Das Wissenschaftsmagazin Forschung Frankfurt

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Der lebende Ozean

■ Megacities am Rande des Kollaps? ISSN 0175-0992

[ ■ Wasser weltweit

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■ Infektionskrankheiten 5 Euro

[ als Mitbringsel ] 2008

[ ■ Klima – Höchste Zeit

] zu handeln Planet Erde 26. Jahrgang

[ 3. 2008

00 UNI 2008_03 0 U1-U4.indd 1 27.11.2008 16:36:54 Uhr Editorial

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

im Jahr des Planeten Erde möchten die Vereinten Nationen den Menschen das vielfältige Wissen über unseren Planeten näher brin- gen. Viele sind schon sensibilisiert für die großen Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt, wenn eine wachsende Erdbevölkerung über- leben soll, ohne ihre Lebensgrundlagen selbst zu zerstören. Die Zu- sammenhänge sind komplex. Wie lassen sich Wirtschaftswachstum und ein nachhaltiger Umgang mit Ressourcen vereinbaren? Kann man genügend Nahrungsmittel produzieren, ohne die Artenvielfalt zu zerstören? Warum ist die Gleichberechtigung von Männern und Frauen eine wesentliche Voraussetzung, um Wohlfahrt und gesellschaftlichen Fortschritt in allen Teilen der Welt zu erreichen? Diesen Fragen stellen sich unsere Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler, sie zeichnen mögliche Lösungswege und vermitteln Ihnen in dieser Ausgabe von »Forschung Frankfurt« Wissen, auf dessen Grundlage Gesellschaften Entscheidungen treffen und Kompromisse aushandeln können.

Die meisten Beiträge kommen aus den Geowissenschaften. Auf diesem Gebiet verfügt die Goethe-Universität, an deren Geozentrum alle hessischen Forschungsaktivitäten ge- bündelt sind, über eine herausragende Kompetenz. Von den heißen Magmaströmen, die sich explosionsartig aus dem Erdinneren einen Weg an die Eroberfl äche bahnen, bis hin zum Sternenstaub aus der Milchstraße, aus dem unser Planet entstanden ist, decken die Frankfurter Geowissenschaftler ein breites Themenspektrum ab. Dabei ist ihre Arbeit in- ternational verzahnt, wie etwa die Arbeiten Petra Dölls, Mitglied des Weltklimarates, zur Modellierung der weltweiten Wasserressourcen.

Bei der Erforschung der Erde und ihrer Bewohner besteht eine langjährige Kooperati- on zwischen der Goethe-Universität und dem Forschungsinstitut Senckenberg. In diesem Heft spiegelt sie sich mehrfach wieder, beispielsweise in dem Interview mit dem Meteoro- logen Christian Schönwiese von der Universität und dem Paläontologen und Sencken- berg-Direktor Volker Mosbrugger zum Klimawandel. Der Meeresbiologie Michael Türkay nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise, die von tropischen Korallenriffen und Mang- rovenwäldern zu den seltsamen Bewohnern der dunklen, kalten Tiefsee führt.

Es braucht innovative Instrumente und Modelle, um die gravierenden Probleme der Menschheit lösen zu können, dazu gehören beispielsweise auch der virtuelle Wasserhan- del und die neuen weltweit handelbaren Emissionszertifi kate. Unsere Sozial- und Natur- wissenschaftler suchen nicht nur im transdisziplinären Dialog nach Lösungsansätzen; sie kooperieren auch mit den politischen Akteuren auf internationaler und lokaler Ebene. Denn – wie es der Humangeograf Christian Berndt in seinem Beitrag treffend formuliert – »mit ökonomischer Internationalisierung und modellförmigen Märkten sind die neuen Realitäten nur unzureichend beschrieben; es gilt die Vielfalt der unterschiedlichen Akteu- re in den Blick zu nehmen.« Dem kommen die Autorinnen und Autoren in dieser Ausga- be unseres Wissenschaftsmagazins in eindrucksvoller Weise nach.

Ich wünsche ich Ihnen eine spannende und ertragreiche Lektüre!

Ihr

Ingwer Ebsen Vize-Präsident der Goethe-Universität

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Kompakt Aufbruchstimmung: Reisen in die nahe und die ferne Fremde 4 Prof. Werner Müller-Esterl 12 neuer Präsident der Viele Reisende waren Pioniere und Goethe-Universität Entdecker. Von den Anstrengungen des Reisens, den oft seltsamen oder 5 LOEWE ermöglicht Klimafolgenforschung auch überraschenden Begegnungen mit dem Fremden, den Beobach- 7 Die Wolke in der Kammer tungen von Flora und Fauna wissen wir durch ihre Aufzeichnungen. Be- 8 »Creative Age« – mehr als ein sonders im 18. Jahrhundert waren positives Zukunftsszenario? Reiseberichte ein äußerst beliebtes Genre, weil sie auf unterhaltsame 10 Der Wald der Zukunft und spannende Weise über die na- he und ferne Fremde informierten. Forschung intensiv Gelegentlich fungierten sie auch als kritischer Spiegel der alten Welt, Carola Hilmes 12 Reiseliteratur wie die Literaturwissenschaftlerin Die Erforschung der Welt – Prof. Carola Hilmes herausfand. Expeditionen und Erfahrungen

Michael Türkay 18 Meeresforschung Der lebende Ozean – Der lebende Ozean – Biodiversität Biodiversität in marinen Ökosystemen in marinen Ökosystemen 18 Frank Brenker, 24 Sonnensystem Die Weltmeere spielen für den Wärme- und Energiehaushalt der Erde und Christian Vollmer, Kosmischer Staub die Gemeinschaft ihrer Bewohner eine wichtige Rolle. Bisher gehören sie Sylvia Schmitz im Nano-Labor jedoch zu den am wenigsten erforschten Regionen unseres Planeten. Der Mensch fi scht und badet vor Joachim Curtius, 29 Atmosphärenforschung allem in den Flachmeeren. Heinz Bingemer Wie in Wolken der Regen entsteht Dort ist auch die Schifffahrt Susanne Heeg 34 Megacities am dichtesten. Obwohl die Megacities am Rande des Kollaps? Flachmeere nur etwa 5 Pro- zent des Ozeanbodens ausma- Uta Ruppert 41 Geschlechterforschung chen, wirken sich menschliche »Gender makes the World go Einfl üsse empfi ndlich auf alle round« – Frauenarbeit als Meeresbewohner aus, wie Fundament von Weltentwicklung Prof. Michael Türkay aus mehr als 30 Jahren Meeresforschung Peter Lindner, 48 Globaler Agrarmarkt weiß. Er kennt die Ozeane bis Stefan Ouma »Meet the Farmer« – Kleinbauern, in die dunkle, kalte und nah- Regionalentwicklung und der rungsarme Tiefsee. neue globale Agrarmarkt

Petra Döll 54 Wasserressourcen Megacities Wasser weltweit – Wie groß am Rande des Kollaps? sind die globalen Süßwasser- 34 ressourcen? , Mexico City, Lagos und Kairo – das sind Megacities des neuen Jahrtausends. Sie leiden aus- Forschung aktuell nahmslos unter ähnlichen Proble-

men: Mehr als die Hälfte der Ein- Diana Hummel, 60 Die globale Wasserkrise wohner lebt von unregelmäßigen Florian Keil, und der virtuelle Einkünften in den Slums am Rande Alexandra Lux Wasserhandel der Metropolen. Die soziale Polari- Rainer Durth 64 Weltweites Experiment: sierung wächst ebenso wie das Si- Handel mit Emissionszertifi katen cherheitsproblem. Wo das staatliche Gewaltmonopol zunehmend zer- Regina Allwinn 68 Infektionskrankheiten fällt, nutzen private Akteure ihre als Mitbringsel Chance, um Sicherheit zu schaffen und Gebiete zu kontrollieren – Bruno Streit, 72 Eine Erde voller Arten – Darwins nicht selten gewaltsam. Mehr dazu Markus Pfenninger, Vermächtnis in der heutigen von der Humangeografi n Prof. Su- Klaus Schwenk Evolutionsbiologie sanne Heeg.

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»Vielleicht muss der Leidensdruck noch steigen« Forschung aktuell

Wo wächst die Palmyrapalme? 75 Konstantin König, Mit Satellitendaten praxistaugliche Karen Hahn-Hadjali 86 Verbreitungskarten erstellen Rüdiger Wittig Wenn es unter den Maaren brodelt – 79 Alan B. Woodland, Die Prognosen von Klimamodellen Das Eifelvulkanfeld ist noch lebendig Cliff S. J. Shaw sind unsicher, aber auch im güns- tigsten Fall ist es höchste Zeit, zu Böden als Archive 82 Heinrich Thiemeyer handeln. Darin sind sich Sencken- berg-Direktor Prof. Volker Mosbrug- PerspektivenPerspektiven ger und Meteorologe Prof. Christian D. Schönwiese einig. Im Interview »Vielleicht muss der Leidensdruck 86 Volker Mosbrugger, mit »Forschung Frankfurt« be- noch steigen« Christian D. Schön- richten sie über unausweichliche Interview zum Klimawandel wiese, Anne Hardy Folgen des Klimawandels und diskutieren, wie Ökosysteme sich Warum »Ver-Marktung« der Gesell- 91 Christian Berndt, daran anpassen können. Beide plädieren für einen sachlichen Standpunkt, schaft nie vollständig gelingen kann Marc Boeckler jenseits der Extreme »Klimakatastrophe« und »Klimaschwindel«. Was Forscher auf ihren Reisen 96 Marita zu Luft, Land und Wasser erleben Dannenmann Warum die »Ver-Marktung« der Gesellschaft nie voll- GuteGute Bücher Bücher 91 ständig gelingen kann Georg Forster: 101 Carola Hilmes Bis Tomaten aus Baja California im Reise um die Welt Supermarkt in Seattle angeboten werden, sind scheinbar eindeutige Ilija Trojanow: 102 Ariane Stech Grenzen zwischen Mexiko und den Der entfesselte Globus

USA gleich mehrfach überschritten Franz Uekötter: 103 Noyan Dinçkal worden. Gesellschaften und ihre Umweltgeschichte im Ökonomien lassen sich nicht mehr 19. und 20.Jahrhundert territorial auf nationalstaatliche Grenzen reduzieren. Doch was tritt Harald Müller: 104 Kerstin Eisbrenner im globalen Zeitalter an ihre Stelle? Wie kann eine neue Weltordnung Es gilt die Vielfalt der unterschiedli- aussehen? chen Akteure in den Blick zu neh- men, die in den von Ökonomen ge- Harald Welzer: 105 Bodo Ahrens schaffenen und umgesetzten Klimakriege. Wofür im Modellen keine Beachtung fi nden; dies tun die Humangeografen wie Prof. 21.Jahrhundert getötet wird Christian Berndt mit ihrem neuen Ansatz der »kulturellen Geografi en der Ökonomie«. Klaus Hahlbrock: 106 Diana Hummel Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren?

Mike Davis: 107 Andrej Holm 96 Planet der Slums Niels Werber: 108 Hanno Sauer »Ich muss Die Geopolitik der Literatur Schiffsplan- Regina Römhild et. al. (Hrsg.): 109 Michael Schillmeier ken unter Fast Food. Slow Food den Füßen spüren« Katharina Zoll: 110 Rabea Stabile Gemeinschaften. Transnatio- Krätschmer-Hahn nale Familien in der Weltgesellschaft

Wer unseren Planeten erforschen will, muss sich auf die Socken machen. Dörling, Newman, Barford: Forschungsreisen gehören für fast alle Autorinnen und Autoren dieses Der schlaue Planet 111 Sarah A. Lippke Heftes selbstverständlich zum Beruf. Dass sie dabei neben rein forschungs- bezogenen auch ganz persönliche Erfahrungen machen, bereichert ihr Le- XXXXXXXXDas nächste Mal 100 ben. Und sie haben wunderbare kleine Geschichten zu erzählen. Was sie auf ihren Reisen zu Luft, Land und Wasser erlebt haben, darüber berichtet Vorschau, Impressum, Marita Dannenmann. Bildnachweis 112

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Gratulation für Prof. Dr. Werner Müller- Esterl (Mitte) nach seiner Wahl zum neuen Präsidenten der Goethe-Universi- tät: Dr. Rolf.-E. Breuer, Vorsitzender des Hochschulrates der Goethe-Universität (links) und der scheidende Präsident Prof. Rudolf Steinberg (rechts) wün- schen Müller-Esterl für seine neue Auf- gabe »eine glückliche Hand«.

entwicklung der Universität in den Bereichen Kernkompetenzen, Exzel- lenz, Haushalt und Weiterbildung eine Rolle spielen, die Etablierung einer internen Organisationskultur und die Vereinfachung organisato- rischer Prozesse, schließlich auch die Aktualisierung des Leitbildes der Universität. Müller-Esterl wurde in Bonn geboren, studierte dort wie in Mün- chen Chemie und Medizin und wurde 1974 promoviert. An der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München erwarb er 1979 die ärztliche Approbation. 1985 Hohe Reputation als Wissenschaftler habilitierte sich Müller-Esterl in kli- nischer Biochemie und wurde zwei und Wissenschaftsmanager Jahre später zum C2-Professor für Klinische Biochemie in München Der neue Präsident der Goethe-Universität: berufen. 1989 wechselte er auf die Werner Müller-Esterl tritt am 1. Januar sein Amt an C4-Professur für Pathobiochemie an die Universität Mainz, seit 1999 ist er als C4-Professor für Biochemie Prof. Dr. Werner Müller-Esterl neue Schwerpunkte zu bilden, so an der Universität Frankfurt tätig. wird neuer Präsident der Goethe- wie sie unter anderem bereits im Seit 2000 ist er dort Direktor des Universität. Der erweiterte Senat Rahmen der Exzellenzinitiative und Instituts für Biochemie II und des der größten hessischen Hochschu- im LOEWE-Programm entstanden Gustav-Embden-Zentrums für Biolo- le wählte den 60-Jährigen Ende sind. Und natürlich gilt es, das gische Chemie am Fachbereich Me- Oktober mit deutlicher Mehrheit Modell Stiftungsuniversität weiter dizin und damit für biochemische zum Nachfolger des Juristen auszubauen und den begonnenen Lehre und Forschung in der Vorkli- Prof. Rudolf Steinberg, der zum Neubau der Universität zu einem nik verantwortlich. Wissenschaftlich Jahresende in den Ruhestand tritt. erfolgreichen Ende zu führen – beschäftigt sich der zweifache Vater Müller-Esterl, der seit 2006 als sprich, auch das Werk meines Vor- mit den molekularen Mechanismen, Vizepräsident der Goethe-Universi- gängers Rudolf Steinberg zu Ende die das kardiovaskuläre System tät für die lebenswissenschaftlichen zu führen.« steuern. Fachbereiche Biochemie, Chemie Müller-Esterl, der an der Goethe- und Pharmazie, Biowissenschaften Universität zuletzt auch für For- »Den Reformkurs und Medizin verantwortlich ist, schungsfragen und die Förderung selbstbewusst fortsetzen« war vom Hochschulrat als einziger des wissenschaftlichen Nachwuch- Der »Architekt der Stiftungsuni- Kandidat für die Wahl aufgestellt ses zuständig war, hat sich für versität« Rudolf Steinberg, der mit worden. »Zum Präsidenten der seine Amtszeit zehn übergeordnete achteinhalb Jahren der am längsten Goethe-Universität gewählt zu wer- Programmlinien vorgenommen – amtierende Präsident der Goethe- den, ist eine große Ehre«, sagte darunter die Weiterentwicklung der Universität ist und der den Umbau Müller-Esterl. »Zugleich stellt es Stiftungs- wie der Forschungsuni- der Universität zu einer der führen- eine enorme und verantwortungsvol- versität unter Beibehaltung eines den deutschen Hochschulen ent- le Herausforderung dar, denn kaum breiten Fächerspektrums, die Ver- scheidend vorangetrieben und ge- eine andere Hochschule befi ndet besserung der universitären Lehre, prägt hat, zeigte sich mit der Wahl sich derzeit in einer vergleichbaren die Förderung des wissenschaftli- Müller-Esterls sehr zufrieden: »Mit Aufbruchstimmung wie die Goethe- chen Nachwuchses und der Gleich- Werner Müller-Esterl wird die Goe- Universität. So gilt es jetzt auf der stellungsarbeit, eine Optimierung the-Universität ihren Reformkurs in einen Seite, die Frankfurter Traditi- der Lehrerausbildung sowie die der deutschen Hochschullandschaft onen zu wahren, beispielsweise die weitere Verankerung der Bürgeruni- selbstbewusst fortsetzen. Zum ei- seit jeher starke Position der Geis- versität in Stadt und Region. Eben- nen ist er durch seine Tätigkeit als teswissenschaften, und andererseits so sollen die strategische Weiter- Vizepräsident auf das Beste mit der

