UIP Ray-Charles-Darsteller Foxx in „Ray“: Mitreißende Liebe zu Schwulst und Kitsch

KINO Ruhmes-Arien für große Männer Hollywood verdient längst mehr Geld auf dem Exportmarkt als in den US-Kinos, es lockt fleißig Stars und Regisseure aus fremden Ländern und lässt dort häufig auch noch drehen – das finden manche Kritiker sehr unamerikanisch. Sie werden nun durch schwelgerische Heldenbiografien besänftigt.

st das noch Mut oder schon Schwach- Klavier in die Tasten und sagt den erlö- schaffte, ein großer Amerikaner zu wer- sinn? Ungerührt setzt sich der schwarze senden Satz: „Ich verrate euch den Grund, den: indem er aus Countrysongs Gassen- IMann ans Klavier, obwohl ihm die rot- warum ich Countrysongs liebe: Sie er- hauer machte und aus Gospelliedern nackigen, weißhäutigen Countrymusiker zählen Geschichten.“ Brunftgesänge – und indem er mit seiner bereits in sehr deutlichen Worten gesagt Der in dieser Woche anlaufende Hol- Stimme statt zum lieben Gott zum Götzen haben, dass er auf der Stelle verschwinden lywood-Film „Ray“ schildert in hem- Sex betete. solle. Die Luft scheint gleich zu explodie- mungslos schwärmerischer, mitreißender Die Geschichte, die „Ray“ erzählt, ist ren in dieser Szene, die Ende der vierziger Weise die Lebensgeschichte des Musikers eine von schlimmen Leiden und Erlösung, Jahre in einer Kneipe im rassistischen Sü- Ray Charles, der in ärmsten Verhältnissen vom furchtbaren Moment, in dem sich der den der USA spielt – und dann greift der aufwuchs, als Siebenjähriger erblindete, als kleine Ray die Mitschuld am Tod seines sein Leben riskierende schwarze Kerl am Teenager Vollwaise wurde und es dennoch jüngeren Bruders auflädt, bis zu der bru-

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deren Kultur: Ganz Ähnliches wird nun den Welteroberern aus Hollywood vorge- worfen. „Das Publikum, für das unsere Filme konzipiert und gemacht werden, hat sich in den vergangenen Jahren von unseren 50 Bundesstaaten auf den Weltmarkt verla- gert“, schreibt Lynn Hirschberg im „New York Times Magazine“ – und behauptet: „Wer heute noch im Kino die Stimme Amerikas hören will, muss sich Doku- mentarfilme ansehen.“ Während das US-Kino daheim mit jähr- lichen Einnahmen von über neun Millio- nen Dollar auf hohem Niveau stagniert, verursachte es international zuletzt Um- satzzuwächse von bis zu 30 Prozent pro

BUENA VISTA Jahr. Noch in den achtziger Jahren galt die Howard-Hughes-Darsteller DiCaprio, Partnerin Blanchett in „Aviator“: Verwegener Eroberer Faustregel: Über zwei Drittel des gesamten Einspielergebnisses bringen US-Produk- tionen auf dem heimischen Markt (USA und Kanada) ein, den Rest in der übrigen Welt. Bald wird sich dieses Verhältnis nahe- zu umgekehrt haben. Die veränderte Marktlage schafft neue Produktionsbedingungen: „Als ich Mitte der achtziger Jahre den Thriller ,Eine verhängnisvolle Affäre‘ produzierte, habe ich keinen Gedanken an den internatio- nalen Markt verschwendet“, berichtet etwa Sherry Lansing, langjährige Studio- chefin bei Paramount. „Damals dachten wir: Hauptsache, der Film wird in den USA ein Erfolg, dann läuft er auch im Rest der Welt.“ Heute geht kein Hollywood-Studio noch das Risiko ein, für eine Großproduk- tion grünes Licht zu geben, ohne deren kommerzielles Weltmarktpotential ermit- telt zu haben – zumal ein Film inklusive der Ausgaben für den Kinostart (wie Wer- bung und Anfertigung der Kopien) im

