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Rohrer, S (2010). Revolution in 35 mm. DU, (804):74-79. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich. University of Zurich http://www.zora.uzh.ch Zurich Open Repository and Archive Originally published at: DU 2010, (804):74-79.

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Year: 2010

Revolution in 35 mm

Rohrer, S

Rohrer, S (2010). Revolution in 35 mm. DU, (804):74-79. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich. http://www.zora.uzh.ch

Originally published at: DU 2010, (804):74-79. Das Kulturmagazin – Du 804 – März 2010

Leben! Sterben! Das Kulturmagazin – Nr. 200 Jahre Mexiko

Graciela Iturbide – Carlos Amorales – Teresa Margolles – Livia Corona – Miguel Baez – Gabriel Orozco – Mikhael Subotzky ⁄ Patrick Waterhouse – Toni Morrison SPEZIAL: Teotihuacán – Geheimnisvolle Pyramidenstadt 804 – März804 2010

Leben! Sterben! – 200 Jahre Mexiko

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I. Thema

Ausstellung – Brigitte Ulmer: Teotihuacán Gesellschaft – Sandro Benini: Drogenkrieg und Narco-Kultur 24 Als die Azteken die verlassene Pyramidenstadt Teotihuacán fanden, 40|Im entfesselten mexikanischen Drogenkrieg sterben jeden Tag Dealer, sahen sie darin nicht weniger als den «Ort, an dem man zu Gott wird». Über die Polizisten, Staatsanwälte und Journalisten, während die Bosse Milliarden verdie- Erbauer und deren Lebensweise rätselt die Wissenschaft bis heute. Fest steht, nen. Parallel zu dem Gemetzel ist eine Narco-Kultur entstanden, mit protziger dass sie nicht ganz so friedlich waren, wie es ihre Hochkultur erscheinen lässt. Architektur und staatsschmähenden Heldenliedern.

I. Hintergrund – Kirsten Einfeldt Politik – Anne Huffschmid 14 Grundlose Feier 54 Verführt, mit einem Schaudern In diesem Jahr jubiliert Mexiko gleich doppelt: zweihundert Beatriz Paredes ist Mexikos mächtigste Frau, weil sie das Jahre Unabhängigkeit und hundert Jahre Revolution. An- empfi ndsame Gegenstück zum landestypischen Machismo gesichts der chronischen Probleme des Landes sehen viele darstelle, wie sie sagt. Für ihren Erfolg nutzt sie durchaus keinen Anlass für Festlichkeiten. Singen mögen sie dennoch. scharfe Waffen.

Ausstellung – Brigitte Ulmer Kunst – Brigitte Ulmer 24 Teotihuacán, Hauptstadt der Götter 60 Wunderbar brutal Gewalt und soziale Missstände – das ist der Stoff, aus dem Archäologie – Miguel Baez im Gespräch mit Brigitte Ulmer derzeit in Mexiko Kunst gemacht wird. Aus dem Ausland 30 «Ich würde fragen: Wer waren deine Herrscher?» gibt es dafür viel Applaus. Der Archäologe Miguel Baez hat als Student in Teotihuacán gegraben und sich der untergegangenen Kultur mit Neu- Musik – Carlos Amorales und Julian Lede im Gespräch mit Adrian Schraeder gier, Geduld und viel Fantasie genähert. Und meist mit 68 «Wir verkauften Musik, die niemand mochte» dreckigen Händen. Das aufrührerische Künstler-Label Nuevos Ricos vertrieb fünf Jahre lang schräge Musik von schrägen Musikern. Mit Geschichte – Alex Gertschen dem kommerziellen Erfolg glich das Spiel der Verleger mit 36 Mexikaner zweiter Klasse den Mechanismen des Pop-Geschäfts aber immer mehr dem Die mexikanische Geschichtsschreibung erhebt die Azteken Würstchenverkaufen. Also hörten sie auf. gern zu Nationalhelden. Ihre Nachfahren jedoch werden bis zum heutigen Tag diskriminiert. Film – Seraina Rohrer 74 Revolution in 35 mm Gesellschaft – Sandro Benini Besonders spektakulär ist er nicht, der Alltag der Figuren in 40 Gemetzel ohne Ende mexikanischen Filmen. Aber ausgesprochen magisch. Seit einigen Jahren verzaubern die überraschenden und sensiblen Fotografi e – Daniele Muscionico Werke aus dem Land die ganze Welt. 46 «Ich neige zum Morbiden» Graciela Iturbide ist die populärste Fotografi n Lateinameri- kas. In Europa kennt man sie als künstlerische Poetin. Doch da ist auch noch die glühende politische Aktivistin.