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jüngeren Entwicklung der Goethe- lecular Complexes‹ getan hat. Ich Ihre neue Aufgabe eine glückliche Universität vertraut, zum anderen gratuliere ihm und wünsche ihm Hand. Da die Entwicklung der hat er selbst eine hohe Reputation viel Erfolg. Die Zukunft der Goethe- Goethe-Universität ein zentraler als Wissenschaftler wie als Wissen- Universität liegt bei ihm in guten Aspekt der Aufgaben des Hoch- schaftsmanager. Ich traue ihm zu, Händen.« schulrates ist, nehme ich Ihre mit neuer Energie nicht nur das Be- Auch der Vorsitzende des Hoch- heutige Wahl gerne zum Anlass, gonnene fortzuführen, sondern auch schulrates der Goethe-Universität, Ihnen unsere Unterstützung bei den eigene Akzente zu setzen, so wie er Dr. Rolf-E. Breuer, gratulierte aktuellen und zukünftigen Heraus- dies schon seit 2006 als Sprecher Müller-Esterl: »Ich wünsche Ihnen forderungen der Universität auszu- des Exzellenzclusters ›Macromo- im Namen des Hochschulrates für sprechen.« ◆

Dem Wandel rechtzeitig begegnen Landesförderung ermöglicht richtungsweisende Klimafolgenforschung

Der erwartete Klimawandel wird (Landesoffensive zur Entwicklung Langzeitdaten und -observatorien. zwar weltweit intensiv erforscht, wissenschaftlich-ökonomischer Ex- Die Zusammenarbeit ist eingespielt, analysiert und modelliert, dabei zellenz) gefördert. Bis 2010 erhält wie beispielsweise die derzeitige geht es aber meist eher um die es Mittel in Höhe von 18,2 Millio- Umweltbildungskampagne »Bio- Zusammenhänge zwischen Klima- nen Euro, zuzüglich beträchtlicher diversitätsregion Frankfurt/Rhein- dynamik und Stoffkreisläufen. Die Mittel für Baumaßnahmen. Bei Main« zeigt. hochkomplexen Wechselwirkungen positiver Begutachtung kann das Das neue Zentrum wird unter von Klima und Biosphäre auf der Projekt um drei Jahre verlängert dem Dach des federführenden Part- Ebene der Organismen werden in werden. ners, des Forschungsinstituts Sen- der Klimafolgenforschung derzeit Das neue Zentrum soll die ckenberg, angesiedelt sein. Zehn noch vernachlässigt. hochkomplexen Wechselwirkungen neue Professuren sind ausgeschrie- Diese Lücke wird nun durch das zwischen Klima und Biosphäre ben. Zusammen mit den beteiligten LOEWE-Forschungszentrum Biodi- in einem umfassenden, inter- Forschern des FIS, der Goethe- versität und Klima (Bik-F) geschlos- disziplinären Forschungskontext Universität und der anderen Partner sen: Die Goethe-Universität und das systematisch bearbeiten. Es geht werden die circa 130 Mitarbeiter Forschungsinstitut Senckenberg darum zu verstehen, wie einzelne des Forschungszentrums in sechs (FIS) arbeiten künftig mit dem Organismen, ganze Ökosysteme thematische Projektbereiche grup- Deutschen Wetterdienst, dem Insti- und vor allem Ökosystemfunktionen piert: A: Evolution und Klima; B: tut für sozial-ökologische Forschung und -dienstleistungen auf Klima- Biodiversitätsdynamik und Klima; sowie EUMETSAT zusammen an der veränderungen reagieren. Dieses C: Anpassung und Klima; D: Labor- Erforschung des Klimawandels und Wissen schafft die Voraussetzung zentrum; E: Daten- und Modellier- seinen Auswirkungen auf die Bio- dafür, noch rechtzeitig Strategien zentrum und F: Ergebnis-Transfer sphäre. Dabei geht es auch darum, der Anpassung zu entwickeln. Die und sozial-ökologische Aspekte. Möglichkeiten aufzuzeigen, die zu Grundlagen für das neue Zentrum Die Natur des erwartenden ökologischen, ökono- haben seine beiden Hauptträger, Wie Lebewesen auf den Rhein-Main- Gebietes ist mischen und sozialen Folgen zu FIS und Goethe-Universität, be- Klimawandel reagieren überraschend viel- bewältigen. Das Zentrum wird seit reits gelegt. Sie verfügen über Die Projektbereiche A bis C fältig. Wie sieht dem 1. Juli im Rahmen des hessi- langjährige Erfahrung in der orga- decken auf der Zeitebene lang-, sie in einigen hun- schen Exzellenzprogramms LOEWE nismischen Forschung sowie über mittel- und kurzskalige Prozesse ab, dert Jahren aus?

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Deutlich schneller ablaufende werden verwendet, um Zusam- Prozesse werden im Projektbereich menhänge zwischen Biodiversität B untersucht, nämlich die Auswir- und Klimawandel zu erforschen, kungen des Klimawandels auf Areal- vergangene Klimazustände zu un- verschiebungen von Arten, die Dy- tersuchen und gekoppelte Modelle namik von Artengemeinschaften zu entwickeln, die etwa Atmosphäre und die Gesundheit von Mensch, und Biosphäre oder Nischen- und Tier und Pfl anze. Wichtige Fragen Migrationsmodelle verbinden. Da- sind beispielsweise, ob Arten schnell rüber hinaus können moderne bio- genug »wandern« können, um dem und geowissenschaftliche Methoden klimabedingten Wandel zu folgen, gekoppelt werden. welche Auswirkungen die kommen- den Veränderungen auf die Dienst- Ergebnisse konkret leistungen der Ökosysteme haben – anwenden etwa die Reinigung von Luft und Die Abteilung für Ergebnis-Trans- In der Arktis und und zwar für einen räumlichen Be- Wasser –, und, ganz konkret, wie fer und sozial-ökologische Aspekte den Tropen wer- reich, der Ökosysteme auf der Erde sich zum Beispiel Krankheitserreger klimabedingter Biodiversitätsver- den die Folgen und im Meer von tropischen bis hin unter den veränderten Bedingungen änderungen stellt abrufbereite des Klimawandels zu polaren Klimazonen umfasst. ausbreiten werden. Informationen mit Handlungsemp- besonders stark zu spüren sein. Der Bereich A widmet sich dabei In Bereich C geht es um noch fehlungen für Entscheidungsträger Welche Folgen sehr langen Zeiträumen. Es ist bis kurzzeitigere Prozesse, nämlich um im Spannungsdreieck von ökologi- hat dies beispiels- jetzt kaum bekannt, wie klimatische innerhalb weniger Generationen schen, ökonomischen und sozialen weise für afrikani- Veränderungen langfristig die Evolu- stattfi ndende Anpassungen von Folgen zur Verfügung. Das heißt, sche Kleinbauern tion und Diversifi kation der Organis- Arten an veränderte Bedingungen. verschiedenste gesellschaftliche, und Viehzüchter? men beeinfl ussen, oder auch, wie Diese können sowohl physiologi- politische und wirtschaftliche Wie können sie sich Veränderungen der Biosphäre scher als auch genetischer Natur Anspruchsgruppen (zum Beispiel sich darauf vorbe- reiten? umgekehrt auf das Klima auswir- sein, und die Frage ist, ob sich die Natur- und Umweltschutz, Forst- ken. Hierzu sollen nun vor allem Arten auf diese Weise schnell genug und Holzwirtschaft, Landwirte, die letzten 65 Millionen Jahre der an einen zügig ablaufenden Klima- Fischerei, Entwicklungszusam- Erdgeschichte entscheidende Rück- wandel anpassen können. menarbeit, aber auch Politiker und schlüsse liefern, und zwar mittels In dem neuen Laborzentrum wer- sonstige gesellschaftliche Akteure) einer Kombination geochemischer, den die notwendigen analytischen bekommen wissenschaftlich fun- paläontologischer, morphologisch- Primärdaten auf höchstem techno- dierte Empfehlungen, wie mit den anatomischer und molekulargeneti- logischem Niveau gewonnen. Das aus dem Klimawandel resultieren- scher Untersuchungen von Fossilien Daten- und Modellierungszentrum den Veränderungen der Biodiversi- und noch lebenden oder kürzlich verbindet die bio- und klimarelevan- tät konkret umzugehen ist. Außer- erst ausgestorbenen Arten. Hieraus ten Daten und Erkenntnisse, wertet dem liefert das Forschungszentrum lassen sich dann Konsequenzen des sie aus und erarbeitet Vorhersagen wissenschaftliche Beiträge zur Klimawandels für die verschiede- über zukünftige Ereignisse und Ent- Erfüllung internationaler Überein- nen Ökosysteme und Klimazonen wicklungen. kommen wie der EU-Fauna-Flora- abschätzen und Empfehlungen für Die innovativen Aspekte liegen Habitatrichtlinie (EU-FFH), der Vorsorge- und Schutzmaßnahmen besonders im Bereich der mole- EU-Wasserrahmenrichtlinie (EU- ableiten. kulargenetischen Methoden. Sie WRRL), der Biodiversitätskonventi-

Wissenschaftlicher Beirat

LOEWE-Aufsichtsgremium Wissenschaftlicher Koordinator, Administrativer Koordinator, FIS, Goethe-Uni, Fachbereiche Biowissenschaften und Geowissenschaften, Direktor/in

Direktor/in Administrativer Koordinator Stellvertretende/r Direktor/in Abteilung Die Autoren Service und Verwaltung

Prof. Dr. Rüdiger Wittig, Institut Projektbereich A Projektbereich B Projektbereich C Projektbereich D Projektbereich E Projektbereich F für Ökologie, Evo- lution und Bio- Evolution Biodiversitäts- Anpassung Laborzentrum Daten- und Soziale diversität, Goethe und Klima dynamik und Klima Modellierungs- Ökologie, (langskalig) und Klima (kurzskalig) zentrum Transferstelle Universität. (mittelskalig) Prof. Dr. Volker Mosbrugger und ■ Wissenschaftler/innen, ■ EUMETSAT ■ In- und ausländische Dr. Julia Krohmer, Forschungsinstitut Senckenberg (FIS) ■ Deutscher Wetterdienst Kooperationspartner Forschungsinstitut und Goethe-Universität ■ Institut für sozial-ökologische Forschung ■ Kleine und mittlere Unternehmen Senckenberg.

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on (CBD) und der Klimarahmenkon- logie, Meteorologie, Bodenbiologie, Biologie. Die Zusammenarbeit mit vention (UNFCCC). Bioinformatik und Soziale Ökologie) weiteren Partnern aus Wirtschaft Mit dieser Zielsetzung und sei- besitzt das Zentrum europaweite Al- und Gesellschaft setzt zudem das ner in dieser Form einzigartigen leinstellungsmerkmale. Für Frank- klare Signal, dass die für unsere Interdisziplinarität (beteiligt sind furt und die Goethe-Universität Zukunft so wichtige Klimafolgenfor- Ökologie/Evolutionsforschung, bedeutet es außerdem eine langfris- schung nicht nur im universitären Meeresbiologie, Geologie/Paläonto- tige Stärkung der organismischen Elfenbeinturm stattfi nden soll. ◆

Die Wolke in der Kammer Hat die kosmische Höhenstrahlung einen Einfl uss auf das Klima?