20TH CENTURY FOX 20TH CENTURY Schnitt heute um 100 Millionen Dollar kos- Cole-Porter-Darsteller Kline in „De-Lovely“: Beschwingte Huldigung an ein Musikgenie tet, vier- bis fünfmal mehr als Mitte der Achtziger. talen Ausnüchterungskur, die er sich nach „Wenn die Franzosen Filme für Frank- So zögern die Studios immer öfter, Stof- 17 Jahren Heroinsucht auferlegte, ohne je reich machen und die Amerikaner Filme fe aufzugreifen, die erfahrungsgemäß vor wieder rückfällig zu werden. Der Schau- für die Welt – wer macht dann noch Filme allem für das nordamerikanische Publikum spieler Jamie Foxx spielt Ray Charles mit für Amerika?“, fragte jüngst der Autor Da- von Interesse sind. Bestimmte Kriegs- und so viel Liebe, dass jedes Armrudern und vid Kipen besorgt in der Zeitschrift „At- Sportfilme etwa und Western gelten seit je jeder Schlotterschritt beim Zuschauen lantic Monthly“. als schwer exportierbar – was sich jüngst Spaß machen; und der Regisseur Taylor Und im Magazin der „New York Times“ wieder bestätigt hat. Einer der größten Hackford zeigt eine Liebe zum Schwulst, lässt sich ein Studioboss zitieren: „Unsere Hollywood-Flops des vergangenen Jahres die allein durch die Tatsache entschuldigt Filme reflektieren nicht mehr unsere eige- war der Western „The Alamo“, der in wird, dass auch der Musiker Ray Charles ne Kultur.“ Sieht ganz so aus, als ginge in Deutschland nie ins Kino kam. oft grandiosen Kitsch produzierte. Hollywood, der Weltzentrale des Kinos, Der Film über die heroische Schlacht In den USA war „Ray“ ein beachtlicher die Angst vor der Überfremdung um. texanischer Freiheitskämpfer gegen die Publikumserfolg – und wurde als furiose Dabei geht es keineswegs in allen Film- mexikanische Armee im Jahr 1836 ver- Huldigung an den legendären, im Juni 2004 produktionen so globalisiert-internatio- schlang angeblich 107 Millionen Dollar an gestorbenen amerikanischen Sänger, den nalistisch zu wie jüngst in Oliver Stones Produktionskosten und spielte nur 22 Mil- sie im ganzen Land „Brother Ray“ nann- „Alexander“-Spektakel: Der Held wur- lionen in Nordamerika ein und 3,4 Millio- ten, gefeiert. de gespielt vom irischen Schauspieler nen im Rest der Welt. Auch Sony Pictures Zugleich widerlegt der Erfolg des Films Colin Farrell, das ganze Werk mit engli- verbuchte mit dem Western „The Missing“ jene Kritiker, die neuerdings herum- schem, französischem und deutschem trotz Stars wie Tommy Lee Jones und Cate mäkeln, dass Hollywood viel zu globali- Geld auf die Leinwand gestemmt. Und ein Blanchett bei Produktionskosten von 65 siert und unamerikanisch auftrete. bisschen schien es im Film so, als ent- Millionen und weltweit 38 Millionen Dollar Das amerikanische Kino sei dabei, so fremde sich Alexander der Große mit je- Einnahmen eine Schlappe. warnen einige Kolumnisten, seine Identität dem Land, das er seinem wachsenden Bezeichnenderweise war ein anderer, glo- zu verlieren. Reich einverleibte, von seiner Heimat und baler agierender weitaus er-

der spiegel 1/2005 135 Kultur „Ein Kerl, der nie aufgibt“ Der Schauspieler Jamie Foxx, 37, der für seine Darstellung in dem Film „Ray“ als Oscar-Favorit gilt, über den amerikanischen Helden Ray Charles, dessen Drogensucht und wildes Liebesleben