4 Inhalt

II. Horizonte III. Sélection

Fotografi e – Mikhael Subotzky, Patrick Waterhouse Poptipp, Ausstellungstipp 82 Nach Johannesburg kommen die Träume, um zu sterben – und wieder 106 Zehn postume Songs von Johnny Cash sind das vielleicht spannendste aufzuerstehen. Symbol dafür ist das ehemalige Prestigeobjekt Ponte City, ein Werk der vergangenen Musikdekade, ein Wunder vom Hawaii-Song bis zum Grab- gigantischer Turm aus den 1970er-Jahren, das höchste Wohnhaus der südlichen lied. Das Kunsthaus Aarau kombiniert in eigenständigen Ausstellungen Fiona Tans Hemisphäre. Die Künstler Mikhael Subotzky und Patrick Waterhouse porträtieren Filme (Bild o.r.) mit den Fotografi en Hugo Suters. Aus der ungewohnten Gegenüber- dessen Leben, wir präsentieren exklusiv erste Bilder aus ihrem Langzeitprojekt. stellung der beiden Künstler entsteht eine gute «Reibungswärme».

II. III. Fotografi e – Mikhael Subotzky⁄Patrick Waterhouse, Text: Daniele Muscionico 106 Poptipp: Johnny Cash 82 Geisterbeschwörung Was 1976 in Johannesburg als Zeichen der Hoffnung und 107 Die gedruckte Ausstellung: Eran Schaerf schickes Wohn objekt für weisse Yuppies begann, endete bald 111 Literaturtipp: Don DeLillo als Bleibe für schwarze Obdachlose und Immigranten. Ein 112 Bice Curigers Ausstellungstipps Rettungsversuch misslang. Nun sind die meisten der ehema- ligen Bewohner zurückgekehrt – und bekommen regelmäs- 114 Urs Stahels Sichtweisen: Pietro Mattioli sigen Besuch von zwei jungen Künstlern. 116 Filmtipp: Pianomania 118 Theatertipp: Dennis Kelly Literatur – Toni Morrison im Gespräch mit Thomas David 98 «Freiheit ist ein billiges Wort geworden» 119 Klassiktipp: Christian Poltéra Die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison ist die wich- 120 Opernhaus Zürich: Ilma Rakusa tigste Vertreterin der afroamerikanischen Literatur in den 124 Migros-Kulturprozent: Kultur-Flatrate USA. In ihrem jüngsten Roman, Gnade, blickt sie zurück auf die Anfänge der Sklaverei. Der Begriff der Freiheit, so 126 Raffi nierter leben mit Ludwig Hasler: Emile Durkheim Morrison im Du-Gespräch, hat eine neue Bedeutung bekommen, seit niemand mehr Leibeigener ist. – 3 Editorial 8 Impressum und Bildnachweis 10 Zuschriften 66 Back Issues und Abonnement-Karte

6 I. Film – Seraina Rohrer – Revolution in 35 mm

Der Alltag einer mennonitischen Gemeinschaft: Stellet Licht von Carlos Reygadas

Der Rentner Beto unterhält ein leer stehendes Haus: Parque Via von Enrique Rivero

Mehr gefunden als Autoersatzteile: Lake Tahoe von Fernando Eimbcke

74 Du 804 – März 2010

Diego Luna und Gael García Bernal sind die Stars des gegenwärtigen Booms: Revolution in 35 mm von Carlos Cuarón

Seit einigen Jahren fl oriert das mexikanische Filmschaffen. Vom Mainstream bis zu sperrigen Autorenfi lmen wartet das Land immer wieder mit Überraschungen auf, die weltweit Erfolge feiern. Auf der Suche nach dem mexikanischen Filmwunder.

