„Liliom“ mit Fritzi Haberlandt (l.), Peter Kurth (r.)

Regisseur Thalheimer, Inszenierungen „Es soll wehtun“

Angerichtet hat beide Theaterabende der Re- gisseur Michael Thal- heimer, 35, und der gibt sich alle Mühe zu beteu- ern, dass er keineswegs auf Krawall aus ist. Gelassen blickt er durch seine schwarze Heiner- Müller-Brille und er- klärt, warum etwa das Hamburger „Liliom“- Blutbad sein müsse: „Ich möchte, dass diese Sze- ne richtig wehtut.“ Ge- rade den typischen TV-

R. ARNOLD Tod gelte es zu vermei- den: „Im Fernsehen wird mit Menschenleben

DDP gespielt, als sei das nix. In meiner Inszenierung soll Lilioms Tod den Zuschauern wirklich bewusst werden.“ Thalheimer ist im deutschen Theater der Regiestar der Saison. Für das in dieser Wo- che beginnende Berliner „Theatertreffen“, dessen fünfköpfige Jury alljährlich bis zu zehn „bemerkenswerte Inszenierungen“ „Leonce und Lena“ mit Liv-Juliane Barine, Oliver Kraushaar der Saison auswählt und in die Hauptstadt einlädt, sind gleich zwei Thalheimer-Ar- beiten angesetzt: der Hamburger „Liliom“

R. ARNOLD und seine Dresdner Inszenierung von „Das Fest“, einer Adaption des preisgekrönten THEATER Dogma-Films von Thomas Vinterberg. Als Newcomer gleich zweimal dabei – das hat aus Thalheimers Generation bisher Familienzoff im Zeitraffer nur Thomas Ostermeier geschafft, der in- zwischen Chef der Berliner Schaubühne Der Regisseur Michael Thalheimer war gerade noch ein Nobody. ist. Trotzdem ist Thalheimer keineswegs ein Blitzkarrierist: Zwölf Jahre lang hatte er Nun ist er der Star der Saison – und mit gleich bereits als Schauspieler geackert, in Mainz, zwei Inszenierungen beim Berliner Theatertreffen dabei. Bremerhaven und in , bis er sich 1997 als Dozent für Schauspielstudenten us der Welt scheiden tut weh: ein paar Leute Türen knallend das ehren- engagieren ließ – und dabei schnell sein Schon an sich ist der Selbstmord, werte Haus. Talent zum Regieführen entdeckte. Aden sich der Dramatiker Ferenc Ähnliches spielt sich derzeit in Erfahrung hat Thalheimer, der in Frank- Molnár für den Titelhelden des Stücks „Li- ab, wenn im dortigen Schauspiel eine aktuel- furt aufgewachsen ist und heute in Basel liom“ aus dem Jahr 1909 ausgedacht hat, le Version von Georg Büchners Lustspiel lebt, auch als Musiker – genauer: als keine appetitliche Angelegenheit. Der „Leonce und Lena“ von 1836 gezeigt wird. Schlagzeuger –, und so erklärt sich, dass er Mann, ein Jahrmarktsschreier, sticht sich Zu sehen ist die Zustandsbeschreibung sagt, eine gute Inszenierung müsse sein ein Messer in die Brust. einer übersättigten Generation, die des Le- „wie ein guter Song“: kurz, intensiv, ein Im Hamburger Thalia Theater aber bens oft schon mit 30 überdrüssig ist; zu Lebensgefühl auf den Punkt bringend. Da- macht der Liliom-Darsteller Peter Kurth hören ist eine schier endlose Abfolge von bei will er kein Pop-Regisseur sein, kein aus dem Suizid ein wahres Gemetzel. Popsongs, die jeweils nur Sekunden ange- Stückezertrümmerer, sondern allenfalls Wieder und wieder stößt er zu, das Blut spielt werden – insgesamt nicht weniger eine Art Stückekondensator. Strikt be- spritzt in hohen Bögen, und immer, wenn als 680 Stücke in 90 Minuten. Auf jüngere hauptet er: „Ich will keine Generation vom der Kerl endlich hin zu sein scheint, bäumt Zuschauer mag das wirken wie eine wun- Theater ausschließen.“ Gleichwohl gibt er er sich noch mal auf und zielt abermals derbar nostalgische Erinnerung an Teen- zu, „dass ich als Regisseur nun mal nur aufs eigene Herz – und die Nerven der ager-Partys in der Schulaula – ältere Thea- von mir selbst erzählen kann“. Zuschauer: Einige lachen über die schwer terbesucher entschließen sich dagegen Die Theatertreffen-Jury jedenfalls zeig- erträgliche Szene hinweg, andere empö- auch hier immer wieder zum Protest oder te sich vor allem beeindruckt von der In- ren sich lauthals, und meist verlassen auch zur Flucht. tensität der beiden nach geladenen

