Aus dem Feld

Lyman Wynne und Margarete Singer und von anderen Pionieren praktisch, etwa in der Behandlung schizophre- Das Interview ner oder manisch-depressiver Patien- ten, umsetzen ließen. Und so war es auch hier in Heidelberg mein eigent- liches Ziel, die Pragmatik der Therapie weiterzuentwickeln. Das hat auch sehr die Anfangszeit der Familiendynamik Ohne Kontroversen wird’s schnell langweilig! bestimmt, zu der die damaligen Pio- Hans Rudi Fischer im Gespräch mit zur Geschichte und niere der Familientherapie wie Lyman Wynne, Ted Lidz oder auch Ivan Bos- Zukunft der Familientherapie zormenyi-Nagy wichtige Beiträge lie- ferten. Sie besuchten uns in den 1970-er Jahren und sorgten für viel Verstörung die Familiendynamik gegründet hast. und Unruhe. Was sie zu sagen hatten, Helm Stierlin, Prof. Dr., Damals gab es das noch nicht, was wir passte noch nicht in die Weltsicht der Arzt und Schriftsteller. Nach leitenden Funk- heute »Systemische Therapie« nennen. damals vorherrschenden Psychoanaly- tionen im In- und Kannst du unseren Lesern und Leserin- tiker hinein. Und der Begriff »syste- Ausland 1974 –1991 nen von heute in Kürze die Psychoszene misch« war zu der Zeit auch noch so Direktor der Abteilung charakterisieren, in der die Familien- ungewöhnlich, dass fast alle Lektoren für Psychoanalytische dynamik das Licht der Welt erblickte? in meinen Büchern den Begriff »syste- Grund lagenforschung und Familien- Was waren 1975 die drängenden Fragen, misch« nahezu automatisch in »sys- therapie der Universität Heidelberg. die Therapeuten, von neuen Ideen tematisch« korrigierten. Bis heute hat Gründer und langjähriger Herausgeber infiziert, umtrieben? sich erstaunlich viel verändert. Im der Zeitschrift Familiendynamik. Editorial der letzten Ausgabe der Fami- Forschungsschwerpunkte: Familien- liendynamik konnte ich lesen, dass die dynamik und Systemische Therapie Kurze Geschichte(n) der Suchmaschine Google mehr als 600 000 bei Psychosen und Psycho somatosen; Familientherapie – Amerika Ablösungsprozesse des Jugendalters; Homepages ausweist, auf denen das Psychohistorische Studien. Unter Helm Stierlin: Ich hatte das große Stichwort »systemisch« erscheint, was anderem ca. 250 wissenschaftliche Glück, an Orten zu arbeiten, wo sich doch für eine enorme Veränderung in Aufsätze; Autor und Co-Autor von damals viele der führenden Pioniere den letzten zwanzig Jahren spricht. 13 Büchern mit Übersetzungen in trafen; ich hatte die Möglichkeit, mich zwölf Sprachen. von ihnen anregen, aber natürlich auch, FD: »Systemisch« ist inzwischen ja mich von ihnen verunsichern zu las- en vogue; der inflationäre Gebrauch des sen. Das gilt vor allem für meine Zeit Adjektivs heute verrät uns aber noch FD: . . . Lieber Helm, deine Vita als am National Institute of Mental Health nicht, was dich damals an den dahinter Philosoph und Wissenschaftler ist ein (Bethesda, Maryland), einem der gro- liegenden Ideen und Modellen beein- wunderbares Beispiel dafür, dass syste- ßen Forschungsinstitute in den USA, druckt und beeinflusst hat. misches Denken kein Standpunkt ist, an ähnlich unseren Max-Planck-Institu- Helm Stierlin: Es war von mir miter- dem man ankommt und stehen bleibt. ten; dort arbeitete ich lange Zeit in der lebter Wandel, nicht wahr, der mich vor Du bist nach wie vor viel unterwegs, im Nähe von Lyman Wynne, der den so- allem beeinflusste. Ich war mit der Fra- Denken und in der Welt, zwischendurch genannten Adult Psychiatry Branch lei- ge beschäftigt: Was ist an diesen Ent- gibst du mir hier dieses Interview. tete, dessen Leitung ich dann im Jahre wicklungen wirklich neu, was gibt uns Was bleibt in deinem Denken ist der 1972 übernahm, bevor ich nach Heidel- eine neue Richtung des Weges vor? Weg, den du beschreitest. Der Weg berg kam. Ich war damals noch nicht Dabei hatte ich selbst noch das Glück, zurück führt uns vorwärts – wie das mit dieser »systemischen Revolution« persönlich kennen- Heidegger einmal so schön formuliert beschäftigt, so wie diese Pioniere. zulernen. Ich konnte ihn und die so- hat. In diesem Sinne möchte ich zu- genannte Palo-Alto-Gruppe besuchen, nächst mit dir zurückblicken in das Jahr FD: Was war für dich spannend an die am Anfang, also 1959, aus Jay Ha- 1975, als du mit Josef Duss-von Werdt diesen gleichermaßen reizvollen wie ley, , Don Jackson und verunsichernden Ideen? Gregory Bateson bestand. Helm Stierlin: Vor allem interessierte mich, wie sich die Erkenntnisse von