Von Seraina Rohrer

Zunächst ist es noch dunkel, vereinzelt leuchten Sterne. Ganz lang- nun zehn der interessantesten Autorenfi lmer, Nachwuchshoff- sam zieht dann ein orangefarbener Lichtstrahl quer durchs Bild nungsträger und Stars zusammengetan, um fi lmisch gemeinsam und tränkt die immer heller werdende Landschaft blutrot. – Genau über den Zustand Mexikos nachzudenken. Premiere feiert der Epi- so unscheinbar zu Beginn und dann überwältigend wie der Son- sodenfi lm Revolución mit zehn Kurzfragmenten am Feiertag der nenaufgang in Stellet Licht (2008) von Carlos Reygadas ergeht es Revolution, am 20. November 2010, in Mexiko-Stadt. Die Schau- zurzeit dem Filmschaffen Mexikos. spieler Gael García Bernal und Diego Luna werden für einmal Re- Die kürzlich auf internationalen Festivals gekürten Filme gie führen, und auch Reygadas und Eimbcke sowie sechs der viel- zeigen: Das mexikanische Filmschaffen befi ndet sich in einem versprechendsten Nachwuchstalente, darunter die Regisseurin von Hoch. Der Autodidakt und ehemalige Völkerrechtler Reygadas ge- Cinco días sin Nora, werden sich darin fi lmisch äussern. winnt in Cannes den Grossen Preis der Jury für Stellet Licht. Die Die Kombination illustrer Namen mit ambitionierten Fil- Berlinale zeichnet Lake Tahoe (2008) von Fernando Eimbckes mit memachern klingt verheissungsvoll und ist symptomatisch für das dem Alfred-Bauer-Preis aus. Die Begründung: Beides sind Werke, gegenwärtige Filmwunder Mexikos, dem ein nie zuvor gesehener die neue Perspektiven in der Filmkunst eröffnen. Cary Fukunagas Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und kommerziellem gewinnt am Sundance-Festival den Regie- und Kamera-Preis für Erfolg gelingt. Die Themen, Erzählformen und Ästhetik dieser Sin Nombre (2009), und Enrique Rivero (Parque Vía, 2008) kehrt neuen mexikanischen Blütezeit – die sich kaum merklich ange- mit dem Goldenen Leoparden aus Locarno zurück. bahnt hat – sind so heterogen wie nie zuvor. Die einen überzeugen Auch an den Kinokassen brillierten weltweit in den letz- mit unspektakulären Geschichten und Gefühlslagen, andere wie- ten Jahren drei gebürtige Mexikaner: Alejandro González Iñárritu derum porträtieren die harten, oft brutalen Realitäten und Dramen mit seinem Episodenfi lm Babel (2006), mit des heutigen Mexiko. dem Sequel Hellboy und Alfonso Cuarón mit Harry Potter – The Prisoner of Azkaban (2004) und Children of Men (2006). Anfang 2010 begeisterte die Schweizer Kinobesucher die feinfühlige Ko- Neue, poetische Autorenfi lme mödie Cinco días sin Nora (2008) von Mariana Chenillo, die bereits Bei europäischen Cinephilen gegenwärtig hoch im Kurs stehen die mit ihren Kurzfi lmen von sich reden machte. neuen Autorenfi lmer. Ihre Hauptvertreter – Reygadas, Eimbcke und Rivero – greifen alle in der mexikanischen Gesellschaft veran- kerte Geschichten auf, die immer auch universelle Themen sind. Symbiose von Kunst und Erfolg Mit poetischem Blick, präzise und einfühlsam beobachten sie ihre Zum bevorstehenden 100-Jahre-Jubiläum der Revolution und den von Laiendarstellern verkörperten Figuren. Die wortkargen Prota- zweihundert Jahren der Unabhängigkeit von Spanien haben sich gonisten wirken authentisch, und trotzdem sind sie zu stilisiert, um