Jeder weiß, dass Wolken das Wet- küle hinterlassen. Diese Ionen sind An dem Projekt sind außer dem ter und das Klima entscheidend möglicherweise ideale Kondensati- CERN noch das Paul Scherrer In- beeinflussen, aber ändert sich ihr onskeime für die Bildung von neuen stitut, die Universitäten in Helsinki, Einfluss auf das Klima im Laufe Aerosolpartikeln in der Atmosphäre. Leeds, Reading und Wien sowie der Zeit? Ohne die Aerosolpartikel als Kon- das Institut für Troposphärenfor- Seit einigen Jahren gibt es Hin- densationskeime könnten sich die schung aus Leipzig und die Firma weise, dass in der Vergangenheit Wassertröpfchen nicht bilden, aus Ionicon Analytik aus Innsbruck Schwankungen der kosmischen denen Wolken bestehen. Um die beteiligt. Insgesamt werden in Höhenstrahlung nahezu zeitgleich Details dieses Prozesses in Abhän- CLOUD-ITN acht Doktoranden und mit Änderungen der Temperatur gigkeit von der Höhe und der Zu- zwei Postdoktoranden gefördert. Der und Niederschläge auf der Erde sammensetzung der Atmosphäre zu Frankfurter Beitrag besteht in der aufgetreten sind. Ursächlich ver- verstehen, planen die Forscher im Messung der gasförmigen Schwefel- bunden sein könnten diese beiden »CLOUD-Experiment«, die Vorgänge säure und in der Entwicklung einer Phänomene durch die Wolkenbil- im Labor zu simulieren. Nachweismethode für Tröpfchen dung, denn die kosmische Höhen- Herzstück des Experiments ist oder andere Schwebeteilchen, strahlung schafft in der Atmosphäre eine Aerosol-Kammer, ein fast vier deren Durchmesser kleiner ist als Ionen, die zu Schwebeteilchen (Ae- Meter hoher Zylinder mit einem drei Nanometer. Die kritische Größe rosolpartikeln) anwachsen können. Durchmesser von drei Metern, für die Aerosolbildung in der At- Und diese Partikel, an denen sich der mit Luft, Wasserdampf und mosphäre liegt nämlich bei ein bis dann der Wasserdampf anlagert, variablen Anteilen gasförmiger zwei Nanometern. Bisher entzieht sind der Ausgangspunkt für die Schwefelsäure gefüllt wird. »Mit sich dieser Bereich aber der direk- Wolkenbildung. Wie diese Prozesse der Schwefelsäure berücksichtigen ten Beobachtung. sich im Einzelnen abspielen und wir den menschlichen Beitrag zur Die Ergebnisse von »CLOUD-ITN« inwiefern sie das Klima beeinfl us- Luftverschmutzung durch Schwe- sollen künftig in Klimamodelle ein- sen könnten, soll jetzt ein von der feldioxid«, erklärt Joachim Curtius, gespeist werden. Denn die Wolken- Europäischen Union gefördertes »Ein Teil des Schwefels gelangt bildung stellt bisher einen der größ- Doktoranden-Netzwerk im Rahmen aber auch durch Vulkane oder aus ten Unsicherheitsfaktoren bei der von »CLOUD-ITN« klären. »CLOUD den Meeren in die Atmosphäre.« Vorhersage des Klimawandels dar. ◆ ist das erste Klima-Experiment, das Die kosmische Höhenstrahlung si- an einem Teilchenbeschleuniger muliert ein Teilchenstrahl aus dem ausgeführt wird«, erklärt Koordina- Teilchenbeschleuniger des Proton- tor Prof. Dr. Joachim Curtius vom Synchrotron-Beschleunigers am Institut für Atmosphäre und Umwelt CERN bei Genf. »Damit kommen wir der Goethe-Universität. Das am der galaktischen kosmischen Hö- Europäischen Zentrum für Kernfor- henstrahlung sehr nahe«, sagt Curti- schung CERN angesiedelte Experi- us, »wir können ihre Intensität über ment erhält in den kommenden vier einen Bereich von Erdbodenähe bis Jahren eine Fördersumme von 2,3 zu 15 Kilometer Höhe simulieren.« Millionen Euro. Hochenergetische galaktische Die Grafi k zeigt den Experimentierbereich kosmische Strahlung besteht im des CLOUD-Experiments am CERN. Wie Wesentlichen aus Protonen und bei allen Beschleunigerexperimenten ist Alpha-Teilchen, die bei Supernova- dieser wegen der Strahlung mit Wänden Explosionen ins All geschleudert aus großen Betonblöcken umgeben. Das werden. Wenn sie die Erdatmosphä- Kernstück ist die zylindrische Aerosol- kammer (blau) mit den rundherum an- re durchqueren, lösen sie gewisser- geordneten verschiedenen Instrumenten maßen im Vorbeifl iegen Elektronen zur Messung der Aerosolpartikel, Spu- aus den atmosphärischen Gasen, so rengase und Ionen. Links unten tritt der dass sie eine Spur geladener Mole- aufgeweitete Teilchenstrahl ein.

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0000 UNIUNI S01_11S01_11 2008_03.indd2008_03.indd 7 227.11.20087.11.2008 16:42:4916:42:49 UhrUhr Kompakt »Creative Age« – mehr als ein positives Zukunftsszenario? Humangeografen untersuchen den Kreativsektor in Frankfurt – Neuer Schwerpunkt der städtischen Wirtschaftsförderung

Die Kreativwirtschaft beschäftigt in nung der beiden Sphären »Markt« Entscheidend für Konkurrenz- Frankfurt etwa ebenso viele Men- und »Kultur«. Dagegen wenden fähigkeit der Städte: schen wie das Kreditgewerbe, trägt die Kritiker ein, dass »Kreativwirt- Die drei »T« – Technologie, bislang allerdings lediglich 4,6 schaft« in erster Linie eine schöne Toleranz und Talent Prozent zum städtischen Gesamt- Verpackung für nicht selten prekäre Er diagnostiziert den Beginn umsatz bei. Seit einigen Monaten Beschäftigungsverhältnisse sei. Die eines »Creative Age«, in dem Städte richtet die Frankfurter Wirtschafts- Marktlogik werde damit auf bislang in einer weltweiten Konkurrenz um förderung ihr Augenmerk beson- geschützte Bereiche ausgedehnt, die kreativsten Köpfe stünden, die – ders auf den Kreativsektor. Der und es fehle an empirischen Be- hochmobil – ihren Wohnort stark an »1. Frankfurter Kreativwirtschafts- legen, dass sich der Kreativsektor (sub-)kultureller Attraktivität und bericht«, den Wirtschaftsdezernent überhaupt stadtplanerisch entwi- Vielfalt ausrichteten. Entscheidend Boris Rhein (CDU) im Sommer der ckeln lasse. für die lokale Konkurrenzfähigkeit Öffentlichkeit vorstellte, wurde von Im 21. Jahrhunderts seien in seien zukünftig die Aufgeschlos- Humangeografen der Goethe-Uni- den Metropolen des Nordens weder senheit gegenüber Hochtechnologie versität unter Leitung von Christian der klassische Produktions- noch und neuen Medien, die Förderung Berndt, Pascal Goeke und Peter der Dienstleistungssektor, sondern kultureller Vielfalt und unterschied- Lindner erarbeitet. die »Kreativbranchen« 1 für wirt- licher Lebensstile sowie das in schaftlichen Aufstieg oder Nieder- den Kreativbranchen benötigte gang entscheidend, verkündeten Arbeitskräftepotenzial. Diese Ent- zu Beginn des neuen Jahrtausends wicklungsvoraussetzungen reduziert Experten wie der US-amerikanische Florida auf die Kurzformel »drei T«: Stadtplaner Richard Florida. Bereits Technologie, Toleranz und Talent. 1997 hatte der damalige britische Warum wurde diese These so Premierminister Tony Blair eine populär? Ihre Einfachheit trug dazu »Creative Industries Task Force« ebenso bei wie das darin enthaltene ins Leben gerufen, die sich mit positive Zukunftsszenario. Darüber Entwicklungsoptionen für Altindus- hinaus bietet der Begriff der »krea- trieregionen befassen und dabei tiven Klasse« einen Identifi kations- der Kreativwirtschaft besondere rahmen für eine äußerst heterogene Aufmerksamkeit schenken sollte. Gruppe von Personen mit »urba- Im Jahr 2002 spitzte Florida mit nem Lebensstil«, die sich jetzt als seinem Buch »The Rise of the entscheidende Säule städtischer Creative Class… and How It’s Trans- Entwicklung sehen darf. Eine empi- forming Work, Leisure, Community rische Überprüfung steht jedoch vor and Everyday Life«/1/ die Debatte dem großen Problem, dass die Da- Treffpunkt der Die Stadt Frankfurt reagiert stark zu und verhalf ihr so zu Brei- tengrundlage für eine differenzierte Kreativen: In der damit auf einen Trend, der mitt- tenwirkung. Betrachtung nicht ausreichend ist. denkmalgeschütz- lerweile in fast allen europäischen ten Naxoshalle Metropolen zu beobachten ist und tritt Willy Praml von Experten durchaus ambivalent mit seinem En- semble seit 2000 eingeschätzt wird: Was manche auf – hier eine Wissenschaftler und Politiker als Szene aus Goe- neue Perspektive regionaler Wirt- thes »Wilhelm schaftsentwicklung loben, wird von Meister«. anderen als substanzloser Hype Charme der Off- Kultur: In dieser massiv kritisiert. Die Protagonisten Halle eines ehe- einer städtischen »Kreativpolitik« maligen Import- sehen die Chance, mit vergleichs- Export-Geschäfts weise geringem fi nanziellen Auf- in der Breiten wand eine regionalwirtschaftliche Gasse zeigt der Basis zu schaffen, in der nicht Kunstverein Lohnkosten und Preiswettbewerb, »Familie Montez« aktuelle Kunst. sondern Innovation, Design und Zurzeit läuft die Qualität entscheidend sind; sie hof- Ausstellung »My fen bisweilen gar auf eine Versöh- Generation«.

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0000 UNIUNI S01_11S01_11 2008_03.indd2008_03.indd 8 227.11.20087.11.2008 16:42:4916:42:49 UhrUhr Kompakt

Literatur-,Buch und Pressemarkt Kulturelles Erbe 4,9% Musik- und Audiowirtschaft Literatur-,Buch und Pressemarkt 19,3% Software und Games Film-, TV und Videowirtschaft 28% Musik- und Audiowirtschaft Darstellende und Bildende Künste 0,5% Museen, Kunstausstellungen und Kunstmarkt Film-, TV und Videowirtschaft 11,3% Architektur und Design

Werbung, PR und Kommunikation Werbung, PR und Darstellende Kommunikation und Bildende Künste Software und Games 25% 3,6% Architektur und Design Museen, Kunstausstellungen Kulturelles Erbe 4,6% und Kunstmarkt 2,8%

1 Für den »1. Frankfurter Kreativwirt- 2 Sozialversicherungspfl ichtig Beschäftigte in der Frankfurter Kreativwirtschaft im schaftsbericht« wurde der Kreativsektor Jahr 2006 nach Branchen. [Quelle: Bundesagentur für Arbeit] in diese Branchen unterteilt.

Der »Kreativanteil« von Beschäf- Frankfurter Kreativwirtschaft über- 3 Anteil der tigungen wird in keiner Statistik wiegend aus kleineren – im Schnitt Umsätze in der erfasst, und so bleibt nur, ganze 6,1 Beschäftigte pro Betrieb – und Köln Kreativwirtschaft Branchen gemäß der deutschen relativ jungen Unterneh men zusam- Frankfurt an der Gesamt- Durchschnitt Klassifi kation der Wirtschaftszwei- men; fast die Hälfte wurde erst nach wirtschaft im Düsseldorf Vergleich ausge- ge pauschal aufzunehmen oder 2000 gegründet, nur 9 Prozent be- München wählter deutscher auszuklammern. Diese zu Beginn standen schon vor 1979. Nürnberg Großstädte. [Quel- jeder Untersuchung zwingend not- Hamburg le: Hessisches wendige Festlegung beeinfl usst das Frankfurt führt in den Statistisches Lan- Stuttgart Ergebnis maßgeblich: Die Anzahl Bereichen Software/Games und desamt] der sozialversicherungspfl ichtig Be- Werbung/PR/Kommunikation in % 01 2345678 schäftigten in Kreativberufen vari- Der Frankfurter Kreativsektor iert zwischen Erhebungen mit einer hat sich in den letzten Jahren mit bundesdeutschen Vergleich weit sehr weiten Abgrenzung, wie sie deutlich stärkeren Schwankungen überdurchschnittliche Bedeutung beispielsweise der erste Hessische als die Gesamtwirtschaft entwickelt: besitzt die Stadt insbesondere in Kulturwirtschaftsbericht verwendet, Er zeichnet sich durch überpropor- den beiden Bereichen Software/ und einer sehr engen Defi nition um tionale Zuwachsraten bis 2000/ Games sowie Werbung/PR/Kommu- den Faktor 3! 2001, aber auch stärkere Umsatz- nikation. In Frankfurt gibt es in den von einbrüche nach dieser Zeit aus. Der »Cult of Urban Creativity« /2/ uns berücksichtigten Branchen 1 Mittlerweile hat sich die Lage wie- beruht auf einem verallgemeinern- zwischen 54 000 und 66 000 der stabilisiert und ist von einer den Entwicklungsmodell; ob dieses »Kreative« einschließlich aller ge- moderaten Aufwärtsentwicklung stichhaltig ist, dazu kann ein primär ring fügig Beschäftigten und Selbst- geprägt. Im Verhältnis zu anderen als Status-Quo-Analyse konzipierter ständigen. Allerdings ist davon aus- deutschen Großstädten ist Frank- Kreativwirtschaftsbericht besten- zugehen, dass ein überproportional furts Position differenziert zu beur- falls erste, vage Hinweise liefern. hoher Anteil der Betriebe unter der teilen: Bei einem Vergleich abso- Doch wie viele andere ökonomische gesetzlichen Umsatzsteuergrenze luter Zahlen liegt die Stadt weit Modelle so ist auch das Szenario von 17 500 Euro liegt und deshalb zurück, weil dann die Größe/Ein- der Kreativwirtschaft performativ statistisch nicht erfasst wird. Die wohnerzahl zum alles andere über- und schafft sich mit Hilfe von Pla- wichtigste Rolle spielen die Berei- prägenden Einfl ussfaktor wird und nungsleitbildern, Förderprogram- che Software/Games sowie Wer- Berlin mit deutlichem Abstand men und öffentlichkeitswirksamen bung/PR/Kommunikation gefolgt führt. Relativ zur städtischen Ge- Veranstaltungen die Wirklichkeit vom Literatur-/Buch-/Pressemarkt. samtökonomie ergibt sich hin- selbst, die es vermeintlich nur be- 2 Nicht unerwartet setzt sich die gegen ein anders Bild. 3 Eine im schreibend wiedergibt. ◆

Literatur Die Autoren

Prof. Dr. Peter Lindner, Prof. Dr. Christian Berndt [siehe Autoren- /1/ Florida, Richard. 2002. The Creative (Hrsg.). Leviathan Undone: hinweise Seite 52 und 95]. Class … and How It‘s Transforming Work, The Political Economy of Scale Vancouver Dr. Pascal Goeke ist wissenschaftlicher Assistent am Institut für Leisure, Community and Everyday Life (im Druck). Humangeographie. Seine Forschungsschwerpunkte sind die New York. Migrations forschung sowie Prozesse auf dem Arbeitsmarkt. Der »1. Kreativwirtschaftsbericht /2/ Peck, Jamie. 2008. The Cult of Urban Frankfurt« zum Download: [email protected]; Creativity In Keil, R. und R. Mahon www.humangeographie.de/ [email protected]; kreativwirtschaft [email protected]

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0000 UNIUNI S01_11S01_11 2008_03.indd2008_03.indd 9 227.11.20087.11.2008 16:42:5116:42:51 UhrUhr Kompakt Der Wald der Zukunft Forschungsprojekt für eine sanfte Anpassung der Waldwirtschaft an den Klimawandel

