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Im Gespräch mit dem Heimat zwischen polnischen Schriftsteller Polen und Deutschland Artur Becker

Seine polnische Heimat Masuren musste gen in die Erde zurück. Ich habe die Kind- er als Jugendlicher verlassen; seither lebt heit, wie viele andere Autoren auch, als der Schriftsteller Artur Becker in der Nähe eine Art paradiesischen Zustand erlebt, von . In seinen Werken und Prota- als einen Zustand der Glückseligkeit und gonisten lebt seine Heimat fort. Beckers der Harmonie mit der Natur. Deshalb Romane sind autobiografisch geprägt, war für mich die Emigration in gewisser spielen in Polen genauso wie in Bremen. Weise auch eine Vertreibung aus dem Die Leitthemen sind Emigration und Paradies, aus einem unschuldigen Zu- Rückkehr in die Heimat. Becker ist einer stand der Kindheit, obwohl damals in der bekanntesten polnischen Schriftsteller Polen der Sozialismus herrschte. derzeit. In diesem Jahr wurde er mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis der Robert- Die Politische Meinung: Seit 25 Jahren Bosch-Stiftung ausgezeichnet, mit dem in nennen Sie nun an der Ihr Deutsch schreibende Autoren geehrt wer- Zuhause. Fühlen Sie, dass Sie in Deutschland den, deren Muttersprache eine andere ist. angekommen sind? Wir haben mit Becker über Heimat, politi- sche Literatur, die deutsch-polnischen Be- Artur Becker: Längst habe ich aufgehört, ziehungen und das Europa des einund- die Deutschen als Deutsche zu betrach- zwanzigsten Jahrhunderts gesprochen. ten, sondern sehe sie als meine Lands- leute wie die Polen. Das bedeutet, dass Die Politische Meinung: Herr Becker, Ihr ich hier angekommen bin. Da ich jedoch erstes Buch, das 1997 erschien, hatte den Titel Schriftsteller bin und mich lange mit dem „Der Dadajsee“, und auch in Ihrem aktuellen Thema Vergänglichkeit beschäftigt habe, Roman „Wodka und Messer“ spielt der Da- würde ich sagen, dass ich heimatlos bin. dajsee eine tragende Rolle, denn Masuren ist Deutschland, Polen, Frankreich, England Teil Ihrer polnischen Heimat. Was bedeutet – das ist für mich das Europa, das ich diese Heimat für Sie? liebe. Es ist ein großes Zuhause. Die Emi- gration und der Verlust der Heimat ha- Artur Becker: Heimat ist letztendlich der ben dazu geführt, dass ich angefangen Ort der Kindheit, wo man geboren wur- habe, mich mit einer sehr alten Frage zu de, wo man auch gleichzeitig den Tod er- beschäftigen: „Wo ist eigentlich unsere lebt hat, wo diese beiden existenziellsten Heimat?“ Ich habe erkannt, dass meine Punkte des Lebens stattgefunden haben. Heimat so viele Symbole für mich bereit- All das habe ich nur an meinem Geburts- hält, dass ich sehr wohl aus dieser Sym- ort Bartoszyce erlebt. Man wird an einem bolik mir so etwas wie eine ewige Heimat Ort geboren, in einer Stadt oder auf dem bauen kann. Deshalb sage ich auch, dass Dorf. Dort ist man entstanden, und wenn ich ohne Heimat bin. Wie soll man denn man dort noch stirbt, kehrt man sozusa- auf dieser Erde, wo alles geboren wird

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Ann-Christin Müller/Artur Becker

und sich dem Tod nähert und verschwin- deutendes Stück Geschichte. Aber das Jahr 89 det, wie soll man hier eine Heimat fin- hat auch Sie geprägt. Inwiefern? den? Artur Becker: Das Jahr war für mich Die Politische Meinung: Sie kamen als wichtig. Es war schon klar, dass der Jugendlicher kurz vor Ihrem siebzehnten Ostblock zusammenbrechen wird. Als Geburtstag nach Deutschland, waren Ihren ich das erste Mal die Möglichkeit bekam, Eltern gefolgt, die Polen aus politischen in einer Bremer Literaturzeitschrift auf Gründen verlassen mussten. Wie haben Sie Deutsch zu publizieren, da habe ich mir diese Reise empfunden? die Frage gestellt: Was will ich werden? Ein bilingualer Autor, oder will ich nur Artur Becker: Ich kam nach Deutschland auf Polnisch oder nur auf Deutsch schrei- wie im Urlaub. Mir waren die Probleme, ben? Diese drei Fragen tauchten auf. Ich die ich heute bespreche, damals gar nicht erzähle das jetzt sehr bewusst, aber so be- bewusst. Ich war mir jedoch sehr be- wusst war mir das gar nicht. Es geschah wusst, dass ich aus einem anderen politi- im Affekt im Jahr 1989. Damals habe ich, schen Lager kam, und habe die Erweite- ohne es zu wissen, mich zu meiner Kar- rung meiner Freiheit sehr genossen. 1985 riere als deutscher Autor entschieden. galt Deutschland noch als das Paradies. Erst viele Jahre später wurden mir die Im Westen, so glaubte man, bekäme man Konsequenzen bewusst. einen Job und könne neu anfangen. Diese Aufbruchstimmung war da. Das war da- Die Politische Meinung: Ihre Werke spielen mals eine historische Zeit, und die habe in Gegenwart und Vergangenheit, werden ich sehr intensiv erlebt. von Deutschen wie Polen gleichermaßen rezi- piert. Auch die Politik interessiert sich für Die Politische Meinung: In Ihrer bisherigen Ihre Themen. Wie viel politische Komponente Schriftsteller-Karriere haben Sie bereits elf darf oder soll ein Roman haben, um eine be- Bücher geschrieben. Alle haben einen Heimat- stimmte Wirkung zu erzielen? bezug. Welche Pläne haben Sie für Ihre kom- menden Werke? Artur Becker: Wenn man aus Osteuropa kommt und über eine Zeit wie 1989 Artur Becker: Nächstes Jahr will ich auch schreibt, kommt man um Politik gar nicht einen längeren Text schreiben nur über die herum. Es ist meine Pflicht, auch über po- Immigration, und wie man in Deutschland litische und geschichtliche Themen zu lebt. Mich erwartet eine lange Reise von schreiben. Sie bestimmen meine Figuren, zwei Jahren, wo ich mich dieser Menschen und ich erzähle ihre Schicksale. Diese po- annehmen und ihre Geschichten erzählen litische Komponente ist immer da, und werde. Es soll ein großer Roman wer- ich möchte sie auch haben, weil ich den, der im Hier und Jetzt spielt und die möchte, dass meine Figuren eine Haltung Nuancen des Emigrantendaseins und den haben. Man kann sich aber nicht vorneh- modernen Mensch des einundzwanzigs- men, einen Roman zu schreiben, der eine ten Jahrhunderts in Deutschland be- bestimmte politische Wirkung haben soll. schreibt. Dabei wird die Grundsäule wie- der das Thema sein, das ich kenne: eine pol- Die Politische Meinung: In den Medien nische Familie. sind Sie als Schriftsteller ein gefragter Gast, wenn es um Europathemen geht, nicht nur Die Politische Meinung: Zwanzig Jahre ist zur Zeit der Europawahl. Wie sehen Sie die der Mauerfall nun schon her. Es ist ein be- Zukunft der Europäischen Union?