SPIEGEL: Mr. Foxx, Ihr Auftritt in „Ray“, zum Telefon gegriffen hat. Ich habe zahl- Vorwürfe auf ihn niederprasseln oder wo Sie die im Juni 2004 verstorbene lose Stunden vor dem Spiegel gestanden er Verantwortung für etwas überneh- Musikerlegende Ray Charles verkörpern, und geübt. In diesem Fall war es besonders men soll. Ich habe solche Fundstücke be- fällt in eine Zeit, in der Hollywood schwer, denn jeder kennt Ray Charles. Da nutzt wie DNS, um jeden Aspekt seines eine ganze Reihe von Biografien über darf man nicht danebenliegen. Lebens zu rekonstruieren. amerikanische Künstler und Erneuerer SPIEGEL: Wie viel Zeit haben Sie mit Ray SPIEGEL: War Ray Charles bereit, mit Ih- herausbringt. Ist es wahr, dass kei- Charles selbst verbracht? nen offen über sich zu reden? nes der großen Studios „Ray“ finanzie- Foxx: Nur wenige Tage. Er war schon Foxx: Nur wenn ich ihn direkt mit Fak- ren wollte? nicht mehr ganz fit. Wenn ich mir Eigen- ten konfrontieren konnte. Aber dann Foxx: Ja, das gesamte Budget in Höhe heiten von ihm abgeschaut hätte, dann war es oft leicht, mehr zu erfahren, und von 40 Millionen Dollar hat ein einziger hätte ich den 73-jährigen Ray Charles ein- er hat erzählt, welche Gerüchte über Mann zur Verfügung gestellt, Philip An- gefangen. Aber ich brauchte den 18-jähri- ihn stimmten und welche nicht. Doch schutz aus Colorado, ein Ray-Charles- gen. Darum habe ich mir lieber alte Film- wenn ich zum Beispiel fragte: „Ray, hat- Fan. Er hat mit dem Regisseur Tay- test du viele Frauen?“, erwiderte er: lor Hackford ausgehandelt, wie der „Ach, nein.“ Film seiner Meinung nach aussehen SPIEGEL: Immerhin soll er zwölf Kinder sollte. von sieben verschiedenen Frauen ge- SPIEGEL: Philip Anschutz ist weiß, mil- habt haben. liardenschwer, streng religiös und kon- Foxx: Er war eben ein ganz besonderer servativ. Hat er Ihnen vorgeschrieben, Mann, einen wie ihn sieht die Welt nicht was Sie in einem Film über einen he- wieder. Allein seine Beziehung zu seiner roinsüchtigen Casanova zeigen dürfen? Frau Della Bea Robinson wäre einen Foxx: Ja, das hat er. Aber diese Dinge Spielfilm wert. Sie war sehr stark und hat er nicht mit mir, sondern mit dem blieb bei ihm, obwohl sie von all den Regisseur verhandelt. Ich habe nur ge- anderen Frauen wusste. In vielem war sagt: Ich mache, was ihr wollt. Lasst Ray Charles sehr extrem – so hell sein mich wissen, wann ihr euch einig seid. Yin leuchtete, so dunkel war sein Yang. SPIEGEL: Sie haben sich auch mit Ray Aber dafür war er ein musikalisches Charles selbst noch getroffen. Hat der Genie: Er hat die Musik verändert. Ihnen Vorschriften gemacht? SPIEGEL: Entdeckten Sie Eigenschaften Foxx: Nein. Als wir uns kennen lernten, an ihm, die Ihnen zuwider waren? wusste er, dass er nicht mehr allzu lan- Foxx: Ich habe alles an ihm gemocht ge zu leben hat. Er hat mich auf die oder Verständnis dafür gefunden. Das Probe gestellt, meine Hände befühlt gilt auch für seine Heroinsucht. Zu sei- und gesagt: „Aha, kräftige Finger.“ ner Zeit galten Drogen als Mittel der Dann saßen wir am Klavier, und er Inspiration. Einige Musiker haben da- sagte: „Wenn du den Blues spielen mals zu Heroin gegriffen, um dann spie- kannst, dann kannst du alles.“ Wir len zu können – zum Beispiel Charlie