Aktuellen Klimaszenarien zufolge chen Buchenwälder könnten immer beeinfl ussen, was besonders für werden in den kommenden 50 bis mehr durch Eichenwälder abgelöst das Rhein-Main-Gebiet mit seinem 100 Jahren die Sommer trocke- werden. An jetzt schon sehr trocke- wachsenden Trinkwasserbedarf ver- ner und die Winter feuchter und nen Standorten können aber auch mieden werden sollte. wärmer. Zudem werden extrem unsere mitteleuropäischen Eichen- Nach der erfolgreichen Anlage trockene und heiße Sommer wie arten Probleme mit dem Aufwuchs einer Versuchsfl äche im Botani- im Jahr 2003 oder ungewöhnlich bekommen. In einem Kooperations- schen Garten der Goethe-Universi- niederschlagsreiche Jahre gehäuft projekt der Goethe-Universität mit tät im vorigen Jahr werden nun in auftreten. dem Forschungsinstitut Sencken- Feldversuchen auf Versuchsfl ächen Das hat auch Folgen für den berg (FIS), dem Institut für sozial- im südhessischen Forstamt Lam- Wald: Die in Deutschland zahlrei- ökologische Forschung (ISOE) und pertheim (mit Vergleich zu derzeit der ECT Flörsheim GmbH, das im üblicherweise eingesetzten, stand- neuen LOEWE-Forschungszentrum ortgemäßen Wirtschaftsbaumarten) Biodiversität und Klima angesiedelt und im Stadtwald Rüsselsheim ist, werden daher trockenresisten- trockenresistentere Eichenarten tere Eichenarten aus dem süd- und aus dem süd- und südosteuropäi- südosteuropäischen Raum ange- schen Raum angepfl anzt: die win- pfl anzt, um zu prüfen, ob sie als tergrüne Steineiche (Quercus ilex hiesige Waldbäume tauglich sind. aus Frankreich), zwei wintergrüne »Bereits jetzt ist die Wiederauf- Eichen-Hybriden (Q. x turneri und forstung von Eichenwäldern in der Q. x hispanica) sowie die laub- südhessischen Rheinebene durch werfenden Arten Flaumeiche (Q. die Grundwasserabsenkungen in pubescens vom Kaiserstuhl) und den vergangenen Jahrzehnten stark Ungarische Eiche (Q. frainetto aus bedroht«, erklärt Prof. Dr. Wolfgang Südosteuropa). Bei erfolgreichen Brüggemann. Der Ökophysiologe ist Ergebnissen dieser Anbauversuche Leiter des Teilprojekts »Wald der könnte gegebenenfalls durch die Zukunft«, das im Rahmen des gezielte Anpfl anzung solcher Arten LOEWE-Forschungszentrums »Bio- das natürliche Vordringen wärme- diversität und Klima« vom Land und trockentoleranterer Waldbäume Hessen fi nanziert wird. Brüggemann nach Norden in der Folge des Kli- macht darauf aufmerksam, dass mawandels beschleunigt werden. nicht nur der gesunkene Grund- Langfristig würden die Forscher wasserspiegel, sondern auch die dann erwarten, dass sich stabile, bereits eingetretene beziehungswei- artenreiche Ökosysteme bilden se zu erwartende Ausbreitung von werden, in die dann auch die an die Schadinsekten (Maikäfer, Pracht- südeuropäischen Baumarten an- käfer) – begünstigt durch höhere gepassten Tier- und Pfl anzenarten Wintertemperaturen – die mitteleu- nachwandern können und sich dort Auf einer Versuchsfl äche im Botanischen Garten der Goethe- ropäischen Waldbäume zunehmend heimisch fühlen werden. Universität testen Frankfurter Botaniker um Prof. Wolfgang Brüggemann, wie trockenresistentere Eichenarten aus dem schädigen werden. Blieben künftig Wissenschaftliche Kooperations- süd- und südosteuropäischen Raum sich in unseren Breiten ganze Flächen auf Trockenstandor- partner des LOEWE (Landesoffensive entwickeln. Die Bäume unter den Zelten erhalten dabei in ten waldfrei, würde dies zusätzlich zur Entwicklung wissenschaftlich- etwa die gleiche Wassermenge wie in ihren Heimatländern. Grundwasserspiegel und -qualität ökonomischer Exzelenz) geförderten Projektes sind die Nordwestdeut- sche Forstliche Versuchsanstalt Mit diesem Appa- (NW-FVA), eine Forschungsanstalt rat ermtteln die der Länder Hessen, Niedersach- Mitarbeiterinnen von Prof. Wolfgang sen und Sachsen-Anhalt und das Brüggemann, in Hessische Landesamt für Umwelt welchem Maße und Geologie sowie als Nutzer des die Flaumeichen Grundwassers Hessenwasser GmbH auf der Versuchs- und als Eigentümer des Waldes fl äche unter Tro- Hessen-Forst und die Stadt Rüs- ckenstress leiden. selsheim. Über die Anlage einer Dazu messen sie gleichzeitig die weiteren Versuchspfl anzung im Photosynthese Stadtwald Frankfurt wird derzeit und die Chloro- noch mit den zuständigen kommu- phyllfl uoreszenz. nalen Behörden verhandelt. ◆

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Die Universität Frankfurt auf dem Weg zur Spitze: MUTH SEA „Wir sind Sherpas für die Uni. Werden Sie es auch!“

Hilmar Kopper Petra Roth Claus Wisser Vorsitzender des Vorstandes der Freunde Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main WISAG Service Holding der Universität Vorstandsmitglied der Freunde Vorstandsmitglied der Freunde

Werden Sie Mitglied bei den Freunden der Universität Frankfurt

Name: Ich möchte der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main e.V. beitreten als Vorname: Einzelmitglied (Jahresbeitrag 50,– EURO) Straße: Firma oder Organisation (Jahresbeitrag 500,– EURO) PLZ: Ich bin bereit, über den Mindestbeitrag hinaus jährlich Ort: EURO zu zahlen.

Staat: Bitte buchen Sie den Jahresbeitrag und darüber hinausgehende jährliche Zuwendungen von meinem Konto ab. Die folgenden Angaben helfen, unsere Angebote auf Ihre Interessen abzustimmen. Kontonummer: Tätigkeitsfeld: Bankinstitut: Studium/Ausbildung: BLZ: an der Uni Fankfurt ja nein

Ich bin Mitglied der Alumnivereinigng des Fachbereiches

Telefon: Datum: Unterschrift:

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Aufbruchstimmung: Reisen in die nahe und die ferne Fremde Die Erforschung der Welt – Expeditionen und Erfahrungen

von Carola Hilmes

Schon früh hatte das Unbekannte viele mit Versprechungen gelockt. Aber das Rei- sen war mit Gefahren verbunden. Vor allem Seereisen erforderten Mut. Nicht im- mer waren es Abenteuerlust oder Neugier, die Menschen hinaustrieben. Viele Rei- sende waren Pioniere und Entdecker. Inseln und Berge, Ströme und Meeresengen sind nach ihnen benannt. Von den Anstrengungen des Reisens, den oft seltsamen oder auch überraschenden Begegnungen mit dem Fremden, den Beobach- tungen von Flora und Fauna wissen wir durch ihre Aufzeichnungen, die später als Reiseberichte publiziert wurden. Besonders im 18. Jahrhundert waren Reiseberichte ein äußerst beliebtes Genre, weil sie auf unterhaltsame und spannende Weise über die nahe und ferne Fremde informierten. Gelegentlich fun- gierten sie auch als kritischer Spiegel der alten Welt.

Entdeckungsrei- on Brest aus stach Louis-Antoine de Bougainvil- 1769 im Mercure de France vom Zauber Tahitis; über die sen im 18. Jahr- Vle im November 1766 in See. Seine Fregatte »La Geschlechtskrankheiten, mit denen die Seeleute die hundert und Expe- Boudeuse« war für eine Weltumseglung ausgerüstet, indigene Bevölkerung infi zierten, schrieb er nicht. ditionen im mit an Bord der Naturforscher und Astronom Pierre- 19. Jahrhundert Tahiti als Sehnsuchtsort erweitern unsere Antoine Véron. Auf dieser Expedition erforschten sie Kenntnisse der 1768 zahlreiche pazifi sche Inseln und hätten fast die Diderots Nachtrag zu Bougainvilles Reise (1796) formu- Welt. Verbesserte Ostküste Australiens entdeckt. Bougainvilles im Stil liert eine entschiedene Kritik an den europäischen Sit- Seekarten und eines Logbuchs gehaltener Reisebericht, der viele wis- ten und Gebräuchen, die er im Spiegel der Verhältnisse technische Präzi- senschaftliche Beobachtungen verzeichnet, trug mit der tahitischen Gesellschaft als naturwidrig erkennt. sionsinstrumente seiner Schilderung Tahitis dazu bei, den Mythos vom Vor allem der repressive Einfl uss der christlichen Reli- ermöglichen die Paradies in der Südsee zu etablieren. In der Tat muss gion auf Ehe und Sexualität werden gegeißelt in einem Navigation zu fer- nen Inseln und die grüne Insel der an Skorbut und anderen Mangeler- fi ktiven Gespräch zwischen dem Schiffskaplan der Fre- die genaue Ver- scheinungen leidenden Besatzung als ein Garten Eden gatte und Orou, einem tahitischen Familienvater, der messung unbe- erschienen sein. Freundliche Menschen lebten hier im dem Gast seine Töchter und seine Ehefrau anbietet, kannter Landstri- Einklang mit der Natur, die einfache Sozialstruktur ließ was den Geistlichen in Gewissenskonfl ikte stürzt. Dass che. Unschuldig gesellschaftliche Hierarchien kaum erkennen. Das von Diderot in seiner viel beachteten zivilisationskritischen war diese Besitz- Rousseau entworfene Bild des Edlen Wilden schien Schrift seinerseits von geschlechterspezifischen Vor- nahme im Dienst auf Tahiti Wirklichkeit. Vor allem die reizenden, nur urteilen nicht frei ist – so legitimiert er etwa die po- der Wissenschaft nicht. spärlich bekleideten Frauen der Insel und die freizü- lynesische Liebesfreiheit im Dienste einer expansiven gigen Sexualpraktiken beförderten die Wunschvorstel- Bevölkerungspolitik – steht auf einem anderen Blatt. lung einer erotischen Utopie, »une Nouvelle Cythère«. Die scharfe Kritik, die ein tahitischer Greis in seiner fi k- Auch der Schiffsarzt Philibert Commerson berichtete tiven Abschiedsrede an die aussegelnde Fregatte äu-

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Die Weltkarte zeigt die im 18. und 19. Jahrhundert angenom- mene Ausprägung und Verteilung von fünf Menschenrassen. Damals viel diskutiert war deren Ursprung. Kant etwa postu lier- te eine Ursprungsrasse und erklärte die Unterschiede zwi schen den Menschen mit klimatischen und anderen Um weltfaktoren. Die Verschiedenheit legitimierte dabei eine Rang folge der Ras- sen. Einer solch problematischen Schlussfolgerung widersprach Georg Forster und trat für die Gleichheit der Völker ein.

ßert, erkennt in den europäischen Weltreisenden die ersten Kolonisatoren und bedauert den Kulturkontakt als äußerst nachteilig für sein eigenes Land. Die Glo- balisierung und ihre Probleme haben mit den ersten Welt- und Entdeckungsreisen begonnen. Als Georg Forster gemeinsam mit seinem Vater, dem Naturforscher Johann Reinhold Forster, 1772 zur zwei- ten Weltumseglung von James Cook aufbrach, war er noch nicht 18 Jahre alt. Sein Reisebericht, Voyage around the World (1777), erschien zuerst auf Englisch, 1778 bis 1780 veröffentlichte er dann eine erweiter- te deutsche Übersetzung. Dieser philosophische Rei- sebericht zeichnet sich nicht nur durch zivilisations-, sondern auch durch erkenntniskritische Perspektiven aus. Anders als der »armchair traveller« des 18. Jahr- hunderts sind die Beschreibungen der fernen Fremde sondern es wird auch anderes gesehen. Forsters Beob- hier erfahrungsgesättigt. Neben dem Edlen Wilden und achtungen auf Tahiti führen zu Differenzierungen; be- seinem Counterpart, dem Kannibalen, entdeckt Georg kannt ist seine Schilderung eines tahitischen Fressers, Forster auf Feuerland die Elenden Wilden, Menschen, der sich von Untergebenen bedienen lässt. Außerdem denen es am Nötigsten mangelt. Die Fremde wird also beklagt Forster den schlechten Tausch, den die Einhei- nicht nur als Spiegel des Eigenen instrumentalisiert, mischen im Warenverkehr mit den Europäern einge- hen, und kritisiert den schnellen Sex, der dazu führt, dass die paradiesische Insel mit venerischen Krankhei- ten infi ziert wird.

Der Aufklärer: Forster als Entdecker im Dienste der Wissenschaft Die Konzeptualisierung des Weiblichen als »mora- lisches Geschlecht« (Lieselotte Steinbrügge), wie sie von der feministischen Forschung für des 18. Jahr- hundert erarbeitet wurde, gilt nicht uneingeschränkt.

Die Begegnung der indigenen Bevölkerung Brasiliens mit den europäischen Reisen- den zeigt ein deutliches Machtgefälle: Die Männer zu Pferde blicken auf die nack- ten Indios herab, deren Frauen sich im Gebüsch am Wegesrand versteckt haben. Ängstlich und zugleich neugierig blicken sie auf die Europäer in deren für sie frem- den, sicherlich auch befremdlichen Tracht (aus: Johann Moritz Rugendas Voyage Pittoresque dans le Brésil 1827 – 1835).

Die ferne Fremde wird zum Ort sexueller Fantasien, die im Zuge der Kolonisierung dann ausgelebt werden. Diese 1835 nach einer Zeichnung von Johann Moritz Rugendas entstande- ne Lithografi e deutet das erotisch-zügellose Leben der Welt- geistlichen in Bahia an. Eine Vermischung der »Rassen« wird sowohl gezeigt als auch unter Vorbehalt gestellt. Die den Ein- heimischen unterstellte Wildheit kann zwar abgetötet und do- mestiziert, aber nicht ganz zum Schweigen gebracht werden. Die Rolle der Tiere im Bild ist diesbezüglich aufschlussreich.

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Zwei Naturforscher bei der Arbeit. Der kolorierte Holzstich (nach einem Gemälde von John Francis Rigaud, 1780) zeigt Johann Reinhold Forster (1729 – 1798) mit seinem Sohn Ge- org (1754 – 1794). Er zeichnet hier einen damals noch unbe- kannten Vogel auf Tahiti. Die europäische Kleidung der Män- ner wird vom üppigem Grün der Bäume gerahmt, die den Blick freigeben auf eine Südseeinsel im Hintergrund. In dieser naturalistisch anmutenden Darstellung können wir sehen, dass der Zeichenstift als Waffe fungiert, denn für die zoologi- schen Zeichnungen mussten viele Vögel sterben.

