SWR2 Musikstunde
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Pray(ing) & Play(ing) Glaubensfragen in der Jazzgeschichte (2) Von Julia Neupert Sendung: Mittwoch, 27. Mai 2015 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 2 Signet SWR2 Musikstunde {00:10} AT Glaubensfragen in der Jazzgeschichte: Zu Teil II von „Pray(ing) and Play(ing) begrüßt Sie Julia Neupert! Musikbett Musikstunde {00:16} AT Aufgewachsen in einem oft tief-gläubigen Umfeld, haben viele Jazzmusikerinnen und Musiker Religion als ganz selbstverständlichen Teil ihres Lebens verstanden – und keinen Widerspruch gesehen zu dem eher lasterhaften Image, das ihrer Kunstform lange Zeit nachhing: Der Jazz von der Straße, aus den Bordellen, Nachtclubs und Drogenhöllen als Ausdruck von Gotteslob? Das stieß bei einigen Kirchenkonservativen auch auf Ablehnung. “Ist Jazz Sünde mit Synkopen?“ So war 1921 ein Artikel im „Women’s Home Journal“ überschrieben: Darin ist dann unter anderem von Jazz als ursprünglichem Voodoo-Phänomen die Rede: barbarische Musik, vor deren demoralisierender Wirkung man sich hüten müsse. Eine Ansicht, die in manchen Kreisen offenbar bis heute ihre Anhänger hat: So konnte auf einer Website religiöser Fundamentalisten lesen, dass Jazz ihrer Meinung nach ungesundes Teufelszeug sei, aus spirituell-hygienischen Gründen unbedingt zu vermeiden! Den beiden Brüdern Nat und Cannonball Adderley mögen solche Ansichten egal gewesen sein – die beiden engagierten sich unter anderem regelmäßig bei Benefizkonzerten für kirchliche Spendenaktionen und bekannten sich in vielen ihrer Kompositionen zum christlichen Glauben – in manchen Fällen sogar sehr explizit, wie mit dem Album „Soul Of The Bible“ von 1972. Hier ist daraus die Vertonung des 24. Psalms: 3 Musik 1 T: Psalm 24 K: Walter Booker I: Nat Adderley Sextett CD: Soul of the Bible Blue Note 7243 5 825722 9 {04:55} AT „Every man prays in his own language“ – Jeder betet in seiner eigenen Sprache, und: Es gibt keine Sprache, die Gott nicht versteht!“ Dieses Zitat stammt von einem der größten Künstlerpersönlichkeiten Amerikas, Duke Ellington. Er, der zuerst als Stride-Pianist und später noch viel mehr als Komponist und Orchesterleiter zu einer Jazz-Legende wurde, war von einer engen Verbindung dieser Musik zur Religion überzeugt. Nicht nur, dass er persönlich ein tief gläubiger Mensch war – Ellington begründete die Spiritualität des Jazz allgemein mit dessen afroamerikanischen Wurzeln und – beschäftigte sich intensiv mit der Geschichte seiner Vorfahren. Musik sei schon in den afrikanischen Kulturen untrennbar mit religiösen Ritualen verbunden gewesen. Dieses Prinzip, davon war Ellington überzeugt, hätten die verschleppten westafrikanischen Sklaven mit nach Amerika gebracht. Er sah in ihnen nicht nur die unterlegenen Opfer eines Verbrechens: Ganz im Sinne der Harlem Renaissance Bewegung wollte Ellington zeigen wie sehr Amerika, dieses „blutige Land“, von den Afrikanern kulturell und spirituell profitiert hat. Er thematisierte das in einigen seiner Werke. Das prominenteste davon ist sicher die „Black, Brown and Beige“-Suite von 1943, die mittlerweile zu den orchestralen Meilensteinen der Jazzgeschichte gezählt wird. Weniger bekannt sind heute die „Sacred Concerts“: drei geistliche Konzerte, die Duke Ellington in seiner letzten Lebensdekade komponierte. Seiner Meinung nach das „Wichtigste, was er je geschrieben“ habe. Nicht alle seine Fans und definitiv nicht alle Kritiker wollten dem zustimmen. Die Werke wurden kontrovers diskutiert – für einige war diese Mixtur aus Jazz, Bibel-Texten, Gospel und Stepptanz pure Blasphemie, andere warfen ihm vor, sich bei einer fragwürdigen Institution anzubiedern. Um zu wenig Aufmerksamkeit hat sich 4 Ellington jedenfalls nicht beklagen können – die Uraufführung des ersten „Sacred Concert’s“ 1965 in der Grace Cathedral von San Fransicso war ein Kultur-Ereignis von nationalem Rang. Musik 2 T: Come Sunday aus: Concert Of Sacred Music K: Duke Ellington I: Duke Ellington & His Orchestra CD: Concert Of Sacred Music RCA Victor 74321323342 {05:55} AT Duke Ellingtons „Come Sunday“ in einer Live-Aufnahme vom Dezember 1965 aus der Fifth Avenue Presbyterian Church in New York. Ein Konzert, das laut einem erstaunten „Spiegel“-Reporter über 3000 Gäste besucht haben sollen, und das von der CBS live im Fernsehen übertragen worden war. Solche Show-Dimensionen waren sicher zum einen der Prominenz