spielten den Blues, und er war zufrie- / REUTERS GALBRAITH ROBERT Parker. Was mich wirklich beeindruckt den. Aber dann spielte er ein Stück Entertainer Foxx, Serena Williams: „Du hast es“ hat, war die Entschlossenheit, mit der Thelonious Monk, und das war höl- Ray Charles nach fast zwanzig Jahren lisch schwer. Ich brauchte eine Weile, dokumente von ihm angeschaut und mit gegen die Sucht angekämpft hat. Er hat mich hineinzufinden. Als ich es raushat- Leuten gesprochen, die ihn schon als jun- sie besiegt, was nur wenigen aus seiner te, rief er: „Du hast es, du bist ein Kerl, gen Mann kannten. Generation gelungen ist. der nicht aufgibt.“ Das war für mich wie SPIEGEL: Sie haben ihn also aus Bruch- SPIEGEL: Neben solchen Tugenden wie ein Ritterschlag – ohne den hätte ich Ray stücken zusammengesetzt? Rays Tapferkeit und Härte mit sich selbst Charles niemals spielen können. Foxx: Ja, wie ein Archäologe. Quincy zeigt der Film auch Schwächen wie seine SPIEGEL: Für Ihre Rolle in „Ray“ gelten Jones hat mir ein Tonband gegeben. Da Egomanie oder die Fixierung auf Geld. Sie in Hollywood als Oscar-Favorit. Wie hört man zum Beispiel eine Interviewerin Foxx: Er ist in großer Armut aufgewach- lange hat es gedauert, bis Sie die Mimik sagen: „Ray, lassen Sie uns über Drogen sen. Ich bin selbst Musiker und verstehe und Körpersprache von Ray Charles so sprechen.“ Und Ray Charles, ein notori- deshalb, warum er manchmal hart sein beherrschten? scher Heroin-Junkie, fängt mit hoher konnte. Denn außer bei der Mafia gibt es Foxx: Sicher ein Jahr. Ich wollte mehr sein Stimme an zu stammeln und auszuwei- nirgendwo so viele Halsabschneider wie als nur ein Ray-Charles-Imitator, ihn in all chen. Das haben wir im Film benutzt. Da im Musikgeschäft. Er wusste, dass er sei- seinen Nuancen zeigen: wie er gegangen windet er sich jedes Mal, wenn er von ner Kunst nur dann treu bleiben könnte, ist, wie er ein Messer gewetzt hat oder einer Frau zur Rede gestellt wird, wenn wenn er stets über genügend Geld ver-