Forsters Beobachtungen weiblicher Sinnenfreude be- zeugen, dass eine Sexualisierung der Frau keineswegs zu einer Destabilisierung von Familie und Gesellschaft führen muss. Seine Wahrnehmung und Beschreibung der fremden Frauen in der Südsee war getrübt von seinem Blick durch europäische Moralvorstellungen. Als Humanist hielt er an der Überlegenheit der Zivi- lisation fest und arbeitete am Projekt einer (selbst-) kritischen Aufklärung. Fortschrittsoptimismus und Skepsis verbinden sich zu einem äußerst produktiven Programm. Forster reiste als Entdecker im Dienste der Wissenschaft, wobei eine Dialektik der Aufklärung, die auch den Preis des Fortschritts und seine Schatten- seiten aufzeigt, zuweilen aus dem Blick geriet. Neben geografi schen und ethnologischen Forschungen haben

a) Georg Forsters kolorierte Zeichnungen die Forsters auch mit der Erforschung der Sprachen von Pfl anzen und Tieren – Menschen hat Polynesiens begonnen und sich hier unumstrittene er nicht gemalt – sind in der 2007 er- Verdienste erworben. schienenen Neuausgabe seiner Reise um die Welt erstmals zu sehen. Nach Reisen in die nahe Fremde: Goethes Italien-Reise Linné’schem Muster wurde die Arauka- rie aus Neukaledonien klassifi ziert: Goethes Italienische Reise (1786 – 1788) diente der Araucaria columnaris. Dieser Baum Selbstbildung, und was anfangs wie Flucht aussah, kann bis zu 1000 Jahre alt werden. wendete sich zum Guten. An den Herzog von Weimar schreibt Goethe: »Ich habe mich in dieser anderthalb- b) Der Tahiti-Laufsittich zählt zu den jährigen Einsamkeit selbst wiedergefunden: aber als ausgestorbenen Arten. Georg Forster was? – Als Künstler!« In der Form eines Tagebuches zeichnete ihn 1774 während eines Auf- hält Goethe die einzelnen Stationen seiner Reise fest, enthalts auf Tahiti und bewahrte ihn so wobei er besonders auf die Natur, die Gesellschaft und im wissenschaftlichen Gedächtnis. Lan- ge Zeit waren seine Zeichnungen in die Kunst achtet. Diese drei großen Bereiche versucht Londoner Archiven verschwunden und er wechselseitig zu erhellen, indem er sie jeweils als wurden erst kürzlich dem deutschen Pu- lebendigen Organismus versteht. »Kunst ist nichts blikum wieder geschenkt. anderes als Natur auf ihrer höchsten Stufe. Im Kunst- werk verewigt sich das Werden zum Sein, ohne seine Spontaneität zu verlieren«, heißt es im Nachwort zur Italienischen Reise. Dem Buch, das zuerst 1816 und 1817 erschien, stellt Goethe das Motto »Auch ich in Arkadi- en!« voran. Insbesondere der Aufenthalt in Rom wird ihm zur wichtigen Selbstbegegnung. Am 1. November 1786 notiert er: »Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt! (…) es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig; (…) es ist alles, wie ich mir’s dachte, und alles neu.« Seinem Freund Schiller war diese unmittelbare Wahrnehmung des Idealen fremd und suspekt, Goethe aber fühlt sich durch seinen Italien-Aufenthalt darin bestätigt. Die Stadtbesichtigung zeigt ihm nicht nur das damals gegenwärtige Rom, sondern in den Bauwerken wird auch das Vergangene als Fortbestehendes sicht- bar. Goethe liest Geschichte gleichsam von innen he- raus. Seine Reise in die nahe Fremde ist eine Reise zu den Anfängen der europäischen Kultur. Viele sind ihm auf diesen Pfaden gefolgt.

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Reisende Frauen und ihre Einblicke Ida Pfeiffer (1797 – 1858) in dem von in »geheime Räume« ihr selbst entworfenen Reisekostüm, das Zu den Italien-Reisenden zählten auch Frauen, dar- sich durch Zweckmäßigkeit auszeichnet. unter etwa Fanny Mendelssohn, die in Italien mehr An- Schmetterlingsnetz und Botanisiertrom- mel weisen auf ihre Sammeltätigkeit erkennung als Musikerin erfuhr als zu Hause in Berlin, hin. Unter dem Hut, der sie vor Sonne oder die Vormärzautorin Fanny Lewald, die sich nicht und Regen schützt, blickt die Wienerin nur an Goethe, sondern auch an Heines Reisebildern ori- unternehmungslustig und selbstbewusst entierte und die Fremde wiederholt zum Projektions- in die Welt, die sie viele Jahre durcheil- raum eigener Wünsche machte: Italien wird als Gegen- te, nachdem sie ihre Rolle als Ehefrau bild zum kalten, puritanischen Norden wahrgenommen. und Mutter erfüllt hatte. Trotz dieser Idealisierung enthält Lewalds Italienisches Bilderbuch (1847) viele detailgenaue Beobachtungen des Alltags, die in sozialkritischer Absicht notiert werden. Wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch debattiert, »Ob und wie Frauenzimmer reisen sollen?« (Franz Lud- wig Posselt), gehörte Italien bald schon zu einem auch für Frauen vergleichsweise leicht erreichbaren Land, wozu nicht zuletzt bessere Verkehrswege und komfor- Schilderungen des Harems stellen ein Privileg reisen- tablere Transportmittel beigetragen hatten. Gleichwohl der Frauen dar. Über einen Besuch der heißen Bäder in stellte für die Frauen das Reisen eine besondere Heraus- Sofi a, die sie als das »Kaffeehaus der Frauenzimmer« forderung dar, denn die Erfahrungen der Reise konfron- charakterisiert, schreibt Lady Mary Montagu 1717, dass tierten sie mit der »eigenen Fremde« (Annegret Pelz). sie unter den »vielen schönen nackten Weibsbildern« in Diese Konfrontation mit dem Anderen des Selbst lässt ihrem europäischen Reisekleid als die Fremde erschei- sich besonders gut an den Beschreibungen des Orients, nen muss. Ihre Wahrnehmung des Orients ist durch genauer gesagt seiner geheimen Räume, illustrieren. Empathie und den Gleichheitsgedanken der frühen Auf- klärung getragen. Gräfi n Ida von Hahn-Hahn, die ein vor rangig touristisches Interesse am Orient hat, be- schreibt 1848 das Fremde als minderwertig. Ihr koloni- aler Blick lässt positive Fremderfahrungen nicht mehr erkennen. Im 19.Jahrhundert sind alle Weltteile ent- deckt, jetzt werden sie genauer erschlossen. Neben einer ökonomischen Ausbeutung des Fremden wird die wis- senschaftliche Erschließung der Welt in geografi scher, biologischer und ethnologischer Hinsicht fortgesetzt. Verblüffend ist, unter den Forschungsreisenden sind auch botanisierende Hausfrauen zu fi nden. Da wäre etwa die recht unbekannte Berlinerin Caecilie Seler-Sachs zu nennen, die ihren Mann nach Mexiko und Guatemala begleitete und bei seinen Forschungen unterstützte. Die Wienerin Ida Pfeiffer war 1842 zu einer Pilger- fahrt nach Jerusalem aufgebrochen, zwei Weltreisen und eine Fahrt nach Madagaskar sollten folgen. Für sie ist das Reisen aber nicht nur Flucht aus einer un- glücklichen Ehe, sondern vor allem eine aktive, selbst- bestimmte Lebensform. Durch ihre Reiseberichte und das Sammeln von naturgeschichtlichen Objekten und ethnografi schen Gegenständen ermöglicht sie sich die Finanzierung weiterer Reisen. Als Reiseschriftstelle- rin fi ndet sie ebenso Anerkennung wie als Naturfor- scherin. Alexander von Humboldt wird sie nach ih- rer zweiten Weltreise als Ehrenmitglied der Berliner Geographischen Gesellschaft vorschlagen. Ida Pfeiffer hält sich selbst zwar für vorurteilsfrei, ist aber in ihrer von der abendländischen Zivilisation geprägten Welt- anschauung befangen. Trotz aller eurozentristischen Bornierungen eröffnet sich der reisenden Frau aber ein doppelter Blick auf die Fremde, denn als »Exotin« hat sie im Osten gleichermaßen Zugang zur Welt der Wichtige Stationen auf Goethes Italienischer Reise waren Männer, etwa dem orientalischen Kaffeehaus, und zur Rom, Neapel und Sizilien. Viele Impressionen der Reise hat er Welt der Frauen, dem Harem. Insofern sind die Berich- in seinem Skizzenblock festgehalten: »Wo man geht und te von Frauen über ihre Reisen anders. Auch wenn Ida steht, ist eine Landschaft Bild.« Auf diesem unbekannten Blatt von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein sehen wir Goe- Pfeiffer nur selten als teilnehmende Beobachterin auf- the am Fenster seiner römischen Wohnung. Er blickt in die tritt, so dürfen wir doch nicht vergessen, dass sie mit Nebengassen der Stadt. Um das italienische Leben studieren Schmetterlingsnetz, Schreibfeder und Essbesteck kam, zu können, wendet er selbst dem Betrachter den Rücken zu. nicht mit Gewehr und Bibel.

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Alexander von selbst nennt, schreibt er gegen Ausbeutung und Skla- Humboldts Ur- verei, denn er propagiert die »Einheit des Menschen- waldlaboratorium geschlechts«. Anders als Georg Forster allerdings ist er am Orinoko. Alles Diplomat, nicht Revolutionär. Sein demokratisches, soll genau gemes- sen und verzeich- unterschiedliche Disziplinen umgreifendes Wissen- net werden. Sein schaftsverständnis – neben Betrachtungen der Natur Reisegefährte treten kulturgeschichtliche und sozialökonomische Bonpland ist um- Studien, Gutachten über Edelmetallvorkommen, ast- geben von Tieren ronomische und geografi sche Messungen – ist auf ei- und Pfl anzen, die nen Dialog der Kulturen angelegt. noch zu präparie- Humboldts Reise in die Aequinoctial-Gegenden des ren beziehungs- weise zu herbari- neuen Continents, die er zwischen 1799 und 1804 unter- sieren waren. nimmt, ist keine Entdeckungsreise im herkömmlichen Vieles von der wis- Sinne. Bei seiner Erkundung des Orinoco-Gebietes be- senschaftlichen fährt und beschreibt er die Gabelteilung des Casiquiare, Ausbeute ging Alexander von Humboldt und sein Dialog die zwei Flusssysteme, den Orinoko und den Amazo- während der stra- mit den Kulturen nas, miteinander verbindet. Diese »monstruosité géogra- paziösen Reise al- »Die Fortschritte des kosmischen Wissens wurden phique« kann gelesen werden als Plan einer »anderen lerdings wieder verloren, etwa die durch alle Gewaltthätigkeiten und Gräuel erkauft, wel- Moderne« (Ottmar Ette), denn die netzförmige Ver- in Spiritus aufbe- che die sogenannten civilisirenden Eroberer über den schlingung der Flussläufe veranschaulicht eine relati- wahrten Tiere. Sie Erdball verbreiten.« Das lesen wir in Alexander von fi elen dem Klima Humboldts Fragment gebliebenem Spätwerk Kosmos. oder auch den Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (5 Bände, Die Verteilung der Pfl anzen auf der nördlichen Erdhalbkugel. Stürzen der Maul- 1845 – 1862). Ähnlich wie Goethe begreift Humboldt Alexander von Humboldt ging von einem Gleichgewicht der tiere zum Opfer. Natur aus, für ihn war die Welt ein organisches Ganzes. Lokale die Natur als ein lebendiges Ganzes und fi ndet darin Eingriffe können also globale Folgen haben. Wiederholt warnte auch die Begründung einer Moral, was auf ein mo- Humboldt vor der Umweltzerstörung; bereits Georg Forster hat- dernes ökologisches Verständnis vorausweist. Als »Ge- te die unheilvolle Wirkung der Europäer in der Südsee, wo sie schichtsschreiber der Kolonien«, wie Humboldt sich nachteilig ins soziale Gleichgewicht eingriffen, erkannt.

Weiterführende Literatur

Matthias Meyn Annegret Pelz Rei- Franke Georg Fors- von Humboldt Netz- Folge. Beiheft 2. Andreas Erb u. amerikas Berlin u.a. (Hrsg.) sen durch die eigene ter zum 200. To- werke des Wissens, Bern u.a. 1999. Hannes Krauss 2004. Die großen Entde- Fremde. Reiselitera- destag. Ausstel- Bonn 1999. (Hrsg.) Lesen – ckungen tur von Frauen als lungskatalog, Otto Krätz Reisen – Schreiben Georg Forster München 1984. autogeographische Universitätsbiblio- Alexander Honold Alexander von Hum- Der Deutschun- Reise um die Welt. Schriften Köln, thek Mainz 1994. u. Klaus Scherpe boldt: terricht, Heft 4, Illustriert von eige- Mary Louise Pratt Weimar, Wien (Hrsg.) Das Fremde. Wissenschaftler – 2002. ner Hand (Sonder- Imperial Eyes. Tra- 1993. Kunst- und Aus- Reiseerfahrungen, Weltbürger – Revo- band der anderen vel Writing and stellungshalle der Schreibformen und lutionär 2. korr. Michaela Holden- Bibliothek). Transculturation Rolf Reichardt u. Bundesrepublik kulturelles Wissen Aufl . München ried Künstliche Ho- Frankfurt/M. London, New York Geneviève Roche Deutschland Zeitschrift für Ger- 2000. rizonte. Alterität in 2007; vgl. Rezen- 1992. (Hrsg.) Weltbürger, (Hrsg.) Alexander manistik. Neue literarischen Reprä- sion S. 101 Europäer, Deutscher, sentationen Süd-

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Alexander von Humboldt in seiner Bibliothek, 1856 (Farbli- thografi e von Storch und Kramer nach einem Aquarell von Eduard Hildebrandt). Die Gefahren des Urwalds hat der alte Gelehrte lange hinter sich. Bequem sitzt er im Lesesessel. Die Welt ist nun zusammengeschnurrt auf die Größe eines Globus. Die Erfahrung aber – die eigene und die fremde – ist enthal- ten in seiner umfänglichen Sammlung von Büchern und Kar- ten. Das Bild lässt erkennen, dass die Fülle des Wissens in Unordnung zu geraten droht. Ob Alexander von Humboldt (1769 – 1859) das schon ahnt? Sein Blick scheint skeptisch.

onale, eine dem Wurzelgefl echt von Pfl anzen entspre- chende Logik, die die Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari Mitte des 20. Jahrhunderts zur Grundla- ge ihres postmodernen Modells der Wissensorganisati- on und Weltbeschreibung gemacht haben. Sie sprechen von Rhizom und meinen ein dreidimensionales Laby- rinth. Dieses nicht hierarchisierende Modell ist anders als die stammbaumförmigen Darstellungsweisen eines konventionellen Wissenschaftsverständnisses, die den Wurzelgrund privilegieren und die Verästelungen nach Stärke beziehungsweise Nähe zum Grund in eine klare Ordnung bringen. Anders als etwa Georg Forster suchte Humboldt in der fernen Fremde nicht nach den Anfängen der Mensch- heitsgeschichte. Er fi ndet bei seinen Expeditionen in Süd- und Mittelamerika vielmehr Zeichen einer ande- ren Geschichte; vor allem die Üppigkeit der Natur lässt sich nicht in herkömmlicher Weise beschreiben, und deshalb propagiert Humboldt die Vernetzung des Wis- sens.