Familien UNGEKÜRZTE FASSUNG DES INTERVIEWS AUS FAMILIENDYNAMIK 1 / 2 0 0 9 dynamik 1 AUS DEM FELD

Paul Watzlawick, Virginia Satir und FD: Gegenüber dem ursprünglichen einige andere kamen später dazu. Die psychoanalytischen Fokus auf die ersten vier bildeten damals den Kern. intrapsychischen Vorgänge richtet sich Bateson hatte sich schon etwas abge- hier der Blick auf das äußere Geschehen, sondert, weil er sich mit nicht die Interaktion zwischen den beteiligten gut vertrug. Und es war für mich Akteuren? ein äußerst interessantes Erlebnis, 1962 Helm Stierlin: Ja, genau. Also, meine zum ersten Mal eine Familientherapie Frage an Haley war, wie sich ein Blick mitzuerleben. Haley und Weakland auf die Spiele der Beteiligten, auf de- waren die Therapeuten, und Don Jack- ren Kommunikationsmuster mit einem son kommentierte das Ganze für mich. Blick oder einer Linseneinstellung ver- söhnen lässt, die sich auf das inner- Der neue, provokative Blick psychische Geschehen und auf die auf die Symptome Konfliktdynamik richtet, die im Vor- dergrund der analytischen Bemühung FD: In dieser revolutionären Phase steht. Haley hat sich bekanntlich über warst du als ausgebildeter Arzt gerade die Analyse immer wieder lustig ge- mal 36 Jahre jung, seit 1957 unterwegs macht, was auch in dem Buch zum im großen Amerika. Wie sah die Situa- Chestnut Lodge Sanatorium (Rockville, Ausdruck kommt, dessen Titel im tion damals auf deinem individuellen Maryland, USA) Englischen The Power Tactics of Jesus Lebensweg aus? Christ (1969) lautet. Helm Stierlin: Ich hatte gerade fünf Jahre am Chestnut Lodge Sanatorium Aber es war gerade dieses Spannungs- FD: Im Deutschen heißt es: Die Jesus- (Rockville, Maryland) gearbeitet, das feld, das es mir angetan hatte, um es zu Strategie. Die Macht der Ohnmächtigen. damals als das Mekka der analytisch beschreiben. Also, ich erzähle immer Helm Stierlin: Ja, die Jesus-Strategie. orientierten Psychosetherapie galt, und gerne diese Geschichte: Als ich 1962 in Und es ist auch interessant, dass die hatte meine analytische Ausbildung Palo Alto war und meine erste Famili- damaligen Revolutionäre sich nicht in gerade abgeschlossen. entherapie beobachtet hatte, fragte ich die vorhandenen beruflichen Struktu- Jay Haley: »Da ich gerade meine analy- ren einfügten oder dem akademischen FD: Spielte in diesem Hospital nicht tische Ausbildung beendet habe, inte- Mainstream folgten, wie man es ei- auch der bekannte Film und Roman ressiert es mich natürlich sehr, inwie- gentlich hätte erwarten können. Selbst über eine Psychotherapie, Ich hab dir weit das, was ich als Analytiker gelernt Bateson hat ja nie seinen Doktor ge- nie einen Rosengarten versprochen? habe, relevant für das ist, was ihr hier macht. Haley hat erst Theaterwissen- Die Psychotherapeutin im Buch produziert habt?« Darauf antwortete schaft studiert und als Stückeschreiber (von Hannah Green) bzw. im Film ist ja Jay Haley, er war damals eine Art en- gearbeitet, bevor er sich der Kommuni- Frieda Fromm-Reichmann nachempfun- fant terrible, gerade auch, was die Ana- kation zuwandte; John Weekland war den, die auch dort gearbeitet hat? lyse anbelangt, wie folgt: »Die Analyse auch nicht als Psychologe ausgebildet. Helm Stierlin: Ja. Mit Hannah Green und was wir hier betreiben passen sehr hatte ich auch selbst noch Kontakt, gut zusammen. Ich gebe dir gern ein FD: Er war Chemiker, glaube ich, ebenso mit Frieda Fromm-Reichmann. Beispiel: Ich kenne eine Frau, die ist später hat er sich der Anthropologie Sie war sogar noch zeitweise meine jetzt etwa Anfang vierzig. Sie ist schon zugewandt. Supervisorin. Das war für mich eine fünf Jahre in Analyse, viermal die Wo- Helm Stierlin: Don Jackson war der sehr aufregende Zeit, nicht zuletzt auch che. Ein Ende der Analyse ist nicht ab- einzige Psychiater in der Gruppe. Er darum, weil auf der einen Seite diese zusehen. Insgesamt spielen hier drei war vor mir auch in Chestnut Lodge Pioniere der Analyse mit den Syste- Spieler mit: nämlich einmal die Frau, ge wesen. Von ihrer völlig unbeschwer- mikern aufeinanderprallten. Bateson die einen Freund gefunden hat, dem ten Außenperspektive aus konnten sich hatte einen großen Respekt vor Frieda sie alles erzählen kann. Der zweite diese Pioniere offenbar alles erlauben Fromm-Reichmann, obgleich sie eine Spieler ist der Ehemann, der die Ana- und dadurch auch eine weitgehende ganz andere Position als er vertrat. lyse bezahlt und sich dadurch von Verunsicherung erzeugen. Denn 1962 seinen Schuldgefühlen wegen seiner war die Psychoanalyse auf ihrem Zenit, vielen Affären befreit, und der dritte und viele wichtige Lehrstühle waren Mitspieler ist der Analytiker, der sich um seine Miete nicht zu sorgen braucht.«