136 der spiegel 1/2005 UIP Schauspieler Foxx, Mitspielerinnen in „Ray“*: „Er hätte sein Geld jederzeit eingetauscht gegen einen großartigen Song oder eine tolle Frau“ fügte. Wirklich besessen war er nur von folgreicher: Der von Tom Cruise gespielte sese feiert in glamourösen Bildern den ty- der Musik. Das Geld hätte er jederzeit Bürgerkriegsveteran in „The Last Samurai“ pisch amerikanischen, manchmal an Wahn eingetauscht für einen großartigen Song wanderte – von seinem eigenen Land desil- grenzenden Unternehmergeist seines Hel- oder für eine Frau, die singen kann. lusioniert – nach Japan aus, tauschte den den, der mit der ersten transkontinentalen SPIEGEL: Anders als im Film, wo sich Ray Revolver gegen das Schwert und passte sich Fluglinie die Welt erobern wollte. Charles für das Ende der Rassentrennung der fremden Kultur an. Über 450 Millionen Der Film, in dem Cate Blanchett, Gwen in den USA einsetzt, hat der echte Ray Dollar hat das Werk eingespielt, drei viertel Stefani und Jude Law die Hollywood- Charles als einer von wenigen schwarzen davon außerhalb Nordamerikas. Größen Katharine Hepburn, Jean Harlow Künstlern zu Apartheid-Zeiten in Süd- „Die amerikanische Filmlandschaft und Errol Flynn verkörpern, träumt sich in afrika gespielt; auch bei Ronald Reagans gleicht heute einer heruntergewirtschafte- die Glanzzeit des US-amerikanischen Ki- Amtseinführung hat er gesungen. ten Stadt, die von lukrativen Märkten um- nos zurück: In den dreißiger und vierziger Foxx: Ja, er war kein Aktivist. Das brin- geben ist wie von blühenden Vororten, Jahren regierten Hollywoods Produzenten gen die Leute oft durcheinander. Nur weil aber im Kern leer und ausgebrannt ist“, noch mit unumschränkter Macht und in jemand Sänger ist oder Schauspieler, be- schreibt der Hollywood-Kritiker Kipen verschwenderischem Luxus. deutet das nicht, dass er immerzu die im „Atlantic Monthly“. Die Traumfabrik Auch andere aktuelle Renommierpro- Welt retten will. Aber unterschätzen Sie verdiene inzwischen mehr Geld damit, jekte aus Hollywood beschwören die Iden- Ray Charles nicht. Er ging in die Höhle „Schrott in die Welt zu verkaufen als erst- tität und die kulturellen Errungenschaften des Löwen: nach Südafrika oder zu den klassige Ware im eigenen Land“. der amerikanischen Nation: Republikanern. Und er hat dort sicher Zum Trost für alle Bedenkenträger • Ähnlich wie „Ray“ feiert auch Irwin vielen Leuten die Augen geöffnet. Ras- kommt nun eine ganze Reihe von Hol- Winklers „De-Lovely“ (deutscher Start: senkonflikte sind widerlich. Doch Ray lywood-Filmen in die Kinos, die sich ame- 20. Januar) ein amerikanisches Musik- Charles lachte oft darüber und spielte rikanischen Helden widmen. genie. Kevin Kline spielt in Irwin Wink- Musik für jeden, der sie hören wollte. Martin Scorsese beschwört in seinem lers musikbeschwingtem Film den Kom- SPIEGEL: Hat ihm seine Blindheit Ihrer Drei-Stunden-Epos „Aviator“ (deutscher ponisten und Songschreiber Cole Porter. Meinung nach in gewisser Weise auch Start: 20. Januar) das schillernde Leben • Gleich zwei Filme, „Capote“ und größere Freiheiten verschafft? des Multimillionärs Howard Hughes, eines „Every Word Is True“, in denen unter Foxx: Ich glaube, er hat Dinge gefühlt, die mythischen Exzentrikers des 20. Jahrhun- anderem Philip Seymour Hoffman, wir leicht übersehen. Blind zu sein hat derts, der sich mit großer Leidenschaft der Sandra Bullock und Gwyneth Paltrow ihm geholfen, sich stärker auf die Musik Konstruktion von Flugzeugen, dem Film- mitspielen, wollen dem Literatur- und zu konzentrieren. Bei den Dreharbeiten geschäft und dem Design der Büstenhalter Gesellschaftslöwen Truman Capote habe ich gelernt, wie hart es ist, nicht se- von Jane Russell widmete. Leonardo Di- („Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich hen zu können. 6 Wochen lang trug ich 14 Caprio spielt den legendären, 1976 im Al- bin ein Genie“) Leinwandenkmäler Stunden am Tag Kontaktlinsen, die mich ter von 70 Jahren verstorbenen Tycoon, setzen. vollkommen blind machten. Es ist unge- zu dessen Imperium zeitweise unter ande- • Um Sex in jeder Spielart und nahezu heuerlich, wie Ray Charles seine Situa- rem die Fluggesellschaft TWA und das nichts anderes geht es in Bill Condons tion gemeistert hat. Er konnte Braille- Filmstudio RKO gehörten. „Kinsey“, einem Porträt des großen Schrift lesen, aber er hat sich stets gewei- „Aviator“ durchmisst im Eilschritt die amerikanischen Aufklärers Alfred Kin- gert, einen Blindenhund oder einen Stock Jahrzehnte und klammert weltgeschicht- sey, in dem Liam Neeson den Titelhel- zu benutzen. Trotzdem fand er immer sei- liche Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg den verkörpert: Der Film erzählt vom nen Weg. Interview: Marco Evers dabei fast komplett aus. Der Regisseur Scor- Skandal, den die Forschungen Kinseys in Amerikas puritanischer Gesellschaft * Renee Wilson, Regina King, Kimberly Ardison. der späten vierziger Jahre verursachten,