75 I. Film – Seraina Rohrer – Revolution in 35 mm

dokumentarisch gelesen zu werden. In den durchkomponierten Diese Filme bieten, was im europäischen Kulturraum manchmal Aufnahmen entfalten sie sich, und es entsteht immer wieder das fehlt: den Glauben an Ereignisse, die sich nicht erklären lassen. Gefühl, für einen Moment einen Einblick in ihr Seelenleben erha- Damit stillen sie – genau wie die spektakulären 3-D-Animations- schen zu können. fi lme aus Hollywood – ein Grundbedürfnis: Sie entführen die Nachdem Iñárritu mit seinem emotionsgeladenen Episo- Zuschauer in fremde Welten und unbekannte Sphären. Eine ähn- denfi lm Amores Perros (2000) international für Aufruhr sorgte, liche Faszination auf das europäische Publikum ausgeübt haben präsentieren die neuen Autoren nun ein Mexiko, in dem nicht vor Jahren lateinamerikanische Filme mit magisch-realistischen Hektik und Gewalt, sondern Ruhe und Feinheit vorherrschen. Elementen, so etwa El viaje (1992) von Fernando Solanas oder Die Erzählstruktur ihrer Filme ist – im Gegensatz zu Amores auch Ruy Guerras Eréndira (1983) nach einem Drehbuch von Ga- Perros’ komplexen Verstrickungen – linear, das Erzähltempo ge- briel García Márquez, dem prominentesten Vertreter des magi- mächlich. Dies entspreche viel mehr der Realität Mexikos, so die schen Realismus. Meinung mancher mexikanischer Intellektueller. Die Liebe für Details dringt bei den Filmemachern bis in die Tonspur durch, wo sie leise Geräusche des Alltags zu melodiösen Klangkulissen Gewalt und Migration verweben. Musik setzen sie nur sparsam ein oder verzichten gänz- Mexikos Nachwuchs hat sich jedoch längst nicht ausschliesslich den lich darauf. ruhigen Tönen verschrieben. Laut und brutal geht es in Cory Einzigartig ist zudem der Glaube der Autoren an das Ma- Fukunagas bemerkenswertem Debüt Sin Nombre zu und her, das gische, das sich in ihren Filmen subtil manifestiert. Sie porträtieren diesen Frühling in den Schweizer Kinos anläuft und die Geschich- zwar minutiös den meist unspektakulären Alltag ihrer Figuren, te zweier junger Leute erzählt, die versuchen, in die USA zu gelan- unerwartet brechen sie ihn aber immer wieder mit fantastischen gen. Sayra (Paulina Gaitan), eine junge Frau aus Honduras, reist Momenten. So etwa in Eimbckes Temporada de patos (2004), in dem mit ihrem Vater und ihrem Onkel auf dem Dach von Güterzügen sich drei Teenager und ein Pizzakurier einander während eines quer durch Mexiko. Willy (Edgar Flores), ein Mitglied der Gang Stromausfalls in einer Wohnung langsam annähern. Der Kurier, Mara Salvatrucha, hält sich mit Überfällen auf die Durchreisenden eigentlich ein Tierarzt, steht plötzlich nackt an einem Teich und über Wasser. Ihre Wege kreuzen sich, dann ziehen sie zusammen beobachtet Enten – wenige Sekunden zuvor betrachtete er bloss ihr Richtung Norden. Fukunaga zeigt unverblümt die Brutalität und Gemälde. Und in Reygadas Stellet Licht beginnt am Schluss des rohe Gewalt, denen die Migranten ausgeliefert sind. Er thematisiert Films die aufgebahrte Verstorbene mit den Trauernden zu inter- die Rivalitäten zwischen kriminellen Banden, die sich von Los An- agieren. Würde es sich um literarische Texte handeln, bekämen sie geles aus in ganz Lateinamerika ausgebreitet haben und nun die wohl die Etikette «magisch-realistisch» verpasst; bei Filmen wird Bevölkerung vor Ort terrorisieren. diese Bezeichnung eher spärlich verwendet. Trotzdem sind die Pa- Sin Nombre zeigt eindrücklich, wie sich der lange Weg aus rallelen nicht zu übersehen. dem Süden als Spiessrutenlauf gestaltet – eine Realität, mit der Tausende von Lateinamerikanern täglich konfrontiert sind. Über- haupt beschäftigen sich einige der spannendsten mexikanischen Filme der letzten Jahre mit der Migration in den Norden. Im Do- Der Alltag wird mit fantastischen kumentarfi lm Los que se quedan (2008) etwa porträtieren Juan Car- Momenten gebrochen los Rulfo und Carlos Hagerman die in Mexiko zurückgebliebenen Angehörigen und wie sie mit der Trennung umgehen. Die Arbeit mit Laiendarstellern ist auch in den Migrati- Der französisch-kubanische Schriftsteller Alejo Carpentier onsfi lmen eine gängige Form. Im Gegensatz zu Reygadas oder schreibt bereits 1949 vom «wirklich Wunderbaren» (lo real mara- Eimcke wählen die Filmemacher jedoch häufi g ein beschwingteres villoso) der lateinamerikanischen Kultur. Er behauptet, die Reali- Erzähltempo, und ihre Geschichten enden meist mit einem emoti- tät an und für sich sei maravillosa, daher müsse eine eigene künst- onalen Höhepunkt. Die Regisseurin Particia Riggen beispielsweise lerische Form des Ausdrucks gesucht werden. Den Ursprung der inszeniert in La misma luna (2007) gekonnt die Trennung einer Andersartigkeit sieht er in den Wurzeln der lateinamerikani- Mutter von ihrem neunjährigen Sohn. Er lebt in Mexiko, sie arbei- schen Kultur, den indigenen Volksstämmen, deren Traditionen tet in Los Angeles, damit sie ihm ein besseres Leben bieten kann. und Legenden, die geprägt sind von einem Denken in Bildern. Nach dem Tod der Grossmutter macht sich der Junge auf die ge- Und genau darin mag auch der Schlüssel zum Erfolg der zurzeit fährliche Suche nach ihr. Unsentimentaler erzählt Amat Escalante, so angesagten mexikanischen Autorenfi lmer liegen: Die Kombi- ein Zögling Reygadas und wie Fukunaga erst 31-jährig, in Los Bas- nation von aus dem Leben gegriffenen Geschichten, authenti- tardos (2009) die Geschichte zweier illegaler Immigranten, die schen Figuren und einem Hauch Magie eröffnet neue, poetische innert lediglich 24 Stunden in die Kriminalität abrutschen. Mit lan- Filmmomente. gen Einstellungen schildert Escalante eindringlich, wie sie Arbeit