UNGEKÜRZTE FASSUNG DES INTERVIEWS AUS FAMILIENDYNAMIK 1 / 2 0 0 9 Familien 2 dynamik DAS INTERVIEW

von Analytikern besetzt. Dies auch und mussten nicht nach Bezahlung Lodge-Patientin – eine attraktive junge zum Teil als Folge der Emigration vie- fragen, das bezahlte der Staat – und Studentin –, die in einem katatonen ler deutscher Analytiker, die damals andererseits einer intensiven Arbeit- Stupor eingeliefert wurde. Als sich sehr viel Einfluss hatten. Das war also satmosphäre. Diese optimalen Bedin- der Stupor löste und ich meinte, einen schon sehr eindrucksvoll zu erleben, gun gen hätte ich in Amerika nicht ge- guten Draht zu ihr gefunden zu ha- wie Haley und Co. irritierten. Später habt. ben, nahm sie ihr Vater plötzlich über stießen zu dieser Gruppe noch Leute Nacht aus der Klinik. Als sie am Mor- hinzu wie , die kaum FD: Es war ein Rahmen, der Kreativität gen nicht mehr da war, hat mich das weniger frech waren. Paul Watzlawick ermöglichte? natürlich etwas verstört. Mein dama- sagte mir etwa, er glaube nicht an ir- Helm Stierlin: Ja. Ich würde sagen, liger Su pervisor, Otto Will, damals ein gendwelche Langzeittherapien; wenn der optimal war, weil abgesichert so- sehr bekannter Psychiater und wie eine Therapie nicht nach sechs Sit- wohl durch ökonomische als auch or- auch Frieda Fromm-Reichmann ein zungen schon etwas wirklich Entschei- gani sationale Stabilität. Schüler Harry Stuck Sullivans (1949 dendes verändert habe, könne man auf verstorben), sagte zu mir: »Also, tröste sie verzichten. FD: Helm, du hast von dieser Auf- dich, Helm, schon Sullivan sagte, das bruchstimmung berichtet, die du in den erste Zeichen einer wesentlichen Bes- FD: Das muss ja für die Zeit damals USA erlebt hast und die du mit nach serung bei einem schizophrenen Pati- gegenüber dem herrschenden Paradigma Deutschland nehmen wolltest. 1962 enten ist, dass die Angehörigen ihn aus sehr provokativ gewesen sein . . . hast du zum ersten Mal eine Familien- dem Spital nehmen wollen.« Und das Helm Stierlin: Das stimmt. Und diese therapie live gesehen. Wie hat das auf hat mir in der Folge Anlass zum Nach- Provokation, glaube ich, sollten wir dich als klassisch ausgebildeten Psycho- denken gegeben. weiter ernst nehmen, denn sie gibt noch therapeuten gewirkt, der gelernt hatte, heute zu vielen Fragen Anlass, die auch das Individuum im Fokus zu sehen? FD: Das war ja bereits ein systemischer unser Heidelberger Team in der Folge Helm Stierlin: Völlig neuartig, es wa- Blick . . . war der nicht auch in der beschäftigten. Das geschah zu der Zeit, ren auch völlig neue Fragestellungen interpersonalen Psychologie Frieda da ich eine kleine Abteilung an der damit verbunden. Dies alles war dazu Fromm-Reichmanns enthalten? Universität Heidelberg leitete; dabei angetan, vieles, was ich bisher betrie- Helm Stierlin: Ich meine ja. Frieda hatte ich das Glück, ungewöhnlich kre- ben hatte, in Zweifel zu ziehen. hatte ja den Begriff der »schizophre- ative Mitarbeiter zu finden, von denen nogenen Mutter« eingeführt und uns ich selbst immer wieder eine Menge FD: Oder gar zu verrücken? auch Mütter vorgeführt, die so klam- lernen konnte. Das waren damals der Helm Stierlin: Ja, zu verrücken . . . Ich merig waren, dass man schon ahnen Gunt hard (Weber), es waren etwas spä- musste auch an meine Patienten in Be- konnte, da kann nicht viel Gutes raus- ter der Fritz (Simon); und dann kamen thesda zurückdenken. Chestnut Lodge kommen. Aber dieser Begriff impli- noch Gunther (Schmidt), dann Arnold war ja damals auf seinem Höhe- zierte auch: Die Eltern sind schuld am (Retzer), dann du (Familiendynamik) punkt, weil sich dort die in vieler schizophrenen Leiden ihrer Kinder, und später noch Jochen (Schweitzer) Hinsicht vielleicht kreativsten Analy- und das hat eine lange Debatte aus- und andere hinzu. tiker zusammengefunden hatten, da- gelöst. Aber meine systemische Sicht runter Harold Searles und Frieda wurde eigentlich erst nach dem Erleb- FD: Was hat für dich damals den Fromm-Reichmann. Natürlich begann nis von 1962 ausgelöst, und es hat na- Reiz ausgemacht, innerhalb einer ich jetzt auch über meine Zeit in Chest- türlich vieles für mich verändert. akademischen, eher konservativen nut Lodge anders zu denken. Damals Organisation wie einer Universität waren ja auch in den USA die Analysen FD: Dein Erlebnis mit der ersten deinen Forschungsinteressen nach- sehr lang geworden, und unter etlichen Familientherapie live? zugehen? 