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von einer lebenslangen Obsession und deren bizarren Begleiterscheinungen, etwa von einigermaßen wilden Aus- schweifungen unter Kinseys Mitarbei- tern. „Kinsey“ startet am 3. März in Deutschland. Natürlich würden all jene konservativen Kräfte in den USA, die im traditionell liberalen und weltoffenen Hollywood oh- nehin einen Hort der Vaterlandsver- räter sehen, lieber noch strahlendere High- lights der eigenen Historie und am aller- liebsten die politischen Führer der Nation auf der Leinwand bewundern – doch die reale Kriegspolitik George W. Bushs hat in weiten Teilen der Welt den Widerwillen des Kinopublikums wachsen lassen, sich mit heldenhaft verklärten Amerikanern zu identifizieren. Wenn sich US-Regisseure Figuren aus der politischen Geschichte als Filmstoff vornehmen, dann sind es deshalb derzeit eher europäische Helden: So will die Re- gisseurin Sofia Coppola („Lost in Trans- lation“) bald in Frankreich einen Film über Marie-Antoinette in Angriff nehmen,

auch über Napoleon Bonaparte sind BROS. WARNER gleich mehrere Hollywood-Produktionen Darsteller Cruise in „The Last Samurai“: Global orientierter Revolverheld in Vorbereitung. Doch verdankte sich die Stärke des ame- „Heute ist ein Kassenerfolg in den USA schieben, können ungewöhnliche Filme rikanischen Kinos nicht stets seinem un- überhaupt keine Garantie mehr für einen entstehen“, sagt Greengrass, „weil die gebrochenen Selbstbewusstsein? Eben der Erfolg im Rest der Welt – und das finde eingetretenen Pfade unbenutzbar wer- Zuversicht, immer wieder vom eigenen Le- ich großartig“, sagt beispielsweise der den. Wir befinden uns in einer ähnlichen ben und den nationalen Werten und Tu- Brite Paul Greengrass, der zuletzt den Umbruchphase wie Ende der sechziger genden erzählen zu können und dafür auch US-Thriller „Die Verschwörung“ Jahre, als sich Hollywood von Grund weltweit auf Interesse zu stoßen? Immer- inszenierte, mit Einnahmen von bislang auf verändert hat und auf einmal Regis- hin gibt es ein paar für Hollywood arbei- knapp 300 Millionen Dollar für viele seure, die aus der Gegenkultur kamen, tende Regisseure, die in der derzeitigen Fachleute ein Überraschungshit des ab- das Ruder ergriffen.“ Verunsicherung einen Aufbruch zu neuer gelaufenen Kinojahres. „Wenn sich die Oft kommen sie nicht nur aus der Ge- Vielfalt erblicken. tektonischen Platten des Weltkinos ver- genkultur, sondern – wie Greengrass – aus anderen Ländern und Kulturen. Noch nie in seiner Geschichte hat Hollywood so vie- len jungen Regisseuren aus anderen Län- dern, die zum Teil erst ein oder zwei Filme gedreht hatten, eine Chance gegeben: • So führt der junge deutsche Regisseur Robert Schwentke, dem mit dem Thril- ler „Tattoo“ ein Achtungserfolg gelang, gerade bei einer großen Hollywood-Pro- duktion Regie, dem Jodie-Foster-Thriller „Flightplan“. • Die indischstämmige Regisseurin Gurin- der Chadha, 44, bekannt geworden durch den britischen Film „Kick It Like Beckham“, hat unter Federführung des US-Studios Miramax gerade das Musical „Bride and Prejudice“ gedreht und soll demnächst eine Kinoadaption der le- gendären US-Fernsehserie „Bezaubern- de Jeannie“ drehen. • Der erfolgreichste Horrorfilm des Jahres 2004 war „The Grudge“, das US-Debüt des japanischen Regisseurs Takashi Shimizu. Die amerikanischen Finanziers gestatte- ten ihm sogar, diese Neufassung seines Werkes „Ju-on“ am Schauplatz des Ori-