76 Du 804 – März 2010

Sin Nombre von Cory Fukunagas zeigt die rohe Gewalt, der viele Migranten ausgeliefert sind.

Suizid in einem steinigen Tal fernab der Zivilisation: Japón von Carlos Reygadas

77 I. Film – Seraina Rohrer – Revolution in 35 mm

Mit Amores Perros ist Alejandro González Iñárritu der internationale Durchbruch gelungen

Scheinbar unspektakulär: das Leben mexikanischer Jugendlicher in Temporada de Patos von Fernando Eimbcke

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suchen, am Telefon den Verwandten versichern, dass bald Geld und kombiniert künstlerische Freiheit mit tiefgründigen Geschich- komme, und wie schliesslich alles eskaliert. ten. Die vielen kreativen Firmen, die neuerdings die Produktions- landschaft bereichern, sind mitunter ein Grund für die Erfolgswel- le des mexikanischen Kinos. Der Staat hingegen interveniert immer Erfolg durch schlaues Marketing weniger in künstlerische Belange und hat den Versuch aufgegeben, Teilweise ist der Erfolg der neuen mexikanischen Filme auch einer das Land unter einem einzigen Film-Label zu verkaufen. Vielmehr geschickten Vermarktung zu verdanken. Und die hängt primär an sind heute Vielfalt und Individualität angesagt. zwei Schauspielern, die viele nur von ihrer Arbeit vor der Kamera her kennen: Gaël García Bernal und Diego Luna. Bernal debütierte in Amores perros, mit Pedro Almodóvars La mala educación (2004) Mit dem Kuss haben wir die gelang ihm schliesslich der internationale Durchbruch. Heute arbeitet er mit Regisseuren wie Walter Salles (Diarios de motocicleta , Konservativen geschockt 2004) oder Lukas Moodysson (Fucking Amal, 1998). 2001 scho- ckierten er und Luna die Konservativen Mexikos mit ihrem inti- men Kuss in Y tu mama también von Alfonso Cuarón. Auch Luna Schliesslich sind da noch die «three amigos», wie sie Holly wood zu hat den Sprung auf die Weltbühne geschafft. In The Terminal nennen pfl egt: Nach mehreren Publikumserfolgen, sechzehn Os- (2004) von Steven Spielberg spielte er an der Seite von Tom Hanks; car-Nominationen sowie vier Oscars schlossen sich Alfonso Cuarón kürzlich hatte er eine Rolle in Gus van Sants Milk (2008). (Harry Potter – The Prisoner of Azkaban), Alejandro González Die zwei Freunde nutzen ihre Bekanntheit geschickt, um Iñárritu (Babel) und Guillermo del Toro (Pan’s Labyrinth) zusam- international auf mexikanische Regisseure, Autoren und Filme auf- men, um die Produktionsfi rma Cha Cha Chá ins Leben zu rufen. merksam zu machen. Regelmässig verblüffen sie mit spannenden Eine klare Vision wollen sie nicht haben. Fast scheint es, als wäre es Projekten von unbekannten Talenten. Das Migrationsdrama Sin eine Art Versuch, mit ihrer Heimat Mexiko in Kontakt zu bleiben Nombre etwa stammt aus dem Produktionshaus Canana Films von – denn die drei sind heute primär in Hollywood tätig. Bernal und Luna. Inzwischen zählen sie zu den wichtigsten Draht- Produziert haben sie