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Heimat zwischen Polen und Deutschland

Artur Becker: Wir haben in Europa einen viele Probleme, die auf einem Brachfeld großen Zentralapparat aufgebaut, und ich liegen. Dennoch finde ich, dass Deutsch- glaube, wir verlieren so langsam die Kon- land mehr Verantwortung in der Welt trolle. Die Bürger merken das, und deshalb übernehmen müsste. Im Sinne der Zu- gibt es diese Radikalisierung, weil sie sammenarbeit mit der NATO und Ame- Brüssel nicht mehr vertrauen, und deshalb rika müssen mehr Soldaten nach Afgha- versuchen sie, Gegner dieses Apparates zu nistan geschickt werden. Die Deutschen wählen, und neue Lager sind entstanden. können sich nicht mehr verstecken. Das Vielleicht müssen wir das Jahr 89 in Eu- ist vorbei. Sie haben bewiesen, dass sie ein ropa erleben. Diese Transformation er- verantwortungsvolles Land geworden wartet Westeuropa, weil sich das System sind, und können sehr wohl auch die mo- überholt hat. Große politische Systeme ralische Verantwortung übernehmen. scheitern dann, wenn der Staat nicht mehr Herr der Lage ist, und das ist der Fall in Die Politische Meinung: Die deutsch-polni- Europa, wenn man versucht, alles bis ins schen Verhältnisse der vergangenen Monate kleinste Detail durchzuregulieren. waren vor allem durch die Benennung Erika Steinbachs für einen Stiftungsposten des Ber- Die Politische Meinung: Und welche Rolle liner Dokumentationszentrums über Vertrei- wird Deutschland in der Zukunft spielen? bung stark gespannt.

Artur Becker: Deutschland ist ein mächti- Artur Becker: Die Polen haben große Er- ges Land. Was Wirtschaft und Kultur an- wartungen an Deutschland, jedes Wort geht, ist es eines der stärksten treibenden wird in Polen auf die Goldwaage gelegt. Kräfte Europas. Deutschland ist wie im- Deshalb werden Personalien wie die von mer, und das ist die Rolle Deutschlands Erika Steinbach genau betrachtet, was seit Hunderten von Jahren, in einer sehr mich in diesem Fall gewundert hat, denn schwierigen Lage, weil es eine Mittler- Steinbach ist nicht die Repräsentantin des rolle spielt. Die Erwartungen an Deutsch- deutschen Staates. Aber weil die Erwar- land sind immer sehr hoch, und Deutsch- tungen an Deutschland so groß sind, wird land ist zum Beispiel 1870/71, 1914 und in Polen alles sehr genau beobachtet. Das 1939 an diesen Erwartungen gescheitert. ist den Deutschen manchmal nicht klar. Deutschland spielt eine sehr wichtige Das Gespräch führte Ann-Christin Müller Rolle in Europa und hat doch zu Hause so für die Politische Meinung

Artur Becker wurde am 7. Mai 1968 in Bartoszyce in Masuren als Sohn polnisch-deutscher Eltern geboren. 1985 verließ er Polen, folgte seinen Eltern nach Deutschland und lebt seit- her in Verden an der Aller bei Bremen. In Bremen studierte er Deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte Osteuropas. Becker ist Schriftsteller, Lyriker und Essayist. Seit 1989 schreibt er ausschließlich in deutscher Sprache. Für seine Werke er- hielt Artur Becker unter anderem den Preis des neuen Buches in Niedersachsen und Bre- men (1997) und den Adelbert-von-Chamisso-Preis (2009). Zu seinen Werken zählen „Der Dadajsee“ (Roman 1997), „Der Gesang aus dem Zauber- bottich“ (Gedichte 1998), „Jesus und Marx von der ESSO-Tankstelle“ (Gedichte 1998), „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“ (Roman 2001), „Kino Muza“ (Roman 2003), „Die Zeit der Stinte“ (Novelle 2006), „Das Herz von Chopin“ (Roman 2006), „Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken“ (Roman 2008) und „Ein Kiosk mit elf Millionen Nächten“ (Gedichte 2009).

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