Eingereicht von: Isabell Schaurhofer, BEd

Angefertigt am: Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte

Beurteiler: Dr. Thomas Spielbüchler

Februar 2017

DIE HYDRA DER

Auswirkungen der US-geleiteten Intervention

Operation Enduring Freedom auf paschtunische

Netzwerke in

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades JOHANNES KEPLER Master of Arts UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 im Masterstudium 4040 Linz, Österreich www.jku.at Politische Bildung

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Masterarbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Masterarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.

Tragwein, am 9. Februar 2017

2

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Abstract

The United States invaded Afghanistan after the attacks of 9/11 to fight the Global War on Terror against al Qaeda and to abolish the Taliban regime. This created high hopes of change for a peaceful future in the Afghan society, but the expectations stayed unfulfilled: The U.S.-led counterinsurgency Operation Enduring Freedom ignored the structure of tribal networks of the Pashtuns, their historical development and their Pashtunwali code, which led to a dramatic comeback of the revitalized Taliban. A lot of wrong political decisions and the unwillingness, to take responsibility for the nation-building process in Afghanistan affected the dynamics of the virulent insurgency. Especially poor Pashtun tribes in rural, underdeveloped areas in southern and eastern Afghanistan suffer from the consequences of state failure after the invasion, which pushed a revival of the Islamic extremists.

The masterthesis „Die Hydra der Taliban. Auswirkungen der US-geleiteten Intervention Operation Enduring Freedom auf paschtunische Netzwerke in Afghanistan“ deals with the controversial war in Afghanistan, which was provoked by the United Stated. The comeback of the Taliban is linked with this military operation particularly between the years 2002 and 2007 and claryfies why the mission failed.

3

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Vorwort

Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen des Masterstudiums „Politische Bildung“. In erster Linie dient sie zur Vertiefung meines persönlichen Wissens über außenpolitische Gegebenheiten und Zusammenhänge.

Mein spezielles Interesse an Zeitgeschichte weckte Herr Dr. Thomas Spielbüchler in einer seiner Vorlesungen, in denen er komplexe Umstände vor allem in Afrika erläuterte wie auch hinterfragte. Warum aber gerade das Land Afghanistan immer wieder als Spielball politischer Machenschaften genutzt werden konnte bzw. kann, wollte ich für mich persönlich genauer erschließen. Auch das Mitwirken der USA in zahlreichen Konflikten im asiatischen Raum weckte meine Neugier. Um meine Kenntnisse zu vertiefen, setzte ich daher den Schwerpunkt auf das Thema „Afghanistan: Operation Enduring Freedom“.

Herr Spielbüchler, der sich bereit erklärte, meine Masterarbeit zu betreuen, brachte mir seine beständige Unterstützung entgegen. Er gab mir immer wieder hilfreiche Tipps, Anregungen sowie wertschätzende und gewinnbringende Rückmeldungen für die vorliegende Arbeit. Als Vollzeit berufstätige Studentin begleitete er mich geduldig über einen längeren Zeitraum hinweg, wofür ich ihm auf diesem Wege meinen herzlichen Dank aussprechen möchte.

Zudem bedanke ich mich bei meinem Interviewpartner für sein Interesse, sein Vertrauen und für die Zeit, die er für mich aufbrachte.

Ohne die Familie und mir nahestehenden Menschen, die mir Beistand geleistet haben und mir auch im Alltag organisatorisch zur Seite gestanden sind, hätte ich die Masterarbeit nicht abschließen können. Besonderer Dank gilt hierbei meinem Sohn Laurenz, der mich in den Ferien in Ruhe arbeiten ließ und mir manch häusliche Arbeiten abnahm oder zumindest erleichterte. Ebenfalls hervorheben möchte ich meine Mutter, die mich in produktiven wie auch in unproduktiven Phasen des Schreibens stets positiv unterstützt und motiviert hat.

Bei jenen weiteren Personen, die nicht explizit erwähnt wurden, sich von diesen Worten aber angesprochen fühlen, bedanke ich mich ebenfalls recht herzlich.

4

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Durch das Studium sowie durch das Auseinandersetzen mit der Masterarbeitsthematik konnte ich zahlreiche Erfahrungen sammeln, die mir in persönlicher wie auch in beruflicher Sicht bereits vor dem Abschluss sehr hilfreich waren.

Tragwein, 31. Jänner 2017

Isabell Schaurhofer

5

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...... 8

2. Paschtunische Netzwerke – Allianzen der Taliban? ...... 15

2.1. Die paschtunische Identität ...... 17 2.1.1. Bedeutende Konföderationen ...... 20

2.1.2. Paschtunwali – Sozialkodex und Gesetz ...... 23

2.1.2. Wirtschaftliche Situation ...... 24

2.2. Der Paschtunengürtel: Geschichtspolitische Faktoren ...... 26 2.2.1. Die Durand-Linie ...... 28

2.2.2. Bedeutung pakistanischer Grenzregionen...... 32

2.2.3. Die Rolle ...... 35

2.3. Ursprung und Entwicklung der Taliban ...... 38 2.3.1. Die Sowjetische Intervention (1979-1989) ...... 39

2.3.2. Afghanischer Bürgerkrieg: Keimzelle der Taliban ...... 42

2.4. Der Aufstieg der Taliban ...... 43 2.4.1. Struktur der Taliban ...... 49

2.4.2. Interessen der USA vor 9/11 ...... 52

2.4.3. Taliban und al-Qaida ...... 54

3. Zeitenwende 9/11: Global War on Terror ...... 59

3.1. Politische Maßnahmen ...... 60 3.1.1. Operation Enduring Freedom: Blitzkrieg gegen die Taliban? ...... 63

3.1.2. Regierungsbildung: Petersberger Abkommen ...... 69

3.1.3. International Security Assistance Forces (ISAF) ...... 73

3.2. Phönix aus der Asche: Generation Neo-Taliban ...... 77 3.2.1. : Grenzgebiete der Anarchie ...... 79

3.2.2. Korruptes Afghanistan: Beispiel ...... 81

3.2.3. Amerikas Stiefkind: Südöstliches Afghanistan ...... 85

6

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

3.3. Vorgehensweise der USA & ihre Auswirkungen ...... 87 3.3.1. Guantánamo Bay und Internierungslager Bagram ...... 88

3.3.2. Freund oder Feind? ...... 93

3.3.3. Kollision der Weltbilder ...... 97

3.3.4. Resonanz des Irak-Kriegs ...... 100

3.4. Zellen der Neo-Taliban – Netzwerk von Netzwerken ...... 101 3.4.1. Afghanistans Schattenstaat: Quetta Shura ...... 104

3.4.2. Struktur der Quetta Shura ...... 108

3.4.3. Haqqani Netzwerk ...... 111

3.4.4. Hizb-e Islami Gulbuddin...... 114

3.5. Die Rückkehr der Taliban ...... 117 3.5.1. Effekte der Sicherheitsreformen ...... 118

3.5.2. Afghanistans Aussichten ...... 121

4. Resümee ...... 124

5. Abkürzungen ...... 132

6. Literaturverzeichnis ...... 135

7. Abbildungsverzeichnis ...... 142

8. Anhang: Interview vom 7.9.2016 ...... 144

7

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

1. Einleitung

Afghanistan – ein zerrüttetes, immer wieder von Kriegen heimgesuchtes Land inmitten von Asien, dessen einmalig schönen, aber kargen Gebirgslandschaften und zerklüfteten, rauen Wüsten das Leben der Bevölkerung seit jeher prägte. Stets wurde versucht, dieses Land, das auch das „Herz Asiens“ genannt wird, zu benutzen, um entweder die Macht über Asien zu demonstrieren, es als Pufferzone oder als Korridor zwischen verschieden großen Kulturräumen zu verwenden.1

Abb. 1: Übersichtskarte (Quelle: Rashid: Sturz ins Chaos, S. 10, 11).

Ahmed Rashid schildert folgendermaßen:

„Es gibt nur wenige Länder auf der Welt, in denen sich Geschichte, Politik und Charakter der Bevölkerung so stark aus seiner Geographie heraus bestimmen. Afghanistans geostrategische Lage an der Kreuzung zwischen Iran, dem Arabischen

1 Ahmed Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch, C.H. Beck (2. Aufl.), München 2010, S. 24-26. 8

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Meer und Indien, zwischen Zentralasien und Südasien hat dem Territorium und den Bergpässen seit den frühesten Invasionen der Arier vor 6000 Jahren eine große Bedeutung gegeben.“2

Aus diesen Bedingungen heraus entwickelten sich die Paschtunen, die nach wie vor als außerordentlich zäh und kriegerisch gelten.3 Diese ethnische Gruppe brachte eigene Gesetze sowie eine starke, kulturell geprägte Identität hervor. Selbst Grenzziehungen quer durch das von ihnen bewohnte Land konnte dies nicht untergraben.4 Doch die paschtunischen Gesellschaften bilden keine Einheit, wie Hassan Abbas erklärt:

„Regional rivalries and consequent proxy wars only exacerbated the challenges. In the midst of it all, the distortion of Islamic believes provided space to extremists who employed religious fervor to sanctify their violent and brutal actions. This cycle has repeated itself periodically, to the detriment of Pashtun identity and ethos.”5

Die Taliban, eine radikal-islamistische Bewegung aus hauptsächlich paschtunischen Männern, entsprangen dem Sowjetkrieg und boten nach dem 11. September 2001 den Vereinten Staaten von Amerika eine zweifelshafte Angriffsfläche, um den sogenannten Global War on Terror heraufzubeschwören.6

Im Rahmen der vorliegenden Masterarbeit wird der umstrittene Afghanistan-Krieg, den die USA nach dem 11. September 2001 provoziert haben, insbesondere bis 2006/07 kritisch beleuchtet und mit dem Erstarken paschtunischer Widerstandsbewegungen in Zusammenhang gebracht.

Daraus ergibt sich folgende Hypothese, die in der Arbeit abgehandelt wird: Der von den USA im Jahre 2001 initiierte Global War on Terror mit der Intervention Operation Enduring Freedom ignorierte den gesellschaftlichen Aufbau sowie die historische Entwicklung Afghanistans. Besondere Auswirkungen zeigten US-Interventionen von

2 Rashid: Taliban, S. 24. 3 Ebd. 4 James B. Minahan: Ethnic Groups of North, East, and Central Asia: An Encyclopedia, ABC-CLIO, Santa Barbara 2014, S. 222. 5 Hassan Abbas: The Taliban Revival. Violence and Extremism on the Pakistan-Afghanistan Frontier, Yale University Press, Wales 2014, S. 21. 6 Ebd. 9

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

2002 bis 2007 im Süden und Osten Afghanistans, da durch die amerikanische Ignoranz missbilligende Reaktionen paschtunischer Netzwerke hervorgerufen wurden, die das Wiedererstarken der Taliban begünstigten und vorantrieben.

Um die Situation in Afghanistan zu verstehen, müssen auch historische Aspekte und der Gesellschaftsaufbau der Ethnie der Paschtunen, aus denen die Taliban ursprünglich stammten und auch heute noch größtenteils entspringen, berücksichtigt werden. Daher ergeben sich für das Forschungsinteresse folgende Fragen: a) Interne Vernetzungen der Paschtunen:

 Wie ist das soziale Netzwerk der Paschtunen untereinander aufgebaut?  Welche Konföderationen, Quams, Klans bzw. Lineages dieser Ethnie sympathisieren mit den Taliban und welche Eigeninteressen verfolgen sie damit? Welche informellen Netzwerke der Paschtunen grenzen sich von den Taliban ab?  Welche strukturellen und politischen Bedingungen in Afghanistan ermöglichen es den Taliban, einflussreiche paschtunische Männer zu rekrutieren, die eine Schattenregierung in Afghanistan unterstützen? b) Externe Einflüsse auf paschtunische Netzwerke:

 Welchen Einfluss üben die amerikanischen Interventionen auf die paschtunischen Netzwerke aus?  Welche politischen (Fehl-)Entscheidungen wurden durch die US-geleitete Operation Enduring Freedom getroffen, die Abwehrreaktionen der Paschtunen hervorriefen?  Welche Vorgehensweisen der USA förderten das Wiedererstarken der Taliban durch paschtunische Netzwerke?

Um die Komplexität der paschtunischen Identität besser durchschauen zu können, wird im Kapitel 2. „Pashtunische Netzwerke – Allianzen der Taliban?“ zuerst auf den gesellschaftlichen Aufbau des sozialen Netzwerkes untereinander eingegangen.

Das erste Unterkapitel gibt einen Einblick in die Lebensweise sowie Vernetzung paschtunischer Gesellschaften und stellt ihre Kultur kurz dar. Elementare

10

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Konföderationen und Traditionen sowie die oftmals historisch begründeten Rivalitäten untereinander werden vorgestellt, das Paschtunwali, ihr außergewöhnliches Rechtssystem, Sozialkodex und Gesetz wird kurz erklärt und die wirtschaftliche Situation bestimmter Netzwerke wie auch die daraus resultierenden Abhängigkeiten dargelegt.

Die Besonderheit des paschtunischen Kerngebietes, die strategische Bedeutung des Paschtunengürtels sowie der künstlich gezogenen Grenzlinie zwischen Afghanistan und Pakistan und das sich daraus ergebende Rückzugsgebiet der Taliban in den Federally Administrated Tribal Areas (FATA) im angrenzenden Pakistan sind zentrale Aspekte des zweiten Kapitels. Die geostrategische Wichtigkeit dieser Region für die USA und auch anderer Länder zeichnet sich hier ab.

Ein weiteres Unterkapitel klärt die Identität/das Wesen der ursprünglichen Taliban sowie deren Aufstieg und begründet, welche ideologische Gruppierung und welche Netzwerke der Paschtunen hierbei von Bedeutung waren. Kurz angesprochen wird durch die historische Verflechtung ebenfalls die Abgrenzung zu al-Qaida.

Das Kapitel „Zeitenwende 9/11: Global War on Terror“ legt das Hauptaugenmerk auf die Auswirkungen der im Rahmen des Kriegs gegen den Terror durchgeführten US- geleiteten Interventionen auf die Netzwerke im Paschtunengürtel und bringt diese mit dem Wiedererstarken der Taliban in Verbindung. Der Einfluss dieser amerikanischen Operationen durch politische Fehlentscheidungen wird in diesem zentralen Kapitel offengelegt.

Somit beschäftigt sich die Masterarbeit vorwiegend mit der Operation Enduring Freedom und dem ISAF-Einsatz im Süden und Osten Afghanistans. Die Ahnungslosigkeit der Soldaten über die afghanische Kultur sowie die zentrale Bedeutung des Paschtunwali fließen kontinuierlich in die Untersuchung ein. Auch die zum Scheitern verurteilten Aktionen durch die Unfähigkeit der USA, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, und die daraus resultierenden Folgen für die paschtunischen Netzwerke stehen im Fokus. Der Nation-Building Prozess mit Integrierung der gefürchteten wie verhassten Warlords, allgemeine Korruption und auch fragwürdige Internierungslager stellen ebenfalls wichtige Faktoren zur Untermauerung der Hypothese dar. Es wird erläutert, wie die größte Neo-Taliban-

11

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Bewegung, die Quetta Shura, durch untragbare politische, wirtschaftliche wie auch strukturelle Gegebenheiten eine Schattenregierung in fast allen Provinzen Afghanistans installieren konnte.

Ebenfalls im Fokus liegt die Offenlegung interner Verflechtungen der Neo-Taliban mit einzelnen informellen Netzwerken der Paschtunen wie auch das Einflussgebiet dieser Verbindungen. Die Untersuchung von Interessen bedeutender paschtunischer Netzwerke/Clans, die die Quetta Shura direkt oder auch indirekt unterstützen oder mit ihr sympathisieren, soll interne Verstrickungen gezielt aufzeigen. Eine tragende Rolle spielen dabei das Haqqani Netzwerk sowie die Hizb-e Islami Gulbuddin.

Mit dem Negieren der Wiedererstarkung der Taliban treiben die USA viele Paschtunen an den Rand ihrer wirtschaftlichen Existenz und somit in die Hände der Taliban. Eine Analyse der daraus folgenden Situation sowie die Ausführung, welche Macht der Polizei sowie afghanischen Soldaten zufällt und das missglückte Entwaffnungsprogramm stellen wichtige Kriterien zur Beantwortung der Forschungsfragen dar.

Der unter US-Präsident Barak Obama geführte Drohnenkrieg in den FATA (Pakistan) hat fatale Folgen, der die Paschtunen ebenso in die Hände der Jihadisten treibt. Die Konsequenzen dieser Vorgehensweise und die sich daraus ergebende Situation für die informellen Netzwerke werden in der vorliegenden Arbeit nur kurz gestreift.

Ein abschließendes Resümee beantwortet die Forschungsfragen nochmals genau und untermauert die aufgestellte Hypothese.

Generell ist anzumerken, dass eine geschlechtergerechte Sprache in dieser Arbeit durch die in dieser Gesellschaftsform untergeordnete Rolle der Frau nicht vorgenommen wurde. Die politische Situation und Auswirkungen verschiedener Faktoren betreffen zwar beide Geschlechter, doch nur die Männer bestimmen in paschtunischen Netzwerken die Handlungsweise. Daher wird in diesem patriarchalischem System in der Arbeit immer die männliche Form verwendet.

Auf die Situation der paschtunischen Frauen kann in Bezug auf das Forschungsinteresse nicht eingegangen werden, da dieses interessante Thema sehr weitreichend ist und den Rahmen der Masterarbeit übersteigen würde. Ebenso 12

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

stehen die Verhältnisse in Pakistan und der Drohnenkrieg, die pakistanischen Taliban, die Rolle der Warlords, der Drogenhandel wie auch militärische Vorgangsbeschreibungen von diversen Operationen ausdrücklich nicht im Zentrum des forschungsgeleiteten Interesses.

Forschungsliteratur von zahlreichen einschlägigen, spezifischen Büchern, Sammelbänden, Berichten von Organisationen, wissenschaftlichen Fachzeitschriften wie auch Internetquellen dienten zur Beantwortung der Forschungsfragen. Zusätzlich stützt sich diese Arbeit auf ein Oral History-Interview mit einem von 2002 bis stationierten Verbindungs- und Aufklärungsoffizier, der anonym bleiben möchte.

Im einleitenden Abschnitt über paschtunische Netzwerke wurden vorwiegend entsprechende Bücher von Robert Haag, einem deutschen Soziologen und Anthropologen, von Carsten Michels, einem wissenschaftlichen Mitarbeiter des Deutschen Bundestags wie auch von Hassan Abbas, einem in Amerika lebenden pakistanischen Polit-Wissenschaftler sowie ehemaligen Sicherheitsbeauftragten Pakistans, verwendet. Wissenschaftliche Artikel von Thomas Johnson, Mitglied der National Security Affairs Department Fakultät und Chris Mason, akademisches Mitglied im Center for Advanced Defense Studies und ehemaliger US-Offizier an der afghanisch-pakistanischen Grenze, wurden ebenfalls herangezogen.

Für den Hauptteil, „Zeitenwende 9/11: Global War on Terror“, wird auf Fachliteratur von folgend angeführten Autoren und einer angeführter Autorin in besonderem Ausmaß Bezug genommen:

 Auf den renommierten Afghanistan-Experten Ahmed Rashid, einem in Pakistan lebenden Journalisten und Buchautor,  auf die Koautoren Alex Strick van Linschoten, ein für viele wissenschaftliche Fachzeitschriften arbeitender Korrespondent, und dem selbständigen Journalisten Felix Kuehn,  auf Sean M. Maloney, einem Historiker am Royal Military College und wissenschaftlichem Mitglied des Queen´s Centre for International Relations,  auf die Autorin Charlotta Gall, die als führende Reporterin des New York Times-Teams 2009 eine US-amerikanische Journalisten- und

13

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Medienauszeichnung, den Purlitzer Preis, für ihre Berichte in Afghanistan und Pakistan erhielt,  auf Anand Gopal, einem bedeutenden Afghanistan- und Nahost-Journalisten,  sowie auf die Koautoren Theo Farrell, dem Leiter des Department of War Studies von 2013 bis 2016, Vorsitzender der Arts & Humanities at City University in London, und Antonio Giustozzi, einem unabhängigen Wissenschaftler und Professor am King’s College London.

Verschiedene wissenschaftliche Artikel von diversen Fachzeitschriften wie das durchgeführte Interview runden die behandelten Aspekte ab.

14

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

2. Paschtunische Netzwerke – Allianzen der Taliban?

Mit einer Anzahl von geschätzten vierzig bis fünfzig Millionen Menschen gelten die Paschtunen als eine der größten Ethnien in ganz Asien. Davon leben dreißig Millionen allein in Afghanistan und Pakistan im sogenannten Paschtunengürtel. In Afghanistan weisen sie mit zwölf bis 15 Millionen einen Bevölkerungsanteil von 42 Prozent auf und bilden somit die größte ethnische Gruppe in diesem multikulturellen Land, während die paschtunischen Gesellschaften mit 25 bis 28 Millionen in ganz Pakistan jedoch nur 12 bis 15 Prozent der Gesamtbevölkerung einnehmen.7 Im Kapitel 2.1. „Die paschtunische Identität“ wird die Ethnie näher vorgestellt, da ihre Kultur und Besonderheiten für die vorliegende Arbeit äußerst interessant sind.

Das Siedlungsareal der Paschtunen umfasst die Gebiete der beiden Länder Afghanistan und Pakistan zwischen dem westlichen Indus, dem wichtigsten Strom Pakistans, dem Hindukusch, einem Gebirge, das überwiegend in Afghanistan liegt, sich aber östlich bis Pakistan erstreckt, dem afghanischen Grenzfluss Amudarja im Norden und dem südwestlich angrenzenden, gebirgigen Iranischen Hochland. Somit stellt es einen Schnittpunkt zwischen verschiedenen großen Kulturen dar. In der vorliegenden Masterarbeit muss daher auch partiell auf Pakistans geschichtliche sowie politische Entwicklung Bezug genommen werden.8

Seit über dreihundert Jahren haben fast ausschließlich Paschtunen die Politik „ihres“ Landes – von der afghanischen Regierung auch als Paschtunistan bezeichnet (siehe Kapitel 2.2.3. „Die Rolle Pakistans“) – geleitet, welches von den Briten infolge der Kolonialpolitik mit der Festlegung der Durand-Linie im Jahr 1893 zweigeteilt wurde (siehe Kapitel 2.2.1. „Die Durand-Linie“). Alleiniger Zweck dieser Grenzlinie zwischen Afghanistan und Pakistan sollte sein, die verschiedenen paschtunischen Klans unter britische Kontrolle zu bringen, was jedoch misslang. Durch diese geographische Teilung der Ethnie zählen sich in den Grenzgebieten Pakistans

7 Abbas: The Taliban Revival, S. 14 u. Robert Haag: Die Pashtunen und ihre Bedeutung für regionale Konflikte, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2012, S. 53 u. Carsten Michesl: Die Taliban in den Stammesgebieten Pakistans. Eine sicherheitspolitische Analyse der Jahre 2001 - 2011, Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 2013, S. 60 u. Minahan: Ethic groups, S. 219, 223. 8 Haag: Pashtunen, S. 51 u. Isaak Kfir: The Role of the Pashtuns in Understanding the Afghan Crisis, Perspectives On Terrorism 3 (4), 2009, S. 37-51, hier S. 39. 15

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

nahezu alle Einwohner zu den Paschtunen. Dies trifft vor allem in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KPK), die vor 2010 als North-West Frontier Province (NWFP) bezeichnet wurde und in der ca. zwanzig Millionen leben,9 in den Federally Administered Tribal Areas (FATA) mit ca. sechs Millionen sowie im nördlichen Belutschistan zu.10

Abb. 2: Durand-Linie (Quelle: Rashid: Sturz ins Chaos, S. 14).

9 Michels: Die Taliban, S. 470. 10 Haag: Pashtunen, S. 53 u. Michels: Die Taliban, S. 60 u. Minahan: Ethic groups, S. 219, 223. 16

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Das durch die künstlich gezogene Durand-Linie geteilte, bergige paschtunische Kerngebiet (KG), das vom Khyber-Pass bis zum Gomal-Fluss reicht und nahezu ausschließlich Paschtunen beherbergt, umfasst Südost-Afghanistan wie auch Nordwest-Pakistan und ist nur schwer zugänglich.11

In dieser Arbeit wird hauptsächlich auf die im Südosten Afghanistans lebenden paschtunischen Gesellschaften eingegangen, da dieses partiell unzugängliche, gebirgige Siedlungsgebiet rund um die Durand-Linie eine durch die Geschichte geprägte Sonderstellung einnimmt, weitgehend als autonom und diese Region als Hochburg der Taliban gilt.12

In den Augen vieler Europäer sind die Taliban Kleider tragende, bärtige, fundamental islamistische Männer, die durch erschreckende Gewaltakte eine neue Sozialordnung einführen wollen. Obwohl diese Vorstellungen bis zu einem gewissen Grad stimmen, darf man die geschichtliche Dimension Afghanistans bzw. des Paschtunengürtels, die Bedeutung der afghanisch-pakistanischen Grenze sowie die engen Verbindungen zu der Ethnie der Paschtunen nicht außer Acht lassen, um die Taliban zu charakterisieren.13 Thomas Johnson und Chris Mason berichten von einem tribalen Phänomen, das eine Schlüsselfunktion einnimmt: „To truly understand the Taliban, we must thus go behind the mask of Islamism (the Taliban´s opponents in the Northern Alliance were also conservative Muslims) and examine the movement as a tribal phenomenon.”14 Diesem wird in der vorliegenden Arbeit genauer nachgegangen und in Hinblick auf die internen Verflechtungen der Taliban mit einzelnen informellen Netzwerken der Paschtunen analysiert.

2.1. Die paschtunische Identität

In der Wissenschaft geht man davon aus, dass das Volk der Paschtunen durch die Vermischung von Indogermanen mit verschiedenen nachfolgenden Invasoren seit

11 Haag: Pashtunen, S. 56-58 u. Thomas H. Johnson u. M. Chris Mason: No Sign until the Burst of Fire: Understanding the Pakistan-Afghanistan Frontier, International Security, 32 (4), Frühling 2008, S. 41-77, hier S. 44 u. Michels: Die Taliban, S. 55. 12 Haag: Pashtunen, S. 56 u. Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 76, 77. 13 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 73. 14 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 77. 17

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

dem siebten Jahrhundert nach Christi entstanden ist; iranische oder auch türkische Einflüsse sind bei verschiedenen Familiengruppen deutlich erkennbar.15

Alle Paschtunen berufen sich jedoch auf einen einzigen gemeinsamen Vorfahren, der Identitätsstifter der gesamten Ethnie ist. Uneinigkeit besteht über den Namen dieses Gründungsvaters; meist wird in der verwendeten Literatur der vorliegenden Arbeit der Name Qais Abdur Rashid – der Weggefährte des Propheten Mohammed – genannt.16 Die Abkömmlinge dieses Urahns sowie dessen Nachfahren verkörpern die verschiedenen, aber gleichberechtigten Konföderationen, in weiterer Folge derern Klans oder kleineren Familiengruppen.17 Somit sind diesem Prinzip nach alle Paschtunen in irgendeiner Form verwandt, daher einander auch ebenbürtig.18 Speziell für die in den Bergen des Hindukusch beheimateten paschtunischen Netzwerke ist diese Blutsverwandtschaft von größter Bedeutung, während die in den Tälern und Ebenen ansässigen Paschtunen eher die geographische Lage als identitätsstiftend erleben.19 Eine gemeinsame Sprache, die unzählige Dialekte aufweist, verbindet dieses Volk ebenso: Paschto (auch Pukhto genannt). Öfters wird von afghanischen Paschtunen auch ein persischer Dialekt (Dari) gesprochen.20

Der segmentäre Aufbau bildet bis heute die Grundlage der Ordnung paschtunischer Gesellschaften.21 Durch das Egalitätsprinzip der Verbände gibt es keine Person bzw. keine zentrale Instanz, die über allen Paschtunen steht. Folgedessen gibt es auch keinen allgemein gültigen Justiz- und Vollzugsapparat, so wie wir EuropäerInnen ihn in einem Rechtsstaat kennen. Vielmehr berufen sie sich auf das nicht niedergeschriebene Paschtunwali, ihren Sozialkodex, nach dem sie handeln und Recht sprechen, Vergeltung und Selbsthilfe üben.22 Solche sowie alltägliche, das Dorfleben betreffende Entscheidungen werden innerhalb paschtunischer Netzwerke in einer jirga (Rat, Versammlung) von allen erwachsenen männlichen Mitgliedern

15 Michels: Die Taliban, S. 63 u. Minahan: Ethnic Groups, S. 220. 16 Haag: Pashtunen, S. 84. 17 Haag: Pashtunen, S. 30f u. Michels: Die Taliban, S. 62f. 18 Haag: Pashtunen, S. 69. 19 Michels: Die Taliban, S. 63. 20 Abbas: The Taliban Revival, S. 15. 21 Michels: Die Taliban, S. 62f u. Haag: Pashtunen, S. 30f. 22 Haag: Pashtunen, S. 31, 72f. 18

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

getroffen und dienen zur gegenseitigen Unterstützung und Aufrechterhaltung der Ordnung.23

Es gibt auch politische Führer sowie Repräsentanten einer paschtunischen Gemeinschaft, die als khan oder malik bezeichnet werden und Verpflichtungen der Gesellschaft gegenüber haben. Ein khan beispielsweise muss über materiellen Besitz verfügen, um sein Gefolge im Notfall finanziell unterstützen zu können, während ein malik durch seine Stellung als Älterer in der Gemeinschaft politischen Einfluss ausübt. Selbst diese politischen Autoritäten können alleine keine Entscheidungen treffen; sie brauchen die Zustimmung der jirga. Oftmals bauen sie daher ein System wirtschaftlicher Abhängigkeiten auf (Patronage), um die Loyalität der Männer zu gewinnen und sicherzustellen.24

Ein mullah hingegen ist ein religiöser islamischer Führer, der als politisch neutral gilt und daher machtpolitisch gesehen keinen besonderen Status einnimmt. Als Lehrer ist er für die religiöse Ausbildung seiner Schüler zuständig, teilweise fungiert er ebenso als Berater eines maliks oder khans. Auch er ist Teil der jirga, denn er kann Empfehlungen (insbesondere die Scharia betreffend) abgeben, Urteile sprechen und Sanktionen setzen. Damit er diese auch durchsetzen kann, steht es ihm offen, eine Art Miliz (lashkar) zusammenzustellen. Weiters kommt ihm eine Vermittlerrolle zwischen verfeindeten Klans oder Familienverbänden zu, wobei er Partei ergreifen kann.25 Diese Rolle des mullahs entwickelte sich aber infolge der sowjetischen Besetzung Afghanistans (1979-1989) weiter und führte zu Machtverschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen paschtunischen Ordnung. Durch das politische Aufstreben der mullahs und die damit einhergehende Schwächung tribaler Strukturen waren die Voraussetzungen zur Entstehung der Taliban geschaffen.26 Im Kapitel 2.3. „Ursprung und Entwicklung der Taliban“ wird darauf näher eingegangen und die geschichtlichen Aspekte dieses Aufstiegs sowie dessen Auswirkungen auf die informellen Netzwerke der Paschtunen genauer erläutert.

23 Michels: Die Taliban, S. 75. 24 Michels: Die Taliban, S. 70f. 25 Michels: Die Taliban, S. 72-74. 26 Haag: Pashtunen, S. 264. 19

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Äußerst bedeutsam im Zusammenhang mit der „Paschtunischen Identität“ ist ihr hoher Unabhängigkeitsdrang, ihr Selbstbehauptungswille. Bedingt durch die geographische Lage als Durchquerungs-, Einmarsch- und Siedlungsgebiet treten hier seit Jahrhunderten immer wieder Spannungen und blutige Konflikte auf (vor allem im Bergland entlang der Durand-Linie). Diese schufen eine Art Guerilla-Wesen unter den Paschtunen, das jeden Kolonialisierungsversuch bislang unmöglich machte.27

Auch untereinander verfehdete Konföderationen/Klans/Familien bestimmen das alltägliche und auch politische Leben der traditionell orientierten Berg-Paschtunen.28 Diese teilweise fast undurchschaubaren Solidaritätsbeziehungen sowie (oftmals blutigen) Konflikte untereinander werden in weiterfolgenden Kapiteln in Bezug auf ihre Gesellschaftskultur sowie auf die Taliban kurz beschrieben.

2.1.1. Bedeutende Konföderationen

Die vier größten Konföderationen der Paschtunen sind die Durrani (vor dem 18. Jahrhundert als Abdali bezeichnet, beheimatet in Süd- und Südwestafghanistan sowie in angrenzenden Gebieten Pakistans), die Ghilzai (Südostafghanistan, größte Konföderation des Landes), die Ghurghusht (südwestlich und östlich im paschtunischen Kerngebiet, Grenzgebiete in Pakistan) sowie die Karlan (östliche Grenzgebiete beiderseits der Durand-Linie, KPK; fast ausschließlich in Pakistan).29 Konföderationen bestehen aus geschätzten sechzig größeren Quams (Stämme als politische Organisationsformen, zu denen sie sich zugehörig fühlen), die sich wiederum in über vierhundert Khels (Klans bzw. größere Lineages) aufteilen. Einige Khels sind jedoch so groß, dass sie sich in Sub-Khels spalten (wie beispielsweise der Suleiman Khel der Ghilzais). Eine weitere Unterkategorie stellen die Khols (Familiengruppen bzw. kleinere Lineages) dar.30 Isaak Kfir, Professor für internationale Angelegenheiten und Recht an der Syracuse Universität, beschreibt diese Gliederung, die wechselseitige Loyalität beinhaltet, in folgender hierarchischen Reihenfolge: „Applying the four-grouping layer to the Pashtun, the system means that

27 Haag: Pashtunen, S. 49, 56, 279. 28 Abbas: The Taliban Revival, S. 16. 29 Abbas: The Taliban Revival, S. 14 u. Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 76, 77. 30 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 51 u. Kfir, Isaak: Role of the Pashtuns, S. 39. 20

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

one owes allegiance, first to the family, then to the clan, followed by the tribe and finally to the confederation.”31 Diese Loyalität wiederum bedeutet, dass ein Quam- Führer, der die politische Positionierung seines Netzwerkes festlegt, auch die Positionierung all seiner Angehörigen festlegt.32

Aber es gibt auch eine gewisse Solidarität unter den Konföderationen, wie das Beispiel der Durrani und den Karlan zeigt: Diese beiden verbindet der Glaube, von Qais erstgeborenem Sohn Sarban und einem später aufgenommenen Findelkind abzustammen. Die Tatsache, dass die Durrani und somit alle Nachkommen Sarbans durch ihren politischen Einfluss als Elite-Konföderation betrachtet werden, führt wiederum zur Verbundenheit mit Afghanistan, obwohl die Karlan fast ausschließlich im heutigen Pakistan leben.33 Während hingegen die (Macht-)Konkurrenz bzw. Feindschaft der Durrani mit den Ghilzai schon eine jahrhundertelange Tradition aufweist: Seit der Übernahme der Herrschaft in Afghanistan (siehe Kapitel 2.2.) stellten die Durrani/Abdali mit lediglich vier Ausnahmen alle Machthaber: 34

1. Mir Wais im Jahre 1721 (Ghilzai aus dem Hotaki-Quam), 2. dem Marxist Nur Mohammed Taraki (Ghilzai, Quam unbekannt) gelang im Jahre 1978 durch einen Putsch gegen Mohammed Daud die Machtübernahme, 3. im Jahre 1996, als Mullah Omar (Ghilzai aus dem Hotaki-Quam) als Taliban- Führer Staatoberhaupt des Islamischen Emirats Afghanistans wurde sowie 4. der amtierende Präsident Aschraf Ghani Ahmadsai (Ghilzai aus dem Quam der Ahmadzai).35

Auch im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit ist es ein Durrani, der die Geschicke Afghanistans (mehr oder weniger) lenkt: Hamid Karzai, ein prominenter Politiker aus dem Quam der Popalzai (Gegend um Kandahar), am 5. Dezember 2001 als Präsident einer Übergangsregierung in Afghanistan bestimmt, 2004 vom Volk

31 Kfir, Isaak: Role of the Pashtuns, S. 39. 32 EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan. Rekrutierungsstrategien der Taliban (Autor nicht angeführt), European Asylum Support Office, Belgien 2012, S. 42. 33 Haag: Pashtunen, S. 69f. 34 James Dobbins u. Carter Malkasian: Time to Negotiate in Afghanistan. How to Talk to the Taliban, Foreign Affairs, Juli/August 2015, S. 53-64, hier S. 53 u. Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 78. 35 Dobbins/Malkasian: Time to Negotiate, S. 53 u. Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 78. 21

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

gewählt und bis 2014 im Amt verblieben.36 Hingegen stammen die Taliban- Elite sowie bedeutende mujaheddin (siehe Kapitel 2.3.1. „Die Sowjetische Intervention“) vorwiegend aus der Konföderation der Ghilzai.37

Nicht nur zwischen Konföderationen, auch zwischen Quams/Khels und auch Khols herrschen brutale Fehden, die den Alltag der Pashtunen im Bergland darstellen:38 „The Hill Tribes, or Karlanri, include many of the most warlike tribes, such as the Afridis, Daurs, Jadrans, Ketrans, Mahsuds, Mohmands, and Waziris.”39 Dabei erwähnenswerte Quams der Karlan sind die Ahmadzai Wazirs, die die Grenzregionen zwischen Afghanistan und Süd-Wasiristan kontrollieren (Pakistan, insbesondere die Stadt Wana). Der Zali Khel beherbergte Araber, während der Yar Gul Khel hauptsächlich als Gastgeber für Usbeken bekannt war. Dieser Quam ist mit den Mehsud verfeindet, die in den zentralen Regionen Süd-Wasiristans leben und entscheidende Straßenverbindungen kontrollieren, die Wasiristan mit anderen Gebieten Pakistans verbindet. Die Führungselite der Therik-i-Taliban (TTP), die im Jahr 2007 aufstrebte, setzt sich vorwiegend aus Paschtunen dieses Quams zusammen. 40

Hassan Abbas schildert, wie tief diese Rivalitäten und der gegenseitige Hass auch politische Handlungen beeinflussen, folgendermaßen:

„In the past, when one tribe decided to support the Pakistani Taliban [TTP, Mesud Quam, Anm. der Autorin] the other opted to cut a deal with Pakistani security forces to support their military campaigns. It was less an ideological preference and more a continuation of an old tribal rivalry.”41

36 Rashid, Ahmed: Descent into Chaos. The U.S. and the Disaster in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia, Penguin Books, London 2009, S. 3 u. Rashid: Taliban, S. 341, 350. 37 Abbas: The Taliban Revival, S. 24. 38 Abbas: The Taliban Revival, S. 16. 39 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 50. 40 Abbas: The Taliban Revival, S. 107f u. Mansur Khan Mahsud: The Taliban in South Waziristan, in: Peter Bergen u. Katherine Tiedemann (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013, S. 164-201, hier S. 193f. 41 Abbas: The Taliban Revival, S. 16. 22

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Um in den verschiedensten Konfliktfällen dennoch Lösungen zu finden, gibt es das Paschtunwali, der das Leben der Paschtunen gewissermaßen regelt und Verhaltensnormen vorgibt.42

2.1.2. Paschtunwali – Sozialkodex und Gesetz

Da die Paschtunen ursprünglich als Nomaden lebten, trugen sie sämtliche Besitztümer immer mit sich und waren somit ständig der Gefahr ausgesetzt, überfallen und beraubt zu werden. Auf Institutionen zur Streitschlichtung, wie etwa Polizei oder Justiz, konnten sie sich als umherziehendes Volk nie verlassen. Aus diesem Kontext heraus bildete sich ein Werte- und Normenkodex, das Paschtunwali.43 Dieses wird nur mündlich in Form von Liedern, Metaphern, Parabeln, Sprichwörtern sowie Gedichten von Generation zu Generation weitergegeben und beinhaltet tribales Gewohnheitsrecht wie auch Traditionen. So kommt es auch zu Abweichungen, verschiedenen Ausprägungen und Interpretationen zwischen paschtunischen Netzwerken; einige zentrale Aspekte sind jedoch überall erkennbar,44 die hier in aller Kürze stichhaltig aufgelistet sind: melmastia (Gastfreundschaft), nanawatai (Asyl für jedermann, auch für Feinde), badal (nach Gerechtigkeit streben, Austausch, Rache ausüben), tureh (Verteidigung des Landes, des eigenen Besitzes, der Familie, der Frauen), sabat (Loyalität gegenüber der Familie, der Freunde und des Quams), imandari (Aufrichtigkeit in Gedanken, Wort und Tat), inteqamat (Glaube an Gott), ghayrat (Zivilcourage, Tapferkeit), namus (Schutz der Frau), nang (Ehre zeigen, Schwache schützen).45

Ein ghairatman ist ein vorbildlich nach den Werten und Normen des Paschtunwali lebender Ehrenmann, der durch seinen Lebensstil einen hohen Sozialstatus innerhalb einer Gesellschaft erlangt. Das Ansehen eines Mannes in dieser patriarchalisch geprägten Struktur ist von so hoher Bedeutung, dass es materiellen Besitz übersteigt.46 Somit kann laut Hassan Abbas ein Paschtune jedermann sein,

42 Abbas: The Taliban Revival, S. 17. 43 Michels: Die Taliban, S. 77. 44 Abbas: The Taliban Revival, S. 17 u. Haag: Pashtunen, S. 74 u. Michels: Die Taliban, S. 78. 45 Minahan: Ethnic Groups, S. 222. 46 Haag: Pashtunen, S. 76. 23

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

der nach tribalen Idealen lebt: „Pashtun is not an ethnic identity; it is a state of mind; and anyone can transform into a Pashtun under certain circumstances!”47

Auch im 21. Jahrhundert hat das Paschtunwali noch seine Gültigkeit: In den kaum zugänglichen Bergregionen greift die staatliche Gesetzgebung nur schwach, daher ist diese gesellschaftliche Regelungsinstanz im Kerngebiet der Paschtunen nach wie vor von Bedeutung, auch wenn das Wort Paschtunwali selbst nicht allen Gruppen geläufig ist.48 Johnson und Mason beschreiben diesen sozialen Kodex folgendermaßen:

„Pashtunwali is neither the absence of governance, nor summary judgment, nor a lynch mob at work. Rather, it is an alternative form of social organization with an advanced conflict resolution mechanism that does not involve courthouses, jails, lawyers, law schools, bailiffs, country clerks, prisons, prison guards, judges, or policemen.”49

Carsten Michels stellt in seiner Promotionsarbeit fest, dass dieser Sozialkodex paschtunische Gesellschaften von anderen Ethnien unterscheidet, ein beträchtlicher Anteil der Paschtunen sich dessen aber nicht bewusst ist.50 Diese Aussage lässt daher den Rückschluss zu, dass viele das Leben nach ihren Werten und Regeln auch von Nicht-Paschtunen voraussetzen und erwarten, das wie in den US-geleitete Maßnahmen, die im Kapitel 3 erörtert werden, zu konfliktreichen sozialen Missverständnissen führen kann. Einige der vorhin skizzierten zentralen sowie komplexen Elemente des Paschtunwali werden daher in relevanten Kapiteln genauer beschrieben und in Zusammenhang mit dem Scheitern verschiedener US-Aktionen gesetzt.