bis anhin erst die Fussballkomödie ziehern der mexikanischen Filmindustrie. Nebst der Produktions- Rudo y Cursi (2008). Trotzdem spielt gerade ihre Firma eine Schlüs- fi rma gründeten sie vor fünf Jahren auch das Dokumentarfi lmfes- selrolle im Aufschwung des mexikanischen Kinos, denn die enge tival Ambulante, eine Plattform für Filme, die in Mexiko ansonsten Verstrickung der mexikanischen Filmemacher mit Hollywood ist kaum gezeigt werden. Innert Kürze hat sich das Festival die nötige ein Novum für Lateinamerika. Regisseure wie Fernando Solanas, Anerkennung verschafft und tourt inzwischen quer durchs Land. ein Mitbegründer von «Drittes Kino» – eine politische Filmbewe- Sogar in den USA, England, Irland und Kuba wird das Programm gung der 1970er-Jahre, die Kino als Unterhaltung und Mittel zum präsentiert. Geldverdienen ablehnte, oder Glauber Rocha, ein ambitionierter 2008 traten die beiden Freunde dann erstmals wieder ge- Vertreter des brasilianischen «Cinema Novos», defi nierten sich ex- meinsam vor die Kamera. In der Komödie Rudo y Cursi von Car- plizit in Abgrenzung zu Hollywood. Die drei mexikanischen los Cuarón, dem Bruder von Alejandro Cuarón, verkörperten sie Freunde hingegen nutzen das Studiosystem zu ihren Gunsten. zwei konkurrierende Brüder, die gegeneinander Fussball spielen. Ihre Geschichten sowie deren ästhetische Umsetzung sind In Mexiko verbuchte der Film Besucherrekorde und schaffte es zwar äusserst individuell, doch der gemeinsame kulturelle Hinter- im Nu unter die erfolgreichsten mexikanischen Filme des letzten grund vereint sie. Auf Vorwürfe, sie hätten das typisch Mexikani- Jahrzehnts. sche in ihren neueren Filmen aufgegeben, reagieren die drei gelas- sen: Sie würden immer Mexikaner bleiben, das sei ihr Ursprung. Wichtig seien ihnen die Geschichten und ihr Beitrag zur Populär- Hinter den Kulissen kultur, nicht, woher das Geld komme. Mit den Worten Iñárritus: Auch sonst bewegt sich einiges in der mexikanischen Produktions- «Film ist schliesslich immer eine universelle Kunst.» < landschaft. Neu gegründete Firmen greifen kreative, häufi g sehr persönliche Stoffe auf, etwa das Kollektiv Revolcadero. Die Inhaber der Firma sind Künstler, die mit Animationen, skurrilen Fernseh- shows und Low-Budget-Filmen auf sich aufmerksam gemacht hat- ten. Unerwarteten internationalen Festivalerfolg feierte einer der Gründer, Gerardo Naranjo, dann mit Geschichten, die Gewalt und Exzesse in der Oberschicht beleuchten. Die Firma Mantarraya Pro- Seraina Rohrer ist Filmwissenschaftlerin und Dozentin. Zurzeit lebt sie in Los Angeles, wo sie eine Dissertation zu transnationalen Filmproduktionen zwischen ducciones wiederum hat sich nebst der Produktion von Carlos Rey- Mexiko und den USA verfasst. Zuvor war sie als Journalistin sowie beim Filmfestival gadas Filmen ganz der Suche nach neuen Talenten verschrieben Locarno tätig und arbeitete während mehrerer Jahre in Mexiko.