100 Stunden ging kaum etwas. Helm Stierlin: Es ließ mich erst richtig Helm Stierlin: Es war diese Kombina- fragen: Was sind die jeweils wichtigen tion von ungeheurer Freiheit auf der FD: Dich hat der neu inspirierte Blick Beziehungspersonen, was geschieht da, einen Seite – wir konnten in Bezug auf auch die eigene therapeutische Vergan- inwieweit sind Symptome Ausdruck unsere Forschungsinteressen ziemlich genheit mit anderen Augen sehen lassen? und Folge von Störungen der Kommu- machen, was wir wollten, wir konnten Helm Stierlin: Allerdings. Mir wurde nikation, Verletzungen und Problemen, auch alle möglichen Patienten sehen da durch einiges klarer. Momentan die damit einhergehen, und inwieweit schreibe ich an einem rückblickenden sind sie Ausdruck und Folge innerer Buch über meine Entwicklung als Konflikte, die weit in die Vergangen- Psychiater und Psychotherapeut. Ich denke etwa an meine erste Chestnut-

Familien UNGEKÜRZTE FASSUNG DES INTERVIEWS AUS FAMILIENDYNAMIK 1 / 2 0 0 9 dynamik 3 AUS DEM FELD

heit zurückreichen? Diese Fragen stell- erleben. Auch seine Arbeit widersprach ich sehr schätze, betont mit Recht, dass ten sich mir schon damals und sie ka- völlig dem, was man so als Analytiker die Analyse bis jetzt zweifellos das men auch schon in der Anfangszeit der gelernt hatte. Ich gewann damals den differenzierteste Modell der Seele her- Familiendynamik in den Beiträgen zur Eindruck, dass die Dinge, die nicht vorgebracht hat. Wie also passt das Sprache. in die gängige Theorie hineinpassten, zusammen? Viele analytische Begriffe einfach außen vor gelassen wurden. wie das Unbewusste, projektive Iden- FD: War es die Gründungsidee der Für viele Psychoanalytiker wäre das zu tifizierung, Rationalisierung usw. sind Familiendynamik, der in den USA zur verunsichernd gewesen. Für Verhal- ja bereits Bestandteile der psycholo- Wirkung gelangten Provokation des tenstherapeuten war es einfacher. Sie gischen Umgangssprache geworden. geltenden therapeutischen Paradigmas konnten sagen: Im Grunde machen wir Also, das alles in einer systemischen im deutschsprachigen Raum einen das schon lange, nur habt ihr unseren Sicht zusammenzubringen ist immer Rahmen zu geben? Kontext ein bisschen erweitert. In der noch eine große Herausforderung. Helm Stierlin: Ja, so kann man es be- Folge sind dann auch viele Elemente schreiben. Sepp Duss hatte vor ein paar der Verhaltenstherapie in systemisches FD: Gab es in den 33 Jahre der Jahren eine Zeitschrift über Eltern und Vorgehen eingegangen. Familien dynamik für dich, der du das Paare gegründet. Aber jetzt lag ganz nationale wie das internationale Spek- bewusst der Fokus auf der Familie als FD: Hier kann man von wechselseitiger trum der Entwicklung zu überschauen einem System, d. h. weg von der See- Beeinflussung sprechen. Für die Verhal- dich bemühst, gab es nach der anfänglich lenschau, wie sie sich auch in der Über- tenstherapie war das frühe systemische schwierigen Phase besondere Geburts- tragungssituation offenbart, hin zum Denken mit dem Blick auf das beobacht- wehen des systemischen Denkens? Wichtignehmen der systemischen Dy- bare äußere Verhalten anschlussfähiger. Helm Stierlin: Ich glaube, wichtige namik und Kommunikation. Bateson Helm Stierlin: Man könnte verallge- We hen, die weiter viel Umdenken er- war hier mit seiner Double-bind-Theo- meinernd sagen: die Analytiker ver- fordern, betreffen die Familiensomatik rie sehr wichtig. suchten, durch Abschottung und die oder überhaupt die Psychosomatik. Verhaltenstherapeuten durch Verein- Um der Bedeutung des Kontextes bei FD: Bateson hat die Theorie für den nahmung mit der neuen Situation fer- der Entwicklung von auch somatischen Paradigmen-Wechsel ja bereits früh tig zu werden. Und das kennzeichnet Störungen, also nicht nur psychosoma- geliefert. die heutige Situation immer noch ein tischen Störungen, gerecht zu werden, Helm Stierlin: Das stimmt. Ich halte bisschen. sehen sich systemische Forscher und sein Buch über Kommunikation, das er Therapeuten besonders herausgefor- damals zusammen mit Jürgen Ruesch FD: So, wie ich die Geschichte der dert. Und ich meine auch, dass die herausbrachte (Kommunikation: Die so- Familiendynamik vor Augen habe, Familiendynamik hier noch viel Gutes ziale Matrix der Psychiatrie, 1951), immer haben darin ja auch häufig Psycho- tun kann. Ähnliches gilt für den ganzen noch