2.1.2. Wirtschaftliche Situation

Durch weitläufige Gebirge und Wüsten sowie extreme klimatische Bedingungen können landwirtschaftlich in etwa nur zehn bis zwölf Prozent des afghanischen Bodens genutzt werden, wobei die fruchtbarsten Regionen die Täler rund um Kabul

47 Abbas: The Taliban Revival, S. 11. 48 Michels: Die Taliban, S. 78f, 84. 49 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 61. 50 Michels: Die Taliban, S. 78f. 24

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

bilden.51 Daher scheint es nur verständlich, dass das Nomadentum mit Ziegen und Karakulschafen bis in die 1970er Jahre die traditionelle Wirtschaftsform der Paschtunen darstellte. Auch heute noch gibt es vereinzelte paschtunische Nomadengruppen, die sich zwischen Afghanistan und Pakistan (vorwiegend in Belutschistan) bewegen.52

Die ländlichen paschtunischen Gesellschaften leben vorrangig von Subsistenzwirtschaften - vom Ackerbau sowie von Garten- und Baumkulturen, die Viehwirtschaft hat an Relevanz aufgrund der Sesshaftwerdung verloren.53

Abb. 3: Landschaft zwischen Kabul und Bagram (Quelle: HBF/Hartl).

Schmale Täler und felsige, karge Berge prägen das Landschaftsbild des KG. Eine effiziente Bewässerung ist hier durch die steilen Berghänge und einen Mangel an Wasser kaum möglich, die oftmals illegale Rodung des Waldes und der Verkauf oder Schmuggel dieses Holzes an Nachbarländer verschlimmert die Situation noch mehr.

51 Haag: Pashtunen, S. 64 u. Rashid: Taliban, S. 25. 52 Ebd. 53 Haag: Pashtunen, S. 64. 25

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Dieses Gebiet ist landwirtschaftlich nur minimalst nutzbar, daher gilt das KG als eine der unproduktivsten Regionen.54

Seit dem staatlichen Verbot des Opiumanbaus in Pakistan im Jahre 1979, das zeitlich mit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan zusammenfiel, nahm der Anbau von Schlafmohn vor allem in den Provinzen Kandahar, Helmand, Nangarhar und Kunar drastisch zu. Da die Schlafmohnpflanze zur Kultivierung keine besonderen Bedingungen benötigt, wächst sie auch in Bergregionen und wurde somit zu einer bedeutenden Einnahmequelle für die oft verarmten Bauern. Auch das Kassieren von Wegzöllen sowie der Schmuggel55 verschiedenster Güter wie Luxusartikel, Waffen, Opium oder illegal geschlagenem Holz sichern den Lebensunterhalt vieler Paschtunen, die in Regionen beiderseits der Durand-Linie leben.56

In urbanen Gebieten findet man Paschtunen in verschiedensten Berufen (Arbeiter, Händler, Regierungsbeamte,…); auch die Arbeitsmigration in die Golfstaaten stellt eine Alternative dar sowie der Dienst im Militär.57

2.2. Der Paschtunengürtel: Geschichtspolitische Faktoren

Seit wann das Volk der Paschtunen in seinem heutigen Siedlungsgebiet, dem sogenannten Paschtunengürtel, anzutreffen ist, konnte bislang nicht genau festgestellt werden. Im 16. Jahrhundert waren sie allerdings schon in ihrem landschaftlich meist kargen Territorium lokalisiert. Zu dieser Zeit versuchten die Usbeken im Norden, von Indien kommend die Moguln sowie die Safawiden von Persien ausgehend im Westen ihre Macht auszudehnen; der Paschtunengürtel bildete die Grenzregion dieser drei Großmächte. Geschickte Verhandlungen, ausgeklügelte, je nach Interesse auch wechselnde Allianzen mit diesen und vor

54 Haag: Pashtunen, S. 56-58 u. Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 44 u. Michels: Die Taliban, S. 55. 55 Das Afghanistan Transit Trade Agreement (ATTA) berechtigte Kabul aufgrund der Binnenlage Afghanistans, Güter über Pakistan zollfrei zu importieren. Dieses in den 1950er Jahren beschlossene Abkommen bewirkte rege Schmuggelaktivitäten im Grenzraum. Vgl. Schetter, Conrad: Staat und Stamm – Das Grenzland der Paschtunen, in: Chiari, Bernhard u. Schetter, Conrad (Hg.): Wegweiser zur Geschichte. Pakistan, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010, S. 99-109, S. 107. 56 Haag: Pashtunen, S. 64. 57 Ebd. 26

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

allem ihre Kampfbereitschaft sicherte den paschtunischen Netzwerken ihre kulturelle Identität und auch ihre politische Autonomie,58 wie Robert Haag ausführt:

„In den Gebieten, wo dem Bestreiten des Lebensunterhaltes enge natürliche Grenzen gesetzt sind, sind kriegerische Fähigkeiten von besonderer Bedeutung, denn das Aufzwingen von Geleitschutz, das Einfordern von Wegzöllen oder Beutezüge in die fruchtbaren Gegenden südlich des Hindukusch und die Entgegennahme von Subsidien sind seit spätestens dieser Zeit zu traditionellen Möglichkeiten der Einkommenssicherung pashtunischer Gesellschaften geworden.“59

Besonders von diesen ständig miteinander konkurrierenden Großreichen betroffen waren die Konföderationen der Ghilzai und Abdali, die sich Anfang des 18. Jahrhunderts von ihnen lossagten und sich für unabhängig erklärten. Die Ghilzai dehnten 1720 ihre Herrschaft bis Süd-West-Persien aus, wurden aber von den Safawiden mit Unterstützung von Abdali-Pashtunen wieder zurückgedrängt. Innere Streitigkeiten schwächten jedoch Mitte des 18. Jahrhunderts die Safawiden, das Mogulreich verlor bereits am Anfang des 18. Jahrhunderts seine Macht. Ebenso die Ghilzai, die bislang von einem der Reiche je nach Belang unterstützt wurden, mussten einen Verlust an Einfluss hinnehmen. Dies machte sich Ahmad Khan, ein kampferprobter, reicher Abdali-Paschtune mit einer viertausend Mann starken Kavallerie, zunutze und ließ sich 1747 in einer loya jirga (große Ratsversammlung) von Repräsentanten verschiedenster paschtunischer Quams zum Emir ernennen. Den Zusatz durr-i-durran, was soviel bedeutet wie „Perle unter den Perlen“, verwendete der nun als Ahmad Shah bezeichnete Emir, um die Solidarität mit anderen Paschtunen hervorzuheben; besonders natürlich mit seiner eigenen Konföderation, die sich nun von diesem Zusatz abgeleitet als Durrani bezeichneten.60

Ahmed Shah gilt als Begründer Afghanistans; unter ihm entstand ein großes Reich, das von staatlicher Einheit jedoch weit entfernt war. Seine Macht stützte sich auf die Gepflogenheiten paschtunischer Gesellschaften und deren Loyalität, stellte ein eher

58 Haag: Pashtunen, S. 128-130. 59 Haag: Pashtunen, S. 129. 60 Haag: Pashtunen, S. 131-134. 27

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

lockeres Gebilde auch mit anderen Ethnien und deren Fürstentümer ohne stark herausgebildete Hierarchien dar.61

Hassan Abbas begründet die weitere Regentschaft der Paschtunen dieser Konföderation folgendermaßen: „Durrani Pashtuns, who practically ruled Afghanistan from 1747 to 1973 (through not a part of a single dynasty), are more open to alliances with other ethnic groups and to cultural diversity – as is evident from the fact that many Durrani Pashtuns speak Dari.”62

Bis 1819 umfasste das Emirat Afghanistan hauptsächlich die paschtunischen Siedlungsgebiete, also den Paschtunengürtel. Aus diesem geschichtlichen Kontext heraus ist es ersichtlich, dass die Paschtunen – vor allem die Durrani und Ghilzai – seit der Etablierung des Königreiches Afghanistan eine zentrale Rolle einnehmen und sich daher auch berechtigt fühlen, politische Ansprüche zu stellen.63

2.2.1. Die Durand-Linie

Wie schon beschrieben, haben verschiedenste Großmächte seit Jahrhunderten versucht, Afghanistan (oder Teile davon) in ihren Herrschaftsbereich einzugliedern und zu kontrollieren – jedoch immer ohne Erfolg. So auch Großbritannien im Great Game64, als es den zunehmenden Einfluss des rivalisierenden Kaiserreiches Russlands mit der Errichtung einer Pufferzone eindämmen wollte. Daher versuchte es, von Indien expandierend, das damals instabile Emirat Afghanistan, dessen Territorium noch nicht genau festgelegt worden war und eher einen losen Verbund der paschtunischen Konföderationen darstellte, zu besetzen. Doch diese Intervention führte im 19. Jahrhundert sowie Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts zu drei anglo- afghanischen Kriegen, in denen die Paschtunen verbissen um ihr Land kämpften. Sie endeten schließlich mit dem Rückzug Großbritanniens und der Unabhängigkeit Afghanistans im Jahre 1919.65 Robert Haag schreibt in seiner Promotionsarbeit, dass

61 Haag: Pashtunen, S. 134-138. 62 Abbas: The Taliban Revival, S. 24. 63 Haag: Pashtunen, S. 191. 64 Das Great Game bezeichnet den Konkurrenzkampf der Großmächte Russland und Großbritannien Ende des 19. bis Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts um die Vorherrschaft über Zentralasien. Vgl. Haag: Pashtunen, S. 147, 156. 65 Haag: Pashtunen, S. 134, 155-166 u. Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 41. 28

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

die Grenzen Afghanistans zuvor von den expandierenden Mächten aber noch genau festgelegt wurden:

„Zusätzlich genährt durch die Furcht vor zu großer Annäherung der jeweils anderen Großmacht führte diese Haltung dazu, dass die beiden Kolonialmächte an einer genauen Definition ihrer territorialen Grenzen interessiert waren und deshalb von außen die Gründung eines afghanischen Staates vorantrieben, was Ende des 19. Jahrhunderts dazu führte, dass russisch-englische Kommissionen die Grenzen Afghanistans festlegten.“66

Diese Grenzsetzungen teilte Afghanistan, so Ahmed Rashid, „…in the north with Russia, in the east with India, and in the west with Persia – thus dividing tribes and ethnic groups among several states but also defining Afghanistan as a nation-state for the first time.“67

Diese Definition der Grenzen führte auch zur Ethnotomie, einer künstlichen Demarkationslinie, geplant von dem Briten Sir Henry Mortimer Durand quer durch das Siedlungsgebiet der Paschtunen – die nach ihm benannte Durand-Linie. Damit wollten die Großmächte den Zusammenhalt paschtunischer Netzwerke entkräften, um Afghanistan regierbar zu machen.68 Emir Abdurrahman, der von 1880-1901 regierte und den Titel Eiserner Emir zugeschrieben bekam, musste 1893 durch seine schwache außenpolitische Position diese Grenzziehung zu Britisch-Indien schließlich anerkennen.69

Bis heute wird die Gültigkeit dieser Grenzlinie vom Afghanischen Staat jedoch nicht anerkannt. Während Hamid Karzais Präsidentschaft gab es immer wieder Streitigkeiten um die Gültigkeit der Durand-Linie, die er als Linie des Hasses, die zwei Brüder teile, bezeichnete und daher als nicht gültige Staatslinie deklarierte. Besonders die Durrani und Ghilzai fühlen sich aus dem bereits erläuterten historischen Kontext heraus berechtigt, politische Ansprüche über die gesamten Paschtunengebiete zu stellen. Ebenso werden die Einhaltung internationaler völkerrechtlicher Standards im Vertrag wie auch die Übertragung der

66 Haag: Pashtunen, S. 188. 67 Rashid: Descent into Chaos, S. 8. 68 Haag: Pashtunen, S. 188, 203. 69 Haag: Pashtunen, S. 166-171 u. Schetter: Grenzland, S. 99. 29

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Rechtskräftigkeit der Durand-Linie von Britisch-Indien auf Pakistan hauptsächlich von paschtunischen Nationalisten massiv angezweifelt. Seit dem Zerfall Britisch-Indiens, die die NWFP ohne Berücksichtigung einiger Anträge – insbesondere die einstimmig in einer Vollversammlung beschlossene Bannu-Resolution, welche die Umwandlung der NWFP in einen unabhängigen Staat Paschtunistan 1947 forderte – dennoch Pakistan zusprach, versuchte Afghanistan wiederholt, die getrennten paschtunischen Siedlungsgebiete zu vereinen, was zu mehreren ernsthaften Konflikten mit Pakistan führte. Doch Pakistan verweigert Verhandlungen zur Durand-Linie noch immer, da es diese Grenze als legale Demarkationslinie betrachtet. Somit bleibt der Grenzkonflikt weiterhin aufrecht.70

Abb.4: Provinzen Afghanistans und Pakistans (Quelle: Rashid: Sturz ins Chaos, S. 12, 13).

Nördlich verläuft die Durand-Linie quer durch die Hindukush-Region mit dem höchsten Berg Afghanistans (Noxshak, 7485 m), durch das Safed Koh Gebirge mit Zugang zum Khyber-Pass sowie durch die Grenzstadt Torkham. Auf afghanischer

70 Haag: Pashtunen, S. 191 u. Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 69f u. Schetter: Grenzland, S. 99-103. 30

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Seite grenzt der nördliche Teil der Durand-Linie an die Provinzen Badakshan, Nuristan, Kunar, Nangahar, Paktia, Khost und Paktika, auf pakistanischer Seite an die FATA und Gebiete der KPK. Der südliche Teil der Grenze berührt die afghanischen Provinzen Zabul, Kandahar, Helmand und Nimruz sowie das pakistanische Belutschistan.71

Die Ansiedlung fünf bedeutender Quams der Paschtunen beiderseits der Durand- Linie – Achakzai, Wazir, Turi, Shinwari und Mohmand – macht es möglich, die imaginäre Grenze jederzeit und ohne Probleme zu passieren.72 Zahlreiche Pässe entlang der Demarkationslinie sind bloß zu Fuß, einige als Handelsrouten bekannte Pässe sind aufgrund des schlechten Zustandes nur mithilfe von Packtieren passierbar. Diese werden von paschtunischen Nomaden sowie auch von Einheimischen und Schmugglern benützt, die auf den meist noch unerforschten und weder von der Regierung Afghanistans noch Pakistans beachteten Pfaden die durchlässige Grenze queren. Wenige Ausnahmen, wie der Khyber- und der Bolan- Pass, sind ganzjährig mit LKWs und Autos befahrbar und bilden das Tor ins Industal oder nach Südasien.73

In diesen Grenzregionen, die Heimat vieler ethnischer Gruppierungen ist, stellen Johnson und Mason folgendes fest:

„The largest group by far is made up of the Pashtun tribes that inhabit the center, but the region is also home to Baluchis, Ketranis, Nuristanis, Brahui, Munjis, Chitralis, Shinas, Gujaris, Hazaras, Kowars, Savis, Tajiks, Hindkos, Dameli, Kalamis, Urmurs, and Wahkis, as well as to the Gawar-Batis, Badeshi, Khirgiz, and Burushos, among others – each of whom speaks a distinct language, in some cases with dozens of mutually unintelligible subdialects. Of all these ethnic groups, however, only the Pashtuns have ever demonstrated an interest in the type of jihad being waged by the Taliban.”74

71 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 44-47. 72 Abbas: The Taliban Revival, S. 50. 73 Haag: Pashtunen, S. 56-58 u. Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 44 u. Michels: Die Taliban, S. 55. 74 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 47. 31

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Warum gerade die Ethnie der Paschtunen seit Jahrhunderten immer wieder Teil islamischer Extremistengruppen ist und auch als (Widerstands-)Kämpfer missbraucht wird sowie die zentrale Bedeutung der Durand-Linie, die den Erfolg der Taliban erst ermöglichte, soll in den nachfolgenden Kapiteln veranschaulicht werden.

2.2.2. Bedeutung pakistanischer Grenzregionen

Die Demarkationslinie verursachte zahlreiche blutige Konflikte zwischen der britisch- indischen Regierung und den betroffenen paschtunischen Quams. Das ansonsten eher wirkungsvolle Sandeman-System75 der britischen Kolonialmacht war auf paschtunische Gesellschaften nicht übertragbar, da für ein indirektes Beherrschen Militärpräsenz (in den zerklüfteten und unwirtlichen Gebirgen nicht möglich) sowie einflussreiche paschtunische Mittelsmänner vonnöten waren.76 Robert Haag beschreibt die Situation folgendermaßen:

„Zudem gibt es in den Gesellschaften des pashtunischen Kerngebietes, auch und insbesondere in Waziristan, nur selten Personen mit einer derartigen Autorität oder einem solchen Einfluss, die dann noch Willens und in der Lage sind, die Interessen einer (Zentral-)Regierung in deren Sinne durchzusetzen.“77

Diese Inkompatibilität der Kolonialmacht mit den vorherrschenden paschtunischen Gesellschaftsstrukturen führte dazu, dass die Gebiete der Paschtunen nicht bzw. kaum in den britischen Verwaltungsapparat eingegliedert werden konnten. Daher wurde 1901 mit der Gründung der Nordwestlichen Grenzprovinz (NWFP – jetzt: KPK) sowie später der Tribal Areas (FATA, seit 1951) versucht, die in diesen Regionen beheimateten paschtunischen Quams durch eine gewisse politische Sonderstellung zu institutionalisieren; jedoch mit eher mäßigem Erfolg.78

75 Das Sandeman-System (benannt nach Sir Robert Sandeman, dem Vertreter Britisch Indiens) wurde von den Briten ab Mitte der 1870er Jahren angewandt, um die indischen Besitztümer effektiver verteidigen zu können. Das Prinzip dieses Systems beruhte auf der Kommunikation mit den ansässigen Ethnien und der Bezahlung auserwählter Mittelsmänner (maliks) in Form von verschiedensten Subsidien. Zusätzlich erbaute militärische Zentren, die einheimische Soldaten rekrutierten, wurden jedoch von englischen Offizieren geführt. Damit sollte die rechtliche Ordnung erhalten bleiben, ohne sich in traditionelle Angelegenheiten ethnischer Netzwerke einmischen zu müssen (indirect rule). Vgl. Haag: Pashtunen, S. 200-202. 76 Haag: Pashtunen, S. 200-204. 77 Haag: Pashtunen, S. 203. 78 Abbas: The Taliban Revival, S. 35 u. Haag: Pashtunen, S. 208-215. 32

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Abb. 5: FATA und KPK (Quelle: Abbas: The Taliban Revival, S. IX).

Diese historisch begründeten administrativen, juristischen und politischen Sonderrechte der halbautonomen Provinzen, die in der Kolonialzeit entstanden, wurden 1932 konstitutionell festgeschrieben und vom 1947 neu gegründeten, eigenständigen islamischen Staat Pakistan übernommen:79 Befreiung von jeglicher

79 Abbas: The Taliban Revival, S. 35 u. Haag: Pashtunen, S. 208-215. 33

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Art der Steuern, kostenloser Zugang zu Elektrizität, keine Eingliederung in das Pakistanische Rechtssystem sind Beispiele dieser Sonderrechte.80 Das seit 1872 als Frontier Crimes Regulation (FCR) bezeichnete Gesetz - eine Art Mischung aus dem Paschtunwali und lokalen Gebräuchen – blieb in der NWFP bis heute unverändert erhalten. Die Umsetzung der FCR und die Verwaltung der FATA obliegt nach der Abspaltung Bangladeschs (1971) dem sogenannten Politischen Agenten. Seither untersteht diese Region direkt dem Pakistanischen Präsidenten. Der von den Briten als malik bezeichnete Kontaktmann zwischen Quams und der Regierung diente auch als Aufsichtsorgan; dieser und weitere wichtige paschtunische Informanten stehen nun dem Politischen Agenten zur Seite, der den Geldfluss von der Regierung zu den Netzwerken kontrolliert, um sich ein Patronage-System aufbauen zu können. Daher wird er auch (mehr oder weniger) von den Paschtunen akzeptiert.81 Außerdem besitzt er weitreichende Macht: „A political agent can basically order the confiscation of anyone´s property, can block movement into settled Pashtun areas, and can impose a heavy fine on a whole village or tribe if it is found guilty of harboring an offender.”82 Zur Aufrechterhaltung der Sicherheit hat jeder Politische Agent eine eigene khassadar (Lokalpolizei), die aus Paschtunen regionaler Clans besteht. Erst mit der Einführung des Allgemeinen Wahlrechts 1996 unter Benazir Bhutto wurde die Position des Politischen Agenten und dessen Handlanger etwas geschwächt, demokratische Mitbestimmung sowie viele andere zentrale Rechte bleiben den Bewohnern der FATA jedoch weiterhin vorenthalten, da keine politischen Parteien gegründet werden dürfen.83 Carsten Michels meint dazu:

„Darüber hinaus ebnete das Verbot politischer Parteien den Weg für Aktivitäten anderer politischer Akteure wie Mullahs oder dschihadistische Organisationen, die insbesondere im Zuge der Islamisierungspolitik unter dem ehemaligen pakistanischen Präsidenten Zia ul-Haq bis heute ein nahezu Monopol der Meinungsmache etablieren konnten. Eine gängige Methode zu Sicherung und Ausbau der Unterstützung der Bevölkerung war es, politische Geschehnisse in Verbindung mit religiösen Elementen zu bringen, was es diesen Akteuren

80 Abbas: The Taliban Revival, S. 40. 81 Abbas: The Taliban Revival, S. 42-45 u. Michels: Die Taliban, S. 126 u. Schetter: Grenzland, S. 104f. 82 Abbas: The Taliban Revival, S. 44. 83 Abbas: The Taliban Revival, S. 45 u. Michels: Die Taliban, S. 127-134. 34

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

erleichterte, die konservativgläubigen Paschtunen für ihre vermeintlichen Argumente zu überzeugen.“84

Die angesprochene verschärfte sunnitische Islamisierungspolitik des Pakistanischen Präsidenten General Mohammad Zia ul-Haq (1978-1988) sollte den Militärstaat Pakistan nach zahlreichen blutigen sozialen Konflikten und der vorwiegend paschtunischen Flüchtlingswelle nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan als Nation einigen. Hauptsächlich resultierte sie aber aus der schiitischen Revolution im Iran, die zum Sturz des Shahs von Persien im Jahre 1979 führte und die Schiiten Pakistans finanziell unterstützte, um diese zu stärken. Massive Spannungen zwischen dem zuvor eher einträchtigen Verhältnis pakistanischer Schiiten und Sunniten war die Folge, was sich in der Errichtung und im Ausbau zahlreicher Madrassas wahhabistischer85 Prägung entlang der Durand-Linie als strategische Maßnahme niederschlug.86 Die massenhaften Absolventen dieser Religionsschulen sollten dem schiitischen Einfluss entgegenwirken, aber auch als Kämpfer in Afghanistan gegen das Sowjetregime rekrutiert werden.87

2.2.3. Die Rolle Pakistans

Die Implementierung der Idee eines eigenen paschtunischen Nationalstaates Paschtunistan wurde von den 1950er bis 1970er Jahren von den afghanischen Regierungen, die die Durand-Linie nach wie vor nicht anerkannte, benutzt, um die Ethnie der Paschtunen (auch jene auf pakistanischer Seite) regierungsfreundlich zu stimmen, aber vor allem, um einen Trumpf gegen Pakistan in der Hand zu haben. Zahlreiche paschtunische madrassas mit eigener Uniform und Paschtunistan-Flagge wurden in den Grenzregionen aufgebaut; afghanische wie auch pakistanische

84 Michels: Die Taliban, S. 134. 85 Als ideologischer Ursprung des Wahhabismus gilt die radikale Auslegung des Islam im 18. Jahrhundert durch Ibn Abd al-Wahhab. Dieser übernahm seine fundamentalistischen Lehren von Ibn Taymiyya, der im 13. Jahrhundert den jihad sozusagen als Sechste Säule des Islam eingeführt hat; zusätzlich wies al-Wahhab der Scharia als Instrument der Rechtsprechung eine zentrale Rolle zu. Die Herrscher der Saud-Dynastie übernahmen diese modifizierte Interpretation des Islam aus politischen Gründen und konnten durch den jihad viele Gebiete unter ihre Herrschaft bringen. Der Wahhabismus ist in Saudi-Arabien bis heute die dominierende Variante des Islam, die auch Osama bin Laden prägte. Vgl. Sean M. Maloney: Enduring the Freedom. A Rogue Historian in Afghanistan, Potomac Books, Virginia 2005, S. 15f. 86 Haag: Pashtunen, S. 233-235 u. Michels: Die Taliban, S. 152-154. 87 Michels: Die Taliban, S. 154. 35

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Paschtunen besuchten diese Religionsschulen. Damit schürte Afghanistan die Ängste Pakistans, das eine Revolte paschtunischer Verbände fürchtete und seit dem Wegfall Bangladeschs (1971) sich ohnehin in einer instabilen wie auch schwierigen ökonomischen Lage befand.88 Pakistans Ängste, in einen Zwei-Fronten-Krieg gegen die von der Sowjetunion unterstützten Staaten Indien und Afghanistan verwickelt zu werden, waren durch den anhaltenden Kaschmir-Konflikt nicht unbegründet.89 Johnson und Mason beschreiben die Gegenmaßnahme Pakistans folgendermaßen:

„Beginning in the early 1970s, the Pakistani government embarked on the construction of thousands of conservative madrassas in Pashtun areas, funded by private Saudi sources that emphasized Islam over ethnic identity. Slowly but steadily, Pakistani governments began to invest the scarcely literate mullahs of the rural areas with more political weight, empowering them and their ulema shuras at the expense of the tribal elders, khans, and maliks.”90

Die herbeigeführte Veränderung dieser tribaler Strukturen – die Verschiebung der Macht zugunsten der mullahs – durch die Islamisierungspolitik des pakistanischen Präsidenten General Mohammad Zia ul-Haq wirkte sich schließlich bei der Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion aus und beschleunigte Pakistans Projekt: der Afghanische Jihad wurde ausgerufen. Hunderte regionale Widerstandsgruppen, die von sogenannten mujaheddin91 geführt wurden und unter dem Namen des Islam vereint waren, organisierten sich vorwiegend in den pakistanischen Paschtunengebieten und stellten sich der Sowjetunion entgegen. Ziel dieser pakistanischen Politik sollte sein, den Islam über den paschtunischen Nationalismus zu stellen, um diesen zu schwächen und eine pro-Pakistan-Regierung in Afghanistan aufbauen zu können,92 während Hassan Abbas ergänzt: „The idea of Jihad was employed as a strategy, and the land of the Pashtuns became a platform from which to wage a global battle between communism and capitalism.“93

88 Haag: Pashtunen, S. 247, 250 u. Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 68-70. 89 Maloney: Enduring the Freedom, S. 14. 90 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 70. 91 Widerstandführer gegen die Sowjetunion, islamische Glaubenskrieger im Jihad. 92 Michels: Die Taliban, S. 170. 93 Abbas: The Taliban Revival, S. 55. 36

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Sieben hauptsächlich paschtunisch geführte Gruppen, die Peshawar-Seven94, wurden vom Pakistanischen Geheimdienst, dem Inter-Services Intelligence (ISI), aus ungefähr achtzig Widerstandsgruppierungen zusammengeführt, im Geheimen unterstützt und sogar eigene Büros für sie geschaffen. Ihre Kampfausbildung erhielten die mujaheddin und Koranschüler wiederum in Trainingscamps entlang der Durand-Linie von ISI-Offizieren, die oftmals selbst von US-amerikanischen Offizieren ausgebildet wurden.95 Drei dieser sieben Widerstandsgruppen wurden von Ghilzai- Pashtunen geleitet, aber keine einzige von einem Durrani – diese wurden vom ISI absichtlich ausgeschlossen und an den Rand gedrängt.96 Pakistan erhielt dabei massive finanzielle Unterstützung von den USA, die sich im Kalten Krieg mit der Sowjetunion befanden, jedoch selbst nicht direkt gegen den Kommunismus in der Region vorgehen wollten.97 Carsten Michels meint dazu:

„Pakistan wiederum erkannte, dass es diese Lücke füllen konnte – und zwar auf eine Art und Weise, welche die USA nicht als offenkundigen Aggressor und Kriegspartei zeigte, was wahrscheinlich zu einer Verschärfung des Konfliktes mit Teheran geführt hätte. Pakistan erkannte darüber hinaus die Chance, unter den Golf-Staaten Unterstützung für seine Anliegen einzuwerben, die wiederum eine mögliche Expansion der Sowjetunion in den arabischen Raum vor Augen hatten und fürchteten.“98

Daher erhielt Pakistan Geld von den Saudis, die den Bau von zahlreichen Moscheen, madrassas und islamischen Universitäten finanzierten sowie auch für Politik und das Militär Mittel bereitstellten, um ihren Einfluss auszudehnen wie auch Gelder aus oben erwähnten Gründen von Scheichtümern der Golf-Staaten. Während die USA dem ISI durch die Central Intelligence Agency (CIA) einige hunderttausend Tonnen an

94 Vier der sieben Widerstandsparteien bestanden fast ausschließlich aus Paschtunen, waren fundamental-islamisch geprägt und unterhielten Verbindungen zu der Muslim-Bruderschaft, während drei dem gemäßigten Islam zugeschrieben wurden. Alle sieben waren religiös geprägt, da Zia keine afghanischen Patrioten, Demokraten oder westlich orientierten sowie linksgerichteten Parteien duldete. Die größte Zuwendung erhielt die extremistischste Partei Hizb-e Islami von Gulbuddin Hekmatyar. Vgl. Maloney: Enduring the Freedom, S. 21 u. Ahmed Rashid: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban, Weltkiosk (4. Aufl.), Düsseldorf 2010, S. 30f. 95 Michels: Die Taliban, S. 174. 96 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 70 u. Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 75 u. Michels: Die Taliban, S. 169. 97 Haag: Pashtunen, S. 234. 98 Michels: Die Taliban, S. 170. 37

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Waffen samt Munition sowie enorme Geldsummen für propagandistische Zwecke zukommen ließ, organisierten die Saudis vor allem in der NWFP ein Netzwerk an wahhabistisch geprägten Hilfsorganisationen, die die Grundversorgung afghanischer Flüchtlinge übernahmen und Spendengelder an die mujaheddin verteilten. Sie verbreiteten aber auch eine radikale Version des Islam in ihren madrassas und rekrutierten neue Kämpfer gegen die Sowjets – auch vom Ausland:99

„Thus, since the 1970s, in pursuit of domestic stability and its foreign policy interests in Afghanistan, Pakistan has deliberately deconstructed much of the 1,000-year-old tribal order in the Pashtun areas. In retrospect, this social engeneering to empower radical Muslim extremists, aided and abetted for a decade by the CIA to bleed the Soviet Union in Afghanistan in retribution for its involvement in Vietnam, was incredibly short-sighted. While the decline of traditional governance in the short run helped recruit many mujahideen, it also led to the radicalization of the tribal areas and the opening of the FATA to jihadist movements and radicals such as bin Laden.”100

Der von Pakistan geführte Stellvertreterkrieg gekoppelt mit den Interessen Saudi Arabiens führte schließlich durch die veränderten tribalen Strukturen der Paschtunen nach dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg in Afghanistan und nicht nur zur Entstehung von al-Qaida, sondern auch zum Aufkommen der Taliban.

2.3. Ursprung und Entwicklung der Taliban

Die Bewegung der Taliban stellt eine ultrakonservative islamische Front dar, die zur Radikalisierung ihrer Mitglieder die extremistische Ideologie aus den pakistanischen Deobandi-madrassas101 benutzt, die oftmals von der fundamentalistischen Partei Jamiat-e-Ulema Islam (JUI) geleitet wurden.102 Robert Haag stellt folgendes fest:

99 Haag: Pashtunen, S.248-252 u. Michels: Die Taliban, S. 171-173, 175. 100 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 71. 101 Deobandismus ist eine wahhabistische Variante des Islam, die durch den Saudi-Arabischen Außenposten nach Britisch-Indien gebracht wurde. Die afghanische Regierung baute in den 1930er und 1940er Jahren verstärkt madrassas, die von der Deoband-Schule gesponsert und ideologisch beeinflusst wurden. Vgl. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 21 u. Maloney: Enduring the Freedom, S. 16. 102 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 73-75 u. Rashid: Taliban, S. 50. 38

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

„Ohne die in der zweiten Hälfte der 1970er und in den 1980ern erfolgten Islamisierung der pakistanischen Gesellschaft und von Teilen des afghanischen Widerstandes wäre die Machtübernahme einer sich vor allem religiös legitimierten Bewegung wie die der Taliban wohl nicht möglich gewesen.“103

Die madrassas dienten und dienen auch heute noch als wichtige Alternative zu zahlungspflichtigen herkömmlichen Schulen, vor allem für die zahlreichen afghanischen Flüchtlinge aus dem Sowjetkrieg, den Aufstand gegen die sowjetische Kontrolle von 1979 bis 1989, sowie für die arme Landbevölkerung nahe der Durand- Linie.104 Doch um das Entstehen der Taliban und die Etablierung ihres Einflusses auf paschtunische Gesellschaften zu erklären, muss noch genauer auf die Geschichte Afghanistans eingegangen werden.

2.3.1. Die Sowjetische Intervention (1979-1989)

Bereits seit Anfang des Kalten Krieges (Mitte der 1940er Jahre) wurde Afghanistan abermals zum Spielball der Großmächte. Die USA wie auch die Sowjetunion versuchten, durch wirtschaftliche Subventionen und Unterstützung politischer Strömungen, Einfluss auf die afghanische Staatsführung auszuüben.105 Sean M. Maloney stellt folgendes fest:

„Soviet aid policies, however, destabilized the gentrified and retiring moderate government in Kabul. Afghan military officers who had accepted the Soviet Union´s generous offer for training were coming back to Kabul and plotting Marxist revolution. The Soviet KGB [Komitee für Staatssicherheit, Anm. der Autorin] also infiltrated political parties in Afghanistan starting in 1951; these parties initiated serious agitation by 1965. In time, Soviet-trained officers seized control in 1973.”106

Die Machtübernahme des sowjetnahen Muhammed Dauds im Juli 1973, der die Monarchie abschaffte und in der Republik Afghanistan bis 1978 als erster und einziger Präsident regierte, löste unter den kommunistischen Parteien Spannungen aus. Diese führten 1978 schließlich zur Saur-Revolution, wobei Daud und seine

103 Haag: Pashtunen, S. 266. 104 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 73-75. 105 Maloney: Enduring the Freedom, S. 14. 106 Ebd. 39

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Familie ermordet wurden. Der Kommunist, Journalist wie auch Gründungsmitglied der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) Nur-Mohammed Taraki übernahm seine Position, scheiterte aber an der Umsetzung seiner Reformen vorwiegend in ländlichen Gebieten. Hervorzuheben ist, dass sich die paschtunischen Netzwerke anfangs kaum am Widerstand beteiligten. Reformen, die die Gesellschaftsstruktur der Paschtunen infrage stellten, führten aber zu gewalttätigen Aufständen, die jedoch nicht breit organisiert und zunächst regional sowie auf ihre tribalen Verbindungslinien begrenzt waren. Doch die Revolten wurden immer heftiger. Schließlich schlossen sich aus Protest gegen die kommunistische Taraki- Regierung weitere hunderte kleinere Oppositionstruppen aus Afghanistan den verschiedenen Widerstandsgruppierungen107 an, die sich seit den 1970er Jahren in den FATA organisieren konnten. Daraufhin bat Taraki die UdSSR um Hilfe und auch um chemische Waffen, damit der Aufstand niedergeschlagen werden könnte. Sowjetische Spezialeinheiten ermordeten zehntausende Menschen, die Ethnie der Hazara löschten sie fast gänzlich aus; zahlreiche Afghanen – hauptsächlich Paschtunen – flüchteten über die Grenze nach Pakistan, wo sie sich vorwiegend in Peshawar radikal-islamischen mujaheddin anschlossen. Als Taraki von Hafizullah Amin, einem stärker nationalistisch als kommunistisch ausgerichteten afghanischen Parteigenossen, zum Rücktritt gezwungen wurde, marschierte die Sowjetunion im Dezember 1979 in das instabile Afghanistan ein.108

Die paschtunischen Eliten setzten sich in die Städte Pakistans, nach Europa oder in die USA ab und hinterließen ein politisches Machtvakuum in ihren tribalen Netzwerken. Die meist in der NWFP in Deobandi-madrassas ausgebildeten, radikalen ulema (religiöse Islamgelehrte) füllten diese Lücke.109 Die Durand-Linie hat ab diesem Zeitpunkt eine zentrale Bedeutung, da sie durch die administrative

107 Die Spitze einer von Mohammed Daud 1975 zerschlagenen radikal-islamische Organisation, die sich zu jenem Zeitpunkt gerade im Entstehen befand, konnte sich damals nach Peschawar absetzten. Von Pakistan erhielt diese breite Unterstützung in der Hoffnung, Einfluss auf die afghanische Politik nehmen zu können, was ab 1978 auch gelang: Die afghanischen exilierten Islamisten Guldbuddin Hekmatyar, Burhanuddin Rabbani sowie Ahmed Schah Massoud konnten zahlreiche Kämpfer um sich scharen; sie wurden zu den bekanntesten mujaheddin (Widerstandsführern) gegen die Sowjetunion. Vgl. Haag: Pashtunen, S. 255-257 u. Maloney: Enduring the Freedom, S. 15. 108 Haag: Pashtunen, S. 252-257 u. Maloney: Enduring the Freedom, S. 14, 18 u. Rashid: Taliban, S. 32f u. Schetter: Grenzland, S. 103. 109 Haag: Pashtunen, S. 256 u. Schetter: Grenzland, S. 106. 40

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Aufteilung des paschtunischen Siedlungsgebietes auf Pakistan und Afghanistan neue Spielräume für verschiedenste Gruppierungen eröffnet – sie bietet die Möglichkeit, sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen:110 Ungefähr drei Millionen Flüchtlinge sowie paschtunische Aufständische nahmen die pakistanischen Paschtunengebiete durch die ethnische Verbundenheit als Rückzugsort wahr; erst durch diese lokale Verschiebung nach Pakistan konnte sich der militärische Widerstand in den FATA und der NWFP erfolgreich etablierten. Nach einiger Zeit entstanden sieben bedeutende und entlang tribaler Linien organisierte Aufstandsgruppen, die den Afghanischen Jihad anführten – die sogenannten Peshawar Seven.111

Fundamentalistische mujaheddin der Peshawar-Seven wurden durch den ISI von den USA als Truppen gegen die Sowjetunion unterstützt, finanziert und ausgerüstet. Auch die Volksrepublik China sowie die arabischen Staaten beteiligten sich an der Unterstützung dieser und überschütteten sie regelrecht mit Waffen. Nun bildete Afghanistan ein Zentrum des Kalten Krieges.112 Die antisowjetischen Truppen wurden von den Afghanen als Befreier gesehen und gefeiert, die mit ihrer Guerilla- Taktik die Sowjetunion schließlich auch in die Knie zwingen konnten.113

Als der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow 1988 einen Friedensvertrag mit Afghanistan, Pakistan und den USA in Genf unterzeichnete, waren die kriegsführenden mujaheddin nicht anwesend, wurden jedoch beauftragt, eine Interimsregierung unter Beobachtung der CIA und des ISI vorzubereiten. Der afghanische Präsident und Ghilzai-Paschtune Mohammed Najibullah hielt sich aber wider Erwarten der Großmächte auf seiner Position. Nach dem raschen und nicht durchdachten Abzug der sowjetischenTruppen im Jahr 1989 brach ein verheerender Bürgerkrieg aus, die Kämpfe um die Kontrolle und Regentschaft Afghanistans gingen weiter.114

110 Haag: Pashtunen, S. 284 u. Kfir: Role of the Pashtuns, S. 41 u. Schetter: Grenzland, S. 103. 111 Haag: Pashtunen, S. 234 u. Michels: Die Taliban, S. 168f. 112 Rashid: Taliban, S. 33f. 113 Michels: Die Taliban, S. 176f. 114 Haag: Pashtunen, S. 259-261 u. Michels: Die Taliban, S. 177-179. 41

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

2.3.2. Afghanischer Bürgerkrieg: Keimzelle der Taliban

Die einzelnen Widerstandsgruppen, die aus dem Kampf gegen die sowjetische Besatzung Macht gewonnen hatten, versuchten nun, ihren Einfluss drastisch auszubauen. Viele agierten unabhängig von der afghanischen Staatsführung und kontrollierten Gebiete mit staatsähnlichen Strukturen: Dem Tadschiken Ismail Khan, dem Führer einer berüchtigten Guerilla-Miliz gegen die Sowjetunion,115 gelang dies in der Provinz Herat. Ahmed Schah Massoud, ebenfalls ein Tadschike, errichtete beispielsweise eigene Steuersysteme, ein eigenes Gesundheits- und Schulwesen sowie eine eigene Legislative im Pandschir-Tal und konnte seinen Einflussbereich in den 1990er Jahren beinahe auf den gesamten Norden Afghanistans ausdehnen. Der Ghilzai-Paschtune Gulbuddin Hekmatyar wiederum, einer der bedeutendsten der Peshawar Seven, etablierte zahlreiche Gefängnisse und baute eine eigene Miliz auf.116 Nachdem sich der usbekische General Rashid Dostum von Najibullah entbunden hatte, sicherte er sich mit seiner Miliz die Befehlsgewalt über seinen Heimatdistrikt Masar-e Scharif. Gemeinsam mit Massoud bildete er die sogenannte Nordallianz. Führungsposition und Einfluss Najibullahs waren durch die konkurrierenden mujaheddin-Gruppierungen stark geschwächt. Mit finanzieller sowjetischer Hilfe, die nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 jedoch ausblieb, und mit politischer Raffinesse konnte er sich noch bis 1992 an der Macht halten.117 Doch eine Revolte gegen ihn aus seinen eigenen Reihen zwang ihn 1992 zum Rücktritt. Den rivalisierenden mujaheddin gelang es nicht, eine Ordnung herzustellen, obwohl im April 1992 der „Islamische Staat Afghanistan“ ausgerufen wurde – von Nicht-Paschtunen: Von Tadschiken unter dem Kommando von Burhanuddin Rabbani.118

Daraufhin mobilisierte Hekmatyar weitere paschtunische Kämpfer, und ein verheerender Bürgerkrieg brach aus. Pakistan hatte kein Interesse, die rivalisierenden paschtunischen Gruppierungen zu vereinen, da es befürchtete, diese könnten die Gründung Paschtunistans vorantreiben (siehe 2.2.3. Die Rolle

115 Rashid: Taliban, S. 66. 116 Abbas: The Taliban Revival, S. 56 u. Michels: Die Taliban, S. 177-179. 117 Haag: Pashtunen, S. 260. 118 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 32. 42

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Pakistans). Die traditionellen Strukturen wie die Hierarchien der Paschtunen wurden im Laufe der Sowjet-Intervention stark untergraben, viele Autoritäten wanderten aus und hinterließen ein Machtvakuum. Die Paschtunen bekämpften sich im Süden Afghanistans gegenseitig, da man sich über die Führung nicht einig werden konnte. Dies erschwerte zusätzlich den Aufbau und die Wiederherstellung eines funktionierenden politischen Systems und führte zu einer chaotischen Konstitution Afghanistans: Willkürliche Plünderungen, sexueller Missbrauch, Enteignungen, Korruption, Einhebung von Wegzöllen, der Zusammenbruch der Wirtschaft sowie zahlreiche bewaffnete Konflikte zwischen Warlords, Ethnien und verschiedenen Quams wie auch kleinerer Gruppierungen waren die Folge.119 Allianzen bildeten sich unter den Widerstandsgruppen genauso schnell, wie sie sich auch wieder lösten und dienten rein pragmatischen Zwecken, lokale Führer oder Warlords verstärkten zusehends ihre Macht auf dem Land. Diese Situation führte zum weiteren Ausbau des Schmuggelwesens im Süden und Südosten Afghanistans, da sich die Paschtunen Einkommensquellen schaffen mussten. Der Anbau und Verkauf von Opium wurde bereits von den Amerikanern während des Sowjetkriegs forciert, damit sich lokale Milizen durch diese finanziellen Ressourcen selbst versorgen konnten. Diese Tätigkeit wurde während des Bürgerkriegs intensiviert und führte dazu, dass regionale Gruppierungen zu regelrechten Banden mit Spezialisierung auf Entführungen sowie auf den Handel mit Drogen und Waffen mutierten. Vor allem die Zivilgesellschaft in südlichen Gebieten Afghanistans musste unter diesen Entwicklungen massiv leiden, was zu einer weiteren Flüchtlingsbewegung führte und die Rückkehr der im Sowjetkrieg geflohenen Afghanen weitgehend aufhielt.120 Diese Gegebenheiten sowie die Bedingungen im Paschtunengebiet Pakistans führten schließlich zur Entstehung und Entwicklung der Taliban.