Reiseliteratur und die »Unheimlichkeit des Raums« Reiseliteratur gibt Aufschluss über den Zusammen- hang von Reisen, Schreiben und Denken, wobei die Bewegung im Raum als Modell eines prozessualen, of- fenen, in sich vielstimmigen Welt- und Selbstverständ- nisses dient. Auf den Reisen erfahrenes Wissen wird schreibend geordnet und auf Karten verzeichnet. Auch Diese Plakatwand in einer Straße Londons (von J. Parry, 1835) zeigt unter anderem An - zu Humboldts Reisewerk gehört eine Vielzahl von Kar- gebote für Schiffspassagen. So wird die neue Welt sicher erreichbar. Fernweh und Nos- ten, die die neuen Weltgegenden veranschaulichen. talgie sind mögliche Re aktionen auf diese Szene. Die Plakatwand kann aber auch gele- Festzuhalten ist jedoch, dass die Kartografie Wissen sen werden als Palim psest: Durch Beschreibung be kannt geworden, wird die Welt nun nicht abbildet, sondern es zuallererst herstellt. Ein Blick mit Reklame überschrieben. Und noch etwas zeigt diese Szene: Mit Gefahren ist man schon zu Hause konfrontiert, wie der kleine Taschen dieb, links im Bild, demonstriert. auf andere als die uns mittlerweile vertrauten Karten illustriert neben diesem konstruktiven auch das erzäh- lerische Element unserer Welterschließung. So erfah- Hoppes Reiseroman Pigafetta (1999) folgen, der uns ren wir im Atlas der wahren Namen (2008), dass Ama- auf einem Frachtschiff einmal um die Welt führt. Der zonas »der Bootszerstörer« bedeutet. Die Herkunft des Titelheld war übrigens ein Reisegefährte von Fernão Namens Chimborazo, des zu Zeiten Humboldts höchs- de Magellan, der 1520 zur ersten Weltumseglung auf- ten bekannten Berges, ist nicht ganz klar; er könnte brach. ◆ »Eisige Frau« oder auch »Eisiger Thron Gottes« bedeu- ten. Die im Namen sedimentierte mythologische Ge- schichte verweist auf ein anderes Wissen, dessen Er- schließung noch längst nicht abgeschlossen ist. Die Autorin In seinem Bestseller Die Vermessung der Welt (2005) entwirft Daniel Kehlmann ein literarisches Doppelpor- Prof. Dr.Carola Hilmes, 52, studierte Germanistik, Politikwis- trät des Weltreisenden Alexander von Humboldt und senschaft und Philosophie in Freiburg, Edinburgh, Frankfurt und Paris; sie ist außerplanmäßige Professorin der Goethe- des Mathematikers Carl Friedrich Gauß. Darin werden Universität und arbeitet derzeit als Dozentin für Neuere zwei Facetten der Aufklärung illustriert: Dem skurrilen deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Logiker stellt Kehlmann einen preußischen Rationalis- Neben der Reiseliteratur und der Autobiografi e gehören die ten gegenüber und zeichnet damit sicherlich ein his- Genderforschung, Mythenrezeption und Intermedialität zu torisch falsches Bild Humboldts. Die »Unheimlichkeit ihren Arbeitsschwerpunkten. Die Wissenschaftlerin war für des Raums« jedoch gestaltet der Roman auf fesselnde den Hessischen Rundfunk und als Gastprofessorin in Essen, Weise und verdeutlicht so den Anteil, den die Literatur Innsbruck, Lodz und Vechta tätig. an der Erschließung der Welt hat. Einer Expedition in [email protected] neue literarische Räume können wir auch in Felicitas

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1 Meeresforscher müssen seefest sein, wie die Aufnahme vom Forschungsschiff Der lebende Ozean F. S. Meteor zeigt. Im Seegebiet um die Kanarischen Inseln nehmen sie zusam- men mit der Mannschaft Messungen vor. Dazu müssen Geräte ausgesetzt und Biodiversität in marinen Ökosystemen wieder eingeholt werden.

von Michael Der Ozean gehört zu den am wenigsten erforschten Regionen unseres Planeten, obwohl er für den Wärme- und Türkay Energiehaushalt der Erde und die Gemeinschaft ihrer Bewohner eine wichtige Rolle spielt. Der Mensch fi scht und badet vor allem in den Flachmeeren. Dort ist auch die Schifffahrt am dichtesten. Doch obwohl die Flach- meere nur etwa 5 Prozent des Ozeanbodens ausmachen, wirken sich Veränderungen empfi ndlich auf alle Mee- resbewohner aus, bis in die dunkle, kalte und nahrungsarme Tiefsee.

Alles Leben kommt aus dem Meer. Vor etwa 3,3 Mil- hört zur Tiefsee: Etwa 80 Prozent des Ozeanbodens lie- liarden Jahren begannen sich alle heute bekannten gen unter 1000 Metern Wassertiefe. Intensiv erforscht Tierstämme zu entwickeln und einige darüber hinaus. ist davon aber nur ein verschwindend kleiner Teil; Erst vor etwa 400 Millionen Jahren, als genügend Sau- zusammengenommen beträgt die untersuchte Fläche erstoff in der Atmosphäre war, um einen schützenden Ozongürtel zu bilden, krochen die ersten Meeresbe- wohner an Land. Bis heute ist die Vielfalt der Baupläne im Meer größer als an Land. Das spiegelt die Vielgestaltigkeit dieses Lebens- raumes wider und seine große Ausdeh- nung. Etwa 70 Prozent der Erdoberfl äche sind von Meeren bedeckt. Der größte Teil der riesigen untermeerischen Räume ge-

2 Diese Karte der Meerestiefen zeigt, dass die von Menschen am häufi gsten genutzten Flachmee- re (weiß) nur einen Bruchteil des Meeresbodens be- decken. Umweltfaktoren wie Temperatur und Sauerstoff- gehalt des Wassers wirken sich hier besonders deutlich auf die Verbreitung der Organismen aus. 6000m 5000m 4000m 3000m 0m

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etwa fünf Quadratkilometer. Für die Erforschung der Biodiversität bilden dieser Raum und auch der gesamte Ozean eine riesige Herausforderung, technologisch wie auch wissenschaftlich.

Wer zählt die Arten, nennt ihre Namen? Wie viele Tierarten gibt es im Meer? Diese Frage ist deshalb hochaktuell, weil wir uns aufgrund globaler Veränderungen des Klimas und anderer Randbedin- gungen des Lebens fragen müssen, wohin die Biosphä- re driftet. Es reicht nicht, zu wissen, welche Tempe- raturen auf der Erde herrschen werden, wie stark die Polkappen abschmelzen oder die Zahl der Wirbelstür- me zunimmt. Wichtig ist für uns Menschen auch die belebte Umwelt, aus der wir Nahrung gewinnen. Le- bewesen halten die dazu notwendigen Stoffkreisläufe in Gang. So ist auch der Ozean weit mehr als eine mit Wasser gefüllte Wanne, die in Klimamodellen als ein 3 Am Ende der Nahrungskette stehen Fische, berechenbarer Wärmespeicher auftritt. Die planktoni- die der Mensch als Nahrung verwertet, hier ein Makrelen- schen Kleinalgen des Ozeans produzieren ungeheure schwarm. Mengen Sauerstoff, die sie in die Atmosphäre abge- ben – etwa so viel wie die tropischen Regenwälder. Sie Meere vor unserer Haustür produzieren Nahrung für immer größere Organismen Der Mensch nutzt überwiegend die Flachmeere. bis hin zu Menschen und Walen. Aus ihnen schöpft er Nahrung, nutzt sie im Urlaub zur Tiere und Pflanzen des Meeresbodens bestimmen Erholung und beeinfl usst sie durch sein Handeln nach- Küstenformen und ihre Stabilität gegenüber den Ge- haltig. Zwar handelt es sich nur um etwa 5 Prozent des walten des Wassers. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, Ozeanbodens, aber diese sind empfi ndlich und örtlich dass erst die Vielfalt der Lebensformen, Stoffwechsel- bereits stark verändert. Für die Forschung sind sie von wege und Anpassungen ein komplexes und stabi- großem Interesse, da sich in ihnen die abiotischen Um- les Ge füge erzeugt. Solche Systeme können teilweise weltfaktoren wie Temperatur und Sauerstoffgehalt des extreme Abweichungen von ihren gewöhnlichen Le- Wassers besonders deutlich auf die Verbreitung der Or- bensbedingungen bewältigen, ohne umzukippen. Da- ganismen auswirken. Umgekehrt sind die Verbreitung mit werden die Funktionen, die auch für uns Men- und das Vorkommen bestimmter Tierarten und Tierge- schen von Bedeutung sind, nachhaltig gesichert. Um meinschaften Indikatoren, manchmal auch Frühwarn- die Prozesse, ihre Mechanismen und Schwachstellen systeme für defi nierbare Umweltbedingungen, seien es zu verstehen und damit auch ihre Schutz- und Erhal- Erwärmung, Sauerstoffmangel, Schwermetallbelastung tungsstrategien, ist der erste Schritt die Erforschung der und vieles mehr. Um diese Indikatorfunktion nutzen Arten- und Formenvielfalt. zu können, ist zuvor die genaue Kenntnis der beteilig- Die großen Wissenslücken in Bezug auf die Tiefsee ten Akteure, der Arten, erforderlich. fordern dazu heraus, zunächst einmal ganz einfache In der Nordsee sind aufgrund langer Forschungs- und klassische Bestandsaufnahmen durchzuführen. tradition die meisten Arten bereits bekannt, wir wis- Das von der amerikanischen Sloan Foundation ins Le- sen aber wenig über die Entwicklung der Tiergemein- ben gerufene Großprogramm »Census of Marine Life« schaften, die Richtung, in der diese Prozesse ablaufen, stellt drei Fragen: Welche marinen Arten gibt es? Wo und die Anpassungsfähigkeit von Organismen. Solche kommen sie vor? Wie ist ihre globale Häufi gkeitsver- Fragestellungen erfordern Langzeitbeobachtungen, teilung? Diese einfach erscheinenden Fragen sind die also die ständig wiederkehrende Probenahme am sel- Basis eines internationalen 10-Jahres-Programms, das ben Ort und mit denselben Methoden. Langzeitbeob- im Jahre 2000 begonnen hat und an dem auch deut- sche Gruppen, darunter das Forschungsinstitut Sen- ckenberg, beteiligt sind. 4 Ein typischer Schon die erste Frage nach der Artenzahl ist nicht Netzfang im Ge- biet der südlichen leicht zu beantworten. Solide Schätzungen gehen da- Nordsee. Die Fau- von aus, dass es etwa 250 000 beschriebene marine na ist bereits Tierartengibt. Aber wie viele unbekannte Arten gibt es durch Sieben vom darüber hinaus? Eine in Expertenkreisen kontrovers Sediment ge- diskutierte amerikanische Studie kam 1992 bei einer trennt. In einem Hochrechnung auf Grundlage einer kontrollierten Pro- weiteren Schritt benahme zu dem Ergebnis, dass die globalen Artenzah- konserviert man die Organismen len allein der Tiefsee bei etwa zehn Millionen liegen mit geeigneten müssen. Selbst wenn die Forscher sich grob verschätzt Chemikalien. hätten, würde bereits ein Fünftel ihrer Schätzzahl die Später im Labor Anzahl der bisher im Meer und an Land beschriebenen heißt es: auswer- Tierarten um etwa 25 Prozent übersteigen. Das zeigt: ten, bestimmen Wir kennen erst einen verschwindend kleinen Teil der und zählen. marinen Biodiversität.

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achtungen werden in der Gezeitenzone wie auch im zu, 1978 das Gebiet nördlich von Norderney und 1982 tieferen Wasser der Deutschen Bucht und der offenen die Helgoländer Tiefe Rinne. Dort werden in wöchent- Nordsee vorgenommen. Im Weichbodenwatt leben die lichen bis vierteljährlichen Abständen Proben entnom- meisten Organismen im Sediment, sehr wenige an der men. Die meisten Stationen gibt es auf der Dogger- Sedimentoberfläche. Entsprechend sind Spaten und bank, wo seit 1991 40 Stationen existieren, an denen Wattstechkasten die wichtigsten Geräte zum Sammeln jährlich Proben genommen werden. Diese Datensätze von Proben. Diese werden anschließend gesiebt, und sind gerade in der derzeitigen Klimadebatte von gro- die Tierwelt wird quantitativ erfasst. So kann sowohl ßem Wert, da sie die Reaktionen eines Teiles unserer die Abundanz (Individuenzahl je Art) als auch die Biosphäre detailliert nachzeichnen. Biomas se auf die Fläche bezogen werden. Vergleichen- de Untersuchungen über viele Jahre liefern wertvolle Korallenriffe und Mangrovenwälder Informationen darüber, wie sich die Zusammensetzung Nicht nur in unseren gemäßigten Breiten ist die Un- der Arten und ihre Häufi gkeit verändern. Daraus kann tersuchung der Biodiversität wichtig, sondern auch in man auch Rückschlüsse auf die Funktionsweise des den Tropen und Subtropen. Korallenriffe und küsten- Ökosystems ziehen. nahe Mangrovenwälder sind in den Flachmeeren der In der offenen See werden dieselben Untersuchun- Tropen die bestimmenden Lebensräume. Sie beherber- gen von einem Forschungsschiff aus gemacht, aller- gen eine große Artenvielfalt, deren Erforschung schon dings mit anderen Geräten. Kastengreifer mit einem in sich eine große Herausforderung darstellt. Dieser automatischen Schließmechanismus stechen Blöcke Aufgabe widmen wir uns schwerpunktmäßig im Roten aus dem Meeresboden aus und bringen sie nach oben Meer und den ostasiatischen Meeren, um die beiden an Deck. Auch hier wird dann die Fauna durch Sieben weit auseinanderliegenden Extreme des Indopazifi- vom Sediment getrennt, die Organismen werden mit schen Ozeans vergleichen zu können. geeigneten Chemikalien (meist Formaldehyd) konser- Neben dieser taxonomisch-biogeografischen Fra- viert und später im Labor ausgewertet, bestimmt und gestellung interessiert uns besonders die Zusammen- gezählt. Im Gegensatz zum Watt gibt es im tiefen Was- setzung der Arten in unterschiedlichen Typen von ser reichlich Tiere, die auf der Meeresbodenoberflä- Habitaten (Lebensräumen). Korallenriffe sind heute che leben und daher nicht mit kleinfl ächigen Greifern durch vielfältige Einfl üsse stark gefährdet. Hohe Was- erfasst werden können. Sie werden in Schleppnetzen sertemperaturen führen zur Korallenbleiche: Die far- gefangen. An Deck wird der Fang gesiebt, und die häu- benprächtigen Lebewesen sterben ab und lassen die figen Arten der Grobfraktion werden gleich vor Ort weiße Kalkunterlage, auf der sie einst lebten, zurück. bestimmt, gezählt und registriert. Der Rest wird kon- Lokal können ganze Riffe absterben. Küsten- und Ha- serviert und ebenfalls mitgenommen. fenbaumaßnahmen tun ein Übriges zu ihrer Vernich- Auch in solchen Unterwassergebieten sind Lang- tung. Sterben die Korallen ab, verändert sich auch die zeituntersuchungen von großer Bedeutung, da sie Sekundärbesiedlung mit Gastorganismen, denn im klimatisch oder anderweitig bedingte Veränderungen kranken Riff nehmen die Höhlungen im Korallenge- der Tierwelt erkennen lassen. Sie dienen damit als In- stein zu und bieten vielfältigere Behausungen für Or- dikatoren für Prozesse, die unsere maritime Umwelt ganismen, die sich dort gewöhnlich nicht ansiedeln. Je bestimmen. Solche Langzeitserien existieren bei Sen- detaillierter man die spezialisierten Tiergemeinschaften ckenberg seit den 1970er Jahren: Begonnen haben wir kennt, die das gesunde Korallenriff kennzeichnen, des- am Jadebusen, 1975 kam die Helgoländer Reede hin- to besser kann man sie als Indikator für den Gesund-

5 Korallenriffe gehören zu den artenreichsten Lebensräumen 6 Die wichtigsten Geräte zum Sammeln der Tierwelt der Man- des Meeres. Sie sind durch hohe Wassertemperaturen beson- groven sind Spaten und Eimer. Hier der Autor bei einer Probe- ders gefährdet. nahme auf Martinique.