für ein Standardwerk. Bateson analytiker publiziert. Hat sich also die Bereich der Organisationen, die sich, war für mich eine interessante, ein- Familiendynamik schon unter deiner wie etwa ein Familienunternehmen, drucksvolle Persönlichkeit. Ägide bemüht, die konkurrierenden systemisch betrachten lassen. Das alles Theorien und Ideen miteinander ins ist sehr interessant, aber auch mit der FD: Wie war denn damals die Reaktion Gespräch zu bringen? Gefahr verbunden, dass sich die Gren- der etablierten Psychotherapien auf die Helm Stierlin: Das stimmt. Ich hatte zen dessen, was eigentlich systemisch Phänomene, die wir heute systemisch selbst vorher viel in der Psyche publi- bedeutet, immer mehr verwischen. Die nennen? ziert und einen guten Draht zu einer inflationäre Ausbreitung des Begriffes Helm Stierlin: Bei vielen Jüngeren Menge Analytiker und sie eingeladen, systemisch ist der Systemischen The- hatte ich den Eindruck, dass sie davon auch für die Familiendynamik zu schrei- rapie nicht zugute gekommen, weil es sehr angetan waren. Aber bei der über- ben. Nicht wenige, wie etwa Ted Lidz immer schwieriger wird, sich gegen wiegenden Mehrheit bestand eher eine aus den USA, gaben wichtige Anstöße andere Verfahren abzugrenzen und zu Tendenz, sich dagegen abzuschotten. für die Familientherapie und haben präzisieren, was das Spezifische am Das lässt sich gut am Beispiel der Ano- mehrfach in der Familiendynamik ver- Systemischen ausmacht. Das heraus- rexie beschreiben; ich hatte schon früh öffentlicht; und es waren nicht zu- zuarbeiten und immer wieder neu zu Gelegenheit, bei letzt auch Analytiker, wie eben Ted bestimmen wird ebenfalls eine He- der Therapie mit Anorektikerinnen zu Lidz, die hier sehr anregend waren. rausforderung für die Familiendynamik Dann kam auch der Hypnotherapeut bleiben. Milton Erickson immer wieder ins Gespräch. Hier stellen sich weitere in- teressante Fragen. Otto Kernberg, den

UNGEKÜRZTE FASSUNG DES INTERVIEWS AUS FAMILIENDYNAMIK 1 / 2 0 0 9 Familien 4 dynamik DAS INTERVIEW

FD: Die Zeitschrift sollte also ein samkeitsforschung ist bislang indivi- Helm Stierlin: Es wird ja zunehmend Diskursuniversum sein, um das Bewusst- duumszentriert, und die Frage bleibt auch zum Thema, dass die relativ frühe sein für das Systemische zu schärfen? ausgeklammert: Was geschieht mit der Institutionalisierung der Psychoanaly- Helm Stierlin: Dabei stellt sich auch Familie, wenn man den Wirksamkeits- se, die diese dann für die Krankenkas- immer wieder die Frage: Was unter- fokus verändert? sen akzeptabel machte, wahrscheinlich scheidet ein systemisches Vorgehen wenig geholfen hat. Man bot ihr ein etwa von üblichen therapeutischen FD: Du forderst, dass man bei der Bett an, in das sie sich reinlegen konnte, Vorgehensweisen? Was sind die Unter- Wirkfaktorenforschung den Fokus über aber dieses um den Preis, dass der Geist schiede, die jeweils einen Unterschied das Individuum hinaus auf das größere lebendigen Forschens eher gehemmt machen? Also etwa auch: Wieviel System erweitert? blieb. Ich habe miterlebt, wie eine Zeit wird in einer Therapie gebraucht? Helm Stierlin: Allerdings. Gruppe von Schweizer Psychoanaly- So beschreibt beispielsweise Giorgio tikern aus der Internationalen Gesell- Nardone in seinem Buch Pirouetten FD: Das heißt aber die Kreation eines schaft ausstieg, weil sie die Ketten, die im Supermarkt, dass er bei typischen neuen Maßstabes, mit dem man misst ihnen durch die Zugehörigkeit zu einer Zwangskranken und bei Phobikern, und der die Beobachtung leitet? solchen Institution angelegt wurden, auch mit Agoraphobikern, die Angst Helm Stierlin: Genau. Das ist bisher als zu einengend empfanden. vor der Angst haben, die zum Teil das wenig in bestehenden Forschungsan- klassische Repertoire auch für Ana- sätzen zu finden. Immerhin gibt es eine FD: Das haben ja auch Wissenschafts- lytiker hergeben, in relativ wenigen ganze Reihe von neueren Forschungen theoretiker wie Ludwig Fleck und später Sitzungen die Symptome zum Ver- zur Wirksamkeit der Familientherapie Thomas Kuhn beschrieben. Wenn eine schwinden bringen konnte. Sich damit bei allen möglichen Störungen. Aber revolutionäre zur normalen Wissen- auseinanderzusetzen und dabei auch was es bedeutet, die Wirksamkeit einer schaft, zum Standard geworden ist, Kontroversen zu riskieren könnte die Systemischen Therapie auch in Bezug ergeben sich zwangsläufig Denkzwänge, Zeitschrift wieder spannend machen. auf die Mitbetroffenen im System zu die gesprengt