2.4. Der Aufstieg der Taliban

Gebrochene tribale Strukturen und der Machtzuwachs der mullahs im Sowjetkrieg haben deren Funktion bedeutend verändert: „Die religiöse Legitimation des Kampfes und eine Einigung der Stämme unter dem Banner des Islam haben den Aufgaben religiöser Führer (auch denen des mullah) eine militärische Komponente

119 Michels: Die Taliban, S. 178f u. Rashid: Taliban, S. 42-44. 120 Haag: Pashtunen, S. 261f u. Rashid: Taliban, S. 42-44. 43

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

beigefügt.“121 Er übernahm zusätzlich politische sowie soziale Angelegenheiten: Durch die finanziellen Ressourcen von Pakistan, Saudi-Arabien und den USA konnte der mullah Koranschulen ausbauen, die Anzahl der Schüler (talib, Mehrzahl: taliban) erhöhen, es hob sich sein Sozialstatus wie auch sein Einfluss auf die paschtunische Gesellschaft.122

Konflikte, die traditionellerweise von den Paschtunen durch gewisse Mechanismen geregelt wurden, griffen ebenfalls nicht mehr: Durch die Überschüttung des Landes mit Waffen setzte der Mächtigere seine eigenen Interessen nun willkürlich durch,123 wie auch Hassan Abbas folgendermaßen beschreibt:

„Virtually every city and town came under the control of a local warlord, and this in turn impelled people to gravitate towards their particular ethnic and religious identities. Insecurity grew as sources of livelihood became scarcer; but modern weapons were in abundance, thanks to the regional and global supporters of Afghan Jihad, who had now turned their backs on this unfortunate country.”124

Die internationale Gemeinschaft, besonders die USA, verfolgten in den 1990er Jahren andere Interessen als den Aufbau eines funktionierenden Staates in Afghanistan, die im folgenden Kapitel erläutert werden. Die finanzielle Hilfe ausländischer Geldgeber versickerte und die ehemaligen Unterstützer überließen Afghanistan den rivalisierenden mujaheddin und Warlords.125

Viele Legenden und Mythen ragen sich um das Entstehen der Taliban, die angeblich kurz entschlossen der afghanischen Bevölkerung gegen die willkürlichen Grausamkeiten der Warlords und mujaheddin halfen.126 Sicher ist jedoch, dass sie sich aus dem wirtschaftlich vernachlässigten afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet entwickelten und erst nach und nach mit der Unterstützung Pakistans127 zu einer

121 Haag: Pashtunen, S. 264. 122 Haag: Pashtunen, S. 264-266. 123 Haag: Pashtunen, S. 267. 124 Abbas: The Taliban Revival, S. 61. 125 Haag: Pashtunen, S. 268. 126 Michels: Die Taliban, S. 180. 127 Anfangs wurde die Bewegung der Taliban vom ISI nicht ernst genommen. Vielmehr unterstützte er zunächst noch Hekmatyar und seine Milizen. Doch das pakistanische Innenministerium zeigte durch die Erfolge Interesse an der islamistisch geprägten Organisation um Mullah Omar und unterstütze sie 44

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

richtigen Organisation wurden, um in Afghanistan den gewünschten Einfluss zu gewinnen – Anfang der 1990er waren die USA und Pakistan an der Errichtung einer Gas-Pipeline von Zentralasien durch Afghanistan und Pakistan zum Arabischen Meer interessiert, die pakistanische Transportmafia sowie die pakistanische Regierung an einem freien und sicheren Zugang zu Transportwegen nach Norden, wie im Kapitel 2.4.2. „Interessen der USA“ kurz beschrieben wird.128

Für den Dorfmullah , den als armen Bauernjungen ohne Sozialstatus geborenen Ghilzai vom Hotaki-Quam, der im Sowjetkrieg der Khalis´ Hizb-e Islami (einer der radikalen Peshawar Seven - Parteien) beitrat, und vielen weiteren mujaheddin, war die Situation in Afghanistan unerträglich, sodass sie sich schließlich zusammenschlossen. Diese Gruppe von ehemaligen antisowjetischen paschtunischen Führern setzte sich das Ziel, Frieden zu stiften, die afghanische Bevölkerung zu entwaffnen, die Scharia als Rechtssystem einzuführen und den Islam zu verteidigen. Die Anführer wurden mit mullah betitelt, was den religiösen Charakter unterstreichen und ihre Handlungen als im Sinne Gottes legitimieren sollte.129 Die Führungsrolle, die Mullah Omar übernahm, war eine durchaus strategische Überlegung, wie Abbas darlegt: „Mullah Omar was perfect for the job. Unlike the well- networked Mujahideen leaders of the 1980s Afghan Jihad, he was an unknown figure who came to prominence in a very short span of time.”130 Somit konnten sie sich von den kriegsführenden mujaheddin abheben und begründeten eine eigene, auf radikal- islamistischen Wurzeln begründete Bewegung. Da diese hauptsächlich aus madrassas rekrutierten Koranschülern bestand, lag die Namensgebung auf der Hand: abgeleitet von Schüler (talib, ein nach Wissen Strebender) nannte sich die Bewegung nun Taliban (Plural von talib).131

Die im Oktober 1994 aus ungefähr zweihundert Mann bestehende afghanische und pakistanische Taliban-Organisation, die sich fast ausschließlich aus Paschtunen zusammensetzte, konnte sich so erfolgreich etablieren, dass sie Ende Dezember bald mit Waffen. Als Kandahar von den Taliban kampflos eingenommen wurde und sie bereits enorme Mengen an Kriegsmittel besaßen, wurden sie vom ISI wahrgenommen und massiv aufgebaut. Vgl. Michels: Die Taliban, S. 182-184. 128 Haag: Pashtunen, S. 269-171. 129 Haag: Pashtunen, S. 271 u. Rashid: Taliban, S. 39, 45. 130 Abbas: The Taliban Revival, S. 62. 131 Haag: Pashtunen, S. 271 u. Rashid: Taliban, S. 39, 45. 45

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

bereits eine Anzahl von 12.000 Männern zählte. Darunter waren zahlreiche in pakistanischen Flüchtlingscamps geborene, von mujaheddin zu Kämpfern ausgebildete und in madrassas erzogene Koranschüler, die in vielen Fällen ihr Heimatland Afghanistan und dessen Geschichte nicht kannten. Diese oftmals als Vollwaisen und ohne weibliche Gesellschaft aufgewachsenen jungen Männer suchten nach dem Abzug der Sowjettruppen nach neuen Aufgaben und fanden sie schlussendlich bei den Taliban:132 „But Sowjet withdrawal meant that the Afghan- Pakistan border was left with well-armed, highly motivated, deeply religious men looking for a new cause.“133 Es war nicht nur die Suche nach einer neuen Mission, die diese jungen Männer in die Hände der Taliban trieb, sondern auch die Aussicht auf gesellschaftliches Ansehen: „By becoming a `Soldier of God´, the men also won new respect; they became the new maliks.“134 Diese Koranschüler, vorwiegend aus der NWFP und den FATA wie auch aus madrassas rund um Ghazni und Kandahar,135 stammten aus ärmlichen Verhältnissen, wie Abbas erläutert:

„The truth is that the Taliban predominately represented Ghilzai Pashtuns, who were on the lowest rung of society. The notion of a Durrani-Ghilzai contest was much less of a factor than the economic realities. Most Taliban belonged to areas that were chronically underdeveloped and that had historically been neglected by the state, so most families would send at least one boy to a local madrasa to benefit from free board and lodging.”136

Durch diese sozio-ökonomischen Faktoren ergab sich zwangsläufig eine ethnische Zusammensetzung aus hauptsächlich Ghilzai-Paschtunen in den madrassas im paschtunischen Kerngebiet. Und genau diese jungen, männlichen, zukunftslosen Paschtunen waren die Zielgruppe der Taliban. So lässt sich der äußerst hohe Anteil der Ghilzai in der Taliban-Bewegung erklären.

Es bedeutet aber keinesfalls, dass alle Paschtunen – damit auch die Ghilzai – sich den Taliban zugehörig fühlen, wie Abbas beschreibt: „A majority of Pashtuns in

132 Haag: Pashtunen, S. 269f u. Rashid: Taliban, S. 45f, 55, 59. 133 Kfir: Role of the Pashtuns, S. 42. 134 Kfir: Role of the Pashtuns, S. 43. 135 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 73. 136 Abbas: The Taliban Revival, S. 65. 46

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Afghanistan and Pakistan are not attracted by the Taliban way of thinking, and indeed are the worst victims of the series of wars that have been fought on their land over three decades. The Taliban, however, quite routinely use and misuse Pashtun cultural codes (known as Pashtunwali) […].”137

Dieser Missbrauch des Paschtunwali, von dem Abbas spricht, sowie auch die geschwächten tribalen Strukturen, machten die Taliban so gefährlich und unberechenbar. Durch ihre Verwandschaftsverhältnisse und Beziehungen zu den verschiedenen Quams (fast jede ärmere Familie gab mindestens einen Sohn in eine madrassa!)138 konnten sie sich im Paschtunengebiet schnell und oft kampflos durchsetzen.139 Ebenso schlossen sich viele lokale Milizen der eroberten Gebiete durch Bezahlung von Bestechungsgeldern den Taliban kurzerhand an. So kommt es, dass diese Bewegung nach wie vor „einem flexiblen Netzwerk an Zellen, die sich entlang lokaler Loyalitäten von Clans und Stämmen und territorialer Grenzen“140 organisieren, entspricht. Dabei bleiben diese lokalen Verbindungen aber trotzdem in ihrer Autonomie weitgehend unabhängig und können relativ frei agieren. Diese semiautonome Führung ermöglicht es den Taliban auch heute noch, umgehend auf verschiedene Situationen zu reagieren.141

Zwölf der 31 afghanischen Provinzen waren im März 1995 bereits von den Taliban besetzt. Sie öffneten die Straßen, entwaffneten die Bevölkerung und verhängten eine eigenwillige, extrem strenge Auslegung der Scharia: „Their definition of Sharia – influenced by extremist teachings in Pakistan and a perversion of Pashtunwali, or the Pashtun code of behaviour – and its harsh enforcement across the country were utterly alien to Afghan culture and tradition.“142 Darüber hinaus mussten sich Männer Bärte wachsen lassen, Mädchenschulen wurden geschlossen und viele absurde und menschenunwürdige Verbote über Frauen verhängt, ebenso wurden Sport und verschiedene weitere Freizeitbeschäftigungen aus dem öffentlichen Leben verbannt. Dieser Lebensstil, insbesondere die Unterdrückung der Frauen, unterschied die

137 Abbas: The Taliban Revival, S. 5. 138 Abbas: The Taliban Revival, S. 65. 139 Ebd. u. Kfir: Role of the Pashtuns, S. 43. 140 Michels: Die Taliban, S. 187. 141 Ebd. 142 Rashid: Chaos, S. 14. 47

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Taliban maßgebend von den mujaheddin.143 Durch die Öffnung und Kontrolle vieler Handelsrouten sanken die überteuerten Lebensmittelpreise rasant, wofür die Taliban jedoch in der Bevölkerung an Ansehen gewannen und zugleich die pakistanische Transportmafia zufriedenstellten. Die Taliban wurden gefeiert, weil die dringend benötigten Lebensmittel durch das Transit Trade Agreement (ATTA - beschlossen in den 1950er Jahren) wieder steuerfrei über die Grenze gebracht wurden.144 Das ATTA spielt für die Transportmafia ebenso eine wesentliche Rolle: Es berechtigt Afghanistan aufgrund seiner Binnenlage über den Hafen von Karatschi eingeführte Güter von Pakistan steuerfrei zu importieren. Viele Schmuggler aus Pakistan bestellen daher viel mehr, als in Afghanistan benötigt wird, um es dann in den pakistanischen Grenzgebieten verkaufen zu können. Somit verschaffen sie sich durch diesen steuerlichen Vorteil einen lukrativen Gewinn.145 Die Transportmafia zahlte nun Passiergelder ausschließlich an die Taliban und nicht mehr an verschiedenste rivalisierende Warlords, konnte sichere Straßen benutzen und den Schmuggel fortsetzen.146 Der strenge Durchgriff mittels Scharia sorgte für Recht und Ordnung in Gebieten, welche die Taliban kontrollierten, was den Menschen das vermeintliche Gefühl von Sicherheit vermittelte und ihnen somit auch wieder Hoffnung gab.147

Mit ausländischer Hilfe wie Treibstoff und Fahrzeuge von Saudi-Arabien, Waffen, logistisches und politisches Know-how sowie zahlreiche Rekruten aus Pakistan und auch mit Unterstützung von General Dostum (eingefädelt vom ISI), der bei der Reparatur zahlreicher erbeuteter Kriegsflieger half, konnten die Taliban 1995 nicht nur den paschtunischen Süden und Südosten des Landes kontrollieren, sondern auch den Westen, der nicht von Paschtunen dominiert war. Ohne diese Mitwirkung hätten sich die Taliban nicht in diesem Ausmaß etablieren können.148

143 Rashid: Taliban, S. 56-59. 144 Schetter: Grenzland, S. 107. 145 Michels: Die Taliban, S. 107. 146 Das Afghanistan Transit Trade Agreement (ATTA) berechtigte Kabul aufgrund der Binnenlage Afghanistans, Güter über Pakistan zollfrei zu importieren. Dieses in den 1950er Jahren beschlossene Abkommen bewirkte rege Schmuggelaktivitäten im Grenzraum. Vgl. Schetter: Grenzland, S. 107. 147 Michels: Die Taliban, S. 181 u. Rashid: Taliban, S. 61, 63. 148 Abbas: The Taliban Revival, S. 68 u. Haag: Pashtunen, S. 272 u. Rashid: Taliban, S. 61, 63. 48

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Im März 1996 wurde Mullah Omar von ungefähr 1200 religiösen Führern – nicht von traditionellen Autoritäten – zum Amir al Mu-minin (Führer der Gläubigen) gewählt, um ein paschtunisch-muslimisches Reich zu gründen, was bei den Paschtunen Anklang fand.149 Als die Taliban im September 1996 die Hauptstadt Kabul einnahmen, riefen sie das Islamische Emirat Afghanistan aus,150 das im Oktober von einer US- geführten Intervention gestützt wurde.

Die einzige Macht, die sich den Taliban während ihrer Herrschaft massiv und mit Teilerfolgen entgegenstellte, war die Nordallianz, geführt von Massoud und unterstützt von Ismael Khan, den zentralafghanischen Hazara-Kommandeuren wie auch von Dostum, der jedoch die Verbindungen je nach seinen Vorteilen wechselte.151 Diese Allianz wurde vom Iran massiv subventioniert, da sich die Taliban gegen alle Schiiten stellten und sich der Iran als Schutzmacht dieser verstand. Pakistan und Saudi-Arabien, die die Taliban unterstützten, sah der Iran außerdem als regionale Rivalen an. Auch Russland sowie Indien (ebenfalls als Gegenpol zu Pakistan) leisteten militärische Hilfe.152

Da es den Rahmen der Masterarbeit sprengen würde, wird in diesem Abschnitt nicht weiter auf diese spannende und ereignisreiche Zeit eingegangen und besonders auf die einschlägigen Bücher von Ahmed Rashid verwiesen.

2.4.1. Struktur der Taliban

Zu den wichtigsten Obersten Ratsmitgliedern (Oberste Schura) der Taliban zählen einige ehemalige Mitglieder aus zwei der von Pakistan und der USA geförderten Peshawar-Seven Parteien:153

Hizb-e Islami von Younis Khalis:  Mullah Mohammed Omar (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Führer der Taliban  Mullah Mohammed Rabbani (Gurgusht, Kakar-Quam) – Stellvertreter  Mullah Mohammed Ghaus (Durrani, Nurzai-Quam) – Außenminister bis 1997

149 Haag: Pashtunen, S. 272f. 150 Haag: Pashtunen, S. 273. 151 Rashid: Chaos, S. 14. 152 Rashid: Taliban, S. 76f. 153 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 78 u. Rashid: Taliban, S. 391-398. 49

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

 Mullah Mohammed Hassan (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Außenminister nach 1997  Mullah Abdul Razaq (Durrani, Popalzai-Quam) – Leiter der Zollbehörde, Minister für Inneres

Harakat von Maulvi Mohammed Nabi Mohammedi:  Mullah Sayed Ghiasuddin Agha (Usbeke) – Minister für Information  Mullah Khairullah Khairkwah (Durrani, Popalzai-Quam) – Minister für Inneres

Die wichtigsten Mitglieder der Kabinett-Schura:154  Mohammed Abbas (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Öffentliches, Gesundheit (Hizb-e Islami Khalis)  Mullah Mohammed Essa (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Wasser und Strom (Harakat)  Mullah Obaidullah (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Verteidigungsminister, Bauwesen (Harakat)  Mullah Nuruddin Turabi (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Justizminister  Mullah Sadeq Akhund (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Handelsminister  Mullah Allah Dad (Ghilzai, Hotaki-Quam) - Kommunikation  Jalaluddin Haqqani (Ghilzai, Zadran-Quam) – Grenzangelegenheiten, (Hizb-e Islami Khalis)  Ahmed Jan (Ghilzai, Zadran-Quam) – Minen und Industrie  Mullah Abdul Latif Mansur (Ghilzai, Sahak-Quam) – Landwirtschaft  Mullah Dadullah Kakar (Gurgusht, Kakar-Quam) - Militär  Mullah Wakil Ahmed (Gurgusht, Kakar-Quam) – Außenminister, Sekretär und Sprecher Mullah Omars  Maulvi Hamidullah Nemani (Durrani, Daftani-Quam) – Höhere Schulbildung  Qari Din Mohammed (Tadschike) – Planung  Taher Anwari – Finanzen und Wirtschaft155

154 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 78 u. Rashid: Taliban, S. 391-398. 155 Thomas Ruttig: Loya Paktia´s Insurgency, (I) The as an Autonomous Entity, in: Antonio Giustozzi (Hg.): Decoding the New Taliban. Insights from the Afghan Field, Hurst and Company, London 2009, S. 57-88, hier S. 59. 50

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Die Militär-Schura setzt sich aus folgenden Mitgliedern zusammen:156  Mullah Mohammed Omar (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Oberbefehlshaber  Mullah Mohammed Hassan (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Generalstabchef  Mullah Rahmatullah - Stabschef  Mullah Mohammed Fazil – Chef des Armeekorps  Mullah Jumma Khan – Divisionschef  Mullah Mohammed Younas – Divisionschef  Mullah Mohammed Gul – Divisionschef  Mullah Mohammed Aziz Khan – Divisionschef  Mullah Mohammed Zahir – Panzerdivision Nr. 4

Aus der Zusammensetzung der verschiedenen Ratsmitglieder kann man deutlich erkennen, dass vor allem dem Hotaki-Quam der Ghilzai-Konföderation besondere Bedeutung zukommt, wie auch dem Kakar-Quam, der überwiegend in Pakistan beheimateten Ghurghusht-Konföderation.157 Die Peshawar-Seven Parteien Hizb-e Islami von Younis Khalis wie Harakat von Maulvi Mohammed Nabi Mohammedi spielten offensichtlich eine ebenso bedeutende Rolle, da sie diese einflussreichen, fast ausschließlich paschtunischen Männer zusammenführten.

Auffallend ist außerdem, dass viele dieser Männer zumindest teilweise in ein und derselben madrassa, der Dar ul-Uloom Haqqaniya in Pakistan, ausgebildet wurden: Mullah Mohammed Omar, Jalaluddin Haqqani, Mullah Mohammed Hassan, Mullah Khairullah Khairkwah, Mohammed Abbas, Mullah Abdul Latif Mansur wie auch Ahmed Jan.158

Durch diese Vernetzungen, die ihre Wurzeln im Sowjetkrieg haben, konnten die Taliban ihre Kontakte knüpfen. Viele dieser ehemaligen Mitglieder, die als Senior- Leader bezeichnet werden, finden sich ab 2001 als Anführer in den zahlreichen Splittergruppen der Neo-Taliban wieder (siehe Kapitel 3.4. „Zellen der Neo-Taliban – Netzwerk von Netzwerken“).

156 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 78 u. Rashid: Taliban, S. 391-398. 157 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 74-79. 158 Felix Kuehn u. Alex Strick van Linschoten: An Enemy We Created. The Myth of the Taliban/Al Qaeda Merger in Afghanistan, 1970-2010, Hurst & Company, London 2014, S. 23. 51

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

2.4.2. Interessen der USA vor 9/11

Durch den Zerfall der Sowjetunion (1991) erlangten die erdölreichen Republiken Zentralasiens, die wirtschaftlich aber noch immer an Russland gebunden waren, ihre politische Unabhängigkeit. Diese neuen Länder waren nun bestrebt, ihre Grenzen nach Westen hin zu öffnen, um sich von den Fesseln des sowjetischen Pipeline- Netzes zu lösen und internationalen Handel mit ihrem Erdöl betreiben zu können. Somit war der Auftakt für das von Rashid bezeichnete neue große Spiel gegeben, in dem Mächte wie die USA, die Türkei, China, der Iran, Pakistan, Afghanistan, die Staaten Zentralasiens und natürlich Russland sowie die amerikanischen, europäischen und asiatischen Ölkonzerne rivalisierten – unter anderem auch um das Transitland Afghanistan.159

Das von der Sowjetunion aus historischen Gründen prinzipiell ignorierte Turkmenistan verfügt über potentielle Öl- und Gaslager, die weitgehend unbeachtet blieben. Dennoch war das Land abhängig vom Gasexport in andere Sowjetrepubliken, welche ungefähr die Hälfte aller Einkünfte überhaupt ausmachten. Nach dem Zerfall blieb Turkmenistan jedoch weiterhin Spielball Russlands: Das Gas dieses Landes wurde ausnahmslos durch ehemals sowjetische Pipelines gepumpt. Einzige sich bietende Alternative war, eine Pipeline zwischen Turkmenistan und dem Iran zu bauen, die im Dezember 1997 auch fertiggestellt wurde. Den USA gefiel dies natürlich nicht, da sie bestrebt waren, den Iran von der Außenwelt zu isolieren. Turkmenistan bekundete aber seit der Unabhängigkeit auch stets Interesse für westliche Ölfirmen, um sich vom sowjetischen Pipeline-Netz loszusagen.160

Birdas, ein Ölkonzern aus Argentinien mit Nutzungsrechten in Turkmenistan, schlug 1994 eine Pipeline-Route mitten durch Afghanistan vor, um Indien wie auch Pakistan

159 Rashid: Taliban, S. 223-228 u. Peter Strutynski: Warum es keine Alternative zum Rückzug aus Afghanistan gibt, in: Thomas Roithner (Hg.): Von kalten Energiestrategien zu heißen Rohstoffkriegen? Schachspiel der Weltmächte zwischen Präventivkrieg und zukunftsfähiger Rohstoffpolitik im Zeitalter des globalen Treibhauses, Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, LIT Verlag, Wien 2008, S. 83-97, hier S. 86. 160 Rashid: Taliban, S. 234f. Wohlgut, Bernd: Afghanistan – 30 Jahre Krieg am Hindukusch.Über die historische Entwicklung von 1979 bis 2009 mit Einsätzen und Hintergründen. Über Warlords, Gewalt, Erfolge und Fehler, Shaker Media GmbH, Aachen 2010, S. 67. 52

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

zu beliefern. Die von Washington unterstützte US-Firma Unocal161 brachte 1995 eine annähernd gleiche Pipeline-Führung ein. Und somit wurde Afghanistan Knotenpunkt im neuen großen Spiel.162

Die Regierung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton beteiligte sich am Vorhaben des Konzerns Unocal von 1995 bis 1997 massiv, ohne sich laut Rashid über die politische Lage Afghanistans und auch den restlichen zentralasiatischen Raum Gedanken zu machen. Die US-Politik setzte frei von jeglichem strategischen Plan auf schnelle Lösungen, die schwerwiegende Folgen nach sich zogen.163 An einen Aufbau des vom Bürgerkrieg zerstörten Afghanistans nach dem Kalten Krieg waren die USA nicht interessiert, wie Rashid feststellt:

„Die Abwesenheit der USA erlaubte allen regionalen Mächten, darunter auch den neuen unabhängigen Republiken Zentralasiens, die rivalisierenden Kriegsherren zu stützen und dadurch den Bürgerkrieg zu intensivieren und zu verlängern. Die ständige Militärhilfe der USA an die Mudschaheddin wurde nie durch eine beständige internationale humanitäre Hilfe, die für die Kriegsherrn ein Anreiz zum Friedensschluss hätte sein können, ersetzt.“164

Statt für Frieden zu sorgen, verfolgten die USA in den 1990er Jahren einzig und allein ihre Anti-Russland-Politik. Erdölreiche Länder sollten durch eine schnelle Unabhängigkeit von Russland dessen Öltransport-Monopol brechen und damit Russland insgesamt schwächen.165

Über die Alliierten Pakistan (vor allem über den ISI) und Saudi-Arabien unterstützte die USA von 1994 bis 1996 die Taliban in Afghanistan politisch. Dadurch erhofften sie sich Sicherheit sowie Stabilität im Land, um das Pipeline-Projekt realisieren zu können. Sie sahen die Taliban zudem auch als Gegner des Iran, des Schiismus wie

161 Ob Hamid Karzai, Interimspräsident und Präsident Afghanistans bis 2014, als hochbezahlter Berater von der Firma Unocal eingesetzt wurde oder ob es sich hierbei um eine Verwechslung mit Zalmay Khalilzad (offizieller Berater des Ölkonzerns sowie US-Botschafter von 2003 – 2005) handelte, konnte bislang nicht eideutig eruiert werden. Vgl. GlobalSecurity.org: Hamid Karzai, URL: http://www.globalsecurity.org/military/world/afghanistan/karzai.htm, 28.12.2016. 162 Rashid: Taliban, S. 235 u. Wohlgut: Afghanistan, S. 67. 163 Rashid: Taliban, S. 270f. 164 Rashid: Taliban, S. 270. 165 Rashid: Taliban S. 267. Strutynski: Keine Alternative, S. 87. 53

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

auch als pro-westlich eingestellt an – und daher als Verbündete. Die Taliban erklärten den US-Diplomaten, den Anbau von Schlafmohn wie die Heroinproduktion zu reduzieren, alle ausländischen Personen, auch die Araber-Afghanen, aus dem Land zu weisen und machten den USA vor, keine Machtansprüche zu stellen. Die US-Botschaft war von den Taliban, deren Peshawar-Seven-Mitglieder der ISI und somit auch die Amerikaner bereits im Sowjetkrieg aufgebaut und gezielt gefördert hatten, begeistert und glaubte, dass sie den Zielen des Westens und jenen der USA entsprechen würden. Dabei ignorierten sie radikal-islamistische Pläne der Taliban, die durch diese Gruppierung hervorgerufene massive Unterdrückung der Frauen sowie Angst und Schrecken, den sie in zentralasiatischen Ländern hervorriefen. Erst mit einer Ende 1997 stattfindenden, aufrüttelnden und lange andauernden Kampagne amerikanischer Feministinnen gegen das Taliban-Regime, die Missstände und Probleme in Afghanistan aufzeigten, änderte sich die US-Politik. Weitere Gründe, die Taliban nicht mehr zu fördern, sah die Regierung Washingtons in der Unterstützung Osama bin Ladens durch die Taliban (siehe nächstes Kapitel 2.4.3. „Taliban und al-Qaida“) wie auch die Ablehnung des Unocal-Bauvorhabens quer durch Afghanistan. Oberstes Ziel der US-Politik war es nun seit 1999, Osama bin Laden zu fassen. Unocal zog sich Ende 1998 nach der US-Bombardierung von Osama bin Ladens Lager Nahe Khost aus dem Pipeline-Vorhaben zurück, auch der weltweite Ölpreis-Sturz machte dem Konzern zu schaffen. Das Projekt war gescheitert.166

Nachdem die Clinton-Regierung die Taliban massiv und bedingungslos unterstützte, lehnte man die ursprünglich als Handlanger zur Durchsetzung imperialistischer Interessen gedachten Taliban nun völlig ab.167

2.4.3. Taliban und al-Qaida

Der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan löste unter den muslimischen Ländern Entsetzen aus und sorgte für einen Zulauf vieler freiwilliger ausländischer Jihadisten, die ab 1982 hauptsächlich vom ISI rekrutiert und nach Pakistan gebracht wurden. Nach Präsident Zias Vorstellungen sollten sie eine islamische Front gegen

166 Rashid: Taliban, S. 271f u. 279f u. Wohlgut: Afghanistan, S. 66f. 167 Rashid: Taliban, S. 280. 54

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

ungläubige Kommunisten bilden und Pakistan zur Herrschaft über die muslimische Welt verhelfen. Die Muslim-Bruderschaft168 im Mittleren Osten, die World Muslim League von Saudi-Arabien wie die Palestinian Islamic Radicals entsandten zahlreiche Kämpfer, die sich den mujaheddin, insbesondere der Hizb-e Islami, anschließen sollten. Saudi-Arabien entledigte sich auf diesem Wege der eigenen radikalen Islamisten und nutze zugleich die Gelegenheit, um den Wahabbismus zu verbreiten. Die Unterkunft wie die Kampfausbildung für diese Araber-Afghanen, wie sie Rashid bezeichnet, wurden daher nicht uneigennützig vom saudischen Geheimdienst finanziert. Der CIA-Chef William Casey veranlasste 1986, den ISI bei der Rekrutierung tatkräftig zu unterstützen.169

Laut Rashid kämpften im Zeitraum von 1982 bis 1992 zirka 35.000 ausländische Extremisten aus 43 verschiedenen muslimischen Ländern (hauptsächlich aus Saudi- Arabien, Ägypten, Mauretanien, Somalia, dem Sudan und dem Jemen) mit den mujaheddin gegen die Sowjetunion, weitere Zehntausende besuchten die madrassas im pakistanischen Paschtunengebiet. Der ISI und die Kommandeure der mujaheddin versorgten die Trainingslager entlang der Durand-Linie mit den Araber-Afghanen, die von Offizieren des ISI und auch von amerikanischen Offizieren ausgebildet wurden. Diese oft in ihren Herkunftsländern arbeitslosen und unter schwierigen sozialen wie ökonomischen Verhältnissen lebenden Freiwilligen, wollten im Krieg als Kämpfer zur Verteidigung des Islam ihr Geld verdienen.170

Anfangs kümmerten sich der ISI sowie die Jamaat-e-Islami, eine islamische Organisation, um die Verteilung und Versorgung der Araber-Afghanen, was anfangs etwas unkoordiniert ablief. Das sollte sich jedoch mit der Ankunft des reichen Saudi- Arabers Osama bin Laden ändern: Der Sohn eines mächtigen Bauunternehmers und Freund der saudischen Königsfamilie gründete 1984 gemeinsam mit Abdullah Azzam, einem jordanischen Palästinenser und Leiter des Büros der Muslim- Bruderschaft in Peschawar, das maktab al-kidamat (MAK, Büro für Dienstleistungen/Versorgungszentrum) und ließ sich in der pakistanischen Stadt

168 Die Muslim-Bruderschaft (Ikhwaan al-Muslimoun) wurde 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründet und wurde vom Sufismus (dem sogenannten „Mystischen Islam“) wie auch von einer Anti- Kolonialismus-Bewegung stark beeinflusst. Vgl. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 27. 169 Michels: Die Taliban, S. 188 u. Rashid: Taliban, S. 203-205. 170 Michels: Die Taliban, S. 191 u. Rashid: Taliban, S. 205, 208. 55

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

nieder. Dieses Büro diente den ausländischen Kämpfern als Unterkunft und Registrierungsstelle, hauptsächlich aber verwaltete es Spendengelder saudischer Prinzen, karitativer islamischer Organisationen, des saudischen Geheimdienstes, des saudischen Roten Halbmonds wie auch der World Muslim League.171

Den ausländischen Rekruten schreibt man jedoch während der Sowjet-Intervention nur eine geringe Bedeutung zu.172 Aber laut Carsten Michels lag ihre Tätigkeit „vor allem in der Internationalisierung des Dschihad, dem Aufbau von Netzwerken und einer Riege an Ausbildnern, die zukünftig weltweit eingesetzt werden konnten.“173 Bei vielen mujaheddin, vor allem bei den Nicht-Paschtunen und Schiiten, machten sie sich unbeliebt, da sie mit ihrer radikalen Einstellung polarisierten und Keile zwischen verschiedenen Gruppen trieben. Zu vielen Paschtunen-mujaheddin hatten sie jedoch eine gute Verbindung, vor allem zu Abdul Rasul Sayyaf174 und Gulbuddhin Hekmatyar.175

Azzam, der als Vordenker des internationalen islamischen Jihad gilt, beeinflusste das Denken und die Weltsicht bin Ladens wie auch jenes der Araber-Afghanen. Mit vielen Schriften konnte der Theologe seine radikale Ideologie verbreiten, die es als Pflicht jedes Muslims ansah, sich dem Jihad gegen die Sowjetunion anzuschließen und den Märtyrertod glorifizierte. Die gemeinsam mit bin Laden 1988 gegründete Organisation al-Qaida al-Askarija (arabisch: die Operationsbasis), die die MAK gewissermaßen absorbierte, sollte die Fortsetzung des Globalen Jihad auch nach dem Ende des Sowjetkriegs sicherstellen und der Durchsetzung des Islam dienen. Bin Laden übernahm diese Organisation nach Azzams Tod 1989 und führte sie nach dessen wahabbistischen Vorstellungen und Ansichten, den er wie Mohammed Qutb176 als Mentor sah, weiter.177

171 Haag: Pashtunen, S. 115f u. Michels: Die Taliban, S. 190 u. Rashid: Taliban, S. 204-207. 172 Michels: Die Taliban, S. 191. 173 Ebd. 174 Abdul Rab Rasul Sayyaf, machtvoller Paschtunen-Führer, Warlord und seit 2010 Mitglied des afghanischen Bundestages, führt die konservative Partei Wahhabi Dawat-e Islami. Vgl. Thomas Ruttig, Thomas: Negotiations with the Taliban, in: Peter Bergen u. Katherine Tiedemann (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013, S. 431-482, hier S. 442. 175 Rashid: Taliban, S. 209. 176 Mohammed Qutb war Sayyed Qutbs Bruder, eines hochrangigen und berühmten Mitglied der Muslim-Bruderschaft. Sayyed Qutb schrieb zwei für die Islamisten bedeutende Bücher (Meilensteine, 56

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Doch 1990 kehrte Osama bin Laden nach Saudi-Arabien zurück und wollte mit seiner Anhängerschaft gegen Saddam Hussein, der in Kuwait eingefallen war, kämpfen. Die Saudis zogen es aber vor, amerikanische Truppen gegen den Irak zu schicken, was bin Laden schockierte. Nach heftiger und immerwährender Kritik am saudischen Königshaus wurde ihm schließlich 1994 die Staatsbürgerschaft entzogen. Noch davor, 1992, ging er in den Sudan und benutzte seine diplomatischen Beziehungen zum sudanesischen Geheimdienst und zum Außenministerium. Bis 1996 diente ihm dieses Land als Stützpunkt für den Aufbau islamistischer Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGOs), der Verbreitung und Propaganda des radikalen Islam in vielen Ländern sowie für seine terroristischen Angriffe, die sich nun vorwiegend gegen die USA richteten. Aber Amerika übte verstärkten Druck auf den Sudan aus, bin Laden auszuliefern, daher suchte er schließlich im Mai 1996 erneut Afghanistan auf.178

Nachdem er mit Mullah Omar 1997 Freundschaft schloss, stand er unter dem Schutz der Taliban. Die im Sowjetkrieg aufgebauten Beziehungen belebte er wieder, finanzierte rund um Khost und Jalalabad Trainingslager wie auch jene der von den Taliban eingenommenen Stadt Kandahar.179 Ebenso half er den Taliban beim Widerstand gegen die Nordallianz, wie Sean M. Maloney anführt: „Bin Laden formed Brigade 055, a five-to fifteen-hundred-man, light infantry, Muslim foreign legion unit to work with the Taliban to apply even more pressure to the Northern Alliance.”180 Aber auch verschiedenste jihadistische Gruppierungen wie jene in Kaschmir, die ebenso von Pakistan militärische Hilfe erhielten, oder islamistische Bewegungen in Usbekistan, erhielten von bin Laden Unterstützung.181 Seine Terror-Akte gingen ebenfalls weiter: „From 1996 to 2000, however, Al Qaeda escalated its operations with a series of damaging international terrorist acts planned and coordinated from its

Im Schatten des Koran) und wurde 1966 unter der Herrschaft des ägyptischen Präsidenten Kemal Abd el Nasser hingerichtet. Vgl. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 28-30. 177 Maloney: Enduring the Freedom, S. 27 u. Michels: Die Taliban, S. 191f u. Rashid: Taliban, S. 208. 178 Maloney: Enduring the Freedom, S. 27-30 u. Rashid: Taliban, S. 210. 179 Haag: Pashtunen, S. 274 u. Rashid: Taliban, S. 210. 180 Maloney: Enduring the Freedom, S. 30. 181 Maloney: Enduring the Freedom, S. 31. 57

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

secure base area in Afghanistan, which was in turn protected by the radical Islamist Taliban regime.“182

Die Taliban und al-Qaida waren zu diesem Zeitpunkt aber dennoch zwei unterschiedliche Bewegungen: Während die Taliban regionale Motivationsgründe in ihrem Handeln sahen, stellte al-Qaida globale Ansprüche.183

Die USA unter Bill Clinton setzten erst ab 1999 ernsthafte Maßnahmen184 gegen Osama bin Laden. Mit der Beschädigung des Pentagon und der Zerstörung des World Trade Centers am 11. September 2001 begann eine neue Ära,185 auf die im Hauptteil „Zeitenwende 9/11: Global War on Terror“ näher eingegangen wird.

182 Maloney: Enduring the Freedom, S. 32. 183 Abbas: The Taliban Revival, S. 78. 184 Siehe Rashid: Taliban, S. 330-345. 185 Maloney: Enduring the Freedom, S. 32, 34. 58

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

3. Zeitenwende 9/11: Global War on Terror

Der 11. September 2001 erschütterte die Vereinigten Staaten in seinen Grundfesten: Die Zerstörung des World Trade Centers (WTC) und der Angriff auf das Pentagon, Symbole der wirtschaftlichen und militärischen Stärke dieses Landes, ließen die USA verwundbar erscheinen. Erstmals gab es gelungene terroristische Anschläge durch die al-Qaida auf amerikanischem Boden, nicht mehr nur in weit entfernten Ländern mit namenlosen Opfern. Nun waren die Vereinigten Staaten das direkte Ziel des Globalen Jihad von al-Qaida-Anhängern unter der Führung von Osama bin Laden geworden, der seine Feindschaft zu den USA durch extremistische Anschläge auf amerikanische Einrichtungen wie die US-Botschaften in Kenia und Tansania bereits in den 1990er Jahren offen darlegte.186

Doch nicht nur die Vereinigten Staaten trafen die Terroranschläge völlig unvorbereitet: Das WTC galt als Zeichen der gesamten westlichen Wirtschaftsmacht; der Zusammenbruch der Zwillingstürme wurde durch die emotionale Berichterstattung der Medien ins weltweite Gedächtnis eingebrannt. Die gesamte Öffentlichkeit richtete ihren Fokus auf das Geschehen in Washington und New York, bei dem insgesamt mehr als dreitausend Menschen umkamen. Sorgfältig und jahrelang geplant sowie auch durchgeführt wurde der Terrorakt hauptsächlich von 19 al-Qaida-Selbstmordattentätern, die entführte Flugzeuge zielsicher in die Gebäude steuerten und sie somit zum Einsturz brachten. Diese Männer stammten alle aus verschiedenen Ländern und hatten unterschiedliche Biographien; das religiös- fundamentalistische Weltbild bin Ladens verband sie jedoch. Der generelle Feind wurde von den amerikanischen Behörden schnell identifiziert und somit war klar, dass al-Qaida und damit das Land Afghanistan Ursprung der Angriffe war.187

Diese Zeitenwende 9/11, mit jener der Startschuss des von den USA geführten sogenannten Global War on Terror fiel, führte zu einem Paradigmenwechsel in der

186 Michels: Die Taliban, S. 206f u. Rashid: Taliban: S. 338f. 187 Magnus-Sebastian Kutz: Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen. Legitimation von Kosovo-, Afghanistan- und Irakkrieg in Deutschland und den USA, Springer VS, Wiesbaden 2014, S. 225f u. Michels: Die Taliban, S. 207 u. Rashid: Taliban: S. 338. 59

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

amerikanischen Sicherheits- und Außenpolitik,188 der im folgenden Kapitel näher beleuchtet wird.