UIP ginals spielen zu lassen: in Tokio. Noch vor „Die Bourne Verschwörung“-Stars , Franka Potente: Auswärtige Affären wenigen Jahren bestanden die Studios

138 der spiegel 1/2005 Kultur grundsätzlich darauf, dass US-Remakes auch in den Staaten spielen sollten. Doch nun ist der Schauplatz USA of- fenbar nicht mehr so gefragt. Viele von Hollywoods erfolgreichsten Filmen des vergangenen Jahres schicken ihre Hel- den auf weite Reisen und verwickeln sie in auswärtige Affären – sei es in Europa („Die Bourne Verschwörung“, „Ocean’s Twelve“) oder in Asien („Lost in Transla- tion“). Von allen Städten der Welt erfreut sich derzeit mal wieder Paris der beson- deren Liebe filmender US-Amerikaner: Dort wurden in den vergangenen Jah- ren etliche amerikanische Kinoproduktio- nen gedreht.

„Die Zuschauer sind es leid, immer die / CORBIS SYGMA WILLIAM CAMPBELL gleichen Straßen in New York oder Los Elendsviertel in Nigerias Hafenstadt Lagos (1984): Rilkes Briefe zwischen Müllhaufen Angeles auf der Leinwand zu sehen“, glaubt Frank Marshall, einer der Produ- le Roman des in den USA lebenden Nige- zenten von „Die Bourne Verschwörung“. LITERATUR rianers Chris Abani, 37*. Abwechselnd „Amerikaner sind von Europa fasziniert. schildert er Elvis Okes wenig beschauliche Und weil sie bedauerlicherweise selbst Der Elvis von Kindheit in der Provinz und seine noch so wenig reisen, seit dem 11. September rauere Jugend im Slum Maroko (der auch noch weniger als ohnehin schon, gehen Makoko genannt wird). Die „New York sie ins Kino, um zu erfahren, wie es dort Maroko Times“ nannte das Buch „brillant“, die aussieht.“ „Washington Post“ fand es „energiegela- Möglicherweise hat das derart globali- Der in den USA lebende den und bewegend“. sierte Hollywood-Kino auch Anteil da- In dem Dorf Afikpo, mehr als tausend ran, dass amerikanische Zuschauer sich Nigerianer Chris Abani erzählt in Kilometer von Lagos entfernt, wohnt der stärker als früher für andere Filmkulturen seinem Roman „GraceLand“ kleine Elvis. Es ist das Jahr 1972, und er interessieren: Noch nie liefen fremdspra- grausam und vital vom Erwachsen- lebt in einer Welt, in der afrikanische Tra- chige Filme, die in den USA grundsätz- werden im Slum von Lagos. dition und westliche Kultur sich konfliktlos lich in Originalfassungen gezeigt und vermengen. So wird der Fünfjährige beim nicht synchronisiert werden, so erfolgreich as für ein schöner Name: „Das Igbo-Ritual zum Mann, indem er scheinbar wie im vergangenen Jahr – Zhang Yimous Venedig Afrikas“ wird Lagos ge- ein Küken tötet (das stellvertretend für untertitelter Kampfkunstfilm „Hero“ Wnannt, aber das ist auch fast das einen Adler herhalten muss), während in schaffte am Startwochenende sogar den Einzige, was schön ist an dieser Mega- der Küche die Musik von Elvis Presley Sprung auf Platz eins der US-amerikani- lopolis. Klar, es gibt gepflegte Villen- und gespielt wird. Welt und Familie scheinen schen Kinohitlisten. Botschaftsviertel und Strände für reiche intakt: Elvis’ Vater Sunday Oke hat eine