79 Das Kulturmagazin

Du Kulturmedien AG – Hauptplatz 5 – CH-8640 Rapperswil Tel. +41 (0) 55 220 81 90 – Fax +41 (0) 55 220 81 77 Das ist Du [email protected] – www.du-magazin.com

Du bietet zehnmal im Jahr ein fundiertes Themenheft aus dem weiten Feld der Kultur. Du nimmt aktuelle Zeitfragen auf und stellt neue Kontexte her. Du stellt international bedeutende Kunstschaffende vor und lässt wichtige Newcomer zu Wort kommen. Du gibt der zeitgenössischen Fotografie einen prominenten Platz. Du zeigt, in welche Richtung sich die Welt verändert – durch die Brille der Kultur. Du schafft Orientierung und trifft Meinungsführer auf Augenhöhe. Du versteht sich als Trüffelschwein für das relevante Neue. Du wird leidenschaftlich gesammelt. Du bietet Emotionalität und Lesegenuss auf höchstem Niveau. Du ist das Magazin für Kulturinteressierte und Menschen, die den Puls der Zeit verstehen müssen.

Das Kulturmagazin Du wurde 1941 gegründet und hat sich seit - her als bedeutende Stimme der Kultur in Europa einen festen Platz gesichert. Das Magazin entdeckt früh wichtige Themen und Strömungen des Zeitgeists, vermittelt die Sichtweisen bedeutender Kulturschaffender und versteht die Kultur als ein weites Feld, um aktuelle Veränderungen einzuordnen. Die anspruchsvolle Du-Le- serschaft ist gebildet, kaufkräftig, urban, international orientiert, offen und einem gehobenen Lebensstil zugetan.

Faxantwort an +41 (0)55 220 81 77 Ich möchte Du lesen. (Bitte ankreuzen)

Einzelausgabe März 2010, Leben! Sterben! – 200 Jahre Mexiko CHF 20.– ∕ € 15.– Schnupper-Abonnement, 3 Ausgaben (Nur für Schweiz, Deutschland, Österreich und Liechtenstein) CHF 50.– ∕ € 35.–

Jahresabonnement Schweiz, Liechtenstein Jahresabonnement Deutschland, Österreich CHF 160.– Andere Einzelheftbestellung und Informationen: Jahresabonnement übriges Europa ∕ Übersee € 120.– Telefon +41 (0)55 220 81 90, Fax +41 (0)55 220 81 77 € 154.– [email protected], www.du-magazin.com

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