3.1. Politische Maßnahmen

Nach den Anschlägen des 11. Septembers verfolgte Washington ein nun primär festgelegtes Ziel: Die Eliminierung des internationalen Terrorismus, allen voran die Bekämpfung von al-Qaida-Mitgliedern sowie jeglichen Unterstützern dieser islamistischen Gruppe,189 wie Präsident George W. Bush in seiner Rede am selben Abend verkündete: „We will make no distinction between the terrorists who committed these acts and those who harbor them.”190

Bereits am 12. September 2001 entschied der NATO-Sicherheitsrat einvernehmlich, dass die Anschläge auf das WTC und das Pentagon als kriegerischer Außenangriff auf die Vereinigten Staaten einzustufen seien und den internationalen Frieden bedrohen würden. Die Terrorakte seien daher auch als Angriffe auf die 19 Mitgliedstaaten der NATO191 zu verstehen. Somit wurde der Bündnisfall des NATO- Vertrages nach Artikel 5 ausgerufen, was die USA als Möglichkeit sah, Organisationsformen und Kapazitäten des Staaten-Bündnisses für die Terrorismusbekämpfung zu nutzen. In der Resolution 1368, die noch am gleichen Tag verabschiedet wurde, verurteilte der UN-Sicherheitsrat die Anschläge und forderte alle Staaten zur Zusammenarbeit auf. Washington beschloss, Unterstützung anzunehmen, gab jedoch die Zügel nicht aus der Hand und ging nur bilaterale Kooperationen ein, um einen großen Handlungsspielraum zu erhalten und sich auf keine Abstimmungsprozesse einlassen zu müssen.192

188 Michels: Die Taliban, S. 208. 189 Ebd. 190 George W. Bush: 9/11 Address to the Nation (Transkription), AmericanRhetoric. Rhetorik of 9-11, URL: http://www.americanrhetoric.com/speeches/gwbush911addresstothenation.htm, 29.05.2016. 191 Mitgliedsstaaten der NATO (2001): Belgien, Dänemark, Frankreich, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Vereinigten Staaten von Amerika, Vereinigtes Königreich, Türkei, Griechenland, Deutschland, Spanien, Tschechien, Polen, Ungarn. Vgl.: Alfred Grupp: Mitglieder der NATO, Medienwerkstatt Wissenskarten, URL: http://medienwerkstatt- online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=3856&edit=0, 29.05.2016. 192 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 190 u. Kutz: Öffentlichkeitsarbeit, S. 226 u. Michels: Die Taliban, S. 208. 60

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Doch diese Auffassung zur Legitimation eines Kriegs wird von vielen namhaften Experten wie Robert Haag, Ahmed Rashid oder auch Kenneth Katzman,193 der folgendes festhält, als völkerrechtswidrig angesehen:

„This was widely interpreted as a U.N. authorization for military action in response to the attacks, but it did not explicitly authorize Operation Enduring Freedom to oust the Taliban. Nor did the Resolution specifically reference Chapter VII of the U.N. Charter, which allows for responses to threats to international peace security.”194

Dessen ungeachtet verlangte Präsident George W. Bush in seiner Rede vor den beiden Kammern des Kongresses am 20. September 2001 die Auslieferung bin Ladens und seiner Gefolgschaft wie auch die Schließung der al-Qaida- Ausbildungslager:

„And tonight, the United States of America makes the following demands on the Taliban: Deliver to United States authorities all the leaders of al Qaeda who hide in your land. Release all foreign nationals, including American citizens, you have unjustly imprisoned. Protect foreign journalists, diplomats, and aid workers in your country. Close immediately and permanently every terrorist training camp in Afghanistan, and hand over every terrorist, and every person in their support structure, to appropriate authorities. Give the United States full access to terrorist training camps, so we can make sure they are no longer operating. These demands are not open to negotiation or discussion. The Taliban must act, and act immediately. They will hand over the terrorists, or they will share in their fate.”195

Doch die Taliban unter Führung von Mullah Omar verweigerten diese Forderungen.196 Schon allein aufgrund des Paschtunwali konnten die Taliban das Ultimatum der USA nicht erfüllen, da ein oberstes Prinzip jedes ehrwürdigen Paschtunen nach wie vor die melmastia (Gastfreundschaft) ist. Außerdem würde die Auslieferung auch gegen das Prinzip des nanawatai (Asyl für jedermann, auch für

193 Haag: Pashtunen, S. 275 u. Kenneth Katzman: Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, CRS Report, Oktober 2014, S. 8 u. Rashid: Descent into Chaos, S. XLVIII. 194 Katzman: Afghanistan, S. 8. 195 Bush, George W: Address to Joint Session of Congress Following 9/11 Attacks (Transkription), AmericanRhetoric. Rhetorik of 9-11, URL: http://www.americanrhetoric.com/speeches/gwbush911jointsessionspeech.htm, 29.05.2016. 196 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 190 u. Kutz: Öffentlichkeitsarbeit, S. 226. 61

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Feinde) verstoßen. Noch dazu ist jeder paschtunischer Ehrenmann verpflichtet, dem Schutzsuchenden nach dem Prinzip „viel Feind´, viel Ehr´“ besonders entgegenzukommen und ihn auch mit allen Mitteln zu verteidigen. Durch dieses Selbstverständnis der paschtunischen Gesellschaften gelang es bin Laden, trotz hoher Kopfgeldsummen, die auf ihn ausgesetzt wurden, dennoch lange Zeit im Verborgenen zu agieren. Diese Prinzipien des Paschtunwali stehen daher zweifellos in Zusammenhang mit dem ersten Global War on Terror, dem Krieg der Vereinigten Staaten gegen al-Qaida. Sie lösten schlussendlich die Intervention Operation Enduring Freedom (OEF) aus.197 Dieser von den USA geleitete Global War on Terror wird in der Folge eingehend analysiert.

Nicht nur den Taliban wurde ein Ultimatum gestellt, auch die ganze Welt wurde aufgefordert, Stellung zu beziehen: „Every nation, in every region, now has a decision to make. Either you are with us, or you are with the terrorists.”198

Pakistan, das zuvor großer Unterstützer der Taliban war, wechselte augenblicklich die Seiten. Es befürchtete seitens der USA eine Bombardierung Pakistans, die Bedrohung der Nuklearanlagen wie auch die Möglichkeit der Errichtung von US- Militärlagern im benachbarten und verfeindeten Indien. Somit sah sich das Militärregime des Präsidenten Pervez Musharraf gezwungen, die amerikanische Intervention zum Sturz der Taliban gutzuheißen.199

Pakistan erhielt als wichtiger Verbündeter daraufhin von verschiedensten Seiten jeglichen (finanziellen) Rückhalt, insbesondere von den USA. Doch es musste auch einen gewissen Preis zahlen: 74 die Hoheitsrechte betreffende Forderungen der Amerikaner, wie beispielsweise Überflugerlaubnisse, Betankung, Leistung medizinischer Nothilfe oder Errichtung von Kommunikationsverbindungen für US- Streitkräfte innerhalb Afghanistans, musste Pakistan bedingungslos genehmigen. Zudem wurden ohne Wissen der Bevölkerung 1.100 US-Soldaten und Flugzeuge der 101. Luftlandedivision für die gesamte Kriegsdauer in Pakistan stationiert.200

197 Haag: Pashtunen, S. 274f. 198 Bush, George W: Address to Joint Session of Congress Following 9/11 Attacks. 199 Rashid: Taliban, S. 338. 200 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 55. 62

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

3.1.1. Operation Enduring Freedom: Blitzkrieg gegen die Taliban?

Präsident Bush kündigte die Militäroffensive Operation Enduring Freedom an, die Ziele in Afghanistan bombardieren soll, um den Terrorismus zu bekämpfen. Unter massivem Zeitdruck plante und leitete das amerikanische Zentralkommando (Central Command oder CENTCOM), das verantwortlich für weitere 24 Länder und insbesondere für den Mittleren Osten war, unter der Leitung von General Tommy Franks die Einsätze der OEF-Kräfte. Beabsichtigt wäre diese Mission, wie Sean M. Maloney beschreibt, folgendermaßen:201

„Broadly put, there were supposed to be four phases to the ENDURING FREEDOM campaign in Afghanistan: a ‘shaping campaign’ consisting of special operations forces (SOF) and airpower; the introduction of light infantry to secure forward operating base (FOB) areas; the movement of larger formations to those bases and then action to reduce significant enemy holdouts; and a handover of other forces during a stabilization phase.”202

Um diesen Plan auch umsetzen zu können – was in der Realität nicht gänzlich gelang – forcierte der CIA-Chef George Tenet die Zusammenarbeit mit der Nordallianz, um Bodentruppen für den War on Terror vor Ort zu haben. Die USA brauchte Verbündete, die mit den geographischen Gegebenheiten vertraut waren und diverse Informationen besaßen, aber auch, um Nachrichten zu verbreiten, damit Einfluss auf die afghanische Bevölkerung genommen werden konnte.203 Die CIA unterstützte die Nordallianz nun mit allen notwendigen Mitteln, was auch zu einer geringeren Angewiesenheit auf den Pakistanischen Geheimdienst, den ISI, führte: So musste sie sich nicht mehr alleine auf halbherzige Versprechen verlassen, die Taliban zu entmachten oder Hamid Karzai zu unterstützen.204

Vor dem 11. September war die Förderung der Nordallianz durch die USA jedoch marginal, da diese Anti-Taliban-Front von Russland, dem Iran und Indien militärisch unterstützt wurde. Für den Tadschiken Ahmed Schah Massoud, den Befehlshaber

201 Maloney: Enduring the Freedom, S. 37, S. 43 u. Rashid: Descent into Chaos, S. LI u. S. 61. 202 Maloney: Enduring the Freedom, S. 38. 203 Maloney: Enduring the Freedom, S. 47f u. Rashid: Taliban, S. 339. 204 Rashid: Chaos, S. 54. 63

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

der Nordallianz, verbesserte sich die Lage erst im Jahr 2001 beachtlich: Nach internationalem Druck auf die Taliban konnte er bedeutende im Exil lebende ehemnalige afghanische Anführer wie den usbekische General Rashid Dostum und den Tadschiken Ismael Khan in seine Widerstandsbewegung integrieren. Diese Koalition verschiedener ethnischer Gruppen aus Nord- und Zentralafghanistan wurde als Vereinigte Front bezeichnet, wobei die Nordallianz die Basis der Streitkräfte bildete. Viele setzten ihre Hoffnungen auf Massoud, Afghanistan zu vereinen – doch am 9. September 2001 wurde er von al-Qaida-Attentätern ermordet. Um die Moral der Truppen aufrecht zu erhalten, wurde Massouds Tod zuerst verheimlicht. Nachfolger wurde General Mohammed Fahim.205

Die CIA versuchte nun nach den Anschlägen des 11. Septembers, weitere Anti- Taliban-Gruppierungen dazu zu bringen, sich mit der Nordallianz zu verbünden. Diese Vereinigung sollte mit wenigen amerikanischen Spezialeinheiten, sogenannten Special Operation Forces (SOF), und kleinen CIA-Teams kooperieren. Somit hoffte die Bush-Regierung, möglichst wenige eigene Bodentruppen in Afghanistan einsetzen zu müssen.206

Mit drastischen Angriffen aus der Luft startete die US-geleitete Militärintervention OEF am 7. Oktober 2001207 mit der Operation Crescent Wind. Ziel der ersten Angriffswelle war es, Luftverteidigungssysteme, Flughäfen (Kabul, Kandahar, Herat, Zaranj, Masar-e Scharif) wie auch gezielte Stützpunkte und Einrichtungen der Taliban zu zerstören. Ebenso wurden neun der bekannten al-Qaida Trainingslager (einige davon in Ost-Afghanistan nahe Jalalabad) bombardiert.208

Bereits nach dem ersten Angriffstag war das Luftverteidigungssystem der Taliban massiv angeschlagen, nach einer Woche komplett zerstört. Dennoch gelang es der Nordallianz erst am 9. November nach vierwöchigen Luftangriffen, Mazar-e Scharif einzunehmen, drei Tage danach fielen auch Nord-, West- sowie Zentralafghanistan. Die Taliban mussten die Hauptstadt Kabul aufgeben und zogen sich nach Kandahar,

205 Charlotta Gall: The Wrong Enemy. America in Afghanistan, 2001-2014, Houghton Mifflin Harcourt, Boston/New York 2014, S. 2 u. Rashid: Chaos, S. 43-46. 206 Maloney: Enduring the Freedom, S. 40f u. Rashid: Taliban, S. 339. 207 Laut Maloney könnte der Angriff auch bereits am 6. Oktober 2001 stattgefunden haben. Vgl. Maloney: Enduring the Freedom, S. 43. 208 Maloney: Enduring the Freedom, S. 43f. u. Rashid: Taliban, S. 339f. 64

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

also in den Süden Afghanistans, zurück. Im Nordosten wurden die Taliban von der Vereinigten Front in Kundus eingeschlossen; darunter befanden sich tausende hauptsächlich paschtunische Afghanen, hunderte al-Qaida-Anhänger aber auch hunderte Pakistanis wie zahlreiche pakistanische ISI-Offiziere, die in Afghanistan geblieben waren, um die Taliban im Geheimen weiterhin zu trainieren und unterstützen – insgesamt ungefähr achttausend209 Männer.210

Abb. 6: Afghanistans wichtige Städte (Quelle: Minich: ISAF, S. 6).

Um nicht von der Nordallianz gefoltert oder getötet zu werden, boten die Taliban allen anderen Interessensgemeinschaften ihre Kapitulation an; das CENTCOM wies dieses Angebot zurück, andere Organisationen lehnten ebenfalls ab, da sie nicht

209 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 56. 210 Gall: Enemy, S. 5 u. Maloney: Enduring the Freedom, S. 43f. u. Rashid: Taliban, S. 339f. 65

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

über ausreichende Kapazitäten verfügten, so viele kapitulierende Männer aufzunehmen.211

Weil sich im Kessel von Kundus auch hochrangige Pakistanis befanden, bat Präsident General Pervez Musharraf um eine Öffnung des Luftkorridors und eine Angriffspause. Bush und sein Vizepräsident Richard Cheney kamen dieser Bitte auch nach: In einer Geheimaktion eröffneten sie eine nächtliche Luftbrücke für zehn bis 15 Tage in der zweiten Novemberhälfte, in der ein oder zwei pakistanische Flugzeuge mindestens ein- und bis zu zweitausend Eingeschlossene mitsamt Waffen und Kommunikationssystemen ausflogen. Unter den Evakuierten befanden sich aber nicht nur ISI-Offiziere und pakistanische Soldaten, sondern auch Taliban- Kommandeure und al-Qaida-Anhänger. Seitens der CIA wurden keinerlei Forderungen gestellt, die ausgeflogenen Männer zu überprüfen. Diese von Pakistan als kleine Rettungsaktion angekündigte Luftbrücke nahm große Ausmaße an und wurde unter verärgerten SOF-Soldaten als Operation Evil Airlift bezeichnet. Dass es diese Luftbrücke gegeben hat, bestritten das Pentagon wie auch Pakistan vehement, ist aber durch Zeugenberichte eindeutig belegt.212

Diese Massenflucht hatte für die USA schwerwiegende Folgen: Den evakuierten Taliban und Araber-Afghanen erlaubte der ISI, sich in die unzugänglichen pakistanischen Stammesgebiete Nord- und Süd-Wasiristan zurückzuziehen – das Doppelspiel des pakistanischen Geheimdienstes mit den Amerikanern nahm nun seinen Lauf.213

Doch nicht nur durch den Luftkorridor, auch durch Bestechungsgelder an die Nordallianz entkamen aus Kundus zahlreiche Taliban-Mitglieder und auch ausländische Terroristen. Die Männer, die sich ergaben, verluden Nordallianz- Streitkräfte nach einem fünftägigen, blutigen Aufstand der Araber-Afghanen in Dostums Kriegsfestung Qala Jangi in Container-Lastwagen; darin erstickten fast alle Gefangenen, die einfach in großen Massengräbern in der Wüste Dasht-e-Leili verscharrt wurden. Obwohl dieses grauenhafte Verbrechen Dostums die Organisation Physicians for Human Rights (PHR) aufdeckte, lehnten die USA sowie

211 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 57. 212 Gall: Enemy, S. 8 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 58f. 213 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 60. 66

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

die afghanische Regierung jegliche Untersuchungen ab. Auf Fragen, warum niemand das Verladen dieser Personen verhindert hätte, obwohl SOF-Einheiten in der Nähe gewesen wären, erhielt PHR weder vom CENTCOM noch von Donald Rumsfeld (Verteidigungsminister der USA von 2001-2006) Antworten. Erst nach einer Veröffentlichung im Magazin Newsweek im Jahr 2002 wurde einer Untersuchung dieser Massaker zugestimmt.214

Der letzte große Zufluchtsort der Taliban war Kandahar, doch auch diesen gaben sie am 5. Dezember 2001 auf. Die meisten von ihnen – darunter Mullah Omar – konnten Kandahar vor der Einnahme schon verlassen und zogen sich in ihre Dörfer oder ins pakistanische Belutschistan zurück. Ohne Truppen der USA auf afghanischem Boden konnte die Flucht hochrangiger Taliban-Kommandeure und al-Qaida-Führer wie Osama bin Laden nicht verhindert werden. Nach Aufgabe des letzten Taliban- Lagers im Südosten Afghanistans im April 2002 verschwanden die Taliban von der Bildfläche – bis zum Jahr 2006. Sie waren zwar schwer angeschlagen, doch die Führungsstruktur blieb intakt – damit war der Neuformation in den pakistanischen Stammesgebieten Tür und Tor geöffnet.215

Die Kampfmission OEF endete dennoch erst am 28. Dezember 2014, abgelöst von der Folgemission Operation Freedom’s Sentinel (OFS). Diese startete am 1. Jänner 2015, um das Training, die Beratung und Unterstützung der Afghanischen Sicherheitskräfte fortzusetzen.216

214 Gall: Enemy, S. 13 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 60f. 215 Gall: Enemy, S. 37 u. Rashid: Taliban, S. 340. 216 Hannah Fischer: A Guide to U.S. Military Casualty Statistics: Operation Freedom’s Sentinel, Operation Inherent Resolve, Operation New Dawn, Operation Iraqi Freedom, and Operation Enduring Freedom, Congressional Research Service, August 2015, S. 1. 67

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Abb. 7: OEF-Operationen von 2002-2003 (Quelle: Maloney, Enduring the Freedom, zw. S. 162/163).

Das Überrennen Afghanistans verwechselten die USA vorschnell mit dessen Okkupation, erfolgreicher Besatzung wie auch mit einem blitzartig gewonnenen Krieg: Der zersplitterte Widerstand paschtunischer wie auch allgemein afghanischer Gesellschaften verhinderten zwar verdichtete Abwehrkämpfe gegen militärisch leistungsfähigere Invasoren (wie bereits aus Afghanistans Geschichte bekannt), boten jedoch enorm günstige Umstände für eine aussichtsreiche Guerillataktik verschiedenster Widerstandsgruppen. Die Taliban daher als simples radikal- islamistisches Netzwerk zu betrachten und zu handeln, ohne die Verwandtschaftsverhältnisse sowie den gesamten sozialen Aufbau der afghanischen Bevölkerung – insbesondere der Paschtunen – zu berücksichtigen, war ein fataler Fehler. Dass jeder Regimewechsel auch mit einem Wiederaufbau eines Staates zusammenhängt und unumgänglich ist, haben die USA in Afghanistan wie auch im Irak ignoriert. Somit führte die von den USA geleitete OEF mit einem vermeintlich

68

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

schnellen militärischen Sieg zur Destabilisierung Afghanistans, zur Wiedererstarkung der Taliban und zu einem nicht enden wollenden Krieg.217

3.1.2. Regierungsbildung: Petersberger Abkommen

Der schnelle militärische Erfolg über die Taliban überraschte selbst die USA, die Ende November noch keinen Plan für die Aufstellung einer neuen Regierung in Kabul hatten. Der UN-Sonderbotschafter Lakhdas Brahimi organisierte auf Anordnung der Vereinten Nationen am Petersberg in Bonn ein internationales Treffen, um eine Staatsstruktur mit verschiedenen afghanischen Gruppen zu bilden. Der aus der Gegend um Kandahar stammende populäre Popalzai-Anführer Hamid Karzai wurde zum zukünftigen Präsidenten einer Übergangsregierung gewählt. Laut Rashid galt er aber erst nach seinem beispiellosen Engagement gegen die Taliban Mitte November 2001 als favorisierter Präsidentschaftskandidat der USA. Wichtige politische Ämter wurden von bekannten, oftmals gefürchteten Nicht-Paschtunen besetzt, wie General Dostum als stellvertretenden Verteidigungsminister oder Ismail Khan als Gouverneur der Provinz Herat. In einer bis Juni 2002 einzuberufenden loya jirga sollte dann über eine Übergangsregierung wie auch über zukünftige Präsidentschafts- und Parlamentswahlen entschieden, in einer weiteren loya jirga die Verfassung bis 2003 bestimmt werden. Des Weiteren wurde beschlossen, eine mit UN-Mandat geführte Internationale Afghanistan-Schutztruppe (International Security Assistance Force, ISAF) zur Friedenssicherung nur in Kabul einzusetzen.218

Diese vom 27. November bis 5. Dezember dauernde Bonn-Konferenz schloss, obwohl es teilweise keine Einigung über wichtige Aspekte gab, wie beispielsweise der Entwaffnung der Warlords, mit der Ratifizierung am 6. Dezember 2001. Besonders die Paschtunen sahen ihre Interessen durch eine Unterrepräsentation ihrer Quams zu wenig vertreten, während viele ethnische Gruppierungen der Nordallianz anwesend waren. Doch der größte Fehler, der gemacht wurde, war, dass Vertreter der Taliban überhaupt nicht eingeladen wurden.219

217 Haag: Pashtunen, S. 275 u. Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 71 u. Rashid: Descent into Chaos, S. LII. 218 Abbas: The Taliban Revival, S. 82-85 u. Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 78 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 21f, S. 50 u. Rashid: Taliban, S. 341-343. 219 Abbas: The Taliban Revival, S. 82 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 77 u. Rashid: Taliban, S. 341. 69

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Abb.8: Präsident Hamid Karzai Abb. 9: Verteidigungsminister Fahim Khan (Quelle:HBF/Hartl). (Quelle:HBF/Hartl).

Am Wiederaufbau eines Landes hatte die Bush-Regierung nur wenig Interesse, was man bereits aus einer Aussage in Bushs zweiten Präsidentschafts-Debatte im Oktober 2000 schließen konnte: „I don´t think our troops ought to be used for what´s called nation-building – I think our troops ought to be used to fight and win wars.”220 Nationale Interessen standen für ihn an vorderster Stelle, während Humanitäre Hilfe und der Wiederaufbau von Staaten in den Hintergrund gerückt wurden.221 Daher trainierten US-Soldaten bereits einige Wochen nach der Intervention in Afghanistan für den Einmarsch in den Irak; die USA zogen diese von wichtigen Stützpunkten aus Afghanistan ab. Um die Sicherheit im Land dennoch zu gewährleisten und al-Qaida- Anhänger zu fangen, schlossen die Vereinigten Staaten Verträge mit den Kriegsherren, den sogenannten Warlords der Nordallianz, und finanzierten deren private Milizen über die CIA.222 Somit gab die Anti-Terror-Kampagne der USA den gierigen, korrupten wie skrupellosen und antidemokratisch eingestellten Kriegsherrn

220 George W. Bush: Presidental Debates. Presidential Debate in Winston-Salem, North Carolina, The American Presidency Projekt, Oktober 2000, URL: http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=29419, 29.12.2016. 221 Rashid: Descent into Chaos, S. XLIVf. 222 Rashid: Taliban, S. 342f. 70

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

die Macht, an Bürgerkriegsrivalen – auch an den Taliban – Vergeltung zu üben: Die tadschikischen und usbekischen Warlords der Nordallianz verübten nach dem Untertauchen der Taliban in die pakistanischen Grenzgebiete zahlreiche schreckliche Pogrome gegen paschtunische Gesellschaften, um sich für die ihnen angetanen Gräueltaten durch die fast gänzlich paschtunischen Taliban und deren Netzwerke zu rächen. Dies führte zu einer Vertreibung und Flucht von über einer halben Million Paschtunen vom Norden Afghanistans in den Süden.223 Ahmed Rashid meint dazu:

„Die Kriegsverbrechen, die die Kommandeure der Nordallianz an den Paschtunen verübten, während die Amerikaner stillschweigend zusahen, fachte den Ärger der Paschtunen im Süden an und half dabei, die Taliban-Bewegung später wiederzubeleben.“224

Trotz warnender Stimmen hielt Verteidigungsminister Donald Rumsfeld an seiner Strategie, die Warlords an der Regierung zu beteiligen, fest, anstatt ein professionelles afghanisches Heer mit einem funktionierenden Polizeiapparat und demokratischen Ministern aufzubauen.225 Damit eröffneten sich weitere Problemfelder, wie Hassan Abbas schildert:

„First, the regional players (especially Pakistan and Iran) interpreted this as giving them green light to support or revive their own favorite warlords in Afghanistan. […] Secondly, for ordinary Afghans this was seen as a rerun of the chaotic pre-Taliban days. […] Karzai´s closeness to these rivals of the Taliban served to inspire the Taliban afresh in years to come, besides blocking the rise of a new generation of leaders open to democratic culture.”226

Die USA verpassten somit wieder eine Gelegenheit, einen demokratischen Staat zu etablieren und dadurch Frieden in Afghanistan zu stiften. Auch die Hoffnung der afghanischen Bürger, nach der Wahl Hamid Karzais in der loya jirga im Juni 2002 Gelder von den USA für einen Aufbau der völlig zerstörten Infrastruktur, zur

223 International Crisis Group: The Insurgency in Afghanistan´s Heartland (Autor nicht angeführt), Asia Report No. 207, Juni 2011, URL: https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/insurgency- afghanistan-s-heartland, 30.9.2016, S. 6 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 62 u. Rashid: Taliban, S. 342. 224 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 62f. 225 Rashid: Taliban, S. 343. 226 Abbas: The Taliban Revival, S. 86f. 71

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Schaffung neuer Arbeitsplätze oder zur Investition in die Landwirtschaft und Industrie zu erhalten, erfüllten sich nicht. Die Chance auf eine Wiedereingliederung gemäßigter Taliban, um in Frieden in ihrem Land zu leben, wurde ebenfalls verpasst. Auf allen Ebenen enttäuschte die USA die zivile Bevölkerung und ließ sie im Stich.227

Es ist in Afghanistan ohnedies ein schweres Unterfangen, eine staatliche Ordnung aufzustellen – bisher scheiterte jeder Versuch externer Mächte. Die Staatlichkeit wird als fremdes politisches System des Westens wahrgenommen, mit dem traditionelle Paschtunen-Netzwerke wenig bis gar nichts anfangen können: Das geringe National- und Zusammengehörigkeitsgefühl dieses multikulturellen Landes sowie das Fehlen einer Zentralinstanz in segmentären Gesellschaften – wie es die Paschtunen sind – erschweren den nation-building-Prozess. Verhaltenssteuerung obliegt dazu jedem Quam selbst; mithilfe des Paschtunwali werden Normen aufgestellt, die jede Gesellschaft für sich auslegt und auch Nichteinhaltung sozialer Normen sanktioniert – womit für diese Ethnie das Recht traditioneller Weise auf nichtstaatlicher Ebene gesprochen wird. Der stark ausgeprägte Unabhängigkeitsdrang der paschtunischen Netzwerke steht mit einer Zentralherrschaft und einem staatlichen Machtanspruch generell im Widerspruch. Daher ist eine Legitimation, die jede (rechts-)staatliche, demokratische Regierung benötigt, in Afghanistan aus dem historischen Kontext heraus besonders schwer.228

Die Schaffung einer zentralistischen Regierung in Kabul, in der die Macht laut dem Bonner Abkommen und später der Afghanischen Verfassung von 2004 unter den verschiedenen ethnischen Gruppen Afghanistans aufgeteilt werden sollte, sowie Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative war daher für Karzai ein kompliziertes, fast unrealisierbares Unterfangen. Weiters standen nur wenig Geldmittel zur Verfügung, um 34 Provinzen und 398 Distrikte zu verwalten; dies machte den Staatsapparat ineffizient und schwach.229

227 Rashid: Taliban, S. 343. 228 Haag: Pashtunen, S. 42-50. 229 Abbas: The Taliban Revival, S. 87f. 72

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

3.1.3. International Security Assistance Forces (ISAF)

Erst aufgrund internationalen Druckes willigte Rumsfeld auf der Bonn-Konferenz ein, eine UN-Schutztruppe für Afghanistan aufzustellen. Der im Bonner Abkommen beschlossene Abzug aller schweren Waffen und die Demilitarisierung Kabuls sollte von Friedenstruppen unterstützt werden – was jedoch erst zwei Jahre später gelang. Bitten des Botschafters Brahimis und Karzais, diese Schutztruppen nicht nur auf die Stadt Kabul zu beschränken, wurden nicht erhört. Das schwache Kontingent von nur etwa 5.000 Soldatinnen und Soldaten aus 21 Ländern konnte wenig ausrichten; es war absolut unzureichend, um die Nordallianz zu entwaffnen oder Afghanistan wieder aufzubauen. Das Machtvakuum, das die Taliban hinterließen, füllten die Warlords und auch Drogenbarone schnell auf.230

Die USA waren nur auf den Kampf gegen den Terror fixiert, streckten ihre Arme schon in Richtung Irak aus und hofften auf eine Billiglösung eines afghanischen Wiederaufbaus, was jedoch schwerwiegende Auswirkungen nach sich zog.231 Thomas H. Johnson und M. Chris Mason meinen dazu:

„The inevitable failure of this low level of peacekeeping and reconstruction to effect any meaningful improvement in the lives of the people in the rural south has created an angry environment of unfulfilled expectations. As much or more the Karzai government´s inability to extend its writ beyond Kabul, this gap between expectation and reality is what has opened the door to the resurgence of the Taliban.”232

Dennoch sollte der ISAF-Einsatz unter UN-Leitung mit vorerst britischer Führung, das jedoch nach dem ersten Brigadebefehl vom 28.12.2001 generell dem CENTCOM unterstellt ist (!),233 die Sicherheit Kabuls garantieren und zum Wiederaufbau beitragen, während oberstes Ziel weiterhin der US-geleitete OEF-Einsatz – die

230 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 85 u. Winfried Nachtwei: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr – Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung, in:Phil C. Langer u. a. (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012, S. 33-48, hier S. 35 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 77 u. Rashid: Taliban, S. 343. 231 Nachtwei: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, S. 35. 232 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 86. 233 Interview vom 7.9.2016 (siehe Anhang). 73

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Bekämpfung des Terrorismus mit militärischen Mitteln – blieb. Diese Priorität wurde von vielen internationalen NGOs oft in Frage gestellt.234

Obwohl selbst in den USA bedeutende Stimmen laut wurden, die ISAF-Truppen in Afghanistan zu verstärken und beim Wiederaufbau zu helfen, statt die Taliban einfach durch die Warlords zu ersetzen und das Land sich selbst zu überlassen, wurde von Rumsfeld nichts unternommen. Karzai fühlte sich von den USA im Stich gelassen und versuchte, selbst Hilfsgelder aufzutreiben – doch ohne jegliche Unterstützung der USA war das schwierig.235

Die CIA und das amerikanische Außenministerium verwalteten zudem jegliche Hilfsgelder und benutzten sie hauptsächlich, um Warlords und deren Söldner zu finanzieren sowie um al-Qaida-Anhänger in geheimen Operationen zu jagen. Ebenso wurden Lebensmittellieferungen übernommen, die die CIA über ihre favorisierten Warlords und Kommandeure austeilen ließen.236 Ahmed Rashid beschreibt die Situation folgendermaßen:

„Die afghanische Zivilgesellschaft wurde so stranguliert, bevor sie richtig geboren war, und die afghanische Regierung erschien inkompetent und ohnmächtig. Die Afghanistanpolitik lag nun in den Händen verdeckt operierenden CIA-SOF-Agenten, die über riesige Geldsummen verfügten, aber kein Mandat hatten, das Land wieder aufzubauen.“237

Erst ab 8. August 2003238 wurde die ISAF-Mission schrittweise unter NATO-Führung auf das ganze Land ausgeweitet und regionale Wiederaufbau-Teams, die Provincial Reconstruction Teams (PRTs), eingesetzt. Afghanistan wurde (mit zahlreichen Verzögerungen und Pannen)239 auf fünf Regionalkommandos unter der Führung je einer Nation aufgeteilt. Da diese PRTs teilweise auch der OEF unterstellt waren, zeigte sich mit den zunehmenden Kampfhandlungen bald, dass diese zwei

234 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 238. 235 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 92f. 236 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 94. 237 Ebd. 238 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 225. 239 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 223-229. 74

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Missionen nicht immer zu trennen waren.240 Auch für die afghanische Bevölkerung, die in den ersten Jahren nach der US-Intervention Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte und die ISAF-Mission größtenteils unterstützte, wurde von den USA teilweise irrgeführt: Die Amerikaner nahmen sich oft illegaler Weise die Flagge der ISAF, steckten sie auf ihre Fahrzeuge und führten unter diesem Namen eine der unbeliebten, höchstwahrscheinlich geheimen Operationen der OEF aus, um Informationen von den Afghanen zu erhalten. Durch das Logo, der Force Identity (Aufkleber, Flagge, …), konnte diese Mission auch von der afghanischen Bevölkerung erkannt werden, da es ja grundsätzlich auch eine klare Trennung der Mandate von ISAF und OEF gab. Dieses Verhalten der Amerikaner führte zu Missverständnissen und beschmutzte den anfänglich guten Ruf der ISAF, da die US- Truppen eine raue Vorgehensweise an den Tag legten.241

Abb. 10: Verschiedene Abzeichen des ISAF-Einsatzes (Quelle: Minich: ISAF, S. 1).

Generell war die Zusammenarbeit mit amerikanischen Truppen – sei es unter ISAF-, OEF-Kommando oder anderer US-Interventionskräfte wie der CIA – etwas schwierig, wie auch ein Verbindungs- und Aufklärungsoffizier, der in einem sechsmonatigen ISAF-Afghanistan-Einsatz von August 2002 bis Jänner 2003 im Camp Warehouse in Kabul stationiert war, berichtet:

240 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 238 u. Nachtwei: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, S. 35f. 241 Interview vom 7.9.2016 (siehe Anhang). 75

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

„Grundsätzlich versuchten wir die Amerikaner zu meiden, da sie im Ruf standen, das Feuer auf sich zu lenken. […] Ihr Auftreten war sehr martialisch. Sie mieteten zum Beispiel zivile Fahrzeuge an, demontierten die vorderen Türen und ließen demonstrativ Maschinengewehre oder Sturmgewehrmündungen aus den Türöffnungen ragen. Dabei missachteten sie aus meiner Sicht mehrere Einsatzgrundsätze. Zivile Fahrzeuge verwendet man, um mit ‚low profile‘ unterwegs zu sein. Offensichtliche militärische oder bewaffnete Präsenz hingegen bedeutet ‚high profile‘ - ist aber mit einer entsprechenden Schutzkomponente ausgestattet (z.B. gepanzerte Fahrzeuge). Aus einem zivilen KFZ die Türen abzumontieren und somit die Nachteile von ‚high profile‘ und ‚low profile‘ zu kombinieren, war in Kabul denkbar schlecht. In eines dieser Fahrzeuge wurde auch durch die nicht mehr vorhandene Tür im Gemenge der Kabuler Innenstadt eine Handgranate hineingeworfen.“242

Doch nicht nur ihr Auftreten verursachte Probleme, auch die fehlende Bereitschaft, Informationen preiszugeben, diese mit anderen Stützpunkten/Truppen/Nationen zu teilen, zu kooperieren wie auch willkürlich in Verantwortungsbereichen anderer Nationen zu agieren, führte zu ernsten Missverständnissen, wie folgendes Beispiel des Offiziers zeigt:

„Eines Nachts wurde das Camp Warehouse wieder einmal mit Raketen beschossen und die dafür vorgesehene Quick Reaction Force (QRF) der holländischen Spezialeinsatzkräfte rückte aus, um die Verursacher zu stellen. Gleichzeitig beschlossen die gegenüber dem Camp Warehouse stationierten US- Spezialeinsatzkräfte auf eigene Faust, gegen die Attentäter vorzugehen. Die für die Aktion verantwortliche Kabul Multinational Force wurde nicht informiert. Es gipfelte schließlich in einem nächtlichen Feuergefecht zwischen diesen beiden Truppenteilen.“243

Weiters berichtet der Verbindungs- und Aufklärungsoffizier davon, dass die Amerikaner es generell verboten, von ihnen oder ihren Stützpunkten Fotos zu machen, es für ihn sehr schwer zu erkennen war, wer den US-Special Forces,

242 Interview vom 7.9.2016 (siehe Anhang). 243 Ebd. 76

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

anderen amerikanischen Truppen oder zivilen Security US-Contractors angehörte, und die Amerikaner den anderen Nationen das Gefühl gaben, nicht ernst genommen zu werden.244

Einige Auswirkungen der zwei Mandate – OEF und NATO/ISAF – besonders ihren Effekt auf die Paschtunen, die den Zulauf zu den Taliban forcierten, werden in weiteren Kapitel genauer beleuchtet. Dabei wird vorwiegend auf die gesetzten Maßnahmen des OEF-Einsatzes im Süden und Osten Afghanistans wie auch des ISAF-Einsatzes unter dem Regionalkommando Ost (Regional Command East, RC-E) und auch unter dem Regionalkommando Südwest (Regional Command Southwest, RC-SW) mit US-Leitung Bezug genommen.245

3.2. Phönix aus der Asche: Generation Neo-Taliban

Der schnelle militärische Erfolg der USA, die Vertreibung der Taliban aus Afghanistan und die Etablierung einer neuen Regierung sollten das Land stabilisieren. Doch stattdessen wurde es von den Amerikanern, die in den Irak-Krieg investierten, in einer wichtigen Phase des Wiederaufbaus ignoriert – bis zum Sommer 2004. Währenddessen konnten sich die Taliban in den pakistanischen Grenzgebieten neu organisieren und weitere Kontakte knüpfen. Die Ende 2001 in Massen mit verschiedensten Transportmitteln wie mit Bussen, auf Kamelen, Pferden oder auch zu Fuß nach Pakistan ziehenden Taliban, die teilweise die in den Bergen im Sowjetkrieg angelegten Tunnel- und Höhlensysteme nutzten, wurden an der Grenze willkommen geheißen,246 wie Ahmed Rashid schildert:

„Für viele war es keine Flucht, sondern eine Heimkehr – zurück in die Flüchtlingscamps in Balochistan, wo sie aufgewachsen waren und wo ihre Familien immer noch lebten; zurück in die Madrassas, wo sie einst gelernt hatten; zurück als Gäste in die Moscheen, in denen sie einst gebetet hatten. Diejenigen, die keine Familien hatten, um sie zu empfangen, wurden von Militanten pakistanischer Extremistengruppen – als wären diese Gruppen milde Wohltätigkeitsvereine – an der

244 Interview vom 7.9.2016 (siehe Anhang). 245 Katzman: Afghanistan, S. 18, S. 40 u. Michels: Die Taliban, S. 215. 246 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 132, 147. 77

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Grenze mit Decken, frischer Kleidung und Briefumschlägen voller Geld willkommen geheißen.“247

Die Taliban erholten sich nach einer kurzen Phase der Demoralisierung und begannen bereits im Sommer 2002, sich neu zu formieren. Eine Reihe von Neo- Taliban-Gruppierungen entstand (auch im Auftrag des ISI), doch erst Mullah Omar konnte eine größere sogenannte Neo-Taliban-Bewegung – die Quetta Shura – mit vielen früheren Persönlichkeiten der Taliban installieren. Mullah Omar nahm Kontakte zu ehemaligen Taliban-Kommandeuren wie Mullah Dadullah Akhund (ehemaliger Korps-Kommandeur), Mullah Obaidullah Akhund (ehemaliger Verteidigungsminister), Mullah Abdul Ghani Barader (ehemaliger Militär- Kommandeur und stellvertretender Verteidigungsminister), Mullah Akhtar Mohammed Osmani (ehemaliger Armeechef) und Mullah Abdul Razaq (ehemaliger Innenminister) auf. Diese rekrutierten neue Kämpfer aus Karachi und Belutschistan wie auch aus den südlichen afghanischen Provinzen Uruzgan, Helmand, Kandahar und Zabul. Eine weitere größere, eigenständige aber mit der Quetta Shura verbündete Neo-Taliban-Gruppierung bildete von nun an das Haqqani-Netzwerk. Dessen Anführer war der frühere Taliban-Minister für Stammesangelegenheiten, Jalaluddin Haqqani, der nun von Nord-Wasiristan aus agierte. Die dritte größere Neo- Taliban-Bewegung mit wachsendem Einfluss auf Afghanistan ist die Hizb-e Islami von Gulbuddin Hekmatyar, ebenfalls einem Ghilzai-Paschtunen. Mit koordinierten Guerilla-Angriffen machten sich die Neo-Taliban (vor allem die Quetta Shura) Anfang 2003 wieder in den Provinzen Helmand und Zabul bemerkbar, bis sie schließlich 2006 eine Großoffensive, um die Kontrolle über Kabul zu erlangen, starteten.248

Wenn in der vorliegenden Arbeit von den Taliban nach 2002 die Rede ist, so handelt es sich dabei nicht um eine einzige Widerstandsbewegung, sondern um viele Splitterorganisationen, die teilweise koordiniert, teilweise unkoordiniert handeln und je nach lokalem Machthaber Befehle von einem größeren Neo-Taliban-Netzwerk

247 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 132. 248 Abbas: The Taliban Revival, S. 81 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 138, 140, 223 u. Rashid: Taliban, S. 345. 78

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

annehmen oder auch nicht. Loyalitäten und Fehden zwischen den Kohls, Khels, Clans und Quams spielen dabei eine große, aber oft undurchdringliche Rolle.249

Die zweigleisige Politik Pakistans und die Kurzsichtigkeit der Bush-Regierung sowie deren Fehleinschätzung über die Gesamtsituation Afghanistans werden im nächsten Kapitel kurz erläutert. Da es den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, kann jedoch nicht gänzlich auf die komplexe Situation der pakistanischen Grenzregionen eingegangen werden. Alle weiteren Kapitel konzentrieren sich daher hauptsächlich auf Geschehnisse, Entwicklungen und Interventionen im Zusammenhang mit den USA in Afghanistan.

3.2.1. Pakistan: Grenzgebiete der Anarchie

Warum half Pakistan den von der Bush-Regierung vertriebenen Taliban? Es war doch mit den USA ein Bündnis im Krieg gegen den Terrorismus eingegangen, aber dennoch nahm es tausende Taliban wieder in seinen Grenzgebieten auf. Die Antwort darauf scheint einfach: Das Einzige, das die USA in Afghanistan interessierte, war, Osama bin Laden250 zu fassen. Auch die Zusammenarbeit mit Pakistan beschränkte sich im Krieg gegen den Terrorismus nur auf die Araber-Afghanen und keineswegs auf die Taliban. An einen möglichen Aufschwung und einer Wiederbelebung dieser radikalen Gruppe dachte weder die CIA noch das US-Militär. Daher ließ die Bush- Regierung Musharraf gewisse Spielräume, wenn es um den Umgang mit Militanten vor allem in den FATA und der NWFP (seit 2010 KPK) ging. Pakistan unterstützte verschiedene – teils selbst vom ISI gegründete – Extremistengruppen, um seine eigenen Interessen umzusetzen: Ausbau und Bewahrung des Atomprogramms, Unterstützung der Kaschmir-Causa sowie Widerstand gegen die indische Vormachtstellung und das Etablieren einer pro-pakistanischen Regierung in

249 Martin Schmidt u. Thomas Schrott: Extremistische Gruppierungen im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, in: Alexander Janda u. a. (Hg.): AfPak. Afghanistan, Pakistan und die Migration nach Österreich, Österreichischer Integrationsfonds/Bundesministerium für Inneres, Leobersdorf 2011, S. 69-84, hier S. 73-77. 250 Über die Auffindung und Tötung Osama bin Ladens in Abbottabad (Pakistan) im Mai 2011 durch die Navy Seals gibt es verschiedene Theorien. Umstritten ist, ob ein al-Qaida-Kurier die Amerikaner unabsichtlich auf die Spur zu bin Ladens Versteck geführt oder ihn ein hochrangiger ISI-Offizier schlussendlich den Amerikanern ausgeliefert hat, nachdem der Terrorchef bereits seit 2006 als eine Art Geisel des pakistanischen Geheimdienstes war. Vgl.: Frank Herrmann: Neue Wahrheiten über Osama bin Laden, Der Standard kompakt, 12.05.2016, S. 4. 79

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Afghanistan. Daher schützte Pakistan die Taliban weiterhin, um den vermeintlichen Einfluss auf diese Gruppe und die afghanischen Paschtunen zu erhalten, während es (wenn es politisch vorteilhaft erschien) einzelne al-Qaida-Mitglieder an die USA auslieferte.251

Nach der Flucht aus Afghanistan fanden die Taliban und deren Führungselite mithilfe des ISI in den pakistanischen Grenzprovinzen Zuflucht, wie auch Charlotta Gall beschreibt: „Yet they still had many friends in Pakistan, some of whom were highly placed and influential. Their adopted homeland proved more welcoming than threatening.”252 Quetta, die Provinzhauptstadt von Belutschistan nahe der afghanischen Grenze, wurde zum Exil für viele Taliban. Zahlreiche paschtunische Flüchtlingslager entstanden hier bereits nach der Sowjet-Invasion 1979 – ehemals vertriebene afghanische Paschtunen ließen sich daher oftmals in Quetta nieder, gründeten Familien und bauten sich Existenzen auf. Viele Mitglieder der Taliban stammten von diesen Familien ab und wurden nun wieder herzlich willkommen geheißen. Der aus dem iranischen Exil zurückgekehrte Führer der Partei Hizb-e Islami und Warlord Gulbuddin Hekmatyar befand sich ebenfalls unter dem Schutz des ISI und konnte sich in der NWFP frei bewegen. In der Nähe von Peshawar eröffnete er im paschtunischen Shamshatoo-Flüchtlingslager ein Büro, das zum Stützpunkt seiner Partei wurde. Dem als eher moderaten betrachteten Taliban Jalaluddin Haqqani gewährte der ISI Unterschlupf in Nord-Wasiristan, während in Süd-Wasiristan diverse andere Gruppen wie die Islamische Bewegung Usbekistans ein Refugium erhielten. In diesem Sammelsurium an jihadistischen Gruppierungen im pakistanischen Grenzgebiet konnten sich die Taliban fast frei bewegen und sich in aller Ruhe neu formieren. In Trainingscamps wurden beispielsweise al-Qaida- Anhänger zu ihren Ausbildnern und Geldgebern. Zudem erlernten sie durch andere Widerstandszellen neue Fähigkeiten im Umgang mit Waffen und Technik, implementierten weitere Strategien in ihrer Guerilla-Taktik und bauten sich systematisch Netzwerke auf: Unter anderem besuchten arabische wie irakische Widerstandskämpfer (Ende 2005) die Grenzgebiete Pakistans und brachten ihnen die Improvised Explosive Device (IED)-Technologie und die Selbstmordattentäter-

251 Abbas: The Taliban Revival, S. 99, S. 104 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 105-108 u. Rashid: Taliban, S. 348. 252 Gall: Enemy, S. 38. 80

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Taktiken näher. Dieser Austausch und gefährliche Einfluss auf verschiedene Neo- Taliban-Bewegungen führte ab 2005 zum Einsatz von zahlreichen Selbstmordbombern, zur Verwendung moderner Kommunikationsmethoden und Anwendung neuer Kampftechniken.253

Auch Thomas H. Johnson und M. Chris Mason beschreiben die Situation in den paschtunischen Gebieten Pakistans folgendermaßen: „They provide a steady source of recruits, a safe haven for senior leadership, a base of operations and training for the Taliban, Al Qaeda affiliates, and, to a lesser degree, HiG [Hizb-e Islami, Anm. der Autorin].”254

Dieser Freibrief Pakistans an die Neo-Taliban, sich wieder aufbauen zu können, war ein wichtiges Element ihrer Genese. Aber auch gewisse Entwicklungsprozesse in Afghanistan trugen massiv dazu bei, dass sich eine neue Generation der Taliban wieder reorganisieren und etablieren konnte.

3.2.2. Korruptes Afghanistan: Beispiel Kandahar

Die Verteilung der Regierungssitze, die nicht nach den tatsächlichen Verhältnissen der ethnischen Gruppierungen aufgeteilt wurden, sorgte für massive Spannungen und spornte Rivalitäten unter den Quams der Paschtunen an. Während beispielsweise in der Provinz Kandahar die Zirak Durranis (bestehend aus den Quams der Barakzais, Popalzais, Alikozais, Achakzais) die Sitze der Provinzregierung nach 2001 dominierten und diese Verbindungen zugunsten ihrer eigenen Netzwerke nutzten, um etwa Verwandte aus Gefängnissen zu befreien, wurden die Panjpai Durranis (bestehend aus den Quams der Nurzais, Ishaqzais, Alizais, Khogiyanis, Makos) weitgehend von höheren Positionen ausgeschlossen.255

Die Protegés der USA – die eingesetzten korrupten, machtgierigen wie räuberisch veranlagten Warlords und Gouverneure – nutzten lokale Fehden und Machtkämpfe

253 Abbas: The Taliban Revival, S. 117f u. Gall: Enemy, S. 57 u. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 267f u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 107f, S. 181. 254 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 82. 255 Anand Gopal: The Taliban in Kandahar, in: Peter Bergen u. Katherine Tiedemann (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013, S. 1-68, hier S. 16f. 81

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

in der Regel zu ihren Gunsten, indem sie US-Spezialeinheiten systematisch falsch informierten. Durch die amerikanische Protektion konnten sie sich persönliche Vorteile aus ihrer Position heraus verschafften und wurden durch Gewinn bringende Aufträge zur Versorgung von US-Stützpunkten mit Treibstoff sowie Lebensmitteln noch reicher. Diese lokalen Machthaber bauten beispielsweise vielerorts geheime Gefängnisse auf, in denen Zivilisten eingesperrt und gefoltert wurden, beanspruchten internationale Hilfsgelder für sich und zerstörten Mohnfelder der Bauern, um den Eigenanbau profitabler verkaufen zu können. Doch statt einen funktionierenden Polizeiapparat aufzubauen, finanzierten die CIA-Spezialeinsatzkräfte lokale Milizen wie jene von Warlord und Gouverneur der Provinz Kandahar Gul Agha Sherzai. Generell waren Sicherheitsbeamte – Soldaten der Warlords – in ganz Afghanistan bekannt für ihren Machtmissbrauch. Obwohl es offensichtlich war, dass die Bevölkerung die Warlords ablehnte und ihre Entmachtung verlangte, hofierten sie hochrangige US-Generäle und Beamte weiterhin. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Bush-Regierung unter großem Einfluss von Donald Rumsfeld diese Politik auch nicht nach dramatischen Spannungen zwischen rivalisierenden Warlords einstellte. Dieser unverständliche Rückhalt der Warlords durch die Amerikaner stellte ein massives Hindernis für Afghanistans Entwicklung dar. Infolge der Patronage Amerikas baute sich ein neuer Warlord-Staat auf, wobei Präsident Karzai nur zusehen konnte.256 Der Tadschike Ismail Khan herrschte im Westen, in Zentralafghanistan teilten sich die Macht drei Hazara-Warlords (Karim Khalili, Syed Akbari, Mohammed Mohaqiq) auf, während der Tadschike Mohammed Fahim, Verteidigungsminister der neuen afghanischen Regierung, der vorherrschende Warlord im Land und zugleich stärkster Mann der Regierung war: Statt der Aufstellung einer afghanischen Armee konzentrierte er sich darauf, die Milizen anderer Warlords von sich durch Gelder der USA abhängig zu machen und Machtressorts (Verteidigung, Geheimdienste, Inneres, Äußeres) zu kontrollierten.257

Der folgend exemplarisch skizzierte problematische Zustand in Kandahar nach der Regierungsbildung zeigt stellvertretend für zahlreiche andere Regionen auf, wie Amtsmissbrauch mit dem Zulauf verschiedener paschtunischer Quams zu den sich im Wiederaufbau befindlichen Neo-Taliban zusammenhing.

256 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 20-22 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 94f, S. 103f. 257 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 84f. 82

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Gul Agha Sherzai, der Gouverneur von Kandahar mit einer CIA-geförderten Miliz, regierte wichtige Provinzen im Süden Afghanistans. Angeblich erhielt er auch Gelder vom ISI, hielt enge Kontakte zu den Taliban und war massiv in Drogengeschäfte verwickelt.258 Der aus dem Quam der Barakzai stammende Sherzai versuchte mit starken Verbindungen zu US-Sondereinsatzkräften, seine Rivalen zu beseitigen. Besonderes Anliegen war es ihm, den Nurzai-Quam, aus dem ehemalige Taliban- Regierungsmitglieder stammten, zu entmachten. Ebenso wurde der ganze Ishaqzai- Quam, der im Westen der Stadt Kandahar ansässig war, beschuldigt, Taliban- Mitglied zu sein, worauf der gesamte Quam verhaftet wurde. Sherzai und seine Kommandeure wie Khalid Pashtun (Sherzais Sprecher) und Karam (afghanischer Geheimdienst-Agent) missbrauchten ihre Macht und legten eine brutale Vorgehensweise an den Tag. Anand Gopal schildert die Lage wie folgt: „These commanders targeted men formerly associated with the Taliban, often torturing them in secret prisons, according to numerous tribal elders, government officials, and Taliban members.“259 Auch in den ländlichen Gebieten rund um Kandahar nutzte das Sherzai-Netzwerk seine Autorität aus, um die Bevölkerung finanziell auszubeuten: Seine Männer forderten Wegzölle ein, ließen sich von Drogenhändlern Schmiergeld zahlen und forderten von der Bevölkerung Schutzgelder. Zudem vergab Sherzai Positionen in seinem Machtbereich nur an seine Günstlinge – allen voran Barakzai- Paschtunen. So kam es, dass viele rivalisierenden Quams wie auch frühere rangniedrigere Taliban samt und sonders mit ihren Verwandten und Freunden aus dem Einflussgebiet Sherzais flüchteten und sich in den Oppositionsbewegungen talibanischer Netzwerke wiederfanden.260

Aber nicht nur die Nurzais und Ishaqzais liefen in großen Scharen zu den Taliban, auch interne Fehden und Machtkämpfe zwischen verschiedenen Clans der Zirak Durrani forcierten aus diversen Gegebenheiten und persönlichen Interessen die Unterstützung dieser Widerstandsgruppe – so zum Beispiel Kandahars talibanischer Schattengouverneur Mawlawi Muhammad Issa im Jahr 2010 aus dem Quam der

258 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 84f. 259 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 12. 260 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 12f u. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 251 u. Wohlgut: Afghanistan, S. 111. 83

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Popalzai. Hier spielt die historisch gewachsene Rivalität der Barkazai und den Popalzai eine gewisse Rolle.261

Alex Strick van Linschoten und Felix Kuehn fassen die Situation ganz Afghanistan betreffend folgendermaßen zusammen:

„Bandits and rogue commanders seized the opportunity to resume their trade, while family members of Taliban and tribal elders fell victim to abuses by individuals associated with the new interim government and were further alienated. Individuals and communities who saw themselves marginalized, or who seemingly default became the opposition of the new government, actively reached out to the Taliban leadership that was regrouping across the border from Kandahar, in Quetta, Pakistan.”262

Alte Rivalitäten entfachten neu, um das Machtvakuum, das die Taliban hinterlassen haben, zu füllen. Der daraus entstehende Unmut trieb die als Zielscheibe benutzten paschtunischen Quams oftmals direkt in die Hände der Taliban. Eben diese Rivalitäten ermöglichten es den Taliban, Männer von diversen Quams, Khels und Khols zu rekrutieren und in ihre Bewegung mit unterschiedlichen Motivationen einzubinden. Zustände wie die limitierte Zentralregierung in Kabul, eine unzuverlässige Polizei, Justiz und Gesetzgebung, die von bestimmten Lobbys kontrolliert werden, ein schwaches afghanisches Militär und korrupte, gewaltbereite Warlords in politischen Ämtern führen dazu, dass die Bevölkerung die Taliban oftmals als geringeres Übel ansahen. Neue Taliban-Bewegungen bilden folglich oft Interessensgemeinschaften und verstehen sich im Großen und Ganzen als nationale Islamistenorganisationen. Die ausgebeuteten Paschtunen stellt sich häufig nicht aus ideologischer Motivation an die Seite der Taliban, sondern aus rein pragmatischen Gründen.263

261 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 20 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 84. 262 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 251. 263 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 20 u. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 251 u. Wohlgut: Afghanistan, S. 254. 84

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

3.2.3. Amerikas Stiefkind: Südöstliches Afghanistan

Die afghanische Regierung wurde vor allem von vielen Paschtunen im Süden und Osten als korrupt und ungerecht wahrgenommen. Amerikas Aufmerksamkeit galt in dieser Phase nicht den Entwicklungen in Afghanistan, sondern dem Einmarsch in den Irak. Die sogenannte light footprint-Militäraktion, die die Vertreibung der Taliban mit minimalsten amerikanischen Bodentruppen zu Wege brachte, wurde als großer Erfolg gefeiert und eine neuerliche Bedrohung durch die Taliban als ausgeschlossen erachtet.264 Der Fokus der USA auf den Irak bedeutete zudem, dass in den Regionalkommandos unter US-Leitung Ressourcen für die Irak-Invasion abgezweigt wurden. Durch die jahrelange Vernachlässigung dieser Regionen konnten die Taliban nach und nach eine Schattenregierung aufbauen,265 wie Hassan Abbas bemerkt: „The Afghan campaign became a mere sideshow during the US engagement in Iraq. The demoralized Taliban in and around Afghanistan, on the other hand, drew fresh inspiration from the brutal insurgency in Iraq.”266

In den südöstlichen Provinzen fehlten Saatgut und Düngemittel, nach einer langen Dürreperiode waren die Wasservorräte mehr als knapp. Viele Bauern warteten ab 2001 auf die versprochenen US-Hilfsmittel – doch vergebens. So bauten sie wieder die einzigen Samen an, die sie hatten und die auch bei kargen Bedingungen in den Bergregionen wuchsen – der Schlafmohnanbau blieb die alleinige Möglichkeit, um wirtschaftlich überleben zu können und bot den Bauern ein Sicherheitsnetz, das ihnen der Staat nicht ermöglichen konnte. Dies lockte wiederum die Taliban an, die Steuergelder für die Mohnfelder eintrieben, im Gegenzug versprachen, diese Felder vor der Zerstörung durch die Regierung zu schützen. Den Paschtunen blieb keine andere Alternative, als sich auf diesen Handel einzulassen,267 wie auch Rashid erklärt: „Zu einer Zeit, in der es keine Arbeitsplätze gab, sondern nur Armut und lediglich das Versprechen auf ausländische Agrarinvestitionen, blieb vielen Bauern

264 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 265. 265 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 266f. 266 Abbas: The Taliban Revival, S. 89. 267 Rashid: Taliban, S. 348f. 85

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

keine andere Wahl, als Mohn anzubauen und sich unter den Schutz der Taliban zu stellen.“268

Dieses Drogengeld wurde von den Taliban zur Finanzierung ihrer Aufstände, zur Bestechung der Polizei, der Justiz sowie der Regierung eingesetzt und führte zu einer zunehmenden Abhängigkeit und Aussichtslosigkeit der Bevölkerung. Dennoch waren weder die USA noch andere Länder bereit, Gegenmodelle zu diesem Anbau für die Bevölkerung zu entwickeln und/oder den Drogenanbau zu bekämpfen, obwohl ersichtlich war, dass dieser Handel eine der wichtigsten Einnahmequellen der Taliban und auch al-Qaidas darstellte beziehungsweise nach wie vor ist – ein Umdenken erfolgte erst im Jahr 2009.269

Verschiedenste Projekte im Süden Afghanistans, die ins Leben gerufen wurden, um die Landwirtschaft aufzubauen und alternative Existenzen für die Bauern zu schaffen, scheiterten am Mangel an US-Truppen, die das Personal der Projektgruppen schützten. Ebenso flossen viele Gelder in die falschen Hände; eine Koordination zwischen der afghanischen Regierung, den westlichen Alliierten, dem US-Militär, den Hilfsorganisationen, NGOs oder der UN fanden nicht statt.270

Das Desinteresse der USA gegenüber den armen, bildungsfernen, traditionellen im Süden und Südosten lebenden Paschtunen sollte ihnen in den kommenden Jahren zum Verhängnis werden. Nur 13 CIA-Agententeams waren laut Hassan Abbas in Afghanistan abgestellt, um die politischen Belange zu koordinieren. Die 2003 per Dekret eingeführte Afghanische Nationalpolizei (ANP) war in den südöstlichen Provinzen de facto nicht zugegen – Taliban-Gruppierungen hatten hier leichtes Spiel. Noch im Sommer 2003 gab es unter den paschtunischen Bauern im Südosten keine breitere Anhängerschaft und Unterstützung der Taliban, obwohl sie bereits eine gewisse Bedrohung darstellten. Doch die südlichen Provinzen wurden weiterhin systematisch ignoriert. Unzureichende Mittel für den Wiederaufbau und ohne internationale Truppen, die für die Sicherheit der Bevölkerung sorgten, konnte sich die Widerstandsbewegung der Taliban langsam aber sicher festigen. Laut Rashid schliefen die Taliban tagsüber in Moscheen, schwärmten nachts aus und bestachen,

268 Rashid: Taliban, S. 349. 269 Rashid: Taliban, S. 349f. 270 Abbas: The Taliban Revival, S. 169 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 203f. 86

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

erpressten und terrorisierten Bauern, damit diese mithalfen, US-Soldaten zu töten. Dennoch wurde diese ländliche Region nicht vom amerikanischen Geheimdienst überwacht. Das Vertrauen von den ansässigen Quams konnte dadurch weder die afghanische Regierung noch die USA gewinnen.271

Jahrelang lehnte die Bush-Regierung den Einsatz von ausreichenden Truppen in den heiklen Regionen ab, wie auch Johnson und Mason festhalten:

„The inevitable failure of this low level of peacekeeping and reconstruction to effect any meaningful improvement in the lives of the people in the rural south has created an angry environment of unfulfilled expectations. As much or more than the Karzai government´s inability to extend its writ beyond Kabul, this gap between expectation and reality is what has opened the door to the resurgence of the Taliban.”272

Erst 2005 wurden NATO-Einsatzkräfte im Süden Afghanistans eingesetzt, doch Informationen über diese Region konnten ihnen die Amerikaner keine geben: Satellitenüberwachungen haben im Süden Afghanistans und in Quetta nicht stattgefunden, was den Taliban über Jahre hinweg ermöglicht hatte, sich unbemerkt und ungehindert zwischen Afghanistan und Belutschistan zu bewegen.273

Die USA hatten eine weitere Chance, die Taliban wirklich zu verbannen, verpasst. Soziopolitische und ökonomische Versäumnisse beim Wiederaufbau Afghanistans und das Ignorieren sich abzeichnender Aufstände öffneten den Neo-Taliban abermals die Türen.274

3.3. Vorgehensweise der USA & ihre Auswirkungen

Beim Petersberger Abkommen zeichnete sich bereits ab, dass die Vereinten Nationen die Taliban einfach außen vor lassen wollten. Dieses Abkommen stellte keinen Friedensvertrag dar, da die besiegten Taliban nicht anwesend waren und es

271 Abbas: The Taliban Revival, S. 90f u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 146-148. 272 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 86. 273 Rashid: Taliban, S. 351. 274 Abbas: The Taliban Revival, S. 93. 87

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

weder Truppenreduzierungen der Streitkräfte noch Maßnahmen für eine Waffenruhe vorsah.275

Von den Vereinten Nationen – allen voran von den USA – wurde verabsäumt, Schritte zur Aussöhnung mit den Taliban zu setzen. Leider setzte sich dieser Trend fort: Viele Führungskräfte der entmachteten Taliban wie Mullah Abdul Ghani Barader, Seyyed Tayyeb Agha, Sayed Muhammad Haqqani, Mullah Obaidullah und Mullah Abdul Razzaq wollten gegenüber der neuen Regierung kapitulieren,276 wie auch Anand Gopal schreibt:

„The main request of the Taliban officials in this group was to be given immunity from arrest in exchange for agreeing to abstain from political life. […] Some members even saw the new government as Islamic and legitimate. […] But Karzai and other government officials ignored the overtures – largely due to pressure from the United States and the Northern Alliance, the Taliban´s erstwhile enemy.”277

Statt die Eingliederung der gemäßigten Taliban zu forcieren, begegnete ihnen der Westen mit Drohungen und bot keine andere Wahl, als das Land zu verlassen. In Afghanistan war die Taliban-Elite nicht mehr sicher. Folge dessen verließen die meisten das Land, schlossen sich Oppositionsbewegungen wie der Quetta Shura an und spielten eine bedeutende Rolle beim Aufbau der Neo-Taliban-Generation.278

3.3.1. Guantánamo Bay und Internierungslager Bagram

Taliban-Kommandeure, die sich trotz Warnungen einiger Taliban-Sympathisanten den US-Streitkräften ergaben, wurden schlecht behandelt. Sie kamen im Zuge der OEF sofort auf den US-Marinestützpunkt in der Guantánamo Bay auf Kuba, einem umstrittenen Gefangenenlager für Terroristen.279

Mullah Fazel und Mullah Nori, zwei hochrangige Taliban-Mitglieder, stellten sich General Dostum freiwillig. Er bot ihnen ein luxuriöses Exil in seinem Gästehaus, wo sie zwar unter Beobachtung, aber sehr bequem wohnen konnten. Doch nach einigen

275 Rashid: Taliban, S. 342. 276 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 6. 277 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 11. 278 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 6, 11. 279 Rashid: Taliban, S. 344. 88

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Wochen kamen US-Streitkräfte und verhafteten die beiden. Jegliche Amnestie- Abmachungen, die sie mit Dostum getroffen hatten, hielten nicht – er lieferte Mullah Fazel und Mullah Nori den Amerikanern regelrecht aus. Sie wurden ebenfalls nach Guantánamo gebracht, wo sie erst am 31. Mai 2014280 freigelassen wurden, genauso wie vier weitere Taliban, die verhaftet werden konnten: Abdul Haq Wasiq, , Mohammed Nabi und Mullah Zaeef.281

Aber die große Mehrheit der 220 Afghanen, die nach Guantánamo Bay transportiert wurden, waren einfache Zivilisten, die fälschlicherweise beschuldigt wurden, Taliban- Führer oder al-Qaida-Mitglieder zu sein oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Diese Verhaftungen waren rechtlich sehr umstritten,282 wie auch Charlotta Gall beschreibt:

„For nearly the entire duration of the war, Afghanistan had no Status of Forces Agreement with the United States, which would formalize the right of American forces to detain and imprison Afghans. The Obama administration did eventually introduce military tribunals at Bagram, but the Afghans still felt many of those held were unjustly detained. It was not until 2012 that the two presidents signed an agreement for all detention facilities to be handed over to Afghan authorities.”283

Da die Taliban aufgrund fehlender Anerkennung der NATO und ihrer radikal- islamistischen Ausrichtung nicht als staatliche Organisation galten, betrachteten internationale Justiz- und Menschenrechtsstandards diese nicht als Kriegsgefangene. Daher wurden sie dann als „widerrechtliche Kämpfer“ bezeichnet – doch der rechtliche Rahmen blieb weiterhin in einer gewissen Grauzone. Bis zu 660 Menschen aus ungefähr vierzig Ländern befanden sich ohne Anklage und ohne Prozess jahrelang auf Kuba und wurden im US-Stützpunkt in der Guantánamo Bay

280 Kate Clark: Bergdahl and the ‘Guantanamo Five’: The long-awaited US-Taleban prisoner swap, Afghan Analyst Networks, Juni 2014, URL: https://www.afghanistan-analysts.org/bergdahl-and-the- guantanamo-five-the-long-awaited-us-taleban-prisoner-swap/, 12.08.2016. 281 Abbas: The Taliban Revival, S. 80 u. Gall: Enemy, S. 18. 282 Gall: Enemy, S. 112. 283 Ebd. 89

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

unter menschenunwürdigen Bedingungen (Isolierungshaft, Folter, Schlafentzug) festgehalten – Anfang 2016 verweilten noch immer 104 Gefangene dort.284

Human Rights Watch beschreibt die rechtliche Situation in einem Bericht folgendermaßen:

„Even if the United States maintains that an international armed conflict persists in Afghanistan […], U.S. actions with regard to its detainees would remain contrary to international law. During international armed conflict, civilians may be detained for ‘imperative reasons of security’, but they may not be held indefinitely without review. The Fourth Geneva Convention permits detention ‘only if the security of the Detaining Power makes it absolutely necessary’. Even then, the internee is entitled to have his internment reconsidered ‘as soon as possible’ before an appropriate court or administrative board set up by the Detaining Power for that purpose. Thus, most of the standards applicable to non-international conflict are applicable even to international conflicts. By flaunting these standards, the United States is violating international law.”285

Auch weitere Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International halten die Vorgehensweise der USA für gesetzeswidrig und fordern seit Jahren eine Schließung des Gefangenenlagers, in dem internationale Justiz- und Menschenrechtsstandards durchgehend missachtet werden, was ein schlechtes Licht auf die USA wirft,286 wie auch Ahmed Rashid festhält: „The treatment of prisoners by the U.S. military at Guantánamo Bay and Abu Ghraib [irakisches Gefängnis in Bagdad, Anm. der Autorin] were symptoms of an ever-expanding war that alienated the entire globe.”287

Nicht alle Terror-Verdächtigen kamen im Rahmen der OEF nach Guantánamo Bay. Hunderte unschuldige Zivilisten und angesehene Paschtunen-Persönlichkeiten, die von US-Truppen mitten in der Nacht überfallen, verschleppt und tage- oder wochenlang verhört sowie auch monatelang ohne Anklage festgehalten wurden,

284 Amnesty International: USA: Guantánamo. Seit 14 Jahren ein Symbol für Unrecht und Folter (Autor nicht angeführt), Jänner 2016, URL: https://www.amnesty.at/de/guantanamo/?highlight=true&unique=1471025799, 12.08.2016 u. Wohlgut: Afghanistan, S. 120f. 285 Human Rights Watch: Enduring Freedom. 286 Amnesty International: USA: Guantánamo. 287 Rashid: Descent into Chaos, S. LVII. 90

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

kamen ins Militärgefängnis Bagram. Diese Haftanstalt in Bagram, welches die Vereinigten Staaten als Internierungslager in Afghanistan nutzten, lag innerhalb des Bagram Air Base – dem Hauptquartier der Amerikaner.288 Wie auch ein Offizier berichtet, wurde es stets streng bewacht:

„Zweimal war ich am US-Stützpunkt in Bagram. Im Norden Kabuls befand sich ein US-amerikanisches Camp innerhalb des Verantwortungsbereiches der Kabul Multinational Force (KMNB), es durfte jedoch kein Soldat anderer Nationen dieses Camp betreten. Ein Grund dafür wurde nicht genannt. Mehrere Versuche deutscher Kameraden und auch ein eigener scheiterten bereits am äußeren, von afghanischen Soldaten besetzten Sicherungsring.“289

Berichten zufolge wurden die Häftlinge in Bagram durch US-Special Forces gedemütigt (z.B. durch Nacktfotos), gefoltert, ausgeraubt und anschließend meist ohne jegliche Entschädigungssumme in ihre oft zerbombten Häuser oder Dörfer zurückgebracht,290 wie Human Rights Watch festhält:

„For many of these men, arrest is the start of an ordeal in which they may be beaten or otherwise mistreated during arrest or detention, repeatedly and seemingly randomly interrogated, held for weeks or months without family visits, and eventually released only to find that their homes were looted by Afghan troops.”291

Diese viel und heftig diskutierte Unterbringung und Verschleppung der Terrorverdächtigen wie willkürliche Verhaftungen aufgrund von zweifelhaften Warlord-Aussagen, die auch zivile Opfer forderten, trugen in Afghanistan dazu bei, dass die afghanische Bevölkerung die USA als Feinde wahrnahmen,292 wie Gall anmerkt:

„Some of those detained and killed were influental tribal figures, and their mistreatment did great harm to America´s image in Afghanistan. Whole tribes were angered by the harsh treatment meted out to respect elders. As their elders were

288 Human Rights Watch: Enduring Freedom. 289 Interview vom 7.9.2016 (siehe Anhang). 290 Human Rights Watch: Enduring Freedom. 291 Ebd. 292 Rashid: Taliban, S. 344. 91

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

locked up or killed, Afghans withdrew from cooperating with U.S. forces and the Karzai government.”293

Aber auch unverständliche, für die Bevölkerung nicht nachvollziehbare Bündnisse mit ehemaligen skrupellosen Terror-Verdächtigen tragen zu einem bedenklichen wie zweifelhaften Bild der USA bei, wie das Beispiel von Abdul Raziq zeigen soll:

Der Warlord Abdul Raziq wurde ebenfalls 2001 in Guantánamo inhaftiert, jedoch im Mai 2002 wieder frei gelassen. In Nordafghanistan führte er seine „Geschäfte“ weiter und wechselte je nach Situation seine Bündnisse; er kooperierte, wie es ihm passte, mit den Taliban, mit den Warlords und auch mit der Regierung. Somit hatte er Kontakte zu allen Seiten. Obwohl Raziq von der deutschen Bundeswehr 2009 aufgegriffen und nach Kabul gebracht wurde, um ihn vor ein afghanisches Gericht zu stellen, blieb er von einem Prozess verschont; Aussagen Raziqs wären wahrscheinlich auch für die mächtigen Warlords wie Dostum und Fahim, aber auch der Regierung unangenehm gewesen.294

Hierbei ist anzumerken, dass das Interesse der USA und auch der Vereinten Nationen fehlte, ein internationales Gericht für afghanische (Kriegs-)Verbrecher einzurichten.295 Unverständlich ist auch, dass die USA mit Raziq Geschäfte machen und ihn trotz seiner Brutalität der Bevölkerung gegenüber als Verbündeten sehen, wie auch Gary Owen, Autor bei Afghan Analysts Network wie auch Vice News und Entwicklungshelfer in Afghanistan, anmerkt: „Raziq is arguably the most troublesome example of America's questionable allies, since he's part of the Afghan national security forces, and as such enjoys the benefits of being part of a legitimate security institution.”296 Raziq war zuerst nur ein kleinerer Warlord mit einer überschaubaren Miliz; doch in den letzten Jahren konnte er seinen Machtbereich deutlich ausweiten: Als Polizeichef der Provinz Kandahar leitet er auch verschiedene Gefängnisse, betreibt weiterhin einen lukrativen Drogenhandel und gilt als rücksichtslos, kalt wie

293 Gall: Enemy, S. 112. 294 Wohlgut: Afghanistan, S. 135f. 295 Wohlgut: Afghanistan, S. 136. 296 Gary Owen: A Warlord, a Drug Smuggler, and a Killer: Meet the Men Poised to Rule Afghanistan, Vice News, Mai 2014, URL: https://news.vice.com/article/a-warlord-a-drug-smuggler-and-a-killer-meet- the-men-poised-to-rule-afghanistan, 13.08.2016. 92

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

korrupt. Doch Washington ist der Meinung, von seiner Macht profitieren zu können.297

3.3.2. Freund oder Feind?

Die fragwürdigen Bündnisse mit den Warlords und deren zweifelhaften Aussagen gegenüber den US-Special Forces wie auch dem amerikanischen Geheimdienst waren Ursprung vieler unnötiger Bluttaten an unschuldigen Zivilisten in Ost- und Südafghanistan.

Bereits im Dezember 2001 gab es im Rahmen der OEF viele Zwischenfälle mit über zweihundert getöteten Menschen durch US-Bombardements, die alle auf Fehlinformationen durch die Warlords zurückzuführen sind: 55 Zivilisten wurden bei Luftangriffen am 1. Dezember in der Nähe von Tora Bora getötet. Weiters bombardierten die US-Truppen fälschlicherweise einen Konvoi bestehend aus 15 Fahrzeugen, die am 22. Dezember 2001 zur Vereidigung Hamid Karzais unterwegs waren. Mehr als sechzig Personen wurden hierbei getötet, darunter viele enge Freunde Karzais. In der Gegend um Gardez kamen am 29. Dezember ebenfalls 52 Zivilisten ums Leben. Doch zu dieser Zeit waren die Afghanen erleichtert, erst einmal von den Taliban befreit worden zu sein – aber die Zwischenfälle mit hohen Opfern in der Bevölkerung nahm in den folgenden Jahren drastisch zu, was die Taliban zu Propagandazwecken mühelos ausnutzen konnten.298

Kulturelle Missverständnisse führten ebenfalls immer wieder zu Luftangriffen auf die afghanische Bevölkerung. So auch im Juli 2002 in Kakrak, einem Dorf der Provinz Urusgan: Dort feierten über zweihundert Leute die Verlobung des 16-jährigen Abdul Malik bis spät in die Nacht hinein. Ohne jegliche Vorwarnung wurde das Haus, in dem sich die Frauen mit den Kindern aufhielten, bombardiert. Weitere Raketen wurden auf die Gesellschaft abgefeuert. Insgesamt starben bei diesem Angriff 54 Menschen, weitere hundert waren schwer verletzt – darunter viele Frauen und auch Kinder. Aber unter ihnen befanden sich weder al-Qaida-Anhänger noch Taliban – im Gegenteil: Diese Dorfbewohner waren Unterstützer Karzais. Doch nach diesem

297 Owen: A Warlord, a Drug Smuggler, and a Killer. 298 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 78. 93

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Attentat erklärte Abdul Malik den Amerikanern die Feindschaft und kehrte der afghanischen Regierung den Rücken zu.299

In einer groß angelegten Nacht-Operation von US-Truppen sollte ein angeblicher Taliban-Stützpunkt im Norden des Dorfes Kakrak angegriffen werden. Als US- Soldaten Schüsse hörten, forderten sie Luftunterstützung an, obwohl diese Schüsse nicht von ihrem eigentlichen Zielort kamen. Diese Schüsse, abgefeuert von Kalaschnikows, gehörten aber traditionell zum Feiern einer Verlobung oder Hochzeit dazu. Ebenso feuerten mancherorts Dorfbewohner ihre Waffen ab, wenn sie amerikanische Kampfflugzeuge sahen – manche, weil sie die Amerikaner hassten und Taliban-Sympathisanten waren, andere einfach aus Spaß.300 In dieser Nacht bombardierten US-Flugzeuge noch drei weitere Dörfer, ebenfalls mit zahlreichen Toten – aber weder hochrangige Taliban-Kommandeure noch schwere Waffen oder Luftverteidigungssysteme wurden gefunden.301

Auch ein Appell Karzais an den US-Geheimdienst, die Richtigkeit ihrer vermeintlichen Ziele besser zu überprüfen und eine angemessenere Vorgangsweise an den Tag zu legen, führte zu keiner wesentlichen Änderung.302 Überhaupt wurde die Verhältnismäßigkeit der Luftangriffe von vielen Afghanen in Frage gestellt, wie aus folgendem Beispiel ersichtlich wird:

In Ghazni wurde im Jahr 2004 das gesamte Haus eines vermeintlichen Taliban- Unterstützers in einem Luftangriff bombardiert. Der Besitzer des Hauses war gar nicht daheim – aber vor seinem Haus spielten neun Kinder und ein Jugendlicher, die vom US-Bombardement getötet wurden.303

Das Zerstören ganzer Häuser durch einen übermäßigen Einsatz der Luftwaffen war eine – so scheint es – beliebte Praktik der unterbesetzten US-Bodentruppen; sehr oft trafen sie auch falsche Ziele. So ist es nicht verwunderlich, dass die vorwiegend

299 Gall: Enemy, S. 93-97. 300 Gall: Enemy, S. 98. 301 Gall: Enemy, S. 99. 302 Gall: Enemy, S. 100f. 303 Gall: Enemy, S. 101. 94

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

paschtunische Bevölkerung sich gegen die afghanische Regierung und vor allem gegen die Amerikaner stellte,304 wie auch Charlotta Gall beschreibt:

„From the beginning of the war, coalition operations all over the Pashtun lands of southern and eastern Afghanistan killed one to two thousand Afghans every year. The number climbed relentlessly as fighting intensified, and we started hearing of young men running off to join the Taliban to revenge for the deaths of relatives.”305

Auch in allen Jahren danach fanden eine Unmenge an US-Luftangriffen unter ISAF- Leitung statt, die Zivilisten statt Terroristen trafen, wie auch im Jahr 2009 im Dorf Granai, wo 147 Personen – Frauen und Kinder eingeschlossen – getötet wurden. Überlebende Einheimische fragten sich zu Recht, warum man die vermeintlichen Taliban nicht außerhalb beschoss, sondern mitten in eine Dorfgemeinschaft zielte.306

Doch nicht nur durch Luftangriffe wurden Zivilisten getötet und der Zulauf zu den Taliban somit vorangetrieben, auch durch Tötungen der US-Special Forces im Auftrag der durch die USA favorisierten Warlords trieben ganze Quams in die Hände der Widerstandsgruppierungen, wie nachstehendes Beispiel zeigt:

Die willkürliche Ermordung eines bekannten und einflussreichen etwa siebzigjährigen (oder noch älteren) Ishaqzai-Führers Hajji Burget Khan 2002 hatte weitreichende negative Folgen für die Amerikaner und die afghanische Regierung. US-Kräfte drangen in Khans Haus in der Region um Maiwand (Provinz Kandahar) ein, töteten ihn mit einem Kopfschuss, hinterließen einen seiner Söhne querschnittsgelähmt und verhafteten einige Verwandte, denen sie zur Demütigung die Bärte rasierten und die Haare abschnitten. Dieses Verhalten der Amerikaner führte zur Destabilisierung in ganz Maiwand und anderen Ishaqzai-Regionen in Kandahar, Helmand und weiteren Gebieten.307 Charlotta Gall legt die Situation folgendermaßen dar: „The Ishaqzai thus became deadly opponents of the foreign forces across a swath of territory. Haji Berget´s sons took up arms and joined the Taliban. By targeting their leader, American forces had incurred the enmity of an entire tribe.”308 Khan war wie viele

304 Gall: Enemy, S. 100f. 305 Gall: Enemy, S. 101f. 306 Gall: Enemy, S. 104f. 307 Ebd. u. Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 26f. 308 Gall: Enemy, S. 114. 95

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Ishaqzai und Nurzai in Drogengeschäfte (Opiumhandel) verstrickt, jedoch kein Taliban-Mitglied. Afghanische Kommandeure mit Verbindungen zu US-Einheiten dürften ihn als Rivalen betrachtet haben und ließen ihn kurzerhand ermorden. Diese Tat hatte auch Auswirkungen auf andere Quams, die die Ausländer – die Amerikaner – sowie die afghanische Regierung für diese Gräueltat verantwortlich machten.309

Der beschriebene Überfall der US-Truppen auf paschtunische Zivilisten war kein Einzelfall; fast jede Ortschaft in der Provinz Kandahar berichtete ähnliche Geschichten. Kein Wunder, dass viele Paschtunen die Amerikaner und die afghanische Regierung als Feinde wahrnahmen und sich den Taliban anschlossen, um Rache (badal) zu üben.310

Ab 2009 verfolgten die Amerikaner statt der schnellen Luftangriffe eine neue Taktik, bei der in zahlreichen Nachtaktionen Taliban-Kommandeure und -Sympathisanten gefangen oder getötet werden sollten – die sogenannte kill/capture-Strategie.311 Gall beschreibt die Vorgehensweise der US-Truppen wie folgt:

„Special operation forces made scores of raids a week, with teams going out sometimes several times a night to roll up cells and whole networks of Taliban. […] But reports filtered out that the teams were on kill missions, executing people as they slept, shooting unarmed villagers without warning.”312

Diese vom Militär abgestrittene jedoch von Zeugenaussagen laut Charlotta Gall eindeutig bestätigte Vorgehensweise unter General Stanley A. McChrystal, verstörte die Paschtunen sehr – weitere Netzwerke distanzierten sich von den Amerikanern.313

Wie in der vorliegenden Arbeit schon erwähnt, ist badal (die Rache) ein zentraler Aspekt im paschtunischen Sozialkodex. Dieser trug maßgeblich zur Beteiligung paschtunischer Netzwerke an Oppositionsgruppierungen bei, denn wenn ein Familienmitglied verletzt oder gar getötet wird, so gilt das als Ehrverletzung des gesamten Khels/Kohls/Clans/Quams – je nach Stellung des Opfers innerhalb des

309 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 26f. 310 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 27. 311 Gall: Enemy, S. 105. 312 Ebd. 313 Gall: Enemy, S. 105f. 96

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Familiensystems. Diese Verletzung der Ehre muss laut dem Paschtunwali von allen männlichen Mitgliedern in einer Vergeltungsmaßnahme gerächt werden. Passiert dies nicht, verliert das Netzwerk seine Ehre – das Schlimmste, was paschtunischen Gesellschaften passieren kann. Rache ist daher obligatorisch und treibt sie durch das Unvermögen der USA, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, zwangsweise in die Arme der Neo-Taliban.314

3.3.3. Kollision der Weltbilder

Paschtunische Gesellschaften – vor allem entlang der Durand-Linie – leben noch sehr nach ihren Traditionen. Dazu gehört auch die Achtung ihres Sozialkodex, des Paschtunwali, welchen ausländische Truppen nicht oder teilweise nur bruchstückhaft verstanden. Somit kam es zu zahlreichen Missverständnissen, die auf die unterschiedliche Lebensweise der Besatzungsmächte und der Afghanen beruhten.

Schon allein die Präsenz ausländischer Truppen im eigenen Siedlungsareal empfanden (und empfinden) traditionell orientierte Paschtunen als Invasion fremder Mächte, daher als Besetzung des eigenen Landes, sowie auch als Einschränkung ihrer Privatsphäre. Diese Präsenz der USA sowie der NATO-Gruppen wurde aber in der loya jirga bei der Wahl Hamid Karzais legitimiert. Doch ihr Gastrecht verletzten die ausländischen Gruppen – allen voran die USA - in vielen Militäraktionen, indem sie die Ehre der Paschtunen auf jede erdenkliche Art und Weise entwürdigten. Folglich erlosch für zahlreiche paschtunische Netzwerke auch die Legitimation ihrer Anwesenheit und setzten dieses Eindringen einer Intervention gleich. Solche Angriffe dürfen paschtunische Gesellschaften unter keinen Umständen dulden: Das Paschtunwali schreibt die Verteidigung des Landes und des eigenen Besitzes vor (tureh), um ein Ehrenmann zu sein.315 Verena Tobler, eine Ethnologin, beschreibt die sich daraus ergebene Lage wie folgt:

„Und so hat das Paschtunwali die Männer im Süden Afghanistans (und im westlichen Pakistan!) mit wichtigen Aufgaben betraut: Es galt erstens Weiden, Wasser und

314 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 88 u. Michels: Die Taliban, S. 223. 315 Michels: Die Taliban, S. 223 u. Daniel Neun: Pakistan und Afghanistan gemeinsam gegen die USA, Radio Utopie, September 2008, https://www.radio-utopie.de/2008/09/25/pakistan-und-afghanistan- gemeinsam-gegen-die-usa/, 15.8.2016. 97

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Vorräte in Form von Vieh und Getreide vor Neidern zu verteidigen; zweitens die Schwachen zu schützen - alle, die kein Gewehr hatten: Alte, Frauen Kinder, Barbiere, Musiker; drittens war die eigene Rechtsordnung zu bewahren und zu verteidigen. Anderes bringt diesen Männern einen gewaltigen Bedeutungs- und Statusverlust.“316

Lokale und zuerst unkoordinierte Aufstände besonders im Süden und Südosten Afghanistans – hier leben bekanntlich die noch stark traditionell verwurzelten paschtunischen Netzwerke – waren daher eine unweigerliche und absehbare Folge aufgrund der zahlreichen Ehrverletzungen.

Besonders die US-Truppen verhielten sich extrem rücksichtslos, verletzten religiöse Gefühle und Sitten.317 Sie legten bei Hausdurchsuchungen in der OEF eine besonders brutale Vorgehensweise an den Tag. Bereits das gewaltsame Eindringen in die Häuser der Paschtunen alleine stellt eine Verletzung der Ehre dar. Wenn diese Durchsuchungen auch die Räume der Frauen beinhalteten – was Standard war –, erschien es den paschtunischen Netzwerken besonders demütigend, da jeder paschtunische Ehrenmann für den Schutz seiner Familie (tureh) und insbesondere der Frauen (namus)318 verantwortlich ist und diesen durch die amerikanischen Überfälle nicht bieten konnte. Auch der Umgang der US-Truppen mit paschtunischen Frauen war in dieser Kultur eine Missachtung ihrer traditionellen Gesetze, was Unmut unter den Paschtunen auslöste, wie Human Rights Watch darlegt: „Complaints about culturally insensitive force usually refer to allegations of male troops touching or looking at women during searches, which in some areas violate local norms even if there is no sexual intent.”319 Robert Haag erklärt ebenfalls, dass nur das Ansprechen einer fremden Frau bereits einen Verstoß gegen paschtunische Gebräuche darstellt, wie auch das Alleinsein mit einer Frau in einem für Zimmer – sei es auch nur für ganz kurze Zeit. Hierbei muss der Mann darauf achten, dass die Türe

316 Verena Tobler: Von Kopftüchern und Karikaturen: Nachdenken über weltlich-westliche Formen der Borniertheit, Zürich 2005/2007, https://www.0815-info.com/files/KopftuecherKarikaturen.pdf, S. 11, 15.8.2016. 317 Wohlgut: Afghanistan, S. 246. 318 Dazu gehören primär seine Mutter, seine Ehefrau, unverheiratete Schwestern, unverheiratete Töchter sowie in weiterer Folge alle Frauen des Clans, der Konförderation sowie letztlich alle paschtunischen Frauen. Vgl. Haag: Pashtunen, S. 78. 319 Human Rights Watch: Enduring Freedom. 98

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

stets offen steht. Das Betreten der Frauen-Räume ist Männern generell untersagt. Bereits alleine die Möglichkeit, dass intimer Kontakt zu einer Frau aufgenommen werden könnte, stellt eine Entehrung dieser dar.320

Ebenfalls ein grober Fehler, den die US-Special Forces oftmals begangen haben, war die Verwendung von nicht vertrauenswürdigen Übersetzern aus den Reihen der Nordallianz, wie Johnson und Mason berichten: „Few, if any, can speak a word of the Pashto language. They primarily rely on trilingual young Tajik interpreters to communicate with Pashtun elders, a major source of miscommunication.”321

Auch die Tötung vieler unschuldiger ziviler Afghanen wird bei diesen ohne jegliche Vorwarnung in der Nacht stattfindenden Hausdurchsuchungen in Kauf genommen, wie in vorhergehenden Kapiteln bereits erörtert wurde. All diese Entehrungen führten unweigerlich zur obligatorischen Rache – eine daraus resultierende Unterstützung der Taliban war nur eine logische Folge. Zusammenfassend erläutern Johnson und Mason die Situation der paschtunischen Netzwerke folgendermaßen:

„Combined with the lack of any tangible reason to support either the Americans or Karzai, the villagers either remain neutral or provide assistance to the guerillas. U.S. forces have often accelerated this process through culturally obtuse behavior, unnecessarily invasive and violent tactics, and a series of tragic incidents of ‘collateral damage’ which are inevitable in wartime.”322

Zahlreiche Operationen wie beispielsweise die Operation Anaconda (2002), Operation Mountain Viper (August 2003), Operation Avalanche (Dezember 2003), Operation Mountain Storm (März bis Juli 2004), Operation Lightning Freedom (Dezember 2004 bis Februar 2005) oder Operation Pil (Oktober 2005) waren im Endeffekt unwirksam, da die Gesellschaftsstruktur der hauptsächlich paschtunischen Taliban durch sabat (Loyalität gegenüber der Familie, der Freunde und des Quams) auch badal verlangt.323 Johnson und Mason beschreiben die sich daraus ergebende Situation: „Thus, the death in a battle of a Pashtun guerilla invokes an obligation of

320 Haag: Pashtunen, S. 78-80. 321 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 87. 322 Ebd. 323 Katzman: Afghanistan, S. 18. 99

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

revenge among all his male relatives, making the killing of a Taliban guerilla an act of insurgent multiplication, not subtraction.”324

Dennoch blieben solche Militäroperationen unverständlicherweise eine beliebte Strategie der Amerikaner.

3.3.4. Resonanz des Irak-Kriegs

Der sich abzeichnende und ab März stattfindende Irak-Krieg lieferte eine gewisse Legitimation des jihads für islamistische Gruppen, wie auch Hassan Abbas festhält: „The Iraq war had further inspired the militants in the area to take up arms against American forces next door.“325 Die Präsenz der Ausländer in Afghanistan war in den Stammesgebieten Pakistans wie auch in den Paschtunengebieten Afghanistans ein höchst unbeliebtes Thema, das es ermöglichte, zahlreiche arbeitslose junge Männer für den Krieg gegen diese Besetzung zu rekrutieren.326

Im März 2003 startete schließlich die USA Interventionen im Irak. Doch als sich herausstellte, dass die Iraker nicht im Besitz der Massenvernichtungswaffen waren – so wie es ihnen die Bush-Regierung unterstellte – und sich auch bin Laden nicht in diesem Land aufhielt, war die muslimische Welt verstört sowie verärgert über diesen nicht gerechtfertigten, völkerrechtswidrigen wie auch unnötigen, blutigen Krieg. Dies nutzten islamistische Militante wie al-Qaida gezielt für ihre propagandistischen Zwecke aus und interpretierten den Einmarsch in den Irak als weiteren Kreuzzug der Amerikaner gegen die Muslime – was unweigerlich zu einer verstärkten Radikalisierung in den FATA führte, in denen viele weltweite islamistische Gruppen ihre Ausbildungslager hatten.327

Dieser Einfluss wirkte sich auch auf die Neo-Taliban aus, die bekanntlich von Pakistan aus agierten: Neue Technologien wie IED und Selbstmordattentate328, die von der afghanischen Kultur zuvor nicht akzeptiert wurden, gehörten ab 2005 zu

324 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 88. 325 Abbas: The Taliban Revival, S. 111. 326 Abbas: The Taliban Revival, S. 113-115. 327 Abbas: The Taliban Revival, S. 115 u. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 265. 328 Während in den Jahren von 2005 bis 2007 durchschnittlich 108 Selbstmord-Attentate verübt wurden, erhöhte sich diese Zahl zwischen 2008 und 2010 auf 142. Vgl. Abbas: The Taliban Revival, S. 186. 100

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

ihren Guerilla-Strategien, ebenso verwendeten sie auch modernste Kommunikationsmethoden. Fernsehen, Fotografie und auch Musik, die die Taliban in ihrer Regierungszeit von 1996 bis 2001 absolut ablehnten und verboten, nutzten sie nun gezielt für ihre Propagandazwecke.329

Durch die von der Quetta Shura aufgebaute Schattenregierung in Afghanistan konnte die Koordination und Kommunikation erheblich verbessert werden, und der Wandel der vorhin beschriebenen Strategien führte zu einer effektiven Oppositionsbewegung mit hohen Kapazitäten – was sich besonders ab dem Jahr 2006 in zahlreichen gut durchdachten und koordinierten Offensiven zeigte.330

Doch Verteidigungsminister Rumsfeld wollte diese Reorganisation der Taliban von Beginn an nicht wahrhaben, obwohl amerikanische Offiziere anderer Meinung waren. Auch die Tatsache, dass der Drogenhandel im Süden und Osten Afghanistans den gesamten Wiederaufbau gefährdete, stellte für Rumsfeld nur ein unwichtiges soziales Problem dar, das mit dem Global War on Terror seiner Meinung nach nichts zu tun hatte, was sich als fataler Fehler erwies: Der Mohnanbau und die Opiumproduktion verstärkten sich in den Jahren ab 2005 dramatisch, 2013 erreichten sie ihren Höhepunkt. Durch den Bürgerkrieg in Syrien war die Organisation fast gänzlich auf das erwirtschaftete Drogengeld angewiesen, da Subventionen aus muslimischen Unterstützerländern in diesen Konflikt flossen.331 Ohne dieses Drogengeld hätten die Taliban folglich spätestens 2013 erhebliche Machteinbußen hinnehmen müssen.

3.4. Zellen der Neo-Taliban – Netzwerk von Netzwerken

Wenn in dieser Arbeit von den Neo-Taliban die Rede ist, so bezeichnet dieser Begriff im Allgemeinen alle islamistisch-radikal geprägten Widerstandsgruppen mit eigenen Milizen in Afghanistan und Pakistan nach 9/11, die sich im jihad meist gegen ausländische Besatzungsmächte wie der Regierung (Afghanistan oder Pakistan) befinden.

329 Abbas: The Taliban Revival, S. 118, 171. 330 Abbas: The Taliban Revival, S. 120 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 223-255. 331 Abbas: The Taliban Revival, S. 174f u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 141, 206. 101

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Generell ist anzumerken, dass die Neo-Taliban nicht eindeutig strukturiert sind: Es existieren horizontale wie auch vertikale Ordnungen und eine Vielzahl an Splittergruppen, die sich nicht immer explizit zuordnen lassen – oft auch aufgrund wechselnder Loyalitäten – die häufig eigene Interessen verfolgen. Dennoch lassen sich drei größere Neo-Taliban-Bewegungen ausmachen: Die Quetta Shura, die größte Organisation, die ab 2002 mit dem Begriff „Taliban“ gleichgesetzt wird, das Haqqani-Netzwerk, das semiautonom agiert wie auch die Hizb-e Islami, die sich jedoch immer mehr von den Taliban – der Quetta Shura – distanziert.332

Auffallend ist die Tatsache, dass die Taliban heute weitgehend in Gebieten aktiv sind, in denen Ghilzai-Quams ihre Macht ausüben – also vorwiegend in den südöstlichen Provinzen Afghanistans (Urusgan, Zabul, Daikondi, Paktia, Regionen von Paktika) und ausgehend von diesen Regionen auf das Land der Durrani (Kandahar, Helmand) zugreifen. Auch die Zusammensetzung der Taliban-Kämpfer, die hauptsächlich aus der ländlichen paschtunischen Bevölkerung der Ghilzai- Konföderation stammen, unterstreicht eindeutig die enge Verflechtung der Taliban mit den Ghilzai.333 Laut Hassan Abbas spielt die jahrhundertelange Feindschaft der Ghilzai mit den Durrani aber nur eine untergeordnete Rolle; wirtschaftliche Faktoren sind für den Zulauf zu den Taliban – die kostenlose Bildung in madrassas, Unterkunft und Verpflegung bieten, für die aus ärmlichen Verhältnissen und unterentwickelten Bergregionen stammenden Ghilzai-Pashtunen – ausschlaggebend,334 wie in vorigen Kapiteln bereits dargestellt wurde.

Johnson und Mason leiten daraus folgendes ab: „On closer inspection, the Taliban is neither simply a Pashtun movement nor even a pan-Ghilzai movement, although its area of influence coincides closely with Gjilzai lands. It is largely led by a single tribe.”335 Dem Hotaki-Quam kommt dabei laut Johnson und Mason eine besondere Rolle zu, da aus ihm sehr viele Anführer wie auch Mullah Mohammad Omar stammen.336 Doch bei genauerem Betrachten stimmt diese Aussage nicht mehr. Natürlich liegen die Wurzeln der größten Neo-Taliban-Bewegung, der Quetta Shura,

332 Schmidt/Schrott: Extremistische Gruppierungen, S. 73-77. 333 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 74-79. 334 Abbas: The Taliban Revival, S. 65. 335 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 77f. 336 Johnson/Mason: Understanding the Taliban, S. 74-79. 102

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

in der früheren Taliban-Regierung mit oben genannter Zusammensetzung. Doch die Interventionen der USA und ISAF/NATO wie auch die Rivalitäten unter den Warlords verschoben diese Konstellation der Taliban-Führung zugunsten der in der afghanischen Regierung unterrepräsentierten Panjpai Durranis, hauptsächlich aus den Nurzais, Ishaqzais und Alizais, aus bereits in vorigen Kapiteln erläuterten Gründen. Aber auch die Zirak Durrani Konföderation stellte mit dem Subquam der Alokozais, den Khotezais, viele Taliban-Kämpfer zur Verfügung. Grund dafür war der weitgehende Ausschluss dieses Subquams von der afghanischen Regierung.337

Ebenso weisen die Neo-Taliban eine Zusammenarbeit mit pakistanischen und arabischen Netzwerken auf, die teilweise sogar in die afghanischen Neo-Taliban- Organisationen integriert wurden, wie auch Hassan Abbas festhält:

„It is often said that not all Pashtuns are Taliban, but all Taliban are Pashtuns. This is no longer strictly speaking accurate, as new Taliban types are being produced by parts of Punjab and Sindh provinces in Pakistan, as well as by non-Pashtun areas of Afghanistan; but still more than 80 per cent of the Taliban are ethnically Pashtun.”338

Ein ghairatman, also ein paschtunischer Ehrenmann, muss neben seiner Pflicht, Ehre zu zeigen und die Schwachen wie auch seine gesamte Familie und Verwandtschaft zu verteidigen (nang), auch die Bereitschaft zum Kampf zeigen (tura). Die Ehre der Paschtunen wurde durch die Intervention der USA und ihr falsch verstandenes Gastrecht (siehe Kapitel 3.3.3. „Kollision der Weltbilder“) massiv angegriffen, wodurch ganze paschtunische Männer laut Paschtunwali dazu angehalten waren, sich zu verteidigen. Daher schlossen sich viele zerstrittene wie rivalisierende paschtunische Konföderationen/Quams/Khels/Kohls unter dem Banner des Islam zusammen, um gegen Invasoren wie die USA samt den NATO-Ländern vorzugehen. In der Geschichte Afghanistans haben sich schon öfters Netzwerke zum Heiligen Krieg zusammengeschlossen, wie auch gegen Großbritannien oder gegen die Sowjetunion.339 Johnson und Mason stellen fest: „Insurgency in Afghanistan has always sprung from the hills, fostered by the nang culture, and the Taliban is no

337 Theo Farrell u. Antonio Giustozzi: The Taliban at war: inside the Helmand insurgency, 2004-2012, International Affairs 89 (4), Oxford 2014, S. 845-871, hier S. 849. 338 Abbas: The Taliban Revival, S. 10. 339 Haag: Pashtunen, S. 76-84. 103

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

exception.“340 Verena Tobler sieht die Gefährlichkeit der Paschtunen ebenfalls in ihrem Ehrgefühl, das für westlich orientierte Menschen kaum nachvollziehbar ist:

„Diese Männer sind also nicht nur gefährlich, weil Schutz und Trutz samt Kriegsgeschäften ihr Alltag ist, sondern weil der vormonetäre Typ der sekundär kommunitären Ordnung für die erfüllte Schutzpflicht just kein Geld, sondern ‚nur‘ Ansehen, Ehre, Ruhm in Aussicht stellt, die verpasste Pflicht hingegen mit Schande, Verstossung, Tötung bestraft. Kurz – hier sind die Primärrollen hoch moralisiert und das heisst stets: narzisstisch und aggressiv besetzt. Die Paschtunen treten ihre Macht deshalb höchst ungern an den Staat ab, erst recht nicht an einen, dem die Mittel fehlen, Schutz und Sicherheit für alle bereitzustellen.“341

Diese fehlende Bereitschaft, die Macht an einen zentralistisch geführten, schwachen Staat abzugeben, stellt ebenfalls einen bedeutenden Aspekt der Reorganisierung der Taliban dar.

3.4.1. Afghanistans Schattenstaat: Quetta Shura

Die Quetta Shura, die als größte Neo-Taliban-Organisation gilt, wird von Mullah Omar geführt. Diese Bezeichnung leitet sich vom Sitz des obersten Gremiums der Taliban, der Rahbari Shura, in der pakistanischen Stadt Quetta ab. Dieser Führungsrat besteht aus etwa 18 Mitgliedern, darunter waren Mullah Omar, Mullah Barader und Mullah Obaidullah. Darüber hinaus gibt es vier342 Taliban- Militärkommandozentren, die sogenannten Nizami Shuras, und mehrere thematische Komitees ähnlich den Ministerien (unter anderem für Kultur, Finanzen, Propaganda und Militär), die alle der Rhabari Shura unterstellt sind.343

340 Johnson/Mason: Pakistan-Afghanistan Frontier, S. 60. 341 Tobler: Von Kopftüchern und Karikaturen, S. 12. 342 Rashid spricht von fünf Kommandozentren (Nord-, Ost-, Südkommando sowie Kommandos vom Haqqani-Netzwerk und von der Hizb-e Islami), während Farrell und Giustozzi lediglich von zwei Kommandozentren (in Quetta und Peshawar) sprechen. Vgl. Farrell u. Giustozzi: The Taliban at war, S. 855. 343 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 248 u. Schmidt/Schrott: Extremistische Gruppierungen, S. 73f u. Guido Steinberg u. a.: Pakistan gegen die Taliban. Verhaftungswelle schwächt die afghanischen Aufständischen, bedeutet aber noch keine Kehrtwelle, SWP-aktuell, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2010, URL: http://swp- berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2010A30_sbg_wgn_wmr_ks.pdf, 16.8.2016, S. 4f u. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 269. 104

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Die regionalen Nizami Shuras sind für die Koordination von Militäroperationen in Afghanistan zuständig und unterstützen die Schatten-Gouverneure der Taliban:344

 Quetta: nördliches, südliches, westliches Afghanistan, geleitet von Hafez Majid;  Peschawar: Osten, Nordosten Afghanistans, Kabul, geleitet von Abdul Latif Mansur;  Gerdi Jangal (Flüchtlingslager in Belutschistan): Provinzen Helmand, Nimruz, geleitet von Mullah Abdul Zakir;  Miran Shah (Nord-Wasiristan): südöstliche Provinzen (Paktika, Pakita, Khost, Logar, Wardak), untersteht dem Haqqani-Netzwerk, geleitet von Sirajuddin Haqqani (siehe auch Kapitel 3.4.3. „Haqqani Netzwerk“).

Während sich die Taliban bis 2003 noch in der Reorganisation befanden, konnten sie sich von 2004 bis 2006 schon festigen und in den folgenden Jahren ihre Macht auf viele Provinzen ausdehnen. Die Schatten-Gouverneure waren 2005 in elf,345 Ende 2009 bis 2011346 bereits in 33 der 34 Provinzen Afghanistans etabliert und leiteten sogenannte Provinz-Shuras.347 Ebenso instituierten sie in zahlreichen Distrikten mittelrangige regionale Taliban-Führer, wie aus einem Report der International Crisis Group hervorgeht: „These mini-shadow states operate as parallel governments, administering taxes, settling disputes and distributing power through the appointment of local military commanders.“348

Dadurch konnten die Taliban neben einer Militärstruktur auch eine parallele politische Struktur, eine Schatten-Regierung mit verschiedenen alternativen Institutionen, schaffen. Sie etablierten beispielsweise vor allem im Süden Afghanistans Gerichte, wobei ihnen das langsame, korrupte Arbeiten des staatlichen Rechtssystems zu Hilfe kam: Die Bevölkerung nahm die strenge, aber effektive Sharia-Rechtsprechung

344 Shehzad H.Qazi: The Neo-Taliban, Counterinsurgency & The American Endgame in Afghanistan, ISPU Research Associate, Institute for Social Policy and Understanding, 2011, S. 8 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 248 u. Schmidt/Schrott: Extremistische Gruppierungen, S. 73f u. Steinberg u. a.: Pakistan gegen die Taliban, S. 4f u. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 269. 345 Abbas: The Taliban Revival, S. 120. 346 Qazi: The Neo-Taliban, S. 11. 347 Steinberg u. a.: Pakistan gegen die Taliban, S. 5. 348 International Crisis Group: Insurgency, S. 8. 105

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

gerne in Anspruch, da die Streitigkeiten über Landbesitz, Weidewirtschaftsrechte und Zugang zu Wasser ein drastisches wie dringliches Problem für die paschtunischen Quams/Khels/Kohls im Bergland Afghanistans darstellten. Durch Taliban-Gerichte konnten diese Dispute teilweise in nur wenigen Stunden geschlichtet werden, welche die Paschtunen dem nicht greifbaren und langsamen staatlichen Justizapparat vorzogen. Diese in manchen Orten fix stehenden Gerichtsgebäude wurden aufgrund stärkerer Verfolgung der Taliban von den ISAF und der afghanischen Regierung ab 2009 durch mobile Gerichte ersetzt; die Taliban-Richter mussten sich verstecken und ihre Sharia-Auslegungen in Häusern, Moscheen oder in den Bergen vollziehen.349

Durch dieses juristische System konnten die Taliban weite Teile der Bevölkerung erreichen, woraus Alex Strick van Linschoten und Felix Kuehn folgern:

„Control is exerted not through military dominance but through the local population: the Taliban exploit local conflict and use their sophisticated propaganda machine to separate local people from the government and foreign forces, much as the foreign forces have long aimed to distance them from the local population.“350

Auch die zu einem absolut falschen Zeitpunkt durchgeführten Entwaffnungsprogramme, das Disarmament, Demobilization, and Reintegration (DDR) von Oktober 2003 bis November 2005 wie Disbandment of Illegal Armed Groups (DIAG) von 2006 bis 2011, trugen zur Etablierung der Neo-Taliban bei, wie im Kapitel 3.5.1. „Effekte der Sicherheitsreformen“ erläutert wird.351

Um zu vermeiden, dass lokale Kommandeure zu hohe Macht in verschiedenen Regionen erlagen und sich finanziell von der Quetta Shura unabhängig zu machen, führten die Taliban bereits zwischen 2003 und 2005 ein Rotationssystem dieser Führungsebene ein; dieses erlaubte eine größere Kontrolle durch die regionalen Nizami Shuras, obwohl es schwieriger wurde, gute Verbindungen zur Bevölkerung

349 Farrell/Giustozzi: The Taliban at war, S. 862 u. Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 23f u. Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 269 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 241. 350 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 269. 351 Caroline A. Hartzell: Missed Opportunities. The Impact of DDR on SSR in Afghanistan, United States Institute of Peace, Special Report 270, Washington, D.C., 2011, S. 5 u. Barbara J. Stapleton: Disarming the Militias. DDR and DIAG and the Implications for Peace Building, Afghanistan Analysts Network, 2013, S. 1. 106

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

aufzubauen.352 Doch ab 2010 wurde diese Rotation durch vermehrte Drohnen- Angriffe der USA und gezieltere Angriffe auf Taliban-Kommandeure schwieriger, bis sie 2011 nicht beziehungsweise kaum mehr stattfand; dennoch etablierte sich ein zentralisiertes Kommando-System der Quetta Shura.353

Generell bestehen Taliban-Einheiten meist zwischen zwanzig und fünfzig Männern, die in zwei oder vier Kampfteams aufgeteilt werden. Jede Taliban-Einheit untersteht einem größeren Patronage-Netzwerk, dem mahaz, das von hochrangigen Taliban- Führern wie beispielsweise von Mullah Barader, Mullah Adul Qayum Zakir oder Mullah Mansur geleitet wird.354 Viele dieser mahaz agieren in einem hohen Maß unabhängig und rivalisieren teilweise auch miteinander, wie die mahaz von Mullah Barader mit jener von Mullah Dadullah aus dem Quam der Kakar – was durch einen vermeintlichen Verrat auch zur Tötung Dadullahs 2007 geführt haben soll. Dies wiederum bewirkte höchstwahrscheinlich die Verhaftung Mullah Baraders 2010 durch Denunziation der Kakar (badal).355

Um solche Auseinandersetzungen zu vermeiden, versuchte die Quetta Shura laut Theo Farrell und Antonio Giustozzi folgendes:

„The Taliban leadership try to foster more cooperation between mahaz networks through a system of incentives, offering financial and career rewards for those who moved in the right direction, for example shifting the recruitment effort towards new regions, intensifying military operations or focusing on particular types of targets.”356

Auch regionale, kleinere bewaffnete Gruppen zwischen zehn und fünfzig Männern können sich selbst als Taliban bezeichnen; wenn sie von der Quetta Shura anerkannt werden, erhalten sie finanzielle Unterstützung. Im Gegenzug müssen sie die Ziele der Quetta Shura teilen, dürfen aber völlig unabhängig handeln. Solche

352 Kuehn/Strick van Linschoten: Enemy, S. 271. 353 Farrell/Giustozzi: The Taliban at war, S. 860. 354 Farrell/Giustozzi: The Taliban at war, S. 855. 355 Farrell/Giustozzi: The Taliban at war, S. 855f. 356 Farrell/Giustozzi: The Taliban at war, S. 856. 107

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Zellen sind kaum ideologischer Natur, sondern verfolgen unter dem Schutz der Taliban Eigeninteressen ihres paschtunischen Netzwerkes.357

Ein beträchtlicher Anteil der ländlichen paschtunischen Bevölkerung war laut Anand Gopal motiviert, die Taliban zu unterstützen: „Finally, some communities join with the Taliban simply to protect themselves from the Taliban.“358 Denn ohne Polizei vor Ort waren die Dorfbewohner den Erpressungen der Taliban schutzlos ausgeliefert; Zusammenarbeit oder jegliche Unterstützung der Regierung und staatlichen Organisationen wurden ihnen untersagt. Viele hatten daher keine andere Wahl, als Sympathisanten der Taliban zu werden. Oft war aber auch die Angst und das Misstrauen gegenüber ausländischen Kräften höher als gegenüber den Taliban, und gekoppelt mit der Unzufriedenheit über die ökologische und politische Ausgrenzung des Südens und Ostens Afghanistans, hatten die Taliban relativ leichtes Spiel, einen Schattenstaat samt Militärstruktur zu errichten.359

3.4.2. Struktur der Quetta Shura

Diese nicht vollständige Liste bedeutender Taliban stellt einen Auszug über gewisse Persönlichkeiten dar. Wenn es aus der verwendeten Literatur ersichtlich war, wurde auch Konföderation, Quam und Clan angegeben wie auch das Arbeitsfeld kurz benannt. Vereinfacht kann das hierarchische System der Quetta Shura in sechs Ebenen gegliedert werden:360

1. Mullah Omar als geistiger Anführer und generelles Oberhaupt; Nachfolger ab 2015:361 Mullah Akhtar Mohammed Mansour (Panjpai Durrani, Ishaqzai) sowie ab Mai 2016: Haibatullah Akhundzada (Panjpai Durrani, Nurzai)

357 Schmidt/ Schrott: Extremistische Gruppierungen, S. 74f. 358 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 54. 359 International Crisis Group: Insurgency, S. 10 u. Seth G. Jones: The Rise of Afghanistan´s Insurgency: State Failure and Jihad, International Security, Vol. 32, Nr. 4, 2008, S. 7-40, hier S. 26. 360 Qazi: The Neo-Taliban, S. 9. 361 Dass Mullah Omar seit 2012 oder 2013 bereits tot ist, wurde erst 2015 offiziell vom Führungsgremium der Quetta Shura bestätigt und Mullah Akhtar Mohammed Mansour als Nachfolger bekanntgegeben. Dieser wurde jedoch im Mai 2016 von einer US-Drohne getötet. Als seine Stellvertreter galten Sarajuddin Haqqani, der Führer des Haqqani Netzwerkes, und Haibatullah Akhundzada, ein ehemaliger Chef der Taliban-Gerichte, welcher nach Mansours Tod die Führung der Taliban übernahm. Vgl. Die Presse: Religiöser Führer und Richter Akhundzada ist neuer Taliban-Chef (Autor nicht angeführt), Mai 2016, 108

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

2. Rahbari Shura; 3. regionale Nizami Shuras; 4. lokale Kommandos; 5. Dorf-Zellen; 6. individuelle Taliban-Gruppierungen.

Senior Leaders in der Quetta Shura-Elite:362

 Mullah Mohammed Omar (Ghilzai, Hotak)  Mullah Obaidullah Akhund (Ghilzai, Hotaki-Quam) – Verhaftung im Mai 2007  Mullah Barader/Abdul Ghani (Zirak Durrani, Popalzai) – Militärführer der Taliban, Stellvertreter Mullah Omars – 2010 verhaftet  Mullah Dadullah (Ghurghusht, Kakar-Quam) – im Mai 2007 getötet  Mullah Akhtar Mohammed Osmani – im Dezember 2006 getötet  Mullah Abdul Latif Mansur (Ghilzai, Sahak-Quam)363, Führer der Nizami Shura Peshawar  Agha Jan Mussem, führt das Politische Komitee seit 2009 – wurde 2010 verhaftet

Weitere einflussreiche Mitglieder der Quetta Shura:364

 Mohammed Mukhtar Mujahid, Sprecher der Taliban365  Mullah Muttaqi (Ghilzai, Taraki)  Mullah Abdul Razaq (Zirak Durrani, Achakzai)

http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/4995707/Religioeser-Fuehrer-und-Richter- Akhundzada-ist-neuer-TalibanChef, 15.1.2017. Kleine Zeitung: Mansour offiziell neuer Anführer der Taliban (Autor nicht angeführt), Juli 2015, URL: http://www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/4790661/, 6.1.2016. 362 Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 444f. 363 Ashton, C.: Durchführungsbeschluss 2012/334/GASP des Rates vom 25. Juni 2012 zur Durchführung des Beschlusses 2011/486/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen angesichts der Lage in Afghanistan, Amtsblatt der Europäischen Union, L 165/75, Luxemburg 2012, URL: http://www.ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/embargos/terrorismus/afghanistan/gasp/dbe2012_ 334.pdf, 2.1.2016. 364 Steinberg u. a.: Pakistan gegen die Taliban, 16.8.2016 u. Anonym: The Quetta Shura: A Tribal Analysis, Tribal Analysis Center, Williamsburg 2009, S. 3-14. 365 Ruttig: Loya Paktia, S. 67. 109

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

 Mullah Mohammed Hassan Rahmani (Zirak Durrani, Achakzai) – 2010 verhaftet  Mullah Akhtar Mohammed Mansour (Panjpai Durrani, Ishaqzai), offizieller Führer ab 2015, im Mai 2016 von einer US-Drohne getötet  Mullah Hafiz Majid (Panjpai Durrani, Nurzai)  Mullah Adul Qayum Zakir – 2010 verhaftet  Seyyed Tayyeb Agha – 2010 verhaftet

Schattenregierungen:366

 Abdul Rahim (Panjpai Durrani, Ishaqzai)  Mullah Abdul Salam, u. a. Provinz Kunduz – 2010 verhaftet  Mullah Mir Mohammed, u. a. Provinz Baghlan – 2010 verhaftet  Mawlawi Taha, u.a. Provinz Paktika, West-Kabul  Mawlawi Muhammed Issa (Zirak Durrani, Popalzai) – u. a. Provinz Kandahar  Maulvi Muhammad Yunos, u. a. Provinz Zabul – 2010 verhaftet

Kommandeure:367

 Mullah Adul Qayum Zakir (Durrani Panjpai, Alizai)  Maulawi Abdul Kabir, u. a. Ostafghanistan – 2010 verhaftet  Mir Ahmad Gul, u. a. Süd-Logar  Mullah Abdullah, u. a. Nord-Logar  Serajuddin Haqqani (Ghilzai, Zadran), seit 2005 Führer der Nizami Shura Miran Shah368  Mullah Abdul Raúf, u. a. Herat, Kabul

366 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 20 u. Anonym: The Quetta Shura, S. 3-14. 367 Mohammad Osman Tariq Elias: The Resurgence of the Taliban in Kabul. Logar and Wardak, in: Antonio Giustozzi (Hg.): Decoding the New Taliban. Insights from the Afghan Field, Hurst and Company, London 2009, S. 43-56, hier S. 51 u. Anonym: The Quetta Shura, S. 3-14. 368 Ruttig: Loya Paktia, S. 61 110

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Werkzeuge der Propaganda (kurzer Auszug):369

 Radio De Shariat Ghang (Stimme der Sharia) – ab 2003, Süden und Osten Afghanistans370  Webseiten wie www.alemarah.org  as-Sahab Media (al-Qaida Video-Produktionsfirma)  Zamir (Zeitung)  Tora Bora (Zeitschrift)  Sirak (Zeitschrift)  Al Somood (Online-Magazin)  Al Emarah (Taliban Website in fünf Sprachen)  CDs mit Liedern und religiösen Chants

3.4.3. Haqqani Netzwerk

Das Haqqani-Netzwerk weist seit einigen Jahren verstärkte Taliban-Strukturen auf und ist dabei, seinen Einfluss massiv auszudehnen. Ursprünglich war es eine regionale Aufstandsbewegung der Haqqani-Familie in Loya Paktia (Groß-Paktia, bestehend aus den Provinzen Paktia, Paktika und Khost), seit 2006 hat es auch Einfluss in Wardak und Logar sowie in Kabul. Anführer des Haqqani Netzwerks war bis 2014 Jalaluddin Haqqani, ehemaliges Mitglied der Peshawar Seven-Partei Hizb-e Islami Khalis, bekannter mujaheddin-Kommandeur sowie Senior Leader, Ghilzai- Oberhaupt und Führer des Zadran-Quams, der für seine militärische Stärke und Durchschlagskraft weithin bekannt war. Während seines Studiums an ägyptischen und saudischen Universitäten knüpfte er gute Kontakte zu einflussreichen Geldgebern aus der Golfregion, die sein Netzwerk immer noch gerne gewinnbringend nützt.371

Seit den 1970er Jahren konnte das Netzwerk durch tribale Beziehungen, Verbindungen zu dem Pakistanischen Geheimdienst ISI, der mit Geldern der CIA

369 Abbas: The Taliban Revival, S. 181 u. Jones: The Rise of Afghanistan´s Insurgency, S. 30f. 370 Ruttig: Loya Paktia, S. 67. 371 Brian Fishman u. a.: The Taliban in North Waziristan, in: Peter Bergen u. Katherine Tiedemann, (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013, S. 128-163, hier S. 132 u. Haag: Pashtunen, S. 256 u. Ruttig: Loya Paktia, S. 57, 59, 62, 70. 111

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Jalaluddin Haqqani im Sowjetkrieg intensiv finanzierte, sowie durch Kontakte zu verschiedenen islamistisch geprägten politischen Parteien Pakistans an Einfluss gewinnen und sich auch in den FATA etablieren. Nach 2001 wurden diese Allianzen, die nur durch den Einmarsch der USA stillgelegt waren, wieder aufgenommen.372

Der ISI wollte Haqqani den USA über die CIA als „moderaten Taliban“ verkaufen, um ihn in die afghanische Regierung zu integrieren. Obwohl ihm britische und amerikanische Agenten eine Führungsrolle im Kabinett zusicherten, platzte der Deal; laut Ahmed Rashid hielt Haqqani an al-Qaida fest. Er organisierte nach der US- Intervention im Oktober 2001 die Flucht zahlreicher al-Qaida-Kämpfer, verschaffte ihnen Unterkünfte wie auch Geldmittel und kündigte einen Guerilla-Krieg gegen die USA an.373

Mit einer zentralen Basis in Miran Shah kontrolliert das Haqqani Netzwerk Regionen der FATA, vor allem Nord-Wasiristan, wo es auch gelang, einen Schattenstaat – dem es jedoch im Gegensatz zur Quetta Shura an einigen Institutionen fehlt – mit Gerichten, Trainings- und Rekrutierungslagern, Polizei und Steuereintreiber aufzubauen. Diese Grenzregion zu Afghanistan bietet einen sicheren Hafen für jegliche Aktivitäten, da es geographisch isoliert liegt, schwierig zu begehen ist und viele militante Organisationen wie auch al-Qaida beherbergt. Die gute Zusammenarbeit mit der ansässigen tribalen Koalition aus der Karlan-Konföderation, dem Mada Khel Clan (Uthmanzai Wazir) und dem Daur-Quam, stärkt das Haqqani Netzwerk zusätzlich.374

Das aus vier Gruppen bestehende Haqqani Netzwerk umfasst die Männer unter Jalaluddins Kommando während der Sowjet-Besetzung, jene, die sich nach 2001 aus der Region Loya Paktia dieser Widerstandsgruppierung anschlossen, weiters aus Rekruten aus Nord-Wasiristan (hauptsächlich aus den Haqqani-madrassas) wie auch aus ausländischen Militanten (vorwiegend aus Arabern, Tschetschenen und

372 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 136 u. Ruttig: Loya Paktia, S. 57-83. 373 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 136 u. Ruttig: Loya Paktia, S. 66. 374 Fishman u. a.: The Taliban in North Waziristan, S. 128-145 u. Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 81f. 112

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Usbeken). Führer der Organisation stammen hauptsächlich aus dem Zadran-Quam; hier vorwiegend aus dem Mezi Clan, dem auch die Haqqanis angehören.375

Es ist umstritten, ob Jalaluddin Haqqani als Mitglied der Taliban betrachtet werden konnte oder nicht. Bekannt ist jedoch, dass er als Kommandeur aller Taliban- Kämpfer fungierte und mit hochrangigen Taliban kooperierte. Mullah Omar sah er als geistigen Führer an, aber ob das Haqqani-Netzwerk auch Befehle von der Quetta Shura annimmt, also ob es integriert ist oder eigenmächtig handelt, kann nicht gesagt werden. Daher wird es meist als semiautonomes Netzwerk bezeichnet.376

Jalaluddins Sohn, Serajuddin Haqqani, gab sich im Jahr 2005 als Leiter des Militärkomitees Nizami Shura Miran Shah in den Provinzen Paktia, Paktika, Khost, Ghazni und Logar zu erkennen. Nach dem Tod seines Vaters übernahm er 2014 die Führung des Haqqani Netzwerkes. Als Mitglied des höchsten Rates der al-Qaida, der Qaeda´s Shura Majlis, hält Serajuddin sichtlich enge Verbindungen aufrecht. Obwohl der 1979 Geborene für eine Führungsrolle noch sehr jung ist, wird er hoch geschätzt und respektiert, wie auch Brian Fishman, ein Anti-Terror-Forscher der New America Foundation, festhält:377 „Today Sirajuddin enjoys unparallel prestige among the militant groups in North Waziristan, and as such he has often been called upon by the Taliban leadership to mediate between feuding guerilla fractions.“378

Neben der Kooperation mit al-Qaida pflegt das Haqqani Netzwerk auch zu zahlreichen anderen islamistischen Widerstandsbewegungen, vorwiegend zu radikalen arabischen Jihadisten-Gruppierungen, enge Kontakte. Ebenso profitiert die Organisation von guten Beziehungen zum ISI, der ein geschütztes Areal bereitstellt und detaillierte Geheimdienstinformationen weitergibt in der Hoffnung, durch dieses Netzwerk die Interessen Pakistans in Afghanistan durchsetzen zu können. So wird das Haqqani Netzwerk beispielsweise verständigt, bevor US-Militäroperationen in Nord-Wasiristan durchgeführt werden – ausgenommen davon sind Drohnenangriffe in den Grenzregionen. Auch bei der durch die Änderung der pakistanischen Politik

375 Fishman u. a.: The Taliban in North Waziristan, S. 134. 376 Ruttig: Loya Paktia, S. 57-83 u. Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 456. 377 Fishman u. a.: The Taliban in North Waziristan, S. 128-130 u. Ruttig: Loya Paktia, S. 63 u. Schmidt/Schrott: Extremistische Gruppierungen, S. 81. 378 Fishman u. a.: The Taliban in North Waziristan, S. 133. 113

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

hervorgerufenen Verhaftungswelle 2010, wo innerhalb einiger Wochen sehr viele hochrangige Taliban wie Mullah Barader gefangen genommen wurden, blieb das Haqqani Netzwerk (wie auch die Hizb-e Islami) weitgehend verschont: eingesperrte Mitglieder wurden von Pakistan alle wieder freigelassen.379

Bedeutende Mitglieder der Nizami Shura Miran Shah:380

 Sarajuddin Haqqani, Führer  Bakhti Jan, stellvertretender Kommandeur, 2009 gestorben  Asmatulla Jan, stellvertretender Kommandeur ab 2009  Jan Baz Zadran, politischer Stellvertreter Sarajuddins  Haji Khalil Haqqani, Jalaluddins Bruder  Ibrahim Haqqani , Jalaluddins Bruder  Badruddin Haqqani, Jalaluddins Sohn  Nasiruddin Haqqani, Jalaluddins Sohn  Nai Arsallah  Mawlawi Noor Kasim  Mali Khan, durch Heirat mit den Haqqanis verbunden  Mawlawi Ahmed Jan, durch Heirat mit den Haqqanis verbunden  Muhammad Amin  Mira Jan  Bahram Jan  Darim Sedgai

3.4.4. Hizb-e Islami Gulbuddin

Ebenfalls eine zu den größeren Neo-Taliban-Organisationen zählende Gruppe ist die extremistische Partei Hizb-e Islami Gulbuddin (HIG). Gegründet wurde sie bereits in den 1970er Jahren von Gulbuddin Hekmatyar, einem Ghilzai-Paschtunen aus dem Quam der Kharoti381. Diese erhielt als eine Peshawar Seven-Partei im Sowjetkrieg die meiste finanzielle Zuwendung vom ISI. Als bedeutende mujaheddin-Partei bekam

379 Fishman u. a.: The Taliban in North Waziristan, S. 145f u. Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 456f u. Schmidt/Schrott: Extremistische Gruppierungen, S. 75, S. 81f. 380 Fishman u. a.: The Taliban in North Waziristan, S. 135f. 381 Haag: Pashtunen, S. 248. 114

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

sie Gelder und Waffen nicht nur von Pakistan, auch von den USA erhielt sie über den ISI massive Subventionen. Wie im Kapitel 2.4.3. „Taliban und al-Qaida“ bereits erwähnt, arbeitete insbesondere die HIG während der Sowjet-Invasion in Afghanistan sehr eng mit der Muslim-Bruderschaft, der World Muslim League, den Palestinian Islamic Radicals wie zahlreichen weiteren radikal-fundamentalistischen, wahhabistisch geprägten ausländischen Gruppen auf pakistanischem Boden zusammen. Nach dem Abzug der Sowjettruppen versuchte Hekmatyar in Afghanistan an die Macht zu kommen. Er flüchtete jedoch 1996 vor den Taliban in den Iran. Erst Anfang 2002 verließ er sein Exil, ließ sich im Flüchtlingslager Shamshatoo, das außerhalb von Peschawar liegt, nieder und eröffnete ein Büro für seine Partei. Er ließ sich auf eine pragmatische Allianz mit den Taliban ein, um eine Opposition gegen die afghanische Regierung und die ausländischen Truppen aufzubauen.382

Die Hizb-e Islami kontrolliert die Bajaur Agency der FATA, in Afghanistan die Provinzen Kunar, Nuristan, Laghman, Nangarhar, Paktia und Paktika. Obwohl sich die extremistische Partei von den Taliban vor allem seit 2008 abgrenzen will, kooperieren sie in manchen Orten eng mit Taliban-Kommandeuren und akzeptieren ihre Konditionen, um sich in gewissen Gebieten frei bewegen zu können,383 wie Mohammad Osman Tariq Elias, ein ehemaliger mujaheddin, beschreibt:

„There are obvious signs that other jihadist armed groups opposed to the government are active in areas under control of Taliban. Taliban give them full freedom and encourage them; all they might demand is an oath of obedience to the Amir (Mullah Omar).”384

So scheint es, als bemühe sich Pakistans Schützling Hekmatyar um gute Kontakte zur Quetta Shura wie auch immer mehr zur afghanischen Regierung: Bereits 2003 arbeiteten über zweihundert frühere hoch- und mittelrangige Hizb-e Islami-Mitglieder in staatlichen Institutionen, erhielten teilweise Gouverneursposten wie Beraterposten

382 Background Paper: Afghanistan: Political Parties and Insurgent Groups 2001-2013 (Autor nicht angeführt), Australian Government, September 2013, S. 34f u. Maloney: Enduring the Freedom, S. 21 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 30f u. Schmidt/Schrott: Extremistische Gruppierungen, S. 76. 383 Elias: The Resurgence of the Taliban in Kabul, S. 53. 384 Ebd. 115

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

von Ministern; 2005 ernannte Präsident Karzai den HIG-Parteianhänger Ustad Abdul Saboor Farid als Mitglied für das Oberhaus des Parlaments (Meshrano Jirga). Ab 2006 waren seitens der HIG Bemühungen um Friedensgespräche zu erkennen, in der Hoffnung, ins afghanische Parlament eingegliedert zu werden. Berichte über einen Briefverkehr und Verhandlungen der HIG mit Karzai tauchten im Jahr 2008 in den afghanischen Medien auf. Vor den Wahlen 2010 gab es einige afghanische Politiker, die die inoffizielle Partei Hekmatyars unterstützten,385 wie Thomas Ruttig erläutert:

„Furhermore, Hezb has been the natural political orientation for many otherwise unaffiliated Pashtun intellectuals who are not able to identify with more traditional, conservative outlets such as Hizb-e Islami (Khalis) or Islamic Party, Khales faction; Harakat-e Inqilab-e Islami (Movement for an Islamic Revolution); or the Wahhabi Dawat-e Islami (formerly Ittehad-e Islami; Islamic Call/Islamic Unity), led by former warlord Abdul Rabb Rassul Sayyaf, now a member of the Afghan lower house.”386

Pakistan nahm dieses politische Engagement der HIG, die in Ost- und Nordost- Afghanistan militärisch immer mehr Bedeutung erlangte, mit Wohlwollen auf und war beziehungsweise ist bestrebt, das Haqqani Netzwerk mit engen Kontakten zum ISI ebenfalls sozusagen als Akt der Aussöhnung mit den Taliban der afghanischen Regierung näher zu bringen.387 Präsident Karzai stand einer politischen Reintegration früherer Taliban positiv gegenüber, wie auch Thomas Ruttig betont:

„He [Präsident Karzai, Anm. der Autorin] has repeatedly called them [die Taliban, Anm. der Autorin] ‘disaffected brothers‘ and urged their leaders personally to return to the political process, only to be buffered by the U.S. government – which, like the United Nations, the European Union, and individual countries, has kept many of them on its sanctions list, branded as terrorists.”388

Die HIG ist weithin für wechselhafte, pragmatische Allianzen bekannt. Um politische Interessen durchzusetzen, verbünden sie sich je nach der aktuellen Lage mit

385 Michael Kirschner: Afghanistan: Informationen zur Hizb-i-Islami. Auskunft der SFH-Länderanalyse, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bern 2006, S. 4 u. Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 442f. 386 Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 442. 387 Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 443. 388 Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 444. 116

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

verschiedenen Unterstützern. Das Bestreben Hekmatyars, durch Verhandlungen mit der afghanischen Regierung politische Macht zu erlangen, verschlechterte die Beziehungen zu anderen Neo-Taliban-Gruppen, insbesondere zu der Quetta Shura, massiv.389

Einflussreiche Mitglieder:390

 Gulbuddin Hekmatyar, Führer der HIG  Ghairat Bahir, stellvertretender HIG-Führer, Hekmatyars Schwiegersohn  Qutbuddin Hellal, weiterer stellvertretender Führer der HIG  Firuz Hekmatyar, Hekmatyars Sohn  Humayun Jarir, Hekmatyars Schwiegersohn  Ustad Abdul Saboor Farid, Mitglied des afghanischen Parlaments391  Abbas Khan Sabarai, Kommandant392

3.5. Die Rückkehr der Taliban

Mullah Omar, der Taliban-Führer der sich in den pakistanischen Grenzgebieten neu formierten Quetta Shura, rief bereits im Februar 2003 alle Afghanen zum Heiligen Krieg gegen die amerikanischen Streitkräfte auf. Die Präsenz ausländischer Soldaten, insbesondere der Amerikaner, sah er wie auch viele andere Paschtunen als Besetzung Afghanistans an. Mullah Omar machte die USA für Gräueltaten an der islamischen Welt verantwortlich und appellierte an alle Muslime, sich dem jihad anzuschließen. Außerdem drohte er in Nachtbriefen393 allen, die in irgendeiner Art und Weise mit US-Truppen oder auch mit der afghanischen Regierung zusammenarbeiteten,394 wie auch Hassan Abbas beschreibt: „Joining the Afghan government became a crime – with potentially deadly consequences. Teachers and

389 Background Paper, S. 34f u. Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 457f. 390 Ruttig: Negotiations with the Taliban, S. 442-444. 391 Kirschner: Afghanistan, S. 4. 392 Ruttig: Loya Paktia, S. 85. 393 Die sogenannten Nachtbriefe, die religiöse Streitschriften darstellen (Shabnamah) und auch heftige Drohungen gegenüber Khols/Khels/Quams sowie Einzelpersonen beinhalten, tauchten ab der Neuorganisierung der Taliban auf. Sie dienten und dienen als Instrument der Kommunikation und vor allem zur Einschüchterung der Bevölkerung. Vgl. EASO Informationsbericht, S. 23-25. 394 Gall: Enemy, S. 67 u. Kfir: Role of the Pashtuns, S. 37. 117

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

doctors were not spared, and (surprisingly for many) ulema (clerics) were also in the line of fire.”395

Die Sicherheitslage in Afghanistan verschlechterte sich durch die Verleugnung der Situation seitend der USA in der Anfangsphase drastisch, wodurch Beschlüsse vom Petersberger Abkommen in Bonn verzögert wurden: Eine loya jirga zum Entwurf einer Verfassung für Afghanistan musste von Oktober auf Dezember 2003 verschoben werden, ebenso konnte die Wählerregistrierung für die Präsidentschaftswahlen wie auch das Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsverfahren (Disarmament, Demobilization and Reintegration, DDR) nicht zu den geplanten Zeiträumen durchgeführt werden.396 Ahmed Rashid meint dazu:

„In diesen kritischen Tagen Ende 2003 hätten ein paar tausend zusätzliche US- Truppen, größere Mittel für den Wiederaufbau sowie eine schnellere Aufstellung der afghanischen Armee und Polizei leicht das Blatt gegen die Taliban wenden und die Unterstützung der Bevölkerung erhöhen können.“397

Doch dazu waren die USA und auch die NATO nicht bereit beziehungsweise konnten sich nicht einigen.

3.5.1. Effekte der Sicherheitsreformen

Das Unvermögen der Regierung, eine stabile, nationale Armee (Afghan National Army, ANA) aufzubauen, hielt bzw. hält die Taliban an der Macht. Nach dem Petersberger Abkommen, in dem das DDR-Programm beschlossen wurde, hätte es ein Zeitfenster gegeben, um die privaten Milizen der Warlords zu entwaffenen, die dadurch arbeitslos werdenden Soldaten ins zivile Leben zu reintegrieren, und somit den Frieden aufrecht zu erhalten. Gerade in der eher ruhigen und sicheren Zeit bis 2004/05 sehnte sich auch die Bevölkerung nach Frieden und war bemüht, diesen

395 Abbas: The Taliban Revival, S. 186. 396 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 141, 206. 397 Rashid: Sturz ins Chaos, S. 142. 118

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

auch aufrechtzuerhalten.398 Aber die Umsetzung des Programmes war keineswegs befriedigend:

„Delays in the design and initiation of a DDR prozess, combined with the international community´s initial decision to leave only a light footprint in Afghanistan, left armed actors to contend with the type of security dilemma that has proven detrimental to other efforts to stabilize the peace.“399

Die Entwaffnungsversuche, die 2002/2003 im Rahmen der ISAF durchgeführt wurden, schienen keine Wirkung zu zeigen, wie ein Verbindungsoffizier festhält:

„Die ANA waren grundsätzlich sehr kooperativ, außer sie hatten andere Befehle von den USA. Allerdings war vieles davon Schauspielerei – die Abgabe von Waffen waren in Wirklichkeit Altmetallsammelaktionen mit offiziellen militärischen Ehren. Ein Beispiel dafür war eine solche Aktion bei einer Division der ANA, welche informell Abdul Rasul Sayaff, einem wahabitischen Warlord unter der Ägide Saudi Arabiens, unterstand. Ein deutscher Milizoffizier und Historiker bekam feuchte Augen bei dem Anblick an antiken Waffen, die abgegeben wurden.“400

Somit gelang es nach 9/11 weder regionale Warlords wirklich zu entwaffnen, noch in der afghanischen Regierung ein Machtmonopol der afghanischen Armee aufzubauen.

Schließlich startete mit sechsmonatiger Verspätung im Oktober 2003 das hauptsächlich von der japanischen Regierung finanzierte DDR-Programm. Ziel dieser Mission war es, Reformen des afghanischen Verteidigungsministeriums zu implementieren. Hier standen die Entwaffnung der ehemaligen Mujaheddin-Einheiten (der sogenannten Afghan Militia Forces, AMF) und deren Kontrolle durch das Verteidigungsministerium im Vordergrund. Inoffizielle und private Militärs lagen jedoch nicht im Mandat des Programmes. Doch bis Juli 2004 gaben die AMF nur etwa dreißig Prozent der schweren Waffen ab und reintegrierten ungefähr zwölf Prozent der Milizsoldaten.401 Die US Special Forces schützten auch einige Miliz-

398 Hartzell: Missed Opportunities, S. 1. 399 Ebd. 400 Interview vom 7.9.2016 (siehe Anhang). 401 Gall: Enemy, S. 122 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 153 u. Stapleton: Disarming the Militias, S. 3, 6. 119

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Kommandeure vor Entwaffnungsprogrammen wie dem DDR (2003-2005) und DIAG (2006-2011), da diese als Afghan Security Guards eingesetzt wurden – sehr zum Nachteil für die Bevölkerung: Die durch ausländische Patronage geschützten Gruppen erlangten durch ihre Rücksichtslosigkeit, Brutalität und ihre Straffreiheit einen hohen Bekanntheitsgrad unter den afghanischen Zivilisten.402

US-Kräfte halfen der afghanischen Regierung, illegale Waffenlager aufzuspüren. Diese Massenentwaffnung der Warlords entpuppte sich im Nachhinein aber als folgenschwerer Fehler, der zu einem absolut ungeeigneten Zeitpunkt durchgeführt wurde.403 Mohammad Osman Tariq Elias erklärt die Situation folgendermaßen: „Processes like DDR and DIAG have benefited the Taliban, who recruited the demobilized and jobless militiamen into their ranks, where they represent a significant percentage.”404 Doch die Taliban profitierten nicht nur von den arbeitslosen Soldaten, sondern auch vom Machtvakuum, das die Rivalen Karzais nun hinterließen. Diese Anti-Taliban-Kräfte wurden mit einem Schlag entmachtet, was unweigerlich zu einer weiteren Destabilisierung Afghanistans führte. Gerade im Süden des Landes, in dem sich die Sicherheitslage ohnehin zunehmend verschlechterte, ging dies mit einem starken Machtgewinn der Taliban einher.405

Die USA ließen das Wiedererstarken der Taliban jedoch einfach unbeachtet, und so konnte sich diese Widerstandsbewegung vor allem in den südlichen Provinzen Afghanistans festsetzen. Auch die Ankunft der britischen ISAF-Truppen im Jahr 2006 im Süden konnten den Taliban schließlich wenig entgegensetzen.406 Die 16.000 Mann starke NATO war zwar kampfbereit, was sich in zahlreichen Aktionen wie Operation Mountain Thrust oder Operation Medusa (beide 2006) zeigte, konnte jedoch keine Sympathien bei der afghanischen Bevölkerung gewinnen,407 wie Charlotta Gall beschreibt:

„It meant destroying houses, farm buildings, and property walls, tearing up orchads and cutting off irrigationchannels, which would anger many farmers and landowners. I

402 Ruttig: Loya Paktia, S. 87. 403 Gall: Enemy, S. 122-124. 404 Elias: The Resurgence of the Taliban in Kabul, S. 53. 405 Gall: Enemy, S. 124. 406 Farrell u. Giustozzi: The Taliban at war, S. 850 u. Rashid: Sturz ins Chaos, S. 146. 407 Gall: Enemy, S. 138-140. 120

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

saw it time and again in Afghanistan: foreign troops taking actions for their own protection, alienating the local population, and thus undermining their security.“408

Die Sicherheitslage im südöstlichen Afghanistan wurde dadurch weiterhin verschärft, während die Taliban sich über einen Zustrom der frustrierten Bevölkerung freuen durften.

3.5.2. Afghanistans Aussichten

Als Präsident im Jänner 2009 vereidigt wurde, war die Rückkehr der Taliban kein Geheimnis mehr. Obama sah die Intervention in Afghanistan als legitim und auch als „guten“ Krieg (im Gegensatz zum Irak-Krieg) an, dem er mehr Bedeutung zumessen wollte. Der Fokus lag seit 2009/2010 nun auf einer Tötungs- und Gefangennahme-Mission, vor allem in der Provinz Kandahar (kill/capture- Strategie), die hochrangige al-Qaida- und Taliban-Kommandeure ausheben sollte - doch ohne die erwünschte Wirkung,409 wie Anand Gopal beschreibt: „The movement is not so tightly structured that the arrest or killing of top leaders affects its activities, but at the same time it is not so decentralized that coordinated action cannot be taken.“410 Ebenso setzte der damals neue Präsident Amerikas auf vermehrte Drohnenangriffe in den FATA, wie auch auf (gescheiterte) Friedensverhandlungen mit verschiedenen Taliban-Gruppierungen. Schließlich erkannten die USA 2012, dass ökonomische Faktoren für den Zulauf der Bevölkerung zu den Taliban ausschlaggebend waren, und versicherten mehr Unterstützung durch Arbeitsplätze und alternative Wirtschaftsprogramme, um unter anderem auch dem Drogenhandel entgegenzuwirken.411 Doch es zeigt sich nach wie vor ein düsteres Bild für Afghanistan und seine Zivilbevölkerung, wie Neta C. Crawford, eine Politikwissenschaftlerin, beschreibt:

„Since the start of the war in Afghanistan in 2001, about 26,270 civilians have been killed by direct war-related violence and more than 29,900 civilians have been injured. The health care system remains burdened by war and stressed due to the

408 Gall: Enemy, S. 140. 409 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 56-60. 410 Gopal: The Taliban in Kandahar, S. 61. 411 Abbas: The Taliban Revival, S. 168, 187. 121

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

destruction of Afghan infrastructure and the inability to rebuild in some regions. Afghans continue to experience a humanitarian crisis. Humanitarian workers still face attacks from militants and a generally unsafe environment. […] While the violence has diminished in some regions, it has intensified in other areas of Afghanistan. Most civilian deaths occurred after 2007; UNAMA records more than 17,700 civilian deaths from 2009 to 2014.”412

Auch die Souveränität Afghanistans unter Präsident Ashraf Ghani ist nicht wirklich gegeben: Im ländlichen Bereich greift der Staat nach wie vor nicht, nur in den Städten kann eine gewisse Struktur geboten und aufrechterhalten werden. Ohne effektive Steuer bleibt der schwache Staat Afghanistan abhängig von ausländischer Hilfe. Laut dem Standard ist die Sicherheitslage in diesem Land noch immer katastrophal: Die Taliban liefern sich Gefechte mit afghanischen Streitkräften und erobern immer mehr Boden zurück.413 Anand Gopal erklärt die Situation folgendermaßen:

„Around 2006 or 2007, you had U.S. military or NATO forces, Afghan security forces and the Taliban. Today, you have all sorts of militias such as the Afghan local police, various other informal militias. There´s a lot more people in the fight than there were before.“414

Durchaus verständlich ist daher eine massive Flüchtlingsbewegung, die auch die westliche Welt betrifft: Im Jahr 2015 kamen ungefähr 213.000 Flüchtlinge aus Afghanistan in die Europäische Union.415 Die Gründe und das damit verbundene Konfliktpotenzial sind auch dem bereits mehrfach zitierten Verbindungs- und Aufklärungsoffizier bewusst:

„Ich habe selbst gesehen, wie es sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen ergeht und was es bedeutet, in einem Kriegsgebiet aufzuwachsen. Die Masse der Afghanen hat keine Perspektiven. Ich habe das vor Ort selbst erlebt. Aber sie kommen mit

412 Neta C. Crawford: War-related Death, Injury, and Displacement in Afghanistan and Pakistan 2001- 2014, Watson Institute for International Studies, Brown University, Mai 2015, S. 2. 413 Priyanka Boghani: The War the U.S. Left Behind in Afghanistan, Frontline, Februar 2015, URL: http://www.pbs.org/wgbh/frontline/article/the-war-the-u-s-left-behind-in-afghanistan/, 28.12.2016 u. Der Standard kompakt: Flüchtlingsdeal im Schatten der Taliban, 6.10.2016, S. 12. 414 Boghani: The War the U.S. Left Behind in Afghanistan. 415 Der Standard kompakt: Flüchtlingsdeal im Schatten der Taliban, 6.10.2016, S. 12. 122

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Erwartungshaltungen, die wir nicht erfüllen können, gepaart mit einem hohen sozialen Druck von den zuhause gebliebenen Familienmitgliedern. Auch sie können die Erwartungshaltungen, die wir stellen, nur schwer erfüllen, da sie in einer gänzlich anderen Welt aufgewachsen sind. Die meisten sind kaum gebildet und unter unvorstellbar grausamen Bedingungen groß geworden. Den Weg nach Europa erkaufen sie sich zum Teil mit Prostitution (Lustknaben). Nicht nur ihre Werte sind anders, auch ihre Konfliktlösungsansätze sind verschieden von den unseren. Viele unserer sozialen Angebote und Teile unserer Toleranz werden von ihnen als Schwäche ausgelegt und die meisten von ihnen lernen die dunkle Seite unsere Gesellschaft kennen, bevor sie mit Hilfsangeboten konfrontiert werden. Es wird daher zwangsläufig zu Konflikten kommen. Unsere Aufgabe ist es, diese Konflikte bestimmt aber friedlich einer Lösung zuzuführen, solange wir dazu in der Lage sind.“416

Die amerikanische Politik forcierte (bewusst und unbewusst) in den vorangegangenen Jahren die Zersplitterung, die Radikalisierung der Taliban und auch die Verbreitung radikal-islamischer Gruppierungen. Auch Ahmed Rashid befürchtet: „The U.S. failure to secure this region may well lead to global terrorism, nuclear proliferation, and a drug epidemic on a scale that we have not yet expected and I can only hope we never will.”417

Verantwortung übernehmen die Vereinigten Staaten keine, aber die Auswirkungen spüren wir nun alle. Der Krieg ist noch lange nicht vorbei.

416 Interview vom 7.9.2016. 417 Rashid: Descent into Chaos, S. XLII. 123

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

4. Resümee

Das Hauptsiedlungsgebiet der Paschtunen, der größten Ethnie Asiens, umfasst die Länder Afghanistan und Pakistan. Getrennt durch die Durand-Linie, die künstlich nach erfolglosen britischen Kriegen in der Hoffnung, den Zusammenhalt der tribalen Netzwerke zu schwächen, gezogen wurde, leben die als äußerst kriegerisch und mit hohem Selbstbehauptungswillen ausgestattet beschriebenen paschtunischen Gesellschaften. Vor allem in den kaum zugänglichen, bergigen und kargen Gebirgslandschaften des Hindukusch beheimateten Quams beiderseits der Durand- Linie halten nach wie vor stark an ihren Traditionen fest. Das Paschtunwali, ein nicht schriftlich festgehaltener Sozialkodex und paschtunisches Gesetz, spielt hierbei eine übergeordnete Rolle. Dieser entwickelte sich aus dem früheren Nomadentum der Paschtunen und stellt eine eigenwillige Art der Rechtsprechung und Lebensweise dar, die uns Europäern nicht geläufig ist und die Paschtunen auch von allen anderen Ethnien unterscheidet. Werte und Normen wie der Stellenwert der Ehre eines Mannes, die Verteidigung des eigenen Besitzes und der Familie sowie die Gebote der Gastfreundschaft differieren stark von westlichen Ansichten, was gerade in der US-Intervention Operation Enduring Freedom durch mangelndes Verstehen der paschtunischen Kultur zu zahlreichen konfliktgeladenen Missverständnissen und daher zum Aufschwung der Neo-Taliban führte.

Die Durrani, die Ghilzai, die Ghurghusht und die Karlan bilden die vier größten Konföderationen der Paschtunen, die je aus etwa sechzig größeren Quams (Stämme als politische Organisationsform) bestehen. Diese wiederum teilen sich in mehr als vierhundert Khels (Klans oder größere Linages) auf – wobei es bei größeren zu einer Spaltung in verschiedene Sub-Khels kommen kann –, die sich weiters in Khols (Familiengruppen oder kleinere Linages) strukturieren. Ein paschtunischer Ehrenmann ist, abgeleitet von dieser Gliederung, zuerst seiner Familie gegenüber, dann dem Khel, seinem Quam und schlussendlich seiner Konföderation zu Loyalität verpflichtet – daher auch zur Ausübung von Rache. Oftmals blutige Fehden unter den Konföderationen, den Quams, den Khols sowie den Khels gehören somit zum Alltag der traditionell orientierten Paschtunen im Süden und Osten Afghanistans.

124

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Die Feindschaft der Durrani mit den Ghilzai weist schon eine jahrhundertelange Tradition auf, da diese um die Herrschaft über Afghanistan buhlen. Bislang stellten aber die Durrani mit nur vier Ausnahmen die Machthaber. Eine dieser Ausnahmen stellt Mullah Omar, ein Ghilzai-Paschtune aus dem Hotaki-Quam, dar, der als Taliban-Führer 1996 das Islamische Emirat Afghanistan ausrief.

Diese konservative islamistische Bewegung der Taliban entwickelte sich nach dem Sowjetkrieg in Afghanistan (1979-1989) und setzte sich aus den als Rekruten des Afghanischen Jihads benutzten, nun arbeitslosen in Deobandi-madrassas radikalisierten paschtunischen Koranschülern, zusammen. Durch die sunnitische Islamisierungspolitik Zias wurden im pakistanischen Paschtunengebiet zahlreiche dieser madrassas mit saudischen Geldern aufgebaut, unter anderem auch, um afghanische Flüchtlinge und auch ausländische Soldaten gegen die Kommunisten auszubilden. Die USA ließen dem pakistanischen Geheimdienst, dem ISI, enorme Mengen an Waffen zukommen und finanzierten auch die Propaganda gegen die Sowjetunion.

Nicht nur die zahlreichen afghanischen Flüchtlinge, die die semiautonomen Grenzgebiete in Pakistan durch die ethnische Verbundenheit als Rückzugsgebiet wahrnahmen, sondern auch die Ghilzai-Paschtunen um Ghazni und Kandahar, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten, nahmen das Angebot einer kostenlosen Schulbildung samt Unterkunft und Verpflegung während und nach der Sowjetinvasion wahr: Fast jede Familie sandte mindestens einen Sohn in eine solche madrassa. Durch diese sozio-ökonomischen Faktoren ergab sich zwangsläufig eine ethnische Zusammensetzung der Taliban aus Paschtunen, die vorwiegend der Ghilzai-Konföderation entstammten. Diese nutzten ihre Verwandtschaftsverhältnisse und Beziehungen zu verschiedenen Quams aus, um sich im Paschtunengebiet während dem verheerenden Bürgerkrieg in Afghanistan rasch durchzusetzen.

Nach dem Sowjetkrieg griffen durch die Überschwemmungung des Landes mit amerikanischen Waffen gewisse tribale Regelmechanismen kaum mehr: Der Mächtigere setzte willkürlich seine eigenen Interessen durch, während die USA nach dem Abzug sowjetischer Truppen nicht an einen Aufbau des vom Krieg zerrütteten Afghanistan dachte. So überließ diese Großmacht das Land den rivalisierenden

125

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

mujaheddin und Warlords, was zu einem brutalen Bürgerkrieg führte: Plünderungen, sexueller Missbrauch, Korruption und der Zusammenbruch der Wirtschaft waren unausweichliche Folgen. Trotz absurder und menschenunwürdiger Verbote speziell Frauen betreffend und eigenwilligen sowie befremdenden Interpretationen der Sharia und des Paschtunwali konnten die Taliban durch die Herstellung einer Art Frieden und Sicherheit mit Unterstützung des ISI Ansehen in der breiten Bevölkerung – vor allem im ländlichen Bereich – gewinnen. Mullah Omar ließ sich 1996 von Religionsführern zum „Führer der Gläubigen“ wählen und rief schließlich das Islamische Emirat Afghanistan aus.

Vor allem Ghilzai-Paschtunen aus den Quams der Hotaki und der Kakar, aber auch Quams der Ghurghusht-Konföderation nahmen eine tragende Rolle bei den Taliban ein, sowie Mitglieder der vom ISI und den USA forcierten Peshawar-Seven-Parteien wie der Hizb-e Islami oder Harakat und der madrassa Dar ul-Uloom Haqqaniya in Pakistan, die einflussreiche paschtunische Männer vernetzte, bildeten die Basis der Regierung von 1996 bis 2001.

Die einzige Macht, die sich den von Pakistan und auch den USA favorisierten Taliban entgegenstellte und massiv gegen sie vorging, war die militärisch von Russland, dem Iran wie Indien geförderte Nordallianz, die von Ahmed Schah Massoud mit Unterstützung von Ismael Khan, General Dostum und Hazara-Kommandeuren geführt wurde.

Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001, welche Amerika in seinen Grundfesten erschütterten und die gesamte Welt durch die emotionale Berichterstattung berührten, verfolgten die USA unter Präsident George W. Bush nun ein einziges Ziel: den internationalen Terrorismus zu eliminieren. Die für die Attentate ausgemachte und in Afghanistan niedergelassene Organisation al-Qaida unter der Führung von Osama bin Laden musste nun bekämpft werden, und so riefen die Vereinigten Staaten mit dem NATO-Sicherheitsrat den völkerrechtswidrigen Global War on Terror aus. Um al-Qaida auszuschalten und das Taliban-Regime zu stürzen, welches sich aufgrund des paschtunischen Gastrechtes weigerte, Osama bin Laden auszuliefern, startete im Oktober 2001 mit massiven Luftangriffen die zweifelhafte

126

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

US-geleitete Operation Enduring Freedom. Um möglichst wenige Bodentruppen einzusetzen, ging die USA nun Bündnisse mit der Nordallianz ein.

Schwerwiegende Fehler zu Beginn der OEF wie beispielsweise die vom CENTCOM abgelehnte Kapitulation der Taliban, die vom pakistanischen Geheimdienst geforderte und von US-Präsident Bush und Vizepräsident Cheney genehmigte geheime Luftbrücke, wo neben ISI-Offizieren auch zahlreiche hochrangige Taliban sowie al-Qaida-Mitglieder in einer Nacht- und Nebelaktion von Kundus ausgeflogen wurden wie auch dem Wegsehen von grausamen Verbrechen an gefangen genommenen oder freiwillig kapitulierten Taliban und al-Qaida-Anhängern unter General Dostum, waren nur der Anfang von vielen weiteren.

Der überraschend schnelle vermeintliche militärische Erfolg der US-Intervention erforderte nun eine prompte Regierungsbildung in Afghanistan. Anfang Dezember schloss die von den Vereinten Nationen ausgerufene internationale Konferenz in Bonn, die festlegte, wer die Geschicke Afghanistans nun leiten sollte: Als Interimspräsidenten setzte der Rat Hamid Karzai, den Popalzai-Anführer aus der Durrani-Konföderation, ein. Weitere wichtige Schlüsselämter besetzte die Konferenz mit Nicht-Paschtunen, wie beispielsweise als stellvertretenden Verteidigungsminister den gefürchteten usbekischen General Dostum oder als Gouverneur der Provinz Herat den Tadschiken Ismail Khan. Zur Friedenssicherung sollte die ISAF in der Hauptstadt Kabul ausreichen, wobei über die geplante Entwaffnung der Warlords keine Strategie ausgearbeitet wurde.

Die unterrepräsentierten Paschtunen und die Dominanz einiger Ethnien der Nordallianz bildete in keiner Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse ab, sodass ein Großteil der afghanischen Bevölkerung sich nicht mit ihrer Übergangsregierung identifizieren konnte – vor allem nicht die Paschtunen, die einen Anteil von 42 Prozent des multikulturellen Landes ausmachten. Aber einer der fatalsten Fehler, den die Verantwortlichen der Bonn-Konferenz begingen, war, Vertreter der Taliban überhaupt nicht einzuladen. Viele gemäßigte Taliban wären zu diesem Zeitpunkt gut in die Gesellschaft reintegrierbar gewesen und einige wichtige Player der späteren Neo-Taliban hätten auch freiwillig kapituliert, wie Mullah Abdul Ghani Barader oder Sayed Muhammad Haqqani. Doch eine Eingliederung war seitens der USA nicht

127

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

vorgesehen und wurde vehement abgelehnt. Somit hatten alle Taliban keine andere Wahl, als Afghanistan zu verlassen, und hinterließen ein großes Machtvakuum. Folgedessen richteten sich viele ehemalige Taliban, die dem Karzai-Regime loyal eingestellt gewesen wären, wieder gegen die Regierung, um sich selbst zu verteidigen.

In Massen flüchteten sie auf verschiedenste Art und Weise über die Grenze nach Pakistan, wo ihnen der ISI gestattete, sich in Nord- und Süd-Wasiristan zurückzuziehen. Dort konnten sich die schwer angeschlagenen Taliban, deren Führungsstruktur jedoch noch intakt war, in Ruhe neu formieren.

Um sich für den Einmarsch in den Irak vorzubereiten, zogen die USA viele ihrer Soldaten schnell von wichtigen Stützpunkten im Osten und Süden Afghanistans ab – ausgerechnet von den wirtschaftlich ärmsten Regionen. Die US-Regierung schloss Verträge mit den Warlords der Nordallianz, damit diese die Sicherheit im Land aufrechterhalten, statt einen funktionierenden Polizeiapparat aufzubauen – eine der fatalsten politischen Fehlentscheidungen der USA. Über die CIA finanzierten sie die privaten Milizen der Kriegsherren – doch damit setzten sie gänzlich auf die falschen Partner: Die korrupten Patronage-Netzwerke der Warlords missbrauchten offen ihre Macht, entrechteten und unterdrückten paschtunische Gemeinschaften, indem sie geheime Folterkammern bauten und sich zum Beispiel lokale Fehden zunutze machten, US-Truppen falsch informierten und somit oftmals Rivalen beseitigen ließen. Doch auch nach den sich abzeichnenden Spannungen zwischen rivalisierenden Warlords hielt die Bush-Regierung an ihrer Strategie fest und hofierte diese Kriegsherren weiterhin. Die von den USA als Sicherheitsbeamte eingesetzten brutalen Miliz-Soldaten korrupter Warlords, die hohe politische Ämter bekleideten, führten zu einem bürgerkriegsähnlichen, chaotischen Zustand.

Nach einer kurzen Phase der Demoralisierung organisierten sich ab 2002 eine Vielzahl an talibanischen Splittergruppen in den pakistanischen Stammesgebieten – die Neo-Taliban. Gebirgige wie kaum passierbare Landschaften eröffneten den Bewegungen zahlreiche Rückzugsorte sowie eine gute Möglichkeit, ihre weiterentwickelten und von weiteren zahlreichen radikalen Islamistenorganisationen in Pakistan erlernten neuen Techniken (IED, Selbstmordattentäter) sowie Guerilla-

128

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Taktiken gegen die USA und weiteren westlichen Ländern effektiv einzusetzen. Diese Bewegungen hatten viele Vorteile gegenüber den amerikanischen Invasoren: Das Wissen über die geographischen Gegebenheiten, lokale Gebräuche, die Sprache und vor allem über die komplexen tribalen Strukturen. Genau diese Aspekte ließen die US-geleitete OEF aufgrund ihrer Ignoranz der paschtunischen Kultur gegenüber scheitern.

Doch US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wollte diese Reorganisation von Beginn an nicht wahrhaben und sah auch im Anstieg der Mohnproduktion sowie dem damit einhergehenden Drogenhandel lediglich ein unwichtiges soziales Problem. Schließlich formierten und etablierten sich drei größere Gruppen: Ehemalige Taliban- Führer vereinten sich unter Mullah Omar als Quetta Shura und rekrutierten zahlreiche Kämpfer aus Pakistan und den südlichen afghanischen Provinzen. Das semiautonome Haqqani-Netzwerk agiert seither in Nord-Wasiristan, während die Hizb-e Islami die Bajaur Agency der FATA mit zunehmendem Einfluss auf östliche Provinzen Afghanistans kontrolliert. Hervorzuheben ist, dass bis 2015 jeder dieser großen Neo-Taliban-Bewegungen ein Ghilzai-Paschtune (aus den Quams der Hotak, Zadran, Kharoti) vorsteht, aber dennoch konnten zahlreiche Durrani, Karlan und auch Ghurghusht (insbesondere Kakar) integriert werden. Die Panjpai Durrani mit den Nurzais, Ishaqzais und Alizais bilden eine bedeutende Gruppe (besonders in der Quetta Shura, die seit 2015 den Führer Mullah Akhtar Mohammed Mansour aus dem Ishaqzai-Quam stellt), während die Zadran-Ghilzai samt dem Mada Khel Clan (Karlan, Uthmanzai Wazir) und dem Daur (Karlan) besonders im Haqqani Netzwerk ihre Macht ausüben.

Die ausgebeutete und vernachlässigte Bevölkerung, die vergebens auf versprochene US-Hilfsmittel wie Saatgut oder Düngemittel warteten, sah die Taliban, die sich in Pakistan ab 2002 neu formierten, oftmals als geringeres Übel. Um das Einkommen der Familie zu sichern, bauten viele wieder Schlafmohn an und ließen sich auf einen Handel mit den Taliban ein. Die Verhaftung und Folter von früheren Taliban- Kommandeuren, religiösen Führern oder unschuldigen paschtunischen Männern in geheimen Internierungslagern wie Bagram oder Guantánamo ohne jegliche Rechtsgrundlage und ohne Beweise war ebenfalls ein wichtiger Aspekt, der viele paschtunische Gesellschaften dazu brachte, sich den Taliban zuzuwenden. Ein

129

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

weiterer Faktor im Rahmen der OEF, die Abwehrreaktionen der Paschtunen hervorriefen und viele Netzwerke in die Hände der Taliban trieben, war das Unvermögen der Amerikaner, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Kulturelle Missverständnisse wie Fehlinformationen oder vorschnelle Entscheidungen führten zu zahlreichen Luftangriffen, bei denen tausende unschuldige Zivilisten – darunter auch viele Frauen und Kinder – getötet wurden. Auch das Unverständnis und das Missachten paschtunischer Kultur und Werte schuf eine große Distanz und Skepsis gegenüber den USA wie auch den NATO-Truppen, was die Taliban zu Propagandazwecken mühelos ausnutzten. Neue Taliban-Bewegungen bildeten daher oftmals rein pragmatische Interessensgemeinschaften und verstanden sich im Allgemeinen als nationale Islamistenorganisationen.

Eine Unzahl an arbeitslosen Rekruten aus den madrassas, (Drogen-)Gelder wie auch der Unmut der afghanischen Bevölkerung über die schwache, limitierte Zentralregierung in Kabul, eine schlechte lokale Verwaltung und das nicht greifbare, korrupte sowie langsame Justizwesen ermöglichten es, dass die Neo-Taliban ernstzunehmende Organisationen wurden, die mit brutalen Rekrutierungsstrategien wie Erpressungen oder Drohungen ihre Bewegung erweitern konnten, während die USA diesen Wiederaufbau ignorierte. Die Quetta Shura konnte durch die Vernachlässigung und das Desinteresse der USA gegenüber den armen, bildungsfernen paschtunischen Gesellschaften in den östlichen und südlichen Regionen Afghanistans Schattenregierungen schließlich in fast allen afghanischen Provinzen samt örtlicher, strenger Gerichte mit Sharia-Rechtsprechung implementieren. Durch die eigesetzten Schattengouverneure verbesserte diese Bewegung ihre Koordination und Kommunikation erheblich, was sich ab 2006 in effektiven, gut durchdachten und koordinierten Offensiven zeigte. Die erst im Jahr 2005 eingesetzten ISAF/NATO-Kräfte im Süden und Osten Afghanistans waren dieser Situation schließlich ausgeliefert – auf Informationen wie Satellitenüberwachungen konnten sie nicht zurückgreifen, da die Amerikaner diese Region schlichtweg nicht überwacht hatten.

Unzureichende Bodentruppen für den Wiederaufbau und zur Sicherung des Friedens, zu viele Luftangriffe mit falschen Zielen, das Einsetzten und Finanzieren von gefürchteten Warlords als Politiker, das Versäumnis der Entwaffnung der

130

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Warlords, die zum falschen Zeitpunkt durchgeführten Entwaffnungsprogramme, schwache und nicht engagierte Sicherheitskräfte sowie eine missbräuchlich benutzte Regierung mit unausgewogener ethnischer Zusammensetzung, fehlendes Verständnis der paschtunischen Gesellschaftsstruktur, willkürliche Gewalt auch gegen angesehene Paschtunen sowie das Ignorieren des Drogenhandels wie der Gesamtsituation des Südens und Ostens Afghanistans waren einige Hauptaspekte, die den Zulauf zu den Taliban forcierten. Den USA wäre die Chance, Afghanistan beim Wiederaufbau aktiv zu unterstützen, oftmals geboten worden – doch diese wurden nicht ergriffen.

Trotz extremer Armut, einem instabilen wie auch schwachen Staat, einer korrupten Regierung und rivalisierenden Warlords, unüberschaubarem Drogenhandel, einer zerstörten Wirtschaft und vielen gesellschaftlichen Problemen ist Afghanistan aufgrund der geostrategischen Lage weiterhin für Großmächte attraktiv. Solange aber die Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan im Prinzip frei passierbar ist, die Pakistanische Regierung die Taliban gewissermaßen unterstützt oder sogar anstiftet, zumindest aber gewähren lässt, sich in der KPK und den FATA nach Belieben zu organisieren, ist es unmöglich, diese Bewegung in Afghanistan niederzuschlagen.

Die US-geleitete Intervention Operation Enduring Freedom schuf die Hydra der Taliban – eine Aufsplitterung unzählbarer radikal-islamistischer Gruppierungen, die sich aufgrund ihrer Gesellschaftsstruktur nicht einfach durch Anschläge eliminieren lassen: Jede Tötung oder eine andere Ehrverletzung eines Taliban, welche hauptsächlich Paschtunen sind, verlangt aufgrund des Paschtunwali die Rache aller männlichen Quam-Angehörigen – auch, wenn dieser Quam sich selbst nicht zu den Taliban zählt. Dies führte schlussendlich zu einer Multiplikation fundamentalistischer Neo-Taliban, nicht zu einer Reduktion. Der nun nicht mehr umkehrbare Zustand dieser großen Aufsplitterung sowie die weitere Radikalisierung in den FATA und der KPK beschwörte die amerikanische Politik mit vielen Fehlentscheidungen wie auch durch das Ignorieren maßgeblicher Tatsachen regelrecht herauf.

Ohne Dialog und ohne Verhandlungen mit den Taliban wird es daher in Afghanistan auch in Zukunft keinen Frieden geben.

131

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

5. Abkürzungen

ANA Afghan National Army

AMF Afghan Militia Force Mujaheddin-Einheit

ATTA Afghanistan Transit Trade Agreement Zoll-Abkommen zwischen Pakistan und Afghanistan

CENTCOM Central Command amerikanisches Zentralkommando der OEF

CIA Central Intelligence Agency Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten

DDR Disarmament, Demobilization, and Reintegration Entwaffnungs-, Demobilisierungs- und Reintegrationsverfahren

DIAG Disbandment of Illegal Armed Groups

DVPA Demokratischen Volkspartei Afghanistans

FATA Federally Administrated Tribal Areas

FCR Frontier Crimes Regulation Gesetze in der NWFP

FOB Forward Operating Base

HIG Hizb-e Islami Extremistische Partei von Gulbuddin Hekmatyar

ISAF International Security Assistance Force, Internationale Afghanistan-Schutztruppe

132

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

ISI Inter-Services Intelligence Pakistanischer Geheimdienst

JUI Jamiat-e-Ulema Islam fundamentalistische Partei, Pakistan

KG pashtunisches Kerngebiet reicht vom Khyber-Pass bis zum Gomal-Fluss

KGB Komitee für Staatssicherheit Sowjetischer Geheimdienst

KMNB Kabul Multinational Force

KPK Khyber Pakhtunkhwa Provinz früher NWFP, Provinz in Pakistan

MAK maktab al-kidamat Büro für Dienstleistungen/Versorgungszentrum – Vorläufer der al-Qaida

NATO North Atlantic Treaty Organization Atlantisches Bündnis

NGO Nichtregierungsorganisation non-governmental organization

NWFP North-West Frontier Province, in Pakistan vor 2010 als Khyber Pakhtunkhwa bezeichnet

OEF Operation Enduring Freedom

OFS Operation Freedom’s Sentinel

PHR Physicians for Human Rights Menschenrechtsorganisation

PRT Provincial Reconstruction Team 133

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

regionale Wiederaufbau-Teams der ISAF

QRF Quick Reaction Force der holländischen Spezialeinsatzkräfte

RC-E Regional Command East Regionalkommando Ost (ISAF/NATO)

SOF Special Operations Forces

TTP Therik-i-Taliban Taliban-Gruppierung in Pakistan, seit 2007

UNO United Nations Organization Völkerbund

WTC World Trade Centers Welthandelszentrum, bestand aus insgesamt sieben Gebäuden

134

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

6. Literaturverzeichnis

Monographien:

Abbas, Hassan: The Taliban Revival. Violence and Extremism on the Pakistan- Afghanistan Frontier, Courtesy of Yale University Press London, Wales 2014.

Gall, Charlotta: The Wrong Enemy. America in Afghanistan, 2001-2014, Houghton Mifflin Harcourt, Boston/New York 2014.

Haag, Robert: Die Pashtunen und ihre Bedeutung für regionale Konflikte, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2012.

Kuehn, Felix u. Strick van Linschoten, Alex: An Enemy We Created. The Myth of the Taliban/Al Qaeda Merger in Afghanistan, 1970-2010, Hurst & Company, London 2014.

Kutz, Magnus-Sebastian: Öffentlichkeitsarbeit in Kriegen. Legitimation von Kosovo-, Afghanistan- und Irakkrieg in Deutschland und den USA, Springer VS, Wiesbaden 2014.

Maloney, Sean M.: Enduring the Freedom. A Rogue Historian in Afghanistan, Potomac Books, Virginia 2005.

Michels, Carsten: Die Taliban in den Stammesgebieten Pakistans. Eine sicherheitspolitische Analyse der Jahre 2001-2011, Peter Lang GmbH, Frankfurt am Main 2013.

Minahan, James B.: Ethnic Groups of North, East, and Central Asia: An Encyclopedia, ABC-CLIO, Santa Barbara 2014.

Minich, Wolfgang: ISAF. Geconisaf 2. Erinnerungen an den Einsatz in Afghanistan. Juni 2002- Januar 2003, Kabul Multinationale Brigade, Ottweiler 2003.

Rashid, Ahmed: Descent into Chaos. The U.S. and the Disaster in Pakistan, Afghanistan, and Central Asia, Penguin Books, London 2009.

135

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Rashid, Ahmed: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban, Weltkiosk (4. Aufl.), Düsseldorf 2010.

Rashid, Ahmed: Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch, C.H. Beck (2. Aufl.), München 2010.

Wohlgut, Bernd: Afghanistan – 30 Jahre Krieg am Hindukusch.Über die historische Entwicklung von 1979 bis 2009 mit Einsätzen und Hintergründen. Über Warlords, Gewalt, Erfolge und Fehler, Shaker Media GmbH, Aachen 2010, S. 67.

Sammelbände

Bergen, Peter u. Tiedemann, Katherine (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013.

Chiari, Bernhard u. Schetter, Conrad (Hg.): Wegweiser zur Geschichte. Pakistan, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010.

Elias, Mohammad Osman Tariq: The Resurgence of the Taliban in Kabul. Logar and Wardak, in: Giustozzi, Antonio (Hg.): Decoding the New Taliban. Insights from the Afghan Field, Hurst and Company, London 2009 (S. 43-56).

Fishman, Brian u. a.: The Taliban in North Waziristan, in: Bergen, Peter u. Tiedemann, Katherine (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013 (S. 128-163).

Giustozzi, Antonio (Hg.): Decoding the New Taliban. Insights from the Afghan Field, Hurst and Company, London 2009.

Gopal, Anand: The Taliban in Kandahar, in: Bergen, Peter u. Tiedemann, Katherine (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013 (S. 1-68).

Janda, Alexander u. a. (Hg.): AfPak. Afghanistan, Pakistan und die Migration nach Österreich, Österreichischer Integrationsfonds/Bundesministerium für Inneres, Leobersdorf 2011.

136

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Langer, Phil C. u. a. (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012.

Mahsud, Mansur Khan: The Taliban in South Waziristan, in: Bergen, Peter u. Tiedemann, Katherine (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013 (S. 164-201).

Nachtwei, Winfried: Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr – Von der Friedenssicherung zur Aufstandsbekämpfung, in: Langer, Phil C. u. a. (Hg.): Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sozial- und politikwissenschaftliche Perspektiven, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2012 (S. 33-48).

Roithner, Thomas (Hg.): Von kalten Energiestrategien zu heißen Rohstoffkriegen? Schachspiel der Weltmächte zwischen Präventivkrieg und zukunftsfähiger Rohstoffpolitik im Zeitalter des globalen Treibhauses, Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, LIT Verlag, Wien 2008.

Ruttig, Thomas: Loya Paktia´s Insurgency, The Haqqani Network as an autonomous Entity, in: Giustozzi, Antonio (Hg.): Decoding the New Taliban. Insights from the Afghan Field, Hurst and Company, London 2009 (S. 57-88).

Ruttig, Thomas: Negotiations with the Taliban, in: Bergen, Peter u. Tiedemann, Katherine (Hg.): Talibanistan. Negotiating the Borders Between Terror, Politics, and Religion, Oxford University Press, New York 2013 (S. 431-482).

Schetter, Conrad: Staat und Stamm – Das Grenzland der Paschtunen, in: Chiari, Bernhard u. Schetter, Conrad (Hg.): Wegweiser zur Geschichte. Pakistan, Ferdinand Schöningh, Paderborn 2010 (S. 99-109).

Schmidt, Martin u. Schrott, Thomas: Extremistische Gruppierungen im afghanisch- pakistanischen Grenzgebiet, in: Janda, Alexander u. a. (Hg.): AfPak. Afghanistan, Pakistan und die Migration nach Österreich, Österreichischer Integrationsfonds/Bundesministerium für Inneres, Leobersdorf 2011 (S. 69-84).

137

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Strutynski, Peter: Warum es keine Alternative zum Rückzug aus Afghanistan gibt, in: Roithner, Thomas (Hg.): Von kalten Energiestrategien zu heißen Rohstoffkriegen? Schachspiel der Weltmächte zwischen Präventivkrieg und zukunftsfähiger Rohstoffpolitik im Zeitalter des globalen Treibhauses, Österreichisches Studienzentrum für Frieden und Konfliktlösung, LIT Verlag, Wien 2008 (S. 83-97).

Artikel und Berichte

Amnesty International: USA: Guantánamo. Seit 14 Jahren ein Symbol für Unrecht und Folter (Autor nicht angeführt), Jänner 2016, URL: https://www.amnesty.at/de/guantanamo/?highlight=true&unique=1471025799, 12.08.2016.

Anonym: The Quetta Shura: A Tribal Analysis, Tribal Analysis Center Williamsburg 2009.

Ashton, C.: Durchführungsbeschluss 2012/334/GASP des Rates vom 25. Juni 2012 zur Durchführung des Beschlusses 2011/486/GASP über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen angesichts der Lage in Afghanistan, Amtsblatt der Europäischen Union, L 165/75, Luxemburg 2012, URL: http://www.ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/embargos/terrorismus/afghanista n/gasp/dbe2012_334.pdf, abgerufen am 2.1.2016.

Background Paper: Afghanistan: Political Parties and Insurgent Groups 2001-2013, Australian Government, September 2013.

Boghani, Priyanka: The War the U.S. Left Behind in Afghanistan, Frontline, Februar 2015 URL: http://www.pbs.org/wgbh/frontline/article/the-war-the-u-s-left-behind-in- afghanistan/, 28.12.2016.

Bush, George W: 9/11 Address to the Nation (Transkription), AmericanRhetoric. Rhetorik of 9-11, URL: http://www.americanrhetoric.com/speeches/gwbush911addresstothenation.htm, 29.05.2016.

138

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Bush, George W: Address to Joint Session of Congress Following 9/11 Attacks (Transkription), AmericanRhetoric. Rhetorik of 9-11, URL: http://www.americanrhetoric.com/speeches/gwbush911jointsessionspeech.htm, 29.05.2016.

Bush, George W: Presidental Debates. Presidential Debate in Winston-Salem, North Carolina, The American Presidency Projekt, Oktober 2000, URL: http://www.presidency.ucsb.edu/ws/?pid=29419, 29.12.2016.

Clark, Kate: Bergdahl and the ‘Guantanamo Five’: The long-awaited US-Taleban prisoner swap, Afghan Analyst Networks, Juni 2014, URL: https://www.afghanistan- analysts.org/bergdahl-and-the-guantanamo-five-the-long-awaited-us-taleban- prisoner-swap/, 12.08.2016.

Crawford, Neta C.: War-related Death, Injury, and Displacement in Afghanistan and Pakistan 2001-2014, Watson Institute for International Studies, Brown University, Mai 2015.

Dobbins, James u. Malkasian, Carter: Time to Negotiate in Afghanistan. How to Talk to the Taliban, Foreign Affairs, Juli/August 2015 (S. 53-64).

Der Standard kompakt: Flüchtlingsdeal im Schatten der Taliban, 6.10.2016, S. 12.

EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan. Rekrutierungsstrategien der Taliban (Autor nicht angeführt), European Asylum Support Office, Belgien 2012.

Farrell, Theo u. Giustozzi, Antonio: The Taliban at war: inside the Helmand insurgency, 2004-2012, International Affairs 89 (4), 2013 (S. 845-871).

Fischer, Hannah: A Guide to U.S. Military Casualty Statistics: Operation Freedom’s Sentinel, Operation Inherent Resolve, Operation New Dawn, Operation Iraqi Freedom, and Operation Enduring Freedom, Congressional Research Service, August 2015.

GlobalSecurity.org: Hamid Karzai, URL: http://www.globalsecurity.org/military/world/afghanistan/karzai.htm, 28.12.2016. 139

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Grupp, Alfred: Mitglieder der NATO, Medienwerkstatt Wissenskarten, URL: http://medienwerkstatt- online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=3856&edit=0, 29.05.2016.

Hartzell, Caroline A.: Missed Opportunities. The Impact of DDR on SSR in Afghanistan, United States Institute of Peace, Special Report 270, Washington, D.C., 2011.

Herrmann, Frank: Neue Wahrheiten über Osama bin Laden, Der Standard kompakt, 12.05.2016, S. 4.

Human Rights Watch: Enduring Freedom. Abuses by U.S. Forces in Afghanistan (Autor nicht angeführt), März 2004, URL: https://www.hrw.org/report/2004/03/07/enduring-freedom/abuses-us-forces- afghanistan, 15.8.2016.

International Crisis Group: The Insurgency in Afghanistan´s Heartland (Autor nicht angeführt), Asia Report No. 207, Juni 2011, URL: https://www.crisisgroup.org/asia/south-asia/afghanistan/insurgency-afghanistan-s- heartland, 30.9.2016.

Johnson, Thomas H. u. Mason, M. Chris: No Sign until the Burst of Fire: Understanding the Pakistan-Afghanistan Frontier, International Security, 32 (4), Frühling 2008 (S. 41-77).

Johnson, Thomas H. u. Mason, M. Chris: Understanding the Taliban and Insurgency in Afghanistan, Foreign Policy Research Institute, Winter 2007.

Jones, Seth G.: The Rise of Afghanistan´s Insurgency: State Failure and Jihad, International Security, 32 (4), Frühling 2008 (S. 7-40).

Katzman, Kenneth: Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, CRS Report, Oktober 2014.

Kfir, Isaak: The Role of the Pashtuns in Understanding the Afghan Crisis, Perspectives On Terrorism 3 (4), 2009 (S. 37-51).

140

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Kleine Zeitung: Mansour offiziell neuer Anführer der Taliban (Autor nicht angeführt), Juli 2015, URL: http://www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/4790661/, 6.1.2016.

Kirschner, Michael: Afghanistan: Informationen zur Hizb-i-Islami. Auskunft der SFH- Länderanalyse, Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bern 2006.

Medienwerkstatt Wissenskarten: Mitglieder der NATO, URL: http://medienwerkstatt- online.de/lws_wissen/vorlagen/showcard.php?id=3856&edit=0, 29.05.2016.

Neun, Daniel: Pakistan und Afghanistan gemeinsam gegen die USA, Radio Utopie, September 2008, https://www.radio-utopie.de/2008/09/25/pakistan-und-afghanistan- gemeinsam-gegen-die-usa/, 15.8.2016.

Owen, Gary: A Warlord, a Drug Smuggler, and a Killer: Meet the Men Poised to Rule Afghanistan, Vice News, Mai 2014, URL: https://news.vice.com/article/a-warlord-a- drug-smuggler-and-a-killer-meet-the-men-poised-to-rule-afghanistan, 13.08.2016.

Qazi, Shehzad H.: The Neo-Taliban, Counterinsurgency & The American Endgame in Afghanistan, ISPU Research Associate, Institute for Social Policy and Understanding, 2011.

Stapleton, Barbara J.: Disarming the Militias. DDR and DIAG and the Implications for Peace Building, Afghanistan Analysts Network, 2013.

Steinberg, Guido u. a.:Pakistan gegen die Taliban. Verhaftungswelle schwächt die afghanischen Aufständischen, bedeutet aber noch keine Kehrtwelle, SWP-aktuell, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2010, URL: http://swp- berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2010A30_sbg_wgn_wmr_ks.pdf, 16.8.2016.

Tobler, Verena: Von Kopftüchern und Karikaturen: Nachdenken über weltlich- westliche Formen der Borniertheit, Zürich 2005/2007, https://www.0815- info.com/files/KopftuecherKarikaturen.pdf, 15.8.2016.

141

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

7. Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Übersichtskarte Quelle: Rashid, Ahmed: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban, Weltkiosk (4. Aufl.), Düsseldorf 2010, S. 10, 11.

Abb. 2: Durand-Linie Quelle: Rashid: Sturz ins Chaos, S. 14.

Abb. 3: Landschaft zwischen Kabul und Bagram Quelle: Heeresbild- und Filmstelle (HBF)/Hartl, mit freundlicher Genehmigung des Bundesministerium für Landesverteidgung und Sport (BMLVS) ausschließlich für die vorliegende Masterarbeit.

Abb.4: Provinzen Afghanistans und Pakistans Quelle: Rashid: Sturz ins Chaos, S. 12, 13.

Abb. 5: FATA und KPK Quelle: Abbas, Hassan: The Taliban Revival. Violence and Extremism on the Pakistan-Afghanistan Frontier, Courtesy of Yale University Press London, Wales 2014, S. IX.

Abb. 6: Afghanistans wichtige Städte Quelle: Minich, Wolfgang: ISAF. Geconisaf 2. Erinnerungen an den Einsatz in Afghanistan. Juni 2002 -Januar 2003, Kabul Multinationale Brigade, Ottweiler 2003, S. 6.

Abb. 7: OEF-Operationen von 2002 – 2003 Quelle: Maloney, Sean M.: Enduring the Freedom. A Rogue Historian in Afghanistan, Potomac Books, Virginia 2005, zw. S. 162/163.

Abb.8: Präsident Hamid Karzai Quelle: HBF/Hartl.

142

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Abb. 9: Verteidigungsminister Fahim Khan Quelle: HBF/Hartl.

Abb. 10: Verschiedene Abzeichen des ISAF-Einsatzes Quelle: Minich: ISAF, S. 1.

143

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

8. Anhang: Interview vom 7.9.2016

Wie heißen Sie?

Ich möchte gerne anonym bleiben.

Wo waren Sie stationiert?

In Kabul im Camp Warehouse.

Von wann bis wann waren Sie im Afghanistan-Einsatz?

Von August 2002 bis Jänner 2003.

In welcher Funktion waren Sie dort?

Mein Aufgabengebiet als Mitglied der Kabul Multinational Force (KMNB) bestand darin, als Verbindungs- und Aufklärungsoffizier Kontakte zu afghanischen Behörden und zur lokalen Bevölkerung zu suchen und aufrechtzuerhalten. Somit lieferte ich einen Teilbeitrag zu einem Lagebild über die allgemeine Sicherheitssituation im Einsatzraum und der potentiellen Bedrohung gegenüber den Kräften der ISAF im Besonderen. Ich war jedoch auch mit dem Feststellen von bedürftigen Teilen der Bevölkerung und der Veranlassung von Hilfeleistung für diese befasst. So erlebte ich die unfassbaren Zustände im Frauengefängnis von Kabul, den folgenden Aufbau eines Kindergartens im Gefängnisgelände (für die Kinder von inhaftierten afghanischen Frauen) durch deutsche und österreichische Soldaten sowie die Renovierung von Schulen und das Graben von zahlreichen Brunnen aus nächster Nähe.

Allgemein gesprochen war meine Aufgabe das Herstellen eines Lagebildes für die Kabul Multinational Brigade (KMNB) von ISAF.

Wie sah die Befehlsstruktur aus?

Unterstellt war ich der J2 Abteilung der Brigade – als dem für die Lage der Konfliktparteien zuständigen Stabselement der Multinationalen Brigade.

144

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Offiziell wurde ISAF von einem britischen Kommando geleitet, aber dieses war nach dem ersten Brigadebefehl vom 28.12.2001 dem US CENTCOM unterstellt - das fand ich auch erst später heraus.

War Ihr Einsatz erfolgreich? Warum/Warum nicht?

Ja und nein.

Ja, weil ich beruflich und persönlich sehr viel gelernt habe. Vor allem über mich selbst, mein Verständnis von Militär und Krieg. Ich war nahe genug dran, um ansatzweise begreifen zu können, was Krieg bedeutet und zum Glück weit genug weg, um niemanden verletzen zu müssen oder verletzt zu werden.

Nein, weil ich bereits während des Einsatzes erkennen musste, dass unsere Mission in Afghanistan gar nichts zu einer Besserung der Lebenssituation der Bevölkerung vor Ort beigetragen hat.

Mit welchen Problemen waren Sie konfrontiert?

 Realisieren, nicht helfen zu können – Hilflosigkeit;  Leid der Bevölkerung, gleichzeitig aber erkannte ich deren Mitverantwortung am Konfliktgeschehen;  Enorme Komplexität der Konfliktsituationen;  Internationale Zusammenarbeit mit anderen Streitkräften in unterschiedlichen Qualitäten – das würde ich aber nicht nur als Problem bezeichnen;  Dem Tod von Kameraden;  Psychische und physische Belastungen.

Ich hatte während dieses Einsatzes das große Glück, in keine direkten Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Das heißt, ich war nicht gezwungen, auf andere Menschen zu schießen. Trotzdem erlebte ich einige prägende Momente, die mein Denken und auch mein (Selbst-)Verständnis von Militär Schritt für Schritt einem grundlegenden Wandel unterzogen.

Zunächst erlernte ich gezwungenermaßen relativ rasch, mich selbst mental zu schützen (auch dies wurde mir erst viel später bewusst), indem ich zur Kenntnis

145

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

nehmen musste, all den bedürftigen Menschen – vor allem den Kindern – einfach nicht helfen zu können. Ich begann zu begreifen, dass Hilfe – egal ob mit der Waffe in der Hand oder durch z.B. Ärzte ohne Grenzen – nur in sehr begrenztem Maße und für kurze Dauer möglich ist. Je länger ich mich im Zuge meines Studiums mit historischen Kriegsszenarien und friedensbildenden Entwicklungen auseinandersetze, desto klarer wird mir, warum ausschließlich durch (militärische) Gewalteinwirkung von außen kein dauerhafter Friede geschaffen werden kann. Die wesentlichste Veränderung muss in den Köpfen und Herzen der Menschen, sowohl in den Kriegs- und Krisengebieten, als auch in den (oft zu den Mitverursachern zählenden) „wohlhabenden“ Gegenden dieser Welt geschehen.

Wie sehen Sie die Entwicklungshilfe für Afghanistan?

Werden zum Beispiel neu erbaute oder renovierte Schulen nicht nachbetreut, wandeln sich diese relativ bald in Wohnungen für privilegierte Bevölkerungsschichten oder in Stützpunkte für Armee, Polizei oder Milizen von Warlords. Wenn wir Hefte und Bleistifte in Schulen verteilten, war es ratsam, diese direkt an die Kinder zu verteilen, da die meisten Lehrerinnen versuchten, die Sachspenden selbst zu verkaufen. Das taten diese Frauen jedoch nicht aus Gewinnsucht, sondern lediglich, um die oft schlecht bestellten Überlebenschancen ihrer eigenen Kinder zu verbessern.

Viele lokale Hilfsprojekte scheiterten trotz aufrichtiger Bemühungen und dem Versuch, lokale Strukturen so weit als möglich einzubinden. Nach unseren Maßstäben korrupte, lokale Machtstrukturen wurden, in Unkenntnis der kulturellen und historischen Gegebenheiten, oft nicht in Entscheidungsprozesse von Hilfsorganisationen eingebunden. Das Ergebnis war weitere Gewalt, ohne dass internationale Organisationen (egal ob pazifistisch oder staatlich-militärisch organisiert) daran etwas ändern konnten. Ein Beispiel dazu: Ein von einem erfahrenen deutschen Ehepaar geleitetes Projekt der Welthungerhilfe bestand darin, in einem Dorf Häuser zu bauen, unter anderem auch ein Lagerhaus. Das Baumaterial dafür wurde aus Afghanistan bezogen, lokale Handwerker wurden als Arbeiter eingesetzt, eine ökologische Bauweise umgesetzt und auch in weiteren Bereichen wurde darauf geachtet, die lokale Bevölkerung einzubinden. Doch das

146

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Projekt scheiterte, weil die Verantwortlichen das Vorhaben ohne Absprache mit den Autoritäten des Dorfes vollzogen: Der Bürgermeister, der Polizeichef und die Ältesten fühlten sich übergangen und sahen durch diese für sie unakzeptable Vorgehensweise ihr Ansehen als untergraben an. Daher beschlagnahmten diese das Lagerhaus, drohten den Entwicklungshelfern mit Entführung und verurteilten so das Projekt zum Scheitern.

Oft scheiterte Hilfe auch an der schlichten Unkenntnis der Nöte der Menschen. Während im Lager der Kabul Multinational Brigade Holzreste verbrannt wurden, erfroren in derselben Nacht mehrere Kinder in einem nahegelegenen Flüchtlingslager. Durch derartige Ereignisse bestand stets die Gefahr, dass die zu Beginn des Einsatzes gegenüber ISAF durchaus positive Gesinnung innerhalb der Bevölkerung rasch ins Gegenteil umschlagen konnte. Diese und ähnliche Ereignisse aufzuklären, mit der Bevölkerung zu verhandeln und durch Information der Führungskräfte der ISAF solche Vorkommnisse zukünftig zu verhindern, gehörte zu meinem Verantwortungsbereich. Trotz all dieser widrigen Umstände tat es in dieser rauen Wirklichkeit gut, die ärgste Not einiger weniger zumindest temporär und örtlich begrenzt zu lindern oder zum Aufbau von dringend notwendigen Bildungsinstitutionen beitragen zu können. Ein Kinderlächeln entschädigte mich für viele Stunden an Entbehrungen und Heimweh.

Das tägliche Verfassen von Berichten über meine Tätigkeit erforderte auch eine kritische Reflexion des Erlebten und ein permanentes Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung und deren Rezeption. Meine Berichte waren stets aus einem Faktenteil und einer Beurteilung dieser Feststellungen aus der Sicht vor Ort, vor allem von außerhalb des Camps, zusammengesetzt.

Wie nahmen Sie die afghanische Bevölkerung wahr?

Sehr differenziert. In erster Linie jedoch als Menschen mit vielen liebenswürdigen und auch bewundernswerten Seiten. Ihr Mut, ihre Großzügigkeit gegenüber Freunden und ihr Optimismus inmitten des damals nahezu völlig zerstörten Kabul haben mich sehr beeindruckt. Ich lernte aber auch ihre Härte gegenüber Feinden kennen und die konfliktbedingt erhöhte Gewaltbereitschaft, gepaart mit einer niederen sexuellen Hemmschwelle (Männer) sowie extremen religiösen und 147

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

ideologischen Ansichten. Ich hatte täglich mit Afghanen aus den wichtigsten ethnischen und vielen gesellschaftlichen Schichten in Kabul Kontakt.

Mit welchen Ethnien kamen Sie in Verbindung?

Mit Paschtunen, Panjir Tadschiken und Hazara.

Wie wurden Sie von den Afghanen wahrgenommen?

Da ich mit sehr vielen Afghanen Kontakt hatte, kann ich das pauschal nicht beantworten. Ich wurde von ihnen als Freund, als Soldat, der seine Pflicht erfüllt, als willkommener und/oder unerwünschter Gast, vielleicht auch als Feind, als Angehöriger einer der Buchreligionen, als ungläubiger Hund – keine Ahnung als was noch, wahrgenommen.

Wie war die Vorbereitung auf

 die Kultur der Paschtunen?

Die Vorbereitung war bei mir sehr kurz, da ich erst vier Wochen vor meinem Einsatz als Ersatz eingesprungen bin. Ich wurde trotzdem relativ gut auf kulturelle Spezifika – auch der unterschiedlichen Ethnien vorbereitet. Zum Beispiel, dass ich mich auf keinen Fall mit einem Paschtu-Dolmetscher zu einem Tadschiken begeben soll.

 geographische Verhältnisse?

Auf die klimatischen Verhältnisse wurden wir relativ gut vorbereitet und waren logistisch an die Deutsche Bundeswehr angeschlossen.

 politische Situation?

Auf die politische Situation wurde ich verhältnismäßig gut vorbereitet, wenn das überhaupt möglich war.

Wie sah die Zusammenarbeit mit

 anderen Stützpunkten aus? Gab es Unterschiede zwischen Stützpunkten?

148

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Im Zuge meiner Arbeit war ich hauptsächlich in Camp Warehouse, dem Sitz der KMNB (damals unter deutschem Kommando) und dem ISAF Headquarter (Ablöse britisches an türkisches Kommando) im Zentrum Kabuls.

Aufschlussreich war auch die Gestaltung der Camps verschiedener Nationen und der Kontakt, oder besser gesagt, Nicht-Kontakt mit der Außenwelt. Ein Verlassen des Lagers war aus (wohl begründeten) Sicherheitsüberlegungen heraus nur mit einem dienstlichen Auftrag, mit Kugelschutzweste und bewaffnet möglich. Ein hoher Prozentsatz der Soldaten verließ das Lager somit kaum und hatte praktisch keine Möglichkeit, mit der lokalen Bevölkerung außerhalb des Camps Kontakt aufzunehmen.

US-amerikanische Camps, wie jenes in Bagram, waren ähnlich aufgebaut wie nordamerikanische Kleinstädte mit Supermarkt, Kapelle, Fitness- und Freizeiteinrichtungen. Die gesamte Verpflegung, inklusive Trinkwasser, wurde eingeflogen. Eigene Unternehmen wurden damit beauftragt, den Müll nach westlichen Standards zu entsorgen. Dieser wurde kurz darauf allerdings im Umland unsachgemäß entsorgt und zuerst durch den afghanischen Nachrichtendienst ausgewertet und dann durch Teile der lokalen Bevölkerung verwertet.

Das Camp Warehouse genannte Feldlager der KMNB bestand zu gut einem Drittel aus einem hochmodernen Feldlazarett, welches die, den deutschen Soldaten vertraglich zugesicherte, medizinische Versorgung zu heimischen Standards gewährleisten konnte. Da dieses Spital das modernste im Raum Kabul, wenn nicht in gesamt Afghanistan war, ließen sich zahlreiche hochrangige afghanische Würdenträger, wie der ehemalige König Zahir Schah dort behandeln.

 US-Truppen aus?

Zweimal war ich am US-Stützpunkt in Bagram. Im Norden Kabuls befand sich ein US-amerikanisches Camp innerhalb des Verantwortungsbereiches der Kabul Multinational Force, es durfte jedoch kein Soldat anderer Nationen dieses Camp betreten. Ein Grund dafür wurde nicht genannt. Mehrere Versuche deutscher Kameraden und auch ein eigener scheiterten bereits am äußeren, von afghanischen Soldaten besetzten Sicherungsring.

149

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

 der ANA aus?

Die ANA waren grundsätzlich sehr kooperativ, außer sie hatten andere Befehle von den USA. Allerdings war vieles davon Schauspielerei – die Abgabe von Waffen war in Wirklichkeit Altmetallsammelaktionen mit offiziellen militärischen Ehren. Ein Beispiel dafür war eine solche Aktion bei einer Division der ANA, welche informell Abdul Rasul Sayaff, einem wahabitischen Warlord unter der Ägide Saudi Arabiens, unterstand. Ein deutscher Milizoffizier und Historiker bekam feuchte Augen bei dem Anblick an antiken Waffen, die abgegeben wurden.

Im Anschluss an die offiziellen Empfänge konnten wir ein Treffen mit Sayyaff organisieren, welcher uns in seinem Stützpunkt empfing. Dort erzählter er uns sehr höflich aber bestimmt, dass wir als Ungläubige in diesem Land nicht willkommen seien und dass uns das Gastrecht heute schützen würde. Auch auf dem Rückweg. Beim nächsten Mal könne er dies aber nicht garantieren, da es sehr unsicher auf den Straßen sei.

 der afghanischen Regierung aus?

DIE afghanische Regierung gab es nur offiziell. Es war eine explosive Mischung aus Gefolgsleuten der verschiedensten Warlords des Landes. Ein Treffen mit uns konnte zur falschen Zeit am falschen Ort für den jeweiligen afghanischen Protagonisten gefährlich sein. Je schlechter politisch vernetzt oder „unwichtiger“ dieser Afghane war, desto lebensgefährlicher wurde die Angelegenheit für ihn.

 der afghanischen Bevölkerung aus?

Mit der afghanischen Bevölkerung hatte ich viele unterschiedliche Erlebnisse auf der gesamten Skala von Sympathie und Antipathie. Das konnte auch bei denselben Personen plötzlich umschlagen. Es reichte von sehr berührenden Momenten wie der Verabschiedung von einigen unserer Dolmetscher bis hin zu dem Moment, wo lachende und klatschende Afghanen neben einem rauchenden Wrack eines abgestürzten deutschen Hubschraubers standen, aus welchem gerade die Leichen meiner deutschen Kameraden geborgen worden sind.

Wie nahmen Sie die amerikanischen Truppen/Befehlshaber/… wahr? 150

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Die Amerikaner waren an Kontaktaufnahme grundsätzlich interessiert, gaben jedoch selbst nie aufschlussreiche Informationen preis – sie nahmen nur. Ein Beispiel dafür waren Informationen zu funktionierenden Stinger MANPADS, welche die Amerikaner ständig suchten und den Afghanen abkauften, damit sie den eigenen Flugzeugen nicht gefährlich werden konnten. Die damit beauftragten US-Soldaten gaben nicht einmal den Preis bekannt, welchen sie bereit waren, für solche Systeme zu bezahlen.

Grundsätzlich versuchten wir die Amerikaner zu meiden, da sie im Ruf standen, das Feuer auf sich zu lenken. Im Gefecht oder in Extremsituationen habe ich sie nie erlebt. Ihr Auftreten war sehr martialisch. Sie mieteten zum Beispiel zivile Fahrzeuge an, demontierten die vorderen Türen und ließen demonstrativ Maschinengewehre oder Sturmgewehrmündungen aus den Türöffnungen ragen. Dabei missachteten sie aus meiner Sicht mehrere Einsatzgrundsätze: Zivile Fahrzeuge verwendet man, um mit low profile unterwegs zu sein. Offensichtliche militärische oder bewaffnete Präsenz hingegen bedeutet high profile - ist aber mit einer entsprechenden Schutzkomponente ausgestattet (z.B. gepanzerte Fahrzeuge). Aus einem zivilen KFZ die Türen abzumontieren und somit die Nachteile von high profile und low profile zu kombinieren, war in Kabul denkbar schlecht. In eines dieser Fahrzeuge wurde auch durch die nicht mehr vorhandene Tür im Gemenge der Kabuler Innenstadt eine Handgranate hineingeworfen.

Für mich war es auch nicht immer ersichtlich, wer den US Special Forces, anderen amerikanischen Truppen oder zivilen Security US Contractors angehörte.

Einmal wurde ich von afghanischem Wachpersonal mit der Waffe bedroht, da mein unerfahrener Beifahrer Fotos von einem amerikanischen Stützpunkt machen wollte. Wir löschten die Fotos und gaben ihm schließlich die Kamera.

Welche Probleme wirft Ihrer Meinung nach die Vorgehensweise der USA auf?

Die Amerikaner trafen nur selten Absprachen mit anderen Nationen, sie agierten auch in Verantwortungsbereichen der Streitkräfte anderer Nationen willkürlich. Das hatte oft ernste Konsequenzen.

151

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Eines Nachts wurde das Camp Warehouse wieder einmal mit Raketen beschossen und die dafür vorgesehene Quick Reaction Force (QRF) der holländischen Spezialeinsatzkräfte rückte aus, um die Verursacher zu stellen. Gleichzeitig beschlossen die gegenüber dem Camp Warehouse stationierten US Spezialeinsatzkräfte auf eigene Faust gegen die Attentäter vorzugehen. Die für die Aktion verantwortliche Kabul Multinational Force wurde nicht informiert. Es gipfelte schließlich in einem nächtlichen Feuergefecht zwischen diesen beiden Truppenteilen.

In den Besprechungen im deutschen Brigadekommando war des öfteren die Rede von verbalen Konflikten mit den amerikanischen Streitkräften, da diese bei gewissen Einsätzen unter der Flagge von ISAF fuhren, zum Beispiel um Informationen von der Bevölkerung zu gewinnen. Dies hatte den Hintergrund, dass ISAF in der ersten Zeit des Afghanistan-Einsatzes einen besseren Ruf als die US Interventionskräfte hatte.

Ein anderes Beispiel war der Selbstmordanschlag auf den Eingangsbereich des r. Obwohl US-amerikanische Zivilisten (vermutlich CIA oder DIA – die Herren waren jedenfalls offensichtlich sehr fotoscheu) vor Ort waren und unmittelbar danach eine Drohne über dem Geschehen schwebte, kam keine Information von diesen an die KMNB, welche auf nationaler Ebene zu Aufklärung der Hintergründe genutzt werden konnte.

Grundsätzlich war zu bemerken, dass die US Streitkräfte und andere in Einsatzraum befindliche US-Interventionskräfte (CIA, Security Contractors) die ISAF Kräfte nicht ernst genommen haben.

Was ist Ihrer Meinung nach von den UN und den USA verabsäumt worden?

Grundsätzlich bin ich heute der Meinung, dass die Afghanistan-Intervention von Beginn an zum Scheitern verurteilt war und ist.

Was auch immer die Beweggründe der Bush Administration waren – eine derartige Offensive so rasch nach 9/11 durchzuführen, scheint aus militärlogistischer Hinsicht fast unmöglich – auch für die stärksten Streitkräfte der Welt. Darüber hinaus scheint es für mich kein Zufall zu gewesen zu sein, dass mit Hamid Karzai ein ehemaliger Mitarbeiter des UNOCAL Konzerns Präsident geworden ist. UNOCAL war jenes Unternehmen, welches eine Pipeline vom Zentralasiatischen Raum über 152

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

Westafghanistan nach Karachi bauen sollte, um Erdgas zu transportieren. Darüber verhandelten die USA ja bekanntlich schon mit dem Taliban Regime.

Eine weitere afghanische Tragödie lässt sich nur hinauszögern und zeichnet sich bereits ab. Die Afghanen (zumindest im Raum Kabul) hegten zu Beginn große Hoffnungen in den Einsatz der internationalen Gemeinschaft. Die Taliban waren vertrieben, ein Neubeginn schien möglich. Mittlerweile hat sich Verbitterung, Enttäuschung und Perspektivenlosigkeit breitgemacht. Zu einem großen Teil sind auch die von mehreren Jahrzehnten Krieg geprägten Afghanen selbst schuld. Die wahre Tragödie für die Bevölkerung vor Ort wird erst nach dem Abzug der Internationalen beginnen, wenn das Land wieder sich selbst überlassen wird. Die anhaltende Migrationswelle aus Afghanistan ist ein deutlicher Indikator dafür.

Wie sehen Sie die Zukunft Afghanistans?

Leider düster, obwohl ich den Menschen dort eine friedliche und prosperierende Zukunft wünsche. Ich habe viele der Menschen, die ich ich Kabul getroffen habe, zu schätzen gelernt, auch wenn sie vielleicht nach unseren Maßstäben Verbrecher oder korrupt genannt werden würden. Meine Aufgabe dort war es nicht, zu richten.

Ich fürchte, dass sich über kurz oder lang die internationale Staatengemeinschaft aus Afghanistan zurückziehen wird oder muss. Danach werden sich die afghanischen Machthaber wieder in einem blutigen Bürgerkrieg bekämpfen. Das auf Kosten der einfachen Bevölkerung, welche aufgrund ihres Bildungsstandes und jahrzehntelanger Traumatisierung leicht zu instrumentalisieren ist.

Gibt es zusätzlich etwas Wichtiges, das nicht gefragt wurde?

Die Zukunft Afghanistans wird sich aufgrund der massiven Migration auch auf unsere Zukunft in Teilen indirekt auswirken. Die Menschen aus Afghanistan kommen aus für mich sehr nachvollziehbaren Gründen nach Europa. Ich habe selbst gesehen, wie es sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen ergeht und was es bedeutet, in einem Kriegsgebiet aufzuwachsen.

Die Masse der Afghanen hat keine Perspektiven. Ich habe das vor Ort selbst erlebt. Aber sie kommen mit Erwartungshaltungen, die wir nicht erfüllen können, gepaart mit

153

Afghanistan: Isabell Schaurhofer, BEd Operation Enduring Freeom 0185166 Betreuer: Dr. Thomas Spielbüchler WS 2016/17

einem hohen sozialen Druck von den zuhause gebliebenen Familienmitgliedern. Auch sie können die Erwartungshaltungen, die wir stellen, nur schwer erfüllen, da sie in einer gänzlich anderen Welt aufgewachsen sind. Die meisten sind kaum gebildet und unter unvorstellbar grausamen Bedingungen groß geworden. Den Weg nach Europa erkaufen sie sich zum Teil mit Prostitution (Lustknaben).

Nicht nur ihre Werte sind anders, auch ihre Konfliktlösungsansätze sind verschieden von den unseren. Viele unserer sozialen Angebote und Teile unserer Toleranz werden von ihnen als Schwäche ausgelegt und die meisten von ihnen lernen die dunkle Seite unsere Gesellschaft kennen, bevor sie mit Hilfsangeboten konfrontiert werden.

Es wird daher zwangsläufig zu Konflikten kommen. Unsere Aufgabe ist es, diese Konflikte bestimmt aber friedlich einer Lösung zuzuführen, solange wir dazu in der Lage sind.

154