werden müssen, soll die beforschen, ist bislang kaum thema- wissenschaftliche Entwicklung voran FD: Wäre das eine der Ideen, die du tisiert worden. Ich meine, auch das kommen. der Familiendynamikmit in die Zukunft könnte ein wichtiger Schwerpunkt für geben möchtest: mehr Kontroversen die Familiendynamik werden. Was für die system- zu riskieren, weil nur sie den Diskurs in therapeutische Praxis bleibt Bewegung halten, unser Denken voran- FD: Das heißt doch, dass die Wirksam- treiben und so Neues zur Welt bringen? keitsforschung selbst systemisch werden Helm Stierlin: Daraus ergeben sich Helm Stierlin: Ohne Kontroversen müsste . . . sicher Themen die weiterhin auch für wird’s schnell langweilig. Ohne Kon- Helm Stierlin: Ja, genau. Wobei sich die Familiendynamik zentral sind. troversen gibt’s auch wenig Neues, das Problem stellt, dass die Dinge im- gibt’s auch keine Lebendigkeit; es gibt mer komplexer werden. So geht es auch FD: Wenn wir den inflationären natürlich auch leicht Verletzungen und immer wieder darum, diese Komplexi- Gebrauch all dessen, was sich heute Ressentiments, das ist klar. Es geht ja tät in einer Weise zu reduzieren, die für »systemisch« nennt, berücksichtigen, auch ums Infragestellen des beruf li- Praktiker und Forscher so Sinn ergibt. was macht für dich heute noch den chen Standpunktes, den man sich ge- Dabei stellt sich in Deutschland wei- genuinen Wert des Systemischen aus? wählt hat. Dennoch halte ich es für terhin das Problem, dass der wissen- Was macht hier den Unterschied, der im wichtig, Kontroversen nicht zu scheu- schaftliche Beirat, der über die Aner- Vergleich zu anderen therapeutischen en. In vieler Hinsicht haben Analyti- kennung der verschiedenen Verfahren Vorgehensweisen einen Unterschied ker Gutes zu bieten. Ich denke etwa an urteilt, zum Teil noch von Analytikern macht? die letzte Nummer der Psyche, in der bestimmt ist, die, was neue Verfahren Helm Stierlin: Es ist einerseits der Scham das zentrale Thema war und anbelangt, oft nicht auf dem Laufenden Blick auf das System, der viele Optio- von mehreren Autoren sehr differen- sind. nen des Zugangs, des Behandelns, auch ziert behandelt wurde. Natürlich ist des kurzzeitigen Behandelns ermög- auch die Frage der Gesundheitspolitik FD: Da grassieren letztlich nicht ganz licht; andererseits ist es ein Blick, der bedeutsam. Auch die Wirkfaktorenfor- rationale Maßstäbe, um nicht zu sagen: uns für die Hartnäckigkeit von Syste- schung halte ich für sehr wichtig. Aber irrationale. Da wird rationalisiert, men sensibilisiert, von Systemen, die auch hier zeigt sich eine Problematik verdichtet und verschoben etc. . . . sich durchsetzen können und sich als Herausforderung. Fast alle Wirk- und letztlich geht es um ganz profane Verteilungskämpfe: Wer kommt wie an welche Töpfe?

Familien UNGEKÜRZTE FASSUNG DES INTERVIEWS AUS FAMILIENDYNAMIK 1 / 2 0 0 9 dynamik 5 AUS DEM FELD

einem Wandel widersetzen. Beide As- zers versucht wird? Also, ich fände es angetan, Sie noch tiefer in einen Sumpf pekte scheinen mir zentral zu sein. schon sehr wichtig, diese grundsätz li- von Verletztheit und von Traurigkeit Für mich sind vor allem zwei Sich- chen Fragen weiter zu thematisieren. sinken zu lassen?« Sie war dadurch ge- ten interessant geworden: zum einen Die kontroversen Positionen, die da zwungen, eine Metaposition einzuneh- eine Breitensicht, die uns für die rele- aufeinanderprallen, ins Gespräch zu men, und sagte nach einer Weile: »Im vanten Vernetzungen, die unsere Be- bringen und zu veranschaulichen. Grunde tut mir das Weinen gar nicht ziehungen, unser Denken bestimmen, gut.« Und als sie das sagte, wirkte sie sensibilisiert und als zentrale Frage FD: Helm, du machst ja heute noch wie verwandelt und fünf Jahre jünger. stellt: Was ist das jeweils wichtige Sys- Therapie . . . Ich glaube, in unserem systemischen tem, das da entscheidend wirkt, um Helm Stierlin: Allerdings, wenn auch Know-how haben wir schon ein enor- Haltungen und Probleme aufrechtzu- viel weniger als früher. mes Kapital. Aber auch da würde ich erhalten oder aufzulösen? Dieser Blick die Frage stellen, was dies für die Pra- auf Vernetzungen kann dazu führen, FD: Was sind denn für dich therapie- xis, für die Häufigkeit der Sitzungen dass man sagt: Ach Gott, alles hängt ja pragmatisch die Konsequenzen, die noch und was es für die Nutzung der Res- mit allem zusammen, was kann man heute dein durch systemische Ideen sourcen bedeutet? Solchen Klienten da noch machen? Aber gleichzeitig