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heitszustand eines Riffes einsetzen. Dasselbe gilt für die 9 Diesen Ratten- Mangrovenwälder, deren Bestand ebenfalls gefährdet schwanzfi sch ist durch zunehmende Austrocknung, den Bau von (Macrouridae) fi n- Garnelenfarmen, Brennholzgewinnung, Überweidung gen die Frankfur- ter Forscher mit und Küstenbau. Nur für wenige dieser Ökosysteme einem Schlepp- gibt es detaillierte Untersuchungen. netz in 5000 Me- tern Tiefe im Süd- Der Tiefe Ozean atlantischen Die Tiefsee ist der größte Lebensraum unseres Pla- Ozean. Um sehr neten. Sie ist gekennzeichnet durch gleichmäßig nied- geringe von seinen rige Temperaturen um 2 °C und weiträumige Gleich- Nahrungstieren ausgehende Licht- förmigkeit. Trotzdem beherbergt sie eine sehr große reize wahrzuneh- Artenzahl. Von dieser ist nur der geringste Teil bekannt men, hat er Teles- und beschrieben. Proben, insbesondere kleinwüchsiger kop-Augen. Bodentiere, sind für die Forschung sehr ergiebig, denn sie enthalten oft über 90 Prozent Neues. Noch span- nender ist die Frage, wie eine solch hohe Biodiversität bei einer so großen Gleichartigkeit des Lebensraumes 8 Die Tiefsee- zustande kommt. Isolationsbarrieren sind nicht zu er- Garnele der Gat- kennen, obwohl sie vorhanden sein müssen. tung Sergestes Für den Tiefseeforscher ergeben sich daraus viele lebt im Südatlan- tischen Ozean. Fragen: Welche Rolle spielt etwa der räumliche Abstand zwischen Populationen in diesem gering besiedelten Lebensraum? Bilden die Rücken zwischen den großen Tiefseebecken von über 4000 Metern Wassertiefe eine Forschungsschiff F. S. Meteor dienten der Untersuchung wirksame Verbreitungsbarriere? Solche Fragen lassen des Kap-, des Angola- und des Guinea-Beckens, alle sich nur mithilfe einer repräsentativen Beprobung über 5000 Meter tief, deren Tierwelt zuvor kaum er- beantworten, die bisher fehlt oder sehr selten ist. Für forscht war. Auf langen Strecken innerhalb der Becken eine einzige Probenahme muss man ein Schleppnetz in und quer über sie hinaus haben wir untersucht, wel- über 5000 Meter Wassertiefe fahren. Das dauert etwa chen Einfl uss der Abstand zwischen den Probenahmen 13 Stunden. Aufgrund des großen Zeitaufwandes wur- auf die Vielfalt der Bodentierwelt hat. Dabei interessiert den stets nur einzelne Proben in den großen Tiefen des uns vor allem, ob die Unterschiede beim Überschreiten Ozeans genommen. der Beckengrenze größer sind als innerhalb desselben Die Ozeanbecken des Atlantiks werden nach und Tiefseebeckens. Erstaunlicherweise konnten wir bei nach von Süd nach Nord im Rahmen des Großprojekts diesen noch nicht ganz abgeschlossenen Untersuchun- DIVA untersucht. DIVA (Diversitätsgradienten in der gen nachweisen, dass die biologische Produktivität des Tiefsee des Atlantiks) ist Teil des »Census of Marine Wassers in den oberen und mittleren Schichten bis auf Life« und wird vom Deutschen Zentrum für Marine den Tiefseeboden in mehr als 5000 Metern Tiefe hinab Biodiversitätsforschung, einer Abteilung des Sencken- wirkt. Auf diese Weise wird die Gleichförmigkeit der berg-Instituts, geleitet. Mehrere Expeditionen mit dem Umweltbedingungen durchbrochen.

7 Das Forschungsschiff F. S. Meteor ist auf seinem Hauptdeck mit 20 Laborato- rien ausgestattet, in denen bis zu 28 Wissenschaftler auf 400 Quadratmetern arbeiten können. Das Schiff gehört der Bundesrepublik Deutschland und wird zu 70 Prozent von der Deutschen For- schungsgemeinschaft (DFG) und zu 30 Prozent für Projekte des Bundesmi- nisteriums für Bildung und Forschung (BMBF) genutzt.

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so dass dort eine extreme Nahrungsarmut entsteht. Die Lebensgemeinschaften der Bodentiere müssen sich auf eine unregelmäßige Nahrungszufuhr ein- stellen, die überwiegend nicht aus der Produktion im Freiwasser gespeist wird, sondern durch Strömungen aus nahe liegenden nährstoffreicheren Gebieten oder vom Land aus, etwa durch Absinken von Material, das durch Regen ausgewaschen wurde. Die Tierwelt muss schnell auf solche Ereignisse reagieren, aus entfernten Gebieten zuwandern oder kleinwüchsig sein, um den Nahrungseintrag unmittelbar zu nutzen, in der kurzen Zeit zu wachsen und sich fortzupflanzen. Besonders gut können dies Mikroorganismen und Einzeller, die außerdem lange Perioden des Nahrungsmangels einge- kapselt und inaktiv überdauern können. Je größer die Organismen werden, umso seltener sind sie, die Megafauna schließlich besteht nur aus

0 Der Unterwasserroboter QUEST gehört zu den neuesten Er- rungenschaften der deutschen Meeresforschung. Er wird vom Zentrum der Meereswissenschaften an der Universität Bremen (MARUM) betrieben und steht auf Antrag allen interessierten Arbeitsgruppen zur Verfügung.

»Warme« Tiefsee: Rotes Meer und Mittelmeer Von dem Muster einer gleichmäßig kalten Tiefsee gibt es zwei wichtige Ausnahmen, das Rote Meer und das Mittelmeer. Beide Nebenmeere sind von der gro- ßen ozeanischen Zirkulation durch fl ache Schwellen an ihren Eingängen ausgeschlossen, so dass ihr Tiefen- wasser vor Ort gebildet wird und daher auch nicht käl- ter sein kann als in den Bildungsgebieten im Winter. Im Roten Meer sind dies 20,5 °C, die bis in die größten Tiefen von über 2000 Metern herrschen, im Mittelmeer 13,5 °C bis in 5000 Meter Tiefe. Solche Bedingungen sind einzigartig: Da alles absinkende Material schneller bakteriell zersetzt wird als im »Kühlschrank« der ozea- nischen Tiefsee, kommt am Meeresboden weniger an,

q Mit QUEST lassen sich unter direkter Beobachtung in bis zu 4000 Meter Wassertiefe gezielte Proben nehmen und Ex- Der Autor perimente durchführen.

Prof. Dr. Michael Türkay, 60, studierte, promovierte und habilitierte sich an mobilen und zur Wanderung über lange Strecken be- der Goethe-Universität. 1976 wurde fähigten Organismen. Die Einzigartigkeit sowohl einer er wissenschaftlicher Mitarbeiter am speziell angepassten Warmwasser-Tiefseefauna als auch Forschungsinstitut Senckenberg, seit die Besonderheiten der Struktur und des Funktionie- 1989 ist er dort Abteilungsleiter der rens solcher Lebensgemeinschaften haben wir sowohl Evertebratenzoologie (heute Marine im Mittelmeer als auch im Roten Meer mithilfe der Zoologie) und seit 1995 Stellvertre- tender Direktor. 2008 wurde Türkay Forschungsschiffe »Meteor«, »Sonne« und »Valdivia« zum außerplanmäßigen Professor am Fachbereich Biowis- studiert. Mittlerweile sind die oben beschriebenen Zu- senschaften der Goethe-Universität ernannt. Seine For- sammenhänge gut belegt, und wir konnten dokumen- schungsinteressen sind die Taxonomie, Systematik, Biogeo- tieren, dass die Biodiversität von den abiotischen Para- grafi e und Ökologie der Großkrebse (Crustacea: decapoda), metern abhängt. die Langzeitentwicklung der Nordseefauna, die Biodiversi- tät und Ökologie der ozeanischen Tiefsee sowie die Crusta- Oasen der Tiefsee ceenfauna und Biogeografi e tropischer Flachmeerküsten. Oasen des Lebens in der Tiefsee stellen die Lebens- [email protected] gemeinschaften der Hydrothermalquellen dar, deren www.senckenberg.de/mtuerkaye reiche Tierwelt nur auf bakterieller Produktion beruht. Bakterien oxidieren den aus dem Erdinneren ausströ-

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w Oasen des Lebens in der Tiefsee sind die Lebensgemein- schaften der Hydrothermalquellen: Am Mittelatlantischen Rücken leben in etwa 3300 Metern Wassertiefe Tiefsee-Pfer- demuscheln (Bathymodiolus) und Vent-Garnelen (Rimicaris).

menden Schwefelwasserstoff und das Methan und ge- winnen dadurch Energie. Diese Art der Energiegewin- nung und Produktion organischer Substanz ist vom Sonnenlicht unabhängig und kann daher als Alterna- tive zur Fotosynthese durch grüne Pfl anzen gesehen werden. Viele Tiere der Hydrothermalquellen leben nicht nur von Bakterien, sondern haben sie fest an sich gebunden, indem sie solche Bakterien als Symbionten in ihre Körpergewebe aufnehmen. Sie »füttern« ihre Symbionten mit dem reichlich vorhandenen Schwe- felwasserstoff und ernähren sich dann von ihnen oder ihren Stoffwechselprodukten. Einige dieser charakte- ristischen Arten nehmen überhaupt keine Nahrung mehr auf, andere nur noch wenig, um die bakterielle Produktion in ihrem Körper zu ergänzen. Solche unge- wöhnlichen Symbiosen haben bizarre und zuvor völlig unbekannte Anpassungen zustande gebracht. Das Stu- Weiterführende Literatur dium dieser Tiergruppen und ihrer Taxonomie ermög- licht uns Einblicke in die Laboratorien der Evolution. Türkay, M. (2001) Die Tiefsee in: Hofrichter, R. (Hrsg.) Das Insbesondere interessiert uns die Verbreitung solcher Mittelmeer. Fauna, Flora, Ökologie 1: 416 – 423, Abb. 6.101 – Tiergemeinschaften in Raum und Zeit. Ziel ist es, ein 6.108; Heidelberg, Berlin (Spektrum Akademischer Verlag). Indikationssystem zu erzeugen, mit dessen Hilfe man Hydrothermalquellen am Meeresboden gezielt auffi n- Türkay, M. (2002) Meeresbiologie bei Senckenberg – Natur und den kann. Museum 132(8): 257 – 272, Tab. 1, Abb. 1–11. Kröncke, I. & Türkay, M. (2003) Structural and functional as- Wie geht es weiter? pects of the benthic communities in the deep Angola Basin – Mar. Noch wissen wir wenig über die Mechanismen, die Ecol. Progr. Ser., 260: 43 – 53, 1 – 4, text-fi gs. 1 – 7. marine Ökosysteme in Gang halten. Ein Schlüssel dazu scheint aber die biologische Vielfalt der Lebensgemein- Kröncke, I., Türkay, M. & Fiege, D. (2003) Macrofauna com- schaften zu sein. Nur wenn wir diese verstehen lernen, munities in the eastern Mediterranean deep sea – P. S. Z. N.: Mar. werden wir sie auch schützen können. Denn noch ist Ecol., 24(3): 193 – 216, tables 1 – 4, text-fi gs. 1 – 9. unklar, wie die Bewohner der Weltmeere, aus denen Türkay, M. (2007) Meeresforschung. Aufbruch in eine neue Welt – wir, aber auch andere Lebewesen Nahrung schöpfen, Vernissage 15(10/07): 60 – 65, 14 Abb. langfristig auf unsere Abfälle und die Erwärmung ihres Zu den Senckenberg-Tiefsee-Projekten siehe auch: Lebensraums reagieren werden. ◆ www.cedamar.org

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1 Dichte Staub- wolken sind be- deutende Sternen- entstehungsregio- nen. Viele junge Sterne fi ndet man im Nebel M16. Der Staub wird durch die Ster- nenentstehung aufgebraucht.