von Ellington geschuldet, zum anderen aber ist ja die Kirchen-Kultur in Amerika sowieso eine andere als in Europa. In den methodistischen oder baptistischen Gottesdiensten einer Black-Church-Community ist Musik ein wesentliches kommunikatives Bindeglied zwischen Priester und Gemeinde. Dabei dient der gemeinsame Gesang weniger zur besinnlichen Einkehr der Anwesenden, sondern ist vielmehr ein temperamentvolles Glaubensbekunden. Außerdem waren die Kirchengemeinden zur Zeiten der Sklaverei einer der wenigen Orte, an denen Afroamerikaner als Gruppe unter sich sein durften. Und so dienten die sonntäglichen Zusammenkünfte auch einer gewissen Form von musikalischem Protest gegen Unterdrückung, Rassismus, soziale Ungerechtigkeit. Von Duke Ellington und der Kirche sei er musikalisch geprägt worden, hat nicht zufällig einer der bekanntesten Jazzrebellen zu Protokoll gegeben. Charles Mingus besuchte mit seiner Stiefmutter regelmäßig die ekstatischen Gospel-Gottesdienste der Heiligungskirche in Los Angeles. Die hinterließen eine tiefen Eindruck auf den Bassisten. Immer wieder tauchen in seinen 5 Kompositionen Anspielungen an diese spezielle kirchenmusikalische Tradition auf, sehr explizit zum Beispiel auf dem Album „Blues and Roots“ in dem Stück „Wednesday Night Prayer Meeting“: Die Bläser „singen“ sich im Thema gegenseitig die Melodiezeilen zu, die Soli werden von Anfeuerungsrufen und später auch rhythmischen Mitklatschen unterstützt: Musik 3 T: Wednesday Night Prayer Meeting K: Charles Mingus I: Charles Mingus Jazz Workshop CD: Four Classic Albums Plus Avid Jazz AMSC 1026 AMS M0262362 {05:44} AT Wenn man die unbändige Lebenslust in Charles Mingus’ Erinnerung an die Gottesdienstbesuche seiner Kindheit hört, kann man kaum glauben, dass John Coltrane in der gleichen Tradition aufgewachsen ist. Auch seine Familie gehörte der methodistischen Kirche an, allerdings muss die alltägliche Glaubenspraxis hier viel strenger ausgelegt worden sein – unter der „militanten“, wie er selbst meinte, Aufsicht seiner Großväter (zwei engagierten Priestern) – was sich nicht nach wahnsinnig viel Spaß anhört. Beeinflusst von den protestantischen Traditionen des Pietismus und Puritanismus stehen die frommen Methodisten „weltlichen“ Vergnügen eher skeptisch gegenüber. Freude, Ekstase, Ausgelassenheit? Im Gottesdienst gerne, ansonsten aber bitteschön recht bescheiden und zurückhaltend. Sein spirituelles Erwachen erfährt John Coltrane dann bezeichnenderweise viel später – als er sich depressiv und tief im Drogensumpf an Gott wandte mit der Bitte, ihm doch einen Weg zu zeigen, wie seine Musik ein bisschen mehr Freude vermitteln könnte. Was genau die Antwort war, ist nicht überliefert; fest steht, dass der Saxophonist sofort einen kalten Entzug machte und nie wieder Alkohol oder Heroin anrührte. Von da an entwickelte Coltrane einen immer größer werdenden spirituellen Ehrgeiz, beschäftigte sich intensiv mit verschiedenen 6 religiösen und fernöstlichen mystischen Schriften und begann, seine künstlerischen Visionen als eine Art göttliche Inspiration zu begreifen. Mit seiner Musik, so formulierte es John Coltrane später, wolle er die Erfahrung von Übermenschlichem nicht nur begleiten, sondern evozieren. Musik 4 T: Psalm K: John Coltrane I: John Coltrane CD: A Love Supreme Impulse MCD 01648, LC 1056 AMS M0002750.009 {07:05} AT „Ich bin christlich getauft, aber wahrer Glauben hat keinen Namen“ – Als John Coltrane das 1966 in einem Interview sagt, distanziert er sich nicht von seiner Religiosität, sondern allein von der Vorstellung, Glauben sei eine Frage von Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft. Verwurzelt in den Traditionen der methodistischen Kirche, blieb die Bibel für ihn Zeit seines kurzen Lebens die zentrale Heilige Schrift, aus der er immer wieder zitierte. Genauso ernsthaft studierte er daneben aber auch die Texte des indischen Theosophen Krishnamurti sowie Yoga- oder Kabbalah-Literatur. Kurioserweise wurde John Coltrane posthum selbst zu einem Kirchenoberhaupt: Vier Jahre nach seinem Tod gründete 1971 ein Fan von ihm in San Francisco die „Saint John Coltrane African Orthodox Church“. In deren Liturgie sind bis heute Jam-Session-artige Aufführungen von Coltranes Kompositionen integriert und die Jazzlegende selbst ist direkt neben dem Altar als Ikonenbild präsent. So wie John Coltrane erweiterten in den 1960er Jahren viele Musikerinnen und Musiker ihren