geprägtes Handeln bestimmen? gebe ich auch gern die Überraschungs- zeigt der Blick auf diese Vernetzungen, Helm Stierlin: Es lässt sich hier von aufgabe: »Was meinen Sie, wenn ich dass wenn man etwas ändern kann, einigen Grundregeln sprechen: Einmal Ihnen raten würde, jetzt mal eine gute dies einen großen Unterschied zu ma- gilt es, von Anfang an der Frage nach- Zeit zu erleben, würde das sofort wie- chen vermag. Wenn sich etwa jemand zugehen: Was sind Einstellung und der die alten Erinnerungen an Ver- entscheidet: Jetzt verlasse ich meinen Anliegen? Es geht vor allem darum, letzungen wecken, oder bestände da Partner, dann ändert sich für beide auf die Denk- und Sprachwelt sowie doch eine Chance, dass sie gemeinsam vieles. Diese Dynamik, glaube ich, soll- die Metaphern der Klienten einzuge- mit Ihrem Mann etwas Gutes erleben te man herausarbeiten. Andererseits ist hen und dadurch an diese Anschluss könnten, das Sie noch nicht erlebt ha- auch eine Zeitperspektive enorm wich- zu finden. Dann würde ich sagen, Ver- ben?« In diesem Sinne halte ich die tig. Dazu fällt mir immer noch Hegel meidung all dessen, was als negativ Anregung einer inneren Metaposition ein, der deutlich machte, dass eine und pathologisierend wirken könnte; und die Einführung eines inneren Par- Zeitperspektive einen ständigen Wan- dann ein ressourcenorientiertes Vorge- lamentes für sehr wichtig. del in den Blick bringt. Dementspre- hen; dann die Wichtigkeit der Neutra- chend gibt es eine Dialektik zwischen lität. Für sehr wichtig halte ich auch FD: Es geht darum, das Bisherige an- Theoretikern und Praktikern, die vor die Nutzung der Intervalle zwischen ders wahrzunehmen, anders zu erklären, allem die in der Zukunft liegenden den Sitzungen durch Aufgaben, die anders zu bewerten und dadurch anders Möglichkeiten wie es bspw. Steve de das, was in der Sitzung gewebt wird, zu erleben? Shazers tut. Und auf der anderen Seite etwa durch Hausaufgaben, weiterwir- Helm Stierlin: Ja, einen anderen Blick stellt sich auch Systemikern die Frage, ken lassen. Ich finde es immer wieder zu ermöglichen, der unter Umständen wie Traumata und Verletzungen aus faszinierend, wie schnell sich durch die die ganze Symptomatik und Frage- der Vergangenheit in die Gegenwart Beachtung dieser Prinzipien ein ande- stellung verändert. Und dementspre- hineinwirken und wie sich damit um- res Klima schaffen lässt. Dazu ein Bei- chend auch Hausaufgaben zu geben. gehen lässt. spiel: Gestern sah ich eine Frau, über- Das macht mir eigentlich immer noch gewichtig und mit hohem Blutdruck, Spaß. FD: Wie kann man also die Vergangen- nur damit beschäftigt, was sie schon Anregung zu neuen Verhaltenswei- heit mit der Gegenwart ins Verhältnis zur erleiden musste. Sie stellte sich als je- sen zu geben und den Blickwinkel zu Zukunft setzen? manden dar, der immer wieder weinen einem neuen Erleben zu eröffnen. Helm Stierlin: Das kann bedeuten, musste, und dies vor allem wegen ihres dass traumatische Erlebnisse so oder so Mannes, der sie auch noch mit einer FD: Damit sind wir bei einem anderen wieder aktiviert werden müssen, um Affäre verraten hatte. Die entschei- Punkt angelangt, bevor wir zum Schluss überwunden werden zu können, dass dende Frage, die ich ihr stellte, war: kommen. Es gibt ja die Kritik an Syste- also etwa Trauerarbeit geleistet werden »Sie haben so viel zu erzählen, was mischer Therapie, sie sei zu intellektuell muss. Oder kann man diese Erlebnisse sie alles erlitten haben . . . Sie haben ja bzw. zu kognitiv, Gefühle hätten darin abhaken, indem man ganz konzentriert nächtelang geweint. War dieses Wei- keinen Platz . . . auf die Zukunft schaut, wie dies etwa nen eher befreiend in dem Sinne, dass durch die Wunderfrage Steve de Sha- es etwas gelöst hat in Ihnen, dass es Ihnen mehr Lebensfreude gegeben hat, oder war gerade dieses Weinen dazu

UNGEKÜRZTE FASSUNG DES INTERVIEWS AUS FAMILIENDYNAMIK 1 / 2 0 0 9 Familien 6 dynamik DAS INTERVIEW