Kosmischer Staub im Nano-Labor Ein Blick in die Kinderstube des Sonnensystems

von Frank Brenker, Christian Vollmer Staubwolken sind im Universum die Geburtsstätten neuer Sterne. Dort wiederholen sich Pro- und Sylvia Schmitz zesse, die vor 4,56 Milliarden Jahren auch zur Entstehung unseres Sonnensystems geführt haben. Noch heute gibt es Zeugen aus dieser Zeit: Kometenstaub, Sternenstaub und inter- stellarer Staub. Die »Stardust-Mission« hat sie eingefangen, und Frankfurter Geowissen- schaftler haben darin – dank modernster Labor-Analytik – erstaunliche Funde gemacht.

taub ist nicht nur auf der Erde allgegenwärtig, auch erheblichen Einschränkungen lediglich aus der Ferne Sim scheinbar weitgehend leeren Weltall bildet er zu studieren. Völlig neue und direkte Einblicke in die eine der wichtigsten Komponenten überhaupt. Er ist so Bausteine unseres Sonnensystems und die Prozesse häufi g, dass man ihn bei sehr guter Sicht auf den Ster- während seiner Entstehung eröffneten sich inzwischen nenhimmel sogar mit bloßem Auge ausmachen kann. durch drei Neuerungen: bahnbrechende technische Schaut man ins Zentrum unserer Galaxie, also direkt in Fortschritte in der Nano-Analytik, die Funde ursprüng- Richtung der Milchstraße, bemerkt man dunkle Bän- licher (pristiner) Asteroidenbruchstücke auf der Erde der, die sich wie Schleier zwischen den unzähligen und die »Stardust-Mission« der NASA, die Proben des Sternen hindurchziehen. Diese Regionen bestehen aus Kometen Wild 2 2 und des interstellaren Staubstroms einem Staub-Gas-Gemisch. Verdichten sich diese Berei- einfi ng und zur Erde brachte. che zu Molekülwolken, werden sie zu den Geburtsstät- ten neuer Sterne. 1 Auch unser eigenes Sonnensystem Kometenstaub von Wild 2 ist vor cirka 4,56 Milliarden Jahren durch diesen Pro- Mit der Stardust-Mission der NASA [siehe »Die Star- zess entstanden. Jahrzehntelang mussten sich Wissen- dust-Mission«, Seite 26] wurde erstmals seit den Mond- schaftler damit begnügen, die Staub-Gas-Gemische mit Missionen wieder Material von einem Himmels körper

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zur Erde gebracht. Eine internationale Arbeitsgruppe 3 2 Aufnahme vom Kern des Kometen unter Leitung von Frank Brenker erhielt den Zuschlag Wild 2, aufgenommen von der Bordka- zur Teilnahme an den Untersuchungen dieses exk- mera der Raumsonde Stardust bei ihrem lusiven Materials schon im Rahmen des Voruntersu- Flug durch das Koma des Kometen. Die unruhige Oberfl äche des Kometenkerns chungsteams der NASA. Eine von der Arbeitsgruppe entsteht größtenteils während der Ent- entscheidend weiterentwickelte Messtechnik an der gasung in der Nähe der Sonne. Die Bil- European Synchrotron Radiation Facility – ESRF dung einer solchen Vertiefung durch ei- [siehe »Supermikroskop mit Röntgenstrahlen«, Seite nen Gas-Jet wurde von der Sonde 27] – gab den Ausschlag für die Aufnahme ins Team. beobachtet. Im Gegensatz hierzu ist die Später sicherte die enorme Palette an Messverfahren Oberfl äche von Asteroiden geprägt durch mit hoher Ortsaufl ösung, die am Institut für Geowis- vielfältige Impaktkrater. senschaften der Goethe-Universität vorhanden sind, die Zusendung weiterer Kometenstaubproben.4 Obwohl die Datenbasis noch relativ klein ist und die Untersuchungen eigentlich gerade erst richtig begon- nen haben, konnten wir schon einige bahnbrechende, zum Teil völlig unerwartete und der bisherigen Lehr- meinung konträre Erkenntnisse gewinnen. Bisher war man davon ausgegangen, Kometenstaub enthalte das ursprünglichste, auch während der Bildung unseres ei- genen Sonnensystems weitgehend unverändert geblie- bene Ausgangsmaterial, die Grundbausteine unseres Sonnensystems: Sie wurden während der Entstehung der Kometen in den kalten äußeren Bereichen des Sonnensystems eingefangen und darin in den letzten 4,56 Milliarden Jahren gewissermaßen auf Eis gelegt. So erwartete man einen hohen Anteil an echtem Ster- nenstaub, der nicht nur einen ungestörten Blick in die Kinderstube unseres Sonnensystems, sondern auch in die Prozesse der Sternenentstehung geben sollte. Denn Sterne lieferten den Staub für die Molekülwolken, aus denen letztendlich unser Sonnensystem entstand. Überraschenderweise ergab aber die Rekonstruktion 3 Arbeitsgruppe an der European Synchrotron Radiation Facility: von links Christian der chemischen Zusammensetzung des Kometen, an Riekel, Manfred Burghammer (ESRF, Grenoble, Frankreich), Frank Brenker (Goethe- der die Frankfurter Arbeitsgruppe maßgeblich beteiligt Universiät, Frankfurt), Laszlo Vincze und Bart Vekemans (Ghent University, Belgien) war, Werte, die sehr genau der mittleren chemischen Zusammensetzung unseres gesamten Sonnensystems viele Hinweise darauf gefunden, dass die Kompo- entsprechen. Abgesehen von leicht fl üchtigen Elemen- nenten bei hohen Temperaturen (zum Teil weit über ten hat der Komet eine ähnliche chemische Zusam- 1000 °C) entstanden wären. Den Höhepunkt stellte der mensetzung wie die Sonne. Dies wurde bereits als ein Fund von sogenannten kalzium- und aluminiumrei- erster Hinweis auf eine chemisch gute Durchmischung chen Einschlüssen dar. Diese Mineralgemenge kennt aller Komponenten in unserem Sonnensystem bis in man bereits aus den Untersuchungen von Meteoriten, die Bildungsbereiche des Kometen Wild 2 gewertet. die überwiegend Bruchstücke von Asteroiden sind. In der Folge bestätigten Detailuntersuchungen diese Asteroiden bilden einen Gürtel aus Kilometer großen Vermutung noch weiter. So wurden im Kometenstaub Objekten, welche die Sonne umkreisen. Die Kalzium- und Aluminium-reichen Einschlüsse entstehen durch Kondensation in der Nähe unserer Sonne bei Tempera- Fe Cr turen weit über 1000 °C. Sie stellen das älteste bekann- te Material unseres Sonnensystems dar. Was können wir daraus schließen, wenn Kome- ten, die am Rand des Sonnensystems entstanden sind, Komponenten enthalten, die sich etwa zeitgleich bei sehr hohen Temperaturen weiter im Zentrum des Son- nensystems bildeten? Erklären lässt sich das nur durch

4 Elementverteilungsbilder der Konzentration einzelner che- Ca Ca mischer Elemente. Das Bild zeigt den Ausschnitt aus einem Bereich entlang der Einschlagspur (hohe Konzentrationen gelb, niedrige Konzentrationen dunkelblau). Die Elemente weisen deutlich unterschiedliche Verteilungsmuster auf, was auf eine Vielfalt verschiedener Mineralphasen schließen lässt. Die Konzentrationen können quantitativ erfasst werden und erlauben die Rekonstruktion der chemischen Zusammenset- zung der eingefangenen Kometenpartikel und damit des Ko- meten selbst.

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Die Stardust-Mission

Auffang- Die Stardust-Sonde führt eine tennis- irekt durch den Partikel-Schweif des Kometen vorrichtung schlägerförmige Auffangvorrichtung mit DWild 2 fl og die Sonde der Stardust-Mission. Es sich, die die mit sehr hoher Geschwin- war die erste Mission der NASA nach dem Ende digkeit (>20 000 km/h) auftreffenden des Apolloprogramms zum Mond, die Material von Kometenstaubpartikel auffängt. Das einem anderen Himmelskörper sicher zur Erde sanfte Abbremsen der Staubkörner er- folgt in einer eigens hierfür entwickelten brachte. Die Sonde sammelte nicht nur Proben des Hightech-Substanz, dem sogenannten Kometenstaubs, sondern auch des interstellaren Aerogel, einem Si-Oxid-Glasschaum, der Materiestroms, der durch unser Sonnensystem zieht. die einzelnen Felder ausfüllt. Nach einem sieben Jahre dauernden Flug landete die Sonde mit ihrem kostbaren Inhalt am 16. Janu- ar 2006 sicher in der Wüste von Utah. Eingefangen Kometenstaubkorn wurden die mit sehr hoher Geschwindigkeit durch das Weltall fl iegenden Partikel in einem Aerogel. Das ist extrem poröser »Glasschaum« aus reinem Silizi- umoxid, der zu 99,8 Prozent aus Luft besteht. Die Staubpartikel durchschlagen darin Tausende von Einschlagspur Einschlagspur eines typischen Kometen- Nanoglaswänden und werden so relativ schonend ca. 0,25mm kornes im Aerogel. Die Einschlagrich- auf einer sehr kurzen Distanz (kleiner als ein Milli- tung war vom unteren Bildrand. Am Ende der Spur bleibt ein sogenanntes meter) abgebremst. Die Einfanggeschwindigkeit lag Endkorn liegen, allerdings wird entlang bei 6 Kilometern pro Sekunde (entsprechend der Spur bereits ein hoher Anteil (bis 21600 km/h) im Falle des Kometenstaubs und bei über 50 Volumen Prozent) des ursprüng- cirka 14 Kilometern pro Sekunde (entsprechend lichen Kometenstaubes abgerieben. 50 000 km/h) im Falle der interstellaren Partikel.

eine unerwartet hohe Dynamik: Es muss einen Mate- Der mit Abstand höchste Anteil präsolarer Körner riefl uss aus sonnennahen Bereichen bis in die äußeren in einem Meteoriten wurde in dem Stein »Acfer094« kalten Zonen unseres Sonnensystems gegeben haben. entdeckt. Bei der Untersuchung dieses exklusiven Ma- In Modellen lassen sich diese Bedingungen bisher nur terials kooperiert das Institut für Geowissenschaften annähernd nachvollziehen, beispielsweise im X-Wind- der Goethe-Universität unter anderem mit dem Max- Modell. Demnach hätten magnetische Winde in der Planck-Institut für Chemie in Mainz und dem Institut Nähe der Sonne Material weit bis in die Außenberei- für Funktionswerkstoffe der Universität Saarbrücken. che des Sonnensystems transportieren können. Die Das extrem feine räumliche Aufl ösungsvermögen immense Dynamik sorgte aber gleichzeitig dafür, dass der verwendeten Techniken ist dabei ebenso entschei- die ursprünglichen Komponenten des Sonnensystems dend wie bei der Analyse von Kometenstaub, denn die an jedem Ort in gleicher oder zumindest ähnlicher Wei- Sternenstaubkörner in den kosmischen Proben sind se zur Verfügung standen. Dieses Modell nährt Vermu- zumeist kleiner als ein tausendstel Millimeter. Um die tungen zur Entstehung des Lebens, bedenkt man, dass winzigen präsolaren Körner in den Meteoriten und damit die Grundbausteine hierfür an fast jeder Stelle Kometensplittern aufspüren zu können, benötigt man vorhanden waren und zum Beispiel auf dem Mars recht ein räumlich hochaufl ösendes Sekundärionen-Massen- ähnliche Startbedingungen vorlagen wie auf der Erde. spektrometer, das »NanoSIMS«. Ein feiner Ionenstrahl Auf der anderen Seite sind »echte« Sternenstaub- aus Cäsium (mit einem Durchmesser von einem zehn- körner eher ein sehr seltener Fund im Kometenstaub. tel Mikrometer) rastert dabei die Probe ab und misst Während der Voruntersuchungen konnte lediglich ein auf jedem analysierten Punkt die isotopische Zusam- einziges, winziges Sternenstaubkorn entdeckt werden. mensetzung. Die Isotope eines Elements haben gleiche Möchte man also tatsächlich in Sternentstehungspro- chemische Eigenschaften, aber unterschiedliche Mas- zesse schauen, muss man an anderer Stelle suchen. Ur- senzahlen (entsprechend der Anzahl der Neutronen im sprüngliches (pristines), das heißt seit seiner Bildung Atomkern). Die Häufi gkeit, mit der die Isotope eines vor 4,56 Milliarden Jahren unverändertes Material Elements in der Natur auftreten, gibt Auskunft über wird in manchen Meteoriten gefunden. ihre Herkunft. Sternenstaub erkennt man anhand der isotopischen Anomalien in Elementen wie Sauerstoff Sternenstaub und Kohlenstoff. Ihre Zusammensetzung unterscheidet Neben der Rekonstruktion der Urbausteine unseres sich grundlegend von derjenigen der anderen Materie eigenen Sonnensystems im Rahmen der Stardust-Mis- unseres Sonnensystems. Das lässt sich nur durch Fusi- sion der NASA interessiert sich unsere Arbeitsgruppe onsprozesse im Inneren von Sternen erklären. vor allem für Körner, die noch älter sind als unsere Ist der Sternenstaub durch seine istopischen Beson- Sonne. Diese sogenannten »präsolaren Körner« stel- derheiten im Meteoriten lokalisiert, muss er für die Ana- len echten Sternenstaub dar, der den Mischungs- und lyse im Transmissionselektronenmikroskop (TEM) her- Aufheizungsprozessen während der gesamten über ausgeschnitten werden. Denn die Proben dürfen nicht 4,5 Milliarden Jahre dauernden Geschichte unseres wesentlich dicker sein als etwa 100 Nanometer, damit Sonnensystems wie durch ein Wunder entkam. sie für Elektronen durchstrahlbar sind. Dieser Schritt

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ist der heikelste. Mit einem »fokussierten Ionenstrahl« einer Supernovaschockwelle – einer gewaltigen Explo- aus Gallium wird das präsolare Korn punktgenau aus sion, bei der sich der Sternenstaub schlagartig verdich- der Probe herausgeschnitten. Im Elektronenmikroskop tete. Diese Entdeckung ist deshalb so unerwartet, weil durchstrahlen dann hochenergetische Elektronen (mit man davon ausgegangen war, dass Körner in diesen einer Beschleunigungsspannung von 200 000 Volt) die Schockwellen größtenteils zerstört werden. Der Fund Probe. Das Vergrößerungsvermögen dieses Instrumen- belegt das Gegenteil und zeigt, wie wichtig kombinierte tes ist so hoch, dass sogar einzelne Atomlagen im Kris- spektrometrische und elektronenmikroskopische Un- tallgitter abgebildet werden können. Die Untersuchun- tersuchungen an präsolaren Mineralen sind. Die Iro- gen erlauben Rückschlüsse auf die Struktur, aber auch nie dieses Fundes: Man sucht nach Staubkörnern, die die Chemie der untersuchten Körner. lange vor der Entstehung des Sonnensystems in fernen Die isotopischen, chemischen und strukturellen Sternen kondensiert sind und heute noch im interstel- Untersuchungen des Sternenstaubkorns ermöglichen laren Raum zu fi nden sind – und entdeckt stattdessen es nun, seine Entstehungsgeschichte zu rekonstruie- das häufi gste Mineral unseres Planeten Erde! ren. In den Winden welches Sternes ist es vor Urzei- ten kondensiert und wie? Durch welche Prozesse ist Interstellarer Staub das Korn während seiner Reise durch das interstellare Auch in Zukunft sind am Geowissenschaftlichen Medium verändert worden? Welche stellaren Umge- Institut der Goethe-Universität spektakuläre Funde zu bungen haben Staub in das Sonnensystem geliefert? erwarten. Gerade erst hat die Untersuchung der Staub- Eine unerwartete Entdeckung gelang dabei in Frank- körner des interstellaren Materiestroms begonnen, die furt: Eines der präsolaren Körner, das nachweislich in ebenfalls während der Stardust-Mission aufgesammelt den Winden eines Roten Riesensterns kondensiert ist, wurden. Über die Beschaffenheit (Struktur und Che- hat die Kristallstruktur eines Hochdruckminerals, das mie) der Körner, die die einzige Verbindung unseres den größten Teil des unteren Erdmantels ausmacht: Sonnensystems mit dem