Am gesamten Einspielergebnis haben Ausländer. Aber die meisten der 13 Mil- Festanstellung bei der Schulbehörde, seine die fremdsprachigen Filme allerdings nach lionen Einwohner leben in Slums aus Well- Mutter ist Lehrerin. wie vor nur einen geringen Anteil – und blechhütten oder Holzhäusern, die mit Das aber ist nur die Oberfläche: In den hat auch Mel Gibsons umstrittene, staksigen Beinen im Sumpf stehen. Hier Wahrheit geht es grausam zu. Elvis’ Onkel sagenhaft erfolgreiche Jesus-Schlachtorgie geht niemand über elegant gebogene ve- vergewaltigt seine minderjährige Tochter „Die Passion Christi“ hochgetrieben: Die nezianische Steinbrücken, hier bestehen und später auch Elvis, ein Cousin wird von Zuschauer mussten von Anfang bis Ende die Bürgersteige aus schmalen Holzplan- der eigenen Familie ermordet. Dann stirbt Dialoge in aramäischer und lateinischer ken, die über Bäche, Rinnsale, Schlamm- auch noch Elvis’ Mutter an Brustkrebs. Sprache hören und dazu die Übersetzun- lachen gelegt sind. Doch plötzlich, als für kurze Zeit eine gen lesen. Und es stinkt nach „Müllhaufen, unge- Zivilregierung an der Macht ist und freie Trotzdem gibt es wohl tatsächlich einen spülten Toiletten und schalen Leibern“ – Wahlen ausgerufen werden, scheint der neuen Respekt vor fremden Kulturen im so jedenfalls nimmt Elvis Oke Familie Oke die Welt offen amerikanischen Filmgeschäft – und der es an diesem Morgen wahr. zu stehen. Sunday, ermutigt nimmt manchmal auch ulkige Züge an: Es ist sein 16. Geburtstag, von Freunden und Dorfbe- „Auf einem globalen Markt wird es immer „und wie all die anderen zu- wohnern, kündigt seinen si- schwieriger, für unsere Filme Bösewichter vor würde auch dieser ohne cheren Behördenjob und zu finden“, sagt Paramount-Chefin Sherry Feier vorübergehen“. Nicht kandidiert für ein Parla- Lansing: Man fürchte sich davor, es sich nur das: Sein ewig betrunke- mentsamt. Nur leider verliert mit den Zuschauern im Herkunftsland des ner Vater Sunday klopft um er die Wahl gegen seinen Schurken zu verderben. sechs Uhr an die Tür und Konkurrenten, der sich mehr Deshalb kämpfen in dem Marionetten- verlangt, dass Elvis sich end- Stimmen kaufen konnte. Film „Team America“, den Lansing zuletzt lich irgendeinen Job sucht. Dass sich wenig später die ins Kino brachte (er ist vergangene Woche Doch der hat ganz andere Militärs an die Macht put- in Deutschland angelaufen), die Superhel- Ziele: Er will ein berühmter schen, tröstet Sunday wenig. den gegen den steingesichtigen nord- Tänzer und Elvis-Presley- Gedemütigt verlässt er 1981 koreanischen Landesvater Kim Jong Il. Im Imitator werden. * Chris Abani: „GraceLand“. Aus dem Land des finsteren Diktators werden US- „GraceLand“ heißt der HUBBARD SALLY Englischen von Thomas Brückner. Ver- Kinoproduktionen nicht gezeigt. eindrucksvolle, mal traurig- Autor Abani lag C.H. Beck, München; 456 Seiten; Lars-Olav Beier, Wolfgang Höbel komische, mal äußerst bruta- Im Gefängnis gefoltert 24,90 Euro.

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