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Thalheimer-Theaterabende. Im „Fest“ geht es um eine Familienfeier, in deren Verlauf der Sohn des Hauses den Vater als Verge- waltiger seiner eigenen Kinder outet – und der Regisseur verstärkt die beklemmende Situation, indem er das Publikum einfach mit an der Festtafel sitzen lässt. Die süßliche Vorstadtlegende „Liliom“ dagegen ließ Thalheimer „karg und groß“ (so das Jury-Mitglied Benjamin Henrichs) neu erstehen durch die radikale Entrüm- pelung von Text und Raum. Kein Jahr- marktkitsch verstellt mehr den Blick auf die Hauptfiguren. Stattdessen zeigen über- dimensionale Piktogramme, die in Olaf Altmanns Bühnenbild auf einen Sperrholz- würfel projiziert werden, in welcher Pha- se der Beziehungsstory wir uns gerade be- finden: Erst ist der Mann allein, dann hat er eine Frau an seiner Seite, schließlich kommt das Kind dazu. Und immer wieder leuchten in rasend schneller Abfolge zum Elektrobeat andere Zeichen auf: Auto, Herz, Kinderwagen, Rauchverbot – die Schablonen des bürger- lichen Lebens, in die Liliom nicht hinein- passen will, fliegen ihm um die Ohren. Natürlich provozieren diese Signalbild- Ästhetik und die Konzentration auf den Kern von Handlung und Text einen Teil des Publikums. Zumal viele ältere Zu- schauer verstört die radikale Raff-Technik, sie vermissen die breite, nuancierte Dar- stellung der Story und der Charaktere. Tatsächlich ist aber gerade die Schau- spielerführung des Ex-Schauspielers Thal- heimer verblüffend genau, trotz aller stren- gen Konzeptarbeit sind seine Helden eben- so geheimnisvolle wie plastische Figuren, die ihre Ängste und Sehnsüchte in merk- würdigen Ticks und Gesten ausstellen. Peter Kurths rauer Charmeur Liliom etwa ist in zwar ein behäbiger, gewalttätiger Klotz, doch jedes Mal, bevor er wütend zu brüllen beginnt, zeigt ein Zucken in seinem Körper, wie verletzlich dieser Grobian ist. Fritzi Haberlandt spielt die Rolle der Liliom-Geliebten Julie als Kindfrau mit dem Charme einer rotzigen Göre – und wird im Angesicht des ange- himmelten Finstermanns regelmäßig zu einer steifen Ikone verstockten Stolzes. Der Regisseur Thalheimer kann sich der Angebote dank seines plötzlichen Ruhms nun kaum erwehren. In der nächsten Sai- son wird er unter anderem in Berlin, Ham- burg, Köln und Basel inszenieren. Derzeit aber arbeitet er noch in Leipzig an einem Beitrag zum dort angesetzten Theaterspektakel namens „www heimat le“ (ab 18. Mai). Natürlich soll es um den Heimatbegriff diverser Künstler gehen, Thalheimer aber hat bisher nur verraten, welcher Song im Zentrum seines Beitrags stehen wird: Der Pink-Floyd-Hit „Wish you were here“, ein klassischer Heuler für alle Liebenden, die einander fern sind. Schei- den tut eben auch weh, wenn’s nicht für immer ist. Anke Dürr der spiegel 18/2001 181