der „bürgerlich-nationalen Grundrichtung“ diejeni- gen „Senatsmitglieder, die der Herstellung des Vertrauensverhältnisses zur Reichsregie- rung hinderlich“ sind, zum Rücktritt auf. Erklärung der Senatoren Dr. Kalkbrenner, Ewers und Heinsohn. Abgedruckt in: SCHNEIDER, Gefährdung, 200. Vgl. den Gesamtvorgang ebenda, 75-85. 686 Hauschild spricht in diesem Zusammenhang von einer Kapitulation, da es für die Macht- übertragung an die Nationalsozialisten keine rechtliche Grundlage gab und der Senat sei- nen politischen Spielraum nicht nutzte. Ohne die latente Gewaltandrohung und die fakti- schen Kräfteverhältnisse zu negieren, sieht er in dieser Haltung eine Erklärung für den rei- bungslosen Umbruch des Jahres 1933. HAUSCHILD, Kirche, 157. Vgl. IMBERGER, Wi- derstand, 58-77. 186 DIE NATIONALSOZIALISTISCHE ZEIT

Februar 1933 den Syndikus der Lübecker Gewerbekammer, Dr. Friedrich Völtzer, als Reichskommissar für die Hansestadt ein.687 Mit dem Gesetz „zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich“ vom 7. April, nach dem als Ga- rant der Reichsinteressen und zur Vereinheitlichung der Politik von Reich und Ländern ein eingesetzt wurde, fand die faktische Gleich- schaltung Lübecks ihren vorläufigen Abschluss. Entgegen den Absichten Völtzers, der eine gemeinsame Statthalterschaft der drei Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck anstrebte, wurde Lübeck allerdings unter und Reichsstatthalter Friedrich Hildebrandt zugeschlagen.688 Dieser setzte als Bürgermeister seinen Stellvertreter Dr. Otto-Heinrich Drechsler aus Schwerin ein. Zu Senatoren wurden Dr. Völtzer (Finanzen und Wirtschaft), Emil Bannemann (Arbeit und Wohlfahrt), Walther Schröder (Inneres), Pastor Ulrich Burgstaller (Oberschulbehörde und Theater) und Dr. Hans Böhmcker (Justiz) ernannt.689 Den beiden Letztgenannten sollte bei der nationalsozialisti- schen Umgestaltung der lutherischen Landeskirche eine Schlüsselrolle zu- kommen. Trotz der Zusicherungen Hildebrandts, der sich bei Wahrung nationalsozia- listischer Interessen grundsätzlich zur Eigenstaatlichkeit Lübecks und zu ei- nem selbständigen Verwaltungshandeln der Hansestadt bekannte, war die Ein- ordnung Lübecks unter seine Statthalterschaft mit dem Verlust der autonomen politischen Handlungsfähigkeit verbunden. Die De-facto-Aufhebung der staatsrechtlichen Souveränität fand schließlich in dem Reichsgesetz über den „Neuaufbau der Länder“ vom 30. Januar 1934 ihren rechtlichen Rahmen. Die Hoheitsrechte der zu sogenannten Reichsverwaltungsbezirken degradierten Länder gingen auf das Reich über, der Senat unterstand unmittelbar der Reichsregierung. Formal wurde der Verlust der Eigenstaatlichkeit mit dem so- genannten Groß-Hamburg-Gesetz besiegelt, das zum 1. April 1937 in Kraft trat. Im Zuge einer umfassenden Gebietsrevision verlor der Staat Lübeck nicht allein rund ein Drittel seines Territoriums, sondern wurde als kreisfreie Stadt der preußischen Provinz Schleswig-Holstein eingegliedert. Verbunden war die territoriale und staatsrechtliche Neustrukturierung mit der Herauslösung Lü- becks aus dem Machtbereich von Reichsstatthalter Hildebrandt, was zugleich den Schlusspunkt unter eine konfliktbeladene Beziehung setzte. Fortan unter- stand die Hansestadt dem einflussreichen schleswig-holsteinischen Oberpräsi- denten und NSDAP-Gauleiter Hinrich Lohse.690

687 Vgl. SCHNEIDER, Gefährdung, 75-127; SCHREIBER, Holstentor, 93-96. 688 Vgl. BEHRENS, Hitler, 156f. 689 Bekanntmachung des über die Neubildung des Senats vom 30.5.1933. GVOBl. der freien und Hansestadt Lübeck 1933, 83. Biografische Angaben in: BEHRENS, Hitler, 169f. 690 Vgl. KASTEN, Hildebrandt, 218-227; LEHMANN, Schleswig-Holstein. Auch wurde der NSDAP-Kreis Lübeck mit rund 5.500 Mitgliedern in den Gau Schleswig-Holstein über- führt. Zur Diskussion, inwieweit die Auseinandersetzungen mit Hildebrandt sogar Auslöser für den Zuschlag Lübecks an Schleswig-Holstein war vgl. SCHNEIDER, Gefährdung, 102- 104. Zu Lohse vgl. DANKER, Oberpräsidium; DERS., Leben.