Helm Stierlin: Das ist wohl auch mit Helm Stierlin: Das Beispiel dürfte Helm Stierlin: Ja, stellt Fragen! Mich die Schuld von Niklas Luhmann, bei zeigen, wie enorm auch Gefühle von hat da immer ein Ausspruch von Nietz- dem Gefühle keine große Rolle spielen. unserer Bewertung, unserem Blickwin- sche sehr beeindruckt: Es kommt nicht kel abhängig sind. Ich glaube schon, auf den Mut der Überzeugung an, son- FD: Ja, gut, in Luhmanns Theorie, das hat einen Unterschied bei dieser dern auf den Mut, eine Überzeugung aber welcher Therapeut arbeitet mit Frau gemacht, dass ich gesagt habe, infrage zu stellen. Das, glaube ich, trifft Luhmanns Begriffsexerzitien? Bei ihm das viele Weinen sei zwar nachvoll- den Kern. kommuniziert die Kommunikation, ziehbar, aber es helfe nicht viel. Das hat bei uns kommunizieren immer noch die sie dann selbst auch so gesagt. FD: Das könnte ja der Leitspruch Menschen miteinander . . . oder das Hausmotto der zukünftigen Helm Stierlin: Stimmt. Das macht ei- FD: Das wusste Sie vorher wahrschein- Familiendynamik sein? Ja, gerade das könnte nen großen Unterschied. lich noch nicht, insofern war es etwas Helm Stierlin: es spannend machen, kontroverse Po- Neues. sitionen zusammenzubringen, nicht, FD: Insofern denke ich, dass viele der Helm Stierlin: Davon gehe ich aus. Luhmann’schen Ideen, die ich für Sie beschrieb sich selbst als innerlich dass Schlachten geschlagen werden, in spannend und interessant halte, sehr festgefahren. Sie kam aus einem denen man den Kontrahenten abzu- therapie- oder beratungspragmatisch sehr strengen, religiösen Milieu, das werten versucht, sondern dass man völlig irrelevant sind. sie selbst infrage zu stellen begonnen in einem Dialog sehr klar auf Unter- Helm Stierlin: Würde ich auch mei- hatte. schiede verweist, die einen Unterschied nen. machen und auch dazu angetan sein können, Grundüberzeugungen infrage FD: Ich habe dieses Vorurteil, Gefühle FD: Helm, was gibt es für dich an zu stellen. Also, das würde ich der kämen in der Systemischen Therapie zu Kritik- oder Schwachpunkten der Familiendynamik wünschen, dass euch kurz, Systemische Therapie sei zu Systemischen Theorie, was müsste sie dies gelingt. Es ist für euch heutzutage rational u. Ä. schon häufig von Kurs- noch stärker berücksichtigen, auf was schwierig, damals war es für uns ein- teilnehmern gehört, die zu uns in die müsste sie noch stärker fokussieren, facher. Ausbildung kommen. Wie würdest du um sich selbst weiter zu entwickeln? auf diese Kritik antworten? Wie könnte die Familiendynamik dazu FD: Damals war alles frisch, alles Helm Stierlin: Die Leute sollten sich beitragen? neu . . . vieles noch unbegriffen, da war der therapeutischen Praxis aussetzen. Helm Stierlin: Es sollten gerade tradi- viel Terrain noch nicht besetzt, noch Es gibt ja inzwischen viele Videos über tionell schwierige Felder wie Psycho- nicht beschrieben wie heute. Jetzt ent- Systemische Therapie, die man zeigen sentherapie oder Psychosomatik auch stehen nach und nach die Lehrbücher, könnte. Systemische Therapeuten ver- sehr kontrovers diskutiert werden kön- und das ist ein Zeichen dafür, dass Syste- suchen, beides zusammenzubringen, nen. Dazu sollte man auch Analytiker mische Therapie bzw. Theorie längst die eine Blickrichtung, die neue Wahr- zu Worte kommen lassen, auch gerade revolu tionäre Phase hinter sich gelassen nehmungen, Erklärungen und Be- bei der Frage, wieviele Sitzungen in und den Status einer Normalwissen- wertungen eröffnet, und eine andere alternativen Therapieansätzen nötig schaft erreicht hat, wo alles gefestigt Blickrichtung oder Anregung, die neue erscheinen. Ich finde es wichtig, gerade scheint, das man weitergeben kann. Erlebnisse, neue Emotionen und neue konfliktbesetzte Themen von unter- Wo gab es denn vor 20 Jahren Lehr- Arten von Beziehungen ermöglicht. schiedlichen Seiten her zu beleuchten bücher über Systemische Psychosomatik und dadurch Spannung und Kontro- oder Systemische Paartherapie? FD: Das Beispiel, das du gerade verse hineinzubringen. Die Familien- Helm Stierlin: Ja, da sehe auch ich ei- angeführt hast, macht das ja deutlich. dynamik sollte nicht eine Art Lehrbuch nen enormen Unterschied. Jetzt hat die Du redest ja mit deinen Klienten über werden. Lehrbuchzeit begonnen. ihre Gefühle, und sie können dabei natürlich auch Gefühle zeigen, nur ver- FD: Damit sind wir schon auf dem FD: Lieber Helm, ich danke dir im suchst du dabei, ihren Blickwinkel auf Weg zu meiner letzten Frage: Was wür- Namen der Familiendynamik und diese Gefühle zu steuern. Es ist ja nicht dest du der Systemischen Therapie und, unserer Leser herzlich für die Zeit, so, dass Gefühle verboten werden soweit die Familiendynamik deren dis- die du dir genommen hast, um mit könnten. kursive Plattform im Felde ist, auch der mir dieses Gespräch zu führen. ! Familien dynamik ins Stammbuch schrei- ben? Etwa: Sucht den Diskurs, sucht die Kontroverse, auch mit den etablierten Therapieformen?

Familien UNGEKÜRZTE FASSUNG DES INTERVIEWS AUS FAMILIENDYNAMIK 1 / 2 0 0 9 dynamik 7