SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (6) Die Woche vom 30. 10. 1989 bis zum 5. 11. 1989 »Rücktritt ist Fortschritt« Mit halbherzigen Reformversprechungen und Rücktritten will die SED das Volk besänftigen, mit -Hilfe eine Großdemonstration umdrehen – vergebens. Fast eine Million Menschen fordern auf dem Berliner Alexanderplatz: „Der SED den Laufpass“. R. SUCCO / ACTION PRESS Massendemonstration auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989

44/1999 91 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«

CHRONIK »Politik zum Weglaufen«

Gelegentlich kam Hilfe aus dem Westen. men außerhalb der Kirchenzirkel zur Spra- Montag, 30. Oktober 1989 Zwar versuchten Stasi-Einflussagenten wie che – von der Verschmutzung der Elbe bis der grüne Bundestagsabgeordnete Dirk zum Waldsterben im Erzgebirge. Halle Schneider beharrlich, die Öko-Partei auf „Der Morgen“, die Zeitung der Block- Fasziniert verfolgt Michael Beleites, 25, die SED-Kurs zu trimmen*. Umweltkämpfer partei LDPD, prescht vor und veröffent- Rundfunk-Nachrichten: Endlich hat das wie Petra Kelly aber zeigten sich solida- licht bislang strikt geheim gehaltene Um- Thema Umweltschutz die Straßen er- risch mit der ökologischen Opposition im weltdaten: Alljährlich werden fast fünf Mil- reicht, auf denen an diesem Montag Osten. Grünen-Geschäftsführer Eberhard lionen Tonnen Schwefeldioxid und fast hunderttausende von DDR-Bürgern de- Walde ließ sogar Druckmaschinen und eine Million Tonnen Stickoxide in den monstrieren. Geigerzähler, getarnt als Diplomaten- Himmel über der DDR geblasen. „Sägt die Bonzen ab, nicht die Bäume“, gepäck, in die DDR schmuggeln. Die Umweltbewegung im Osten „Öko-Daten ohne Filter“, „Leipzigs Luft Doch nun, durch die Montagsdemon- Deutschlands, so scheint es an diesem Tag, ohne Schwefelduft“, „In Elbe, Mulde, strationen, gewinnt die grüne Bewegung ist nicht mehr zu stoppen, die Gründung ei- Pleiße gehen Abwässer visafrei auf Reise“ an Schubkraft, kommen tabuisierte The- ner grünen Partei in der DDR nur noch – überall mischen sich Umweltschutz- eine Frage der Zeit. parolen in die Forderungen nach Mei- * Hubertus Knabe: „Die unterwanderte Republik. Sta- Parole der ersten Öko-Demo in Halle: nungs- und Reisefreiheit. si im Westen“. Propyläen, ; 590 Seiten; 49,90 Mark. „Lasst Taten folgen, wir sind dabei.“ Ost-Berlin Das Ende kommt um 21.35 Uhr, plötzlich, aber nicht unerwartet. „Guten Abend, mei- ne Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe

Im Bezirk Halle, der mit Umwelt- schmutz meistbelasteten Region Deutsch- lands, demonstrieren 50000 Menschen für saubere Luft und sauberes Wasser – zur Freude von Öko-Pionieren wie Beleites. Auf verlorenem Posten hatte der Tier- präparator lange Zeit gegen die Umwelt- vergiftung durch den Uranabbau der So- wjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft Wismut gekämpft; allein durch Wismut- Emissionen starben nach Expertenschät- zung binnen 40 Jahren mehr als 5000 Menschen. Vier Jahrzehnte lang war Umweltschutz ein Fall für die Stasi gewesen, galten Öko- Kämpfer wie Beleites als Spione und Sa- boteure. Nur unter dem Schutz der Kirche konnten Samisdat-Zeitschriften wie die „Umweltblätter“ oder die „Arche Nova“ erscheinen, die über die verseuchte Luft in Bitterfeld oder über die Devisengeschäfte der DDR-Führung mit westlichem Giftmüll berichteten.

Umweltschützer Beleites in Wismut (r.), Stasi-Observationsfotos von Beleites (o.)

Über 5000 Tote durch Uran-Abbau P. BIALOBRZESKI / LAIF 92 Genossinnen und Genos- sen“, verkündet der bebrillte Bärbeiß auf dem Bildschirm, „diese Sendung wird nach fast 30 Jahren die kürzeste sein, nämlich die letzte.“ Nie zuvor bei einer der 1519 Folgen seines „Schwar- zen Kanals“ konnte sich Karl-Eduard von Schnitzler, 71, des Beifalls seiner Zu- schauer so sicher sein wie an diesem Abend. Denn kein anderer Ost-Berliner Journalist ist im Volk so verhasst wie der DDR-

Chefkommentator, den sie A. VOSSBERG / PLUS 49 / VISUM JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO überall „Karl-Eduard von Zurückgetretener Schnitzler (bei seiner letzten Sendung), Gewerkschafter Tisch: „Unsre Erde ist eckig“ Schni...“ nennen – dem Spottwort zufolge schalten alle ab, wenn am frühen Abend diesen Spruch skandiert Jetzt, zwei Tage nach dem „ungeheuren eine Schnitzler-Sendung angesagt wird. haben, ahnten nicht, dass, was eben noch Satz“, so Simon, kippt die Stimmung unter Groteske Schwarzmalerei über den Wes- Forderung war, binnen Stunden Fakt wer- den Funktionären: „Die Berichte über die ten, devote Hofberichterstattung über den den sollte – und zugleich Auftakt einer Wo- Unruhen in den Bezirken reißen nicht ab“, Osten – für das Volk verkörpert der adlige che der Rücktritte. eine „Explosion“ droht – ein Arbeiterauf- Agitator die Erzübel des sogenannten Jour- stand. nalismus in der DDR: Propaganda statt Be- Mehrere Vorsitzende von Zentralvor- richterstattung, Zensur statt freier Aus- Dienstag, 31. Oktober 1989 ständen suchen Tisch in dessen Amtsräu- sprache (siehe Analyse Seite 102). men auf, die ständig von der Volkspolizei In den Wochen vor der Wende zeigte Ost-Berlin bewacht werden. „Du musst erklären, dass sich der Polemiker, ganz wie sein Förderer Helle Aufregung herrscht in der Zentrale du zurücktrittst, Harry, sonst ist die Honecker, außer Stande, die Zeichen der des Freien Deutschen Gewerkschaftsbun- Empörung nicht mehr zu bremsen“, for- Zeit zu erkennen. Als er dem Publikum des (FDGB). Meterweise quellen Protest- dert IG-Bau-Holz-Chef Lothar Lindner. weismachen wollte, der anschwellende Telexe aus den Fernschreibern. Tisch, fassungslos, blickt in die Runde: Bürgerprotest („Großangriff auf die DDR“) Die Basis in den Betrieben empört sich „Meint ihr das wirklich?“ Alles nickt. sei vom Westfernsehen gesteuert, wurde seit Tagen über verheerende Auftritte von „Tisch wendet sich ab. Schluchzen er- der Hetzer zum Hatzobjekt Nummer eins. Harry Tisch, 62, dem Vorsitzenden der par- schüttert ihn. Lothar Lindner umarmt ihn „Schnitzlers Visage bringt alle in Rage“, teitreuen Scheingewerkschaft.Wochenlang tröstend“, beschreibt Simon das „un- „Schnitzler in die Muppet-Show“, hatte der Funktionär auf die Unruhe im rühmliche Ende“ eines „Kapitels Gewerk- „Schnitzler in den Tagebau“, „Schnitzler Lande ähnlich taub reagiert wie Honecker; schaftsgeschichte in der DDR“. weg von Bild und Ton, er besudelt die dann plötzlich warf er den Vertrauensleu- Nach ein paar Minuten hat Tisch sich Nation“ – auf das Stakkato der Demo- ten seiner Gewerkschaft vor, sie seien all- gefangen. Mannhaft diktiert er seinem Sprüche kann die SED-Spitze nur noch zu lange den Vorgaben der Partei gefolgt. Chefredakteur den ersten Satz einer Pres- defensiv reagieren. „Massenproteste werden angekündigt, seerklärung in den Block: „Harry Tisch hat Die Volksnäheren unter den Parteigrößen Streiks“, notiert Günter Simon, Chefre- mitgeteilt, er werde auf der Sitzung des haben ohnehin seit längerem geahnt, dass dakteur des FDGB-Blattes „Tribüne“, an FDGB-Bundesvorstandes am Donnerstag der Schnitzlersche Journalismus der SED diesem „stürmischen“ Vormittag. seinen Rücktritt erklären.“ mehr schadet als nützt – wie es von ande- Erst am Wochenende hat Tisch eine bla- Die Meldung geht über die Sender – und rer Warte Wolf Biermann formulierte: mable Diskussion in der zunehmend auf- inspiriert sogleich Wortwitzbolde zu einem müpfigen TV-Sendung „Elf99“ absolviert – neuen Transparent-Text für die nächste Hey, Schnitzler, du elender Sudel-Ede „eine Katastrophe“, wie selbst hauptamt- Demo: „Krenz zu Tisch!“ Sogar, wenn du sagst, die Erde ist rund liche Funktionäre urteilen. Simon: „Re- Dann weiß jedes Kind: Unsre Erde ist eckig dakteure, die eine Nachricht für unsere Karl-Marx-Stadt Du bist ein gekaufter verkommener Hund … Montag-Ausgabe über die Sendung schrei- Exakt zwei Monate ist es her, da waren In Dresden hat Oberbürgermeister Wolf- ben wollten, erklären sich außer Stande, sich die Stasi-Gewaltigen noch sicher, das gang Berghofer kurz vor der letzten Sen- den Auftrag zu erfüllen.“ richtige Rezept für den Umgang mit der dung zornigen Protestlern versprochen, er Am Sonntagabend im FDGB-Präsidium Opposition zu kennen. werde deren Forderung „Schnitzler weg“ hat Simon den Rücktritt von Tisch gefor- Am 31. August, bei einer Dienstbespre- ans DDR-Fernsehen weiterleiten. Bei ei- dert. Begründung: Der Vorsitzende be- chung, berichtete Generalleutnant Sieg- nem „Sonntagsgespräch“ mit 20000 Teil- handele den FDGB „wie sein Privateigen- fried Gehlert, 64, welche Mittel er in Karl- nehmern vor dem „Roten Rathaus“ in Ost- tum“; ihm fehle es an „moralischer Stär- Marx-Stadt bevorzugt, um das Neue Fo- Berlin am Vorabend von Schnitzlers letz- ke“; er sei unfähig, für „Eigenständigkeit rum, „diese Banditen, wie man so schön tem Auftritt hatte auch SED-Bezirkschef der Gewerkschaften“ zu sorgen. sagt, in die Furche zu ducken“. Günter Schabowski den Kanal voll: „Ich Doch der Redakteur fand keine Unter- Dem Forum-Mitgründer Rolf Henrich, bin sicher, dass Karl-Eduard diese Stim- stützung. Arrogant setzte sich Tisch noch einem mit Berufsverbot belegten Rechts- mungslage nicht verborgen geblieben ist, einmal über die Massenproteste hinweg: anwalt und Ex-SED-Mitglied, werde die dass er ein kluger Mann ist und daraus „Es wird zwar so sein, dass einige hun- Stasi mit Hilfe bestellter Störer in Kürze in Konsequenzen zieht.“ derttausend Gewerkschafter austreten, Zwickau denselben Empfang bereiten wie „Schwarzer Kanal, heut’ zum letzten aber bei 9,6 Millionen Mitgliedern ist das neulich einem „so genannten Liederma- Mal“: Die Leipziger Demonstranten, die zu verkraften.“ cher“ aus Berlin. Gehlert:

der spiegel 44/1999 93 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«

Durch Trampeln und Pfeifen der gesell- Am selben Tag unterzeichnet der amts- schaftlichen Kräfte musste er sein Pro- müde Stasi-Minister einen Befehl an die Mittwoch, 1. November 1989 gramm, was er für zwei Stunden geplant Chefs der Kreisdienststellen: Alle „opera- hatte, nach 10 Minuten abbrechen, weil tiven Unterlagen“ seien unverzüglich in Moskau niemand mehr zugehört hatte. Sicherheit zu bringen – „in Stahlblech- Wuschelig schamponiert und braun ge- bzw. Panzerschränken“. brannt tritt Egon Krenz vor die interna- Nun, acht Wochen später, hocken die tionale Presse. Mit strahlendem Lächeln Stasi-Oberen selbst in der Furche. Moskau versucht er den Journalisten weiszuma- Als am Vormittag das SED-Politbüro zu- Schneeregen fegt über die Piste, als die In- chen, dass zwischen ihm und Gorbatschow sammentritt, liegt Krenz und Genossen ein terflug-Sondermaschine mit Egon Krenz pure Harmonie herrscht. Geheimbericht der Sicherheitsorgane zur abends in Moskau landet. Eine Sil-Limou- In Wahrheit musste Krenz dem Beratung vor, der das alarmierende Wort sine bringt ihn in ein Gästehaus auf den Le- Kremlchef berichten, über eine Anerken- „Ausnahmezustand“ enthält – und das Ein- ninbergen, wo sich Krenz auf sein Ge- nung des Neuen Forum sei „noch nicht geständnis, dass die bisher ver- spräch mit Gorbatschow vorbe- entschieden“ worden. Daraufhin hat Gor- folgten Strategien gescheitert reiten will. batschow laut Protokoll die Zögerlichkeit sind: Der SED-Chef, der die So- Ost- gerügt: Die Partei dürfe „sol- wjetunion als seine „zweite Hei- chen Problemen nicht ausweichen“, sie Wenn es nicht gelingt, den mat“ bezeichnet, hat viele Be- müsse „mit diesen Kräften arbeiten“. Führungsanspruch unserer Par- kannte in Moskau. Einer von ih- Der Journalistenfrage, ob die DDR freie tei durch Führungsqualität in- nen, ein hochrangiger KGB- Wahlen mit alternativen Kandidaturen ge- nerhalb der Partei und im Volk Mann, sucht ihn zu später Stun- statten werde, weicht Krenz aus: „Selbst zu beweisen, sind Eskalationen de im Gästehaus auf und bittet wenn ich andere Gedanken hätte... Aber nicht zu vermeiden ... Wenn es ihn zu einem nächtlichen Spa- ich habe keine anderen Gedanken...“ Auch nicht gelingt, den Masseneinfluss ziergang durch den Park der in diesem Punkt differieren die Positionen mit politischen Mitteln zurück- Residenz. der Gesprächspartner. Zuvor bereits hat zudrängen, ist ein möglicher

DPA Dort eröffnet der Besucher – KPdSU-Sprecher Nikolai Schischlin Fra- Ausnahmezustand nicht auszu- Anwalt Henrich dessen Namen Krenz auch zehn gen von Journalisten zur Zukunft der DDR schließen. Jahre später noch geheim hal- beantwortet. Dass der Versuch, die Opposition in ten wird – dem Staatsgast: „Ihre Freun- Scheindialoge zu verwickeln und einzu- de, Genosse Krenz, möchten Sie davor Schischlin: „Niemand kann sagen, was ge- schläfern, fehlgeschlagen ist, entnehmen bewahren, morgen ins offene Messer zu schehen wird. Aber ich bin sicher, dass die- die Politbürokraten einem zweiten Papier. laufen.“ se Lage geändert werden sollte und geän- Das Dossier berichtet über eine Tagung Gorbatschow,warnt der Namenlose, ste- dert werden wird.“ am 27. Oktober, bei der die SED-Bezirks- he unter wirtschaftlichem Druck und sei Frage: „Wie wird es geändert werden?“ fürsten Niederschmetterndes zu Protokoll dabei, sich mit Bonn zu arrangieren – auf gegeben haben. „In den Betrieben fängt Kosten der DDR. Schischlin: „Durch das Recht zur Wahl.“ die Partei an zu wackeln“, lautet die Hi- „Die Sowjetunion“, zitiert Krenz seinen obsbotschaft aus Schwerin. „Die durchge- KGB-Freund, „erlebt die schwierigste Lage Während des vierstündigen Gesprächs führten Foren entwickeln sich zu Ge- seit der Oktoberrevolution ... Um wieder mit Gorbatschow quälen Krenz – wie er richtsverhandlungen“, meldet der Statt- auf die Beine zu kommen, brauchen wir später bekunden wird – nagende Zweifel halter aus Neubrandenburg. Und aus Dres- reiche Freunde ... Genosse Krenz, seien an der Loyalität des mächtigen Bünd- den rapportiert Hans Modrow: „So, wie Sie wachsam. Die Gefahren für die DDR nispartners, „der letztlich über Sein und gegenwärtig die Lage ist, können wir die sind groß.“ Nicht-Sein der DDR entscheidet“. Weiterentwicklung des Neuen Forums Um 3 Uhr morgens legt sich Krenz zur Vorsichtig erkundigt sich Krenz nach der nicht aufhalten.“ Ruhe. „Schlafen“, notiert er, „kann ich in künftigen Rolle der DDR in dem von Gor- Im Politbüro versucht Schabowski an dieser Nacht kaum.“ batschow propagierten „gesamteuropäi- diesem Vormittag, Krenz zu radikalen Re- formen zu bewegen. Er müsse mehr „Gags“ bringen, fordert der Berliner Be- zirkschef: große und kleine Geschenke ans ungeduldige Volk, beispielsweise „ein neu- es Auto versprechen“ – so etwas müsse „jeden zweiten Tag kommen“. Doch das Politbüro zeigt sich, wie der Magdeburger SED-Bezirkschef Werner Eberlein rügt, „nicht im Stande, politische Entscheidungen zu treffen“. Ein Beschluss über den Umgang mit dem Neuen Forum wird vertagt, ebenso eine kritische Vorlage der FDJ. Volkskammer- präsident Horst Sindermann, 74, kann das klein Gedruckte nicht lesen, andere ärgern sich über den forschen Ton. Immerhin: Um dem „Erneuerungspro- zess nicht länger im Weg zu stehen“, kün- digen fünf Altgenossen zwischen 73 und 81 Jahren ihren baldigen Rücktritt aus dem

Politbüro an – darunter mit Anzeichen tie- SIPA PRESS fer Resignation auch Erich Mielke. Staatsgast Krenz, Gastgeber Gorbatschow: „Dies ist der Judaskuss“

94 der spiegel 44/1999 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« schen Haus“: „Die DDR ist ein Kind der der „“ – und löst eine La- cher erklärte in einem Vier-Augen-Ge- Sowjetunion. Es ist für uns wichtig zu wis- wine aus. Was vor einem Jahr nur Gerau- spräch, eine Wiedervereinigung sei absolut sen, ob ihr zu eurer Vaterschaft steht.“ ne verursacht hätte, bringt landauf, landab unannehmbar. Man dürfe keinen Anschluss Die Reaktion seines Gesprächspartners die Volksseele zum Kochen. zulassen, sonst würde die BRD auch noch hält Krenz mit den Worten fest: Kleine Gewerkschafts- und SED-Mit- Österreich schlucken. Das wäre eine reale glieder, die selbst hinter grauen, bröckeln- Kriegsgefahr. Öffentlich geben sie das Als übersetzt wird, beobachte ich mein den Fassaden leben und für jede Tüte Dü- natürlich nicht zu, aber sie sind sich dessen Gegenüber. Er ist nachdenklich. Er spricht bel Schlange stehen müssen, geben wegen bewusst, was das bedeuten würde. leise einen Satz vor sich hin, so als würde der Vorzugsbehandlung des Arbeiterfüh- er mit sich selbst reden. Ich glaube, es ist rers zu Abertausenden ihre Mitglieds- Im Übrigen ist der Staatsbesuch wenig ein russisches Sprichwort, das sinngemäß bücher zurück. Andere stellen die Bei- geeignet, Krenz optimistisch zu stimmen. heißt: Wie lang sich die Schnur auch win- tragszahlung ein. Gestern, im Gespräch mit Gorbatschow, det, es kommt doch ein Ende. In meinen „Ich habe in meinem Leben immer ein- hat der SED-Führer seine Angst einge- Notizen steht dahinter ein Fragezeichen. fach, normal gelebt“ – die Erklärung, mit standen, dass sich nach einer Zulassung Setzt Gorbatschow auf eine Wiederver- der Nennstiel auf die bislang beispiellose des Neuen Forum in der DDR „etwas Ähn- einigung Deutschlands? Der KP-Chef journalistische Enthüllung reagiert, facht liches wie die Solidarnosƒ“ entwickelt, das weicht aus und verweist auf die angeblich den Zorn der Leser weiter an. Bündnis zwischen Arbeitern und Bürger- skeptischen Amerikaner – was den Arg- Am Abend wird der Gewerkschaftsboss rechtlern. Nun verspricht er sich von den wohn von Krenz verstärkt: „Interessant, zum Rücktritt gezwungen – erstes Opfer polnischen Genossen guten Rat für die Ost- denke ich, sie reden mit den USA über die der von Tag zu Tag mutiger agierenden Berliner Regierungspolitik. Doch die War- deutsche Einheit, nicht aber mit der DDR.“ Presse. In den folgenden Wochen werden schauer haben nur Warnungen parat. Als Krenz zurückfliegt, ist gewiss: Von DDR-Medien zwischen Rügen und Suhl Die Partei hat es mit dem Kriegsrecht den sowjetischen Freunden kann er weder dutzendweise ähnliche Fälle von Funk- versucht – und ist gescheitert. Mit Panzern, eine militärische Beistandsgarantie für den tionärshabgier aufdecken. sagt Jaruzelski, hätten die Kommunisten Fall eines Volksaufstandes noch irgend- geglaubt, „den Deckel auf dem Topf halten welche ökonomische Hilfe zur Restabili- zu können, aber die Arbeiterklasse stand in sierung der Macht erwarten. Donnerstag, 2. November 1989 der ersten Reihe gegen uns“. Gorbatschows Versprechen, die Staaten Dann hat sich die Partei mit der Oppo- des ehemaligen Ostblocks dürften ihren Warschau sition an einen Runden Tisch gesetzt – und „eigenen Weg“ gehen, hat der Sprecher Bei seinem Antrittsbesuch in Polen wird durch ungeschicktes Taktieren die zu lange des Außenministeriums, Gennadij Gerassi- Krenz auf dem Warschauer Flughafen von als Satelliten missachteten Blockparteien mow, soeben auf eine bündige Formel ge- „guten Freunden“ empfangen. Wenig spä- gegen sich aufgebracht.Auf diese Weise hät- bracht: „Wir schauen, schauen sehr genau, ter, auf Schloss Belvedere, teilt der kom- ten die Kommunisten, so Parteichef Mieczy- aber wir mischen uns nicht ein.“ munistische Staatspräsident Wojciech Jaru- slaw Rakowski zu Krenz, „die Quittung für Diese neue Moskauer „Doktrin“ kön- zelski dem Genossen aus Ost-Berlin Tröst- unsere früheren Sünden“ bekommen. ne, so Gerassimow, auch als „Frank-Sina- liches mit. Am Ende habe die Partei nach langem tra-Doktrin“ bezeichnet werden – nach Die Staaten Westeuropas seien ebenso Zögern freie Wahlen zugelassen – und dessen Erfolgssong „I did it my way“. wie Polen strikt gegen eine Wiedervereini- haushoch verloren. Nun könne sie froh Schon am Vormittag, als Gorbatschow gung Deutschlands, versichert der Präsi- sein, sagt Juruzelski, dass ihr wenigstens den Gast aus Ost-Berlin mit dem traditio- dent dem tief verunsicherten Krenz. Ein „ein Kontrollpaket Aktien“, ein Rest von nellen Bruderkuss begrüßte, hatten sich Stenograf hält Jaruzelskis Worte fest: Einfluss, geblieben sei: die „Beteiligung an Krenz-Begleiter überzeugt gezeigt: „Dies der Regierung, die Sicherheitsorgane und ist der Judaskuss.“ In meinen Gesprächen mit Cossiga, An- die Armee und das Amt des Präsidenten“. dreotti, Mitterrand und Thatcher sagten Schließlich gibt Rakowski dem Gast die Ost-Berlin sie auch, dass (eine Wiedervereinigung) Warnung vor drei gefährlichen Fehlern mit Der Anrufer gibt sich geheimnisvoll. Der überhaupt nicht möglich sei. Frau That- auf den Weg nach Berlin: Gefängnisstrafen Mann stellt sich als Bauarbeiter vor und rät den Redakteuren der SED-eigenen „Berli- ner Zeitung“: „Schaut euch mal an, was im Ketschendorfer Weg 59 in Biesdorf ge- schieht.“ Reporter Hans Erdmann fährt an den Berliner Stadtrand und notiert: Da steht ein Eigenheim kurz vor seiner Vollendung: Zwei Etagen mit reichlich 200 Quadratmeter Wohnfläche, zehn Räume, Gasheizanlage, Bäder und Duschen, die Fenster sind BRD-Import, ein zweistöcki- ger Wintergarten ist im Entstehen. Auf der Baustelle eröffnen Bauarbeiter dem Journalisten, das Domizil im Grünen sei ein Objekt der „FDJ-Initiative“; die Maurer seien dafür eigens vom U-Bahn- Betriebswerk Friedrichsfelde abgezogen worden. Bauherr sei Gerhard Nennstiel, 43, Vorsitzender der Ost-IG Metall.

Erdmanns Bericht über den korrupten C. HIRES / GAMMA / STUDIO X Gewerkschaftsbonzen erscheint auf Seite 3 Staatsgast Krenz, Gastgeber Jaruzelski: „Deckel auf dem Topf halten“

96 der spiegel 44/1999 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« stärkten nur den „Märtyrer-Mythos“ von ordner. Unterbrochen wurde das bürokra- tion mit den Ordnungshütern bedacht – Oppositionellen; „Privilegien“ für die Re- tische Einerlei einmal im Jahr durch eine sich ängstigen, die Angelegenheit könnte gierenden „reizten die Menschen in be- skurrile Faschingsfeier, bei der sich Mielkes ihnen über den Kopf wachsen. sonderer Weise“; „was man legalisieren Offiziere als Staatsfeinde verkleideten – Manch einer würde aus Angst vor der ei- darf und was nicht“, müsse rechtzeitig ent- als Bischöfe, Pazifisten und Hooligans. genen Courage die Kundgebung am liebs- schieden werden. An diesem Tag ist alles anders. In der ten wieder absagen. Beiden Gesprächspartnern ist klar: Ge- Zwingburg an der Normannenstraße „In einer Beratung der Gewerkschaftsver- nau diese Fehler sind in der DDR bereits herrscht Endzeitstimmung: Trotz massiver trauensleute der Theaterschaffenden Ber- begangen worden – unter der Verantwor- Stasi-Einmischung droht die für morgen lin“ ist laut Stasi-Notiz daher „festgelegt“ tung oder Mitverantwortung von Krenz. angekündigte Großdemonstration auf dem worden, „eine weitere Bekanntmachung Am Ost-Berliner Flughafen Schönefeld Alexanderplatz außer Kontrolle zu gera- größeren Stils – z. B. in Massenmedien – zu wird der Rückkehrer von ZK-Sicherheits- ten. Ein Marsch auf die Geheimdienstzen- unterbinden, weil sonst die Teilnehmerzahl chef Wolfgang Herger erwartet. Welche trale ist nicht auszuschließen. zu hoch ansteigen könnte ... Einige Organi- Schlussfolgerungen die beiden auf der Im Ministerium geht im Wortsinne das satoren brachten die Befürchtung zum Aus- Rückfahrt in die Stadt ziehen, offenbart Licht aus. Die MfS-Spitze befiehlt den druck, die Teilnehmerzahl könnte 500000 Demonstranten erreichen, falls die Werbung dafür nicht gestoppt werde“. Doch die Mobilisierung haben zu diesem Zeitpunkt längst andere in die Hand ge- nommen. „Die Absicht zur Durchführung der Demonstration“, meldet die Stasi- Hauptabteilung XX, „ist republikweit po- pularisiert worden, vornehmlich in Künst- ler- und Kirchenkreisen.“ In der Zentrale macht sich die Angst breit, die bevorstehende – möglicherwei- se entscheidende – Machtprobe mit der Opposition könne mit einem Sturm auf die Mauer oder auf die Normannenstraße enden. Um gegen „mögliche Angriffe“ auf ihr Quartier gewappnet zu sein, lässt die Stasi Waffenkammern und Munitionsräu- me sichern. Zugleich wird „die schnelle Verlagerung operativ bedeutsamer Mate- rialien und Unterlagen“ vorbereitet. P/F/H Geschenkesammlung im Mielke-Büro: „Arbeitsräume verdunkeln“

Herger später einem Historiker: „Jetzt half Tschekisten, sich einzuigeln: „Bei Dunkel- nur noch Modrow, den Gorbatschow sehr heit sind die Arbeitsräume zu verdunkeln.“ gelobt hatte, als Ministerpräsident.“ Wochenlang hatte die Geheimpolizei ge- glaubt, die Veranstalter des geplanten „Meetings“ im Griff zu haben. Als völlig Freitag, 3. November 1989 unkalkulierbar gilt neuerdings jedoch das Verhalten des Fußvolks, das, wie Spitzel Ost-Berlin aus allen Ecken der Republik melden, zu

Seit 40 Jahren wuchert im Ost-Berliner zehntausenden nach Berlin strömen will. JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO Stadtteil Lichtenberg ein gargantueskes Vergebens haben sich SED und Stasi SED-Politikerin Honecker Parallel-Universum. Um Platz zu schaf- bemüht, den Zulauf aus der Provinz zu Gemüter besänftigen fen für seine Zentrale des Schreckens, hat drosseln. Noch am 31. Oktober schrieb Erich Mielke einen ganzen Stadtteil mit Mielke an seine Dunkelmänner: Ihre Waffen sollen die Sicherheitskräfte Beschlag belegt. nicht einsetzen dürfen. „Die Anwendung Durch Dialogangebote und andere gesell- In dem grauen Konglomerat aus Hoch- der Schusswaffe im Zusammenhang mit schaftliche Möglichkeiten in den Wohn- häusern und Flachbauten, Kliniken und möglichen Demonstrationen ist grundsätz- orten, Arbeits- und Unterrichtsstätten soll Kantinen, Archiven und Werkstätten ar- lich verboten“, hat der Verteidigungsrat gezielt einer Teilnahme von Personen, Ar- beiten 25000 Hauptamtliche – allesamt mit angeordnet. beits- und Schulkollektiven an dieser De- militärischem Rang; die Küchenfrauen im Um das Schlimmste zu verhindern, mo- monstration bzw. an dem Meeting in der Ministerium für Staatssicherheit etwa sind bilisiert die Berliner SED tausende be- Hauptstadt entgegengewirkt werden. Feldwebel. währter Anhänger, die darin erfahren sind, Jahrzehntelang ging in „der Firma“ al- Doch der greise Minister hat die Sog- ihrer Partei als Claqueure zu dienen und les seinen sozialistischen Gang. Der „Ge- kraft der Veranstaltung unterschätzt. Störer aus dem Weg zu rempeln. Es sei nosse Armeegeneral“ hortete Gastge- Bereits einen Tag nach dem Mielke-Brief veranlasst, halten die Geheimdienstler schenke, vom bulgarischen Zinnteller bis notierte Stasi-Leutnant Edgar Hasse im fest, dass „gesellschaftliche Kräfte in Ab- zum mongolischen Krummsäbel, und sam- Anschluss an eine Dienstbesprechung: stimmung mit der Partei wirkungsvoll zum melte Orden (insgesamt 274); Tüftler mon- „Demo am 4. 11. scheint nicht mehr über- Einsatz gebracht werden“. tierten Geheimkameras in Gießkannen schaubar ... Sache kann nicht mehr ge- Die wichtigste Aufgabe hat an die- und Wanzen in Handtaschen; Führungsof- stoppt werden.“ So gewaltig ist der erwar- sem Tag SED-Generalsekretär Egon Krenz fiziere füllten Regale mit Spitzelberichten, tete Ansturm, dass selbst die Veranstalter zu erfüllen. Er soll am Vorabend der Groß- im Laufe der Zeit 122 Kilometer Akten- – in rotpreußischer Disziplin um Koopera- kundgebung die Gemüter der Bürger be-

98 der spiegel 44/1999 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT« sänftigen, die allerorten „Rücktritt ist Fort- schlossen. In konspirativen „Objekten und Krenz sitzt unterdessen, hochgradig ner- schritt“ rufen. Wohnungen mit Telefonanschluss“ entlang vös, im Arbeitszimmer von Innenminister In einer abendlichen TV-Ansprache ver- der Demonstrationsstrecke liegen befehls- Dickel. Mit Stoph sowie Stasi-Minister kündet Krenz ein Bündel von Demissions- gemäß hunderte von Stasi-Leuten auf der Mielke und Verteidigungsminister Keßler ankündigungen und Reformversprechen. Lauer. Vom Marx-Engels-Platz bis zur verfolgt er per Monitor das Geschehen. Bereits tags zuvor waren diverse Ab- Grenze haben bewaffnete Geheimpolizis- Für den Fall, dass es zu dem befürchte- dankungen publik geworden – von Bil- ten Posten bezogen. ten Grenzdurchbruch am Brandenburger dungsministerin Margot Honecker, den Die Befehlslage ist klar: Geschossen wer- Tor kommt, sind ein heißer Draht zu Gor- Blockpartei-Vorsitzenden Gerald Götting den darf während der Demonstration batschow und Standleitungen zur Sowjet- (CDU) und Heinrich Homann (NDPD) so- nicht, und auch Festnahmen sollen mög- armee in Wünsdorf und zur KGB-Zentra- wie zwei SED-Bezirkschefs. Nun gibt lichst unterbleiben. Gewaltanwendung, le in Karlshorst geschaltet. Krenz die am Dienstag im Politbüro abge- „der jeweiligen polizeilichen Situation an- Trotz feuchtkalten Wetters haben sich sprochene Demission der Seniorenriege gemessen“, ist nur außerhalb des „Sicht- auf dem Alex nicht – wie von der Stasi be- bekannt, darunter, neben Mielke, auch bereiches von Kameras und Fotoappara- fürchtet – 500000 Menschen versammelt, Hermann Axen (Außenpolitik) und Kurt ten“ erlaubt. sondern fast eine Million. Und viele tragen Hager (Ideologie). Als gegen neun Uhr die ersten Demon- nicht die staatstreuen Parolen, die zuvor Am kommenden Montag soll zudem, stranten auftauchen, unternehmen Stasi- zwischen Veranstaltern und Volkspolizei wie Krenz mit Willi Stoph vereinbart hat, Männer in Räuberzivil noch den hoff- abgesprochen worden waren, sondern Pla- der gesamte Ministerrat zurücktreten. nungslosen Versuch, sie wieder nach Hau- kate mit jener Mischung aus Biss und Witz, Über diesen Termin und die geplante se zu schicken: Nach der jüngsten Krenz- die aus Leipzig und anderswo bekannt ist: Nachfolgeregelung informiert der SED- Rede sei die Kundgebung doch überflüssig, „Kein Artenschutz für Wendehälse“, Chef den Sowjetbotschafter Kotsche- argumentieren sie. „Trittbrettfahrer, zurücktreten!“ massow: „Ich werde dem ZK vorschlagen, Unterdessen wartet Bärbel Bohley am Die Kundgebung leitet Henning Schal- Hans Modrow als Kandidaten für den neu- Grenzübergang Friedrichstraße vergebens ler vom Maxim-Gorki-Theater, ein von der en Ministerpräsidenten zu nominieren.“ auf die Einreise von Wolf Biermann, den Stasi als „politisch-negativ“ eingeschätz- Um den Volkszorn zu dämpfen und um sie zur Demonstration eingeladen hat. Der ter Mann – der klammheimliche Versuch eine erneute Besetzung der Prager Bot- Liedermacher wird von den Grenzern der Geheimpolizei, „Einfluss“ auf die schaft zu vermeiden, gibt die Regierung nicht durchgelassen – und spricht Journa- „Festlegung des Moderators“ zu nehmen, überdies eine erstaunliche Entscheidung listen ins Mikrofon: „Vor 25 Jahren wurde ist fehlgeschlagen. bekannt: Die DDR gestattet ihren Bürgern, ich verboten, ausgeulbrichtet, 1976 in den Wie zum Hohn lassen die Organisatoren vorerst – bis zum Inkrafttreten des ge- Westen ausgehoneckert und jetzt ausge- den Protestbarden Kurt Demmler singen: planten neuen Reiserechts im Dezember – krenzt.“ Irgendeiner ist immer dabei die Republik via ∏SSR gen Westen zu ver- von der ganz leisen Polizei. lassen, ohne jegliche Formalitäten. Irgendeiner macht immer ’n Strick Kaum jemandem erschließt sich zu die- und wenn du’s nicht bist, bin’s ick. sem Zeitpunkt die politische Tragweite des Beschlusses. Das DDR-Fernsehen überträgt live. So sind Abermillionen Zeuge, wie der Stasi- Pensionär Markus Wolf (siehe Porträt Sei- Sonnabend, 4. November 1989 te 100) mehr Buhrufe als Beifall erntet: Ihn Ost-Berlin hat Schallers listige Regie unmittelbar nach Als der Morgen graut, hat die Stasi ihre Kundgebungsredner Heym, Vorbereitungen für die mit Bangen erwar- Kundgebung auf dem Alexanderplatz

tete Kundgebung auf dem Alex abge- R. SUCCO / ACTION PRESS „Als habe einer die Fenster aufgestoßen“ J. WITT / SIPA PRESS 100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«

Demmlers umjubeltem Auftritt aufs Podi- Straßenseite platziert, mitten im Beobach- heimpolizei konspiriert, spielen Vertreter um geschickt. tungsobjekt, dem rotbraunen Ziegelbau der von der Stasi infiltrierten Öko-Grup- Günter Schabowski macht die letzten der Treptower Bekenntniskirche. pen und des SED-nahen Kulturbundes auf Partei-Hoffnungen zunichte, auf die Gegen 19.30 Uhr versammeln sich in Zeit. Die Versammlung löst sich auf. Demo „stimulierend im progressiven Sin- dem Gotteshaus rund 300 Menschen. Pfar- Enttäuscht fährt Jordan mit seinem Tra- ne einwirken zu können“ (SED-Bezirks- rer Werner Hilse, 55, Betreuer von Ausrei- bi nach Hause. Zur Gründung einer grünen vize Helmut Müller im geheimen Vorbe- sewilligen, Homosexuellen und Umwelt- Partei wird es – spät, zu spät – erst am 24. reitungsgespräch). Dem beflissenen Wen- schützern, hat neben dem Taufbecken an November kommen, zu einem Zeitpunkt, dehals – „Wir lernen unverdrossen“ – der Stirnwand (Aufschrift: „Eine feste Burg zu dem das Thema Wiedervereinigung die müssen die Veranstalter beispringen gegen ist unserer Gott“) einen Tisch aufbauen Umweltproblematik wieder in den Hinter- die überbordenden Zurufe: „Aufhören, lassen. Dahinter verliest der bärtige Carlo grund gedrängt hat. aufhören!“ Jordan, 38, Mit-Initiator der Ost-Berliner Um 22 Uhr verschließt Hilse die Pforten Den richtigen Ton treffen hingegen Red- „Umweltbibliothek“, einen Aufruf zur seines Gotteshauses. Gegenüber, in der ner wie der Liberaldemokrat Gerlach („Es „Gründung einer Grünen Partei“. konspirativen Wohnung, auf deren Balkon geht jetzt um den Rücktritt der Regie- Doch der Vorschlag wird zerredet. „die Herren von der Firma“ an warmen rung“) oder Stefan Heym: „Es ist“, ruft Energisch und eloquent versucht der Ver- Sommerabenden gern ein paar Runden der Schriftsteller, „als habe einer die Fens- treter des Demokratischen Aufbruchs, Skat spielten, ist noch immer alles dunkel. ter aufgestoßen nach all den Jahren der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, eine for- Stagnation, nach all den Jahren der Dumpf- male Parteigründung zu verhindern. Prag heit und des Miefs, des Phrasengewäschs Ähnlich wie der Anwalt, der unter dem „Eure Politik ist zum Weglaufen“ – die Zu- und bürokratischer Willkür.“ Die Schau- Decknamen „IM Torsten“ mit der Ge- kunftsangst, die der Demonstrationsspruch spielerin Steffi Spira zitiert am Ende Bert einfängt, hat auch der Liberali- Brecht: „So wie es ist, bleibt es nicht ...Aus sierer Krenz den DDR-Bürgern Niemals wird: Heute noch!“ nicht nehmen können. Dem werden Historiker später wenig Seit Jahresbeginn hat der Ar- hinzuzufügen haben. „Der 4. November beiter-und-Bauern-Staat rund ist ein Markstein“, urteilt der Wende-Chro- 180000 Menschen verloren, nist Stefan Wolle: „Von nun an geht nichts mehr als ein Prozent der Be- mehr zurück.“ völkerung. Und die Absetzbe- wegung hält weiter an. Über Ungarns grüne Grenze Sonntag, 5. November 1989 haben 50000 DDR-Bürger die Flucht ergriffen. Bis Silvester Ost-Berlin sind sämtliche Interflug- Die Fenster der Stasi-Wohnung über dem Maschinen auf den Stecken Fleischerladen an der Plesser Straße 8 blei- Berlin–Budapest und Dres-

ben heute abend dunkel – die Geheimpo- T. HEIMANN den–Budapest ausgebucht; zu lizei hat ihre Agenten auf der anderen Grünen-Treffen in Treptow: Die Stasi spielt auf Zeit haben sind nur noch Rück- flüge. Seit Krenz vor zwei Tagen die ∏SSR- Grenze geöffnet hat, ist die Ausreisebewe- gung zur Stampede geworden: Binnen 48 Stunden sind mehr als 20000 Menschen in den Westen gereist. Allmählich erst erschließen sich den Be- obachtern die Dimensionen des Wandels. Der Kommentator der West-Berliner „Ta- geszeitung“ schreibt für die Montagsaus- gabe seines Blattes: Die Mauer ist gefallen ... Seit Frei- tagnacht kann sich ein DDR-Bürger aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi setzen und nach München fahren ... Der Wind, der aus dem Osten kommt, hat eine solche Wucht bekommen, dass die his- torischen Relikte, die da vorbeiwirbeln, kaum noch Aufmerksamkeit erregen … Es ist die erstaunlichste, die unvorstell- barste Revolution, die man sich denken kann. Unvorstellbar, in der Tat. So unvorstell- bar, dass keinem Kommentator in den Sinn kommt, die Mauer könnte drei Tage nach Erscheinen dieses Textes wirklich brechen. Jochen Bölsche; Hans Halter, Sebastian Knauer,

DPA Norbert F. Pötzl, Irina Repke, DDR-Bürger auf Westkurs (bei Schirnding): „Die Mauer ist gefallen“ Cordt Schnibben, Peter Wensierski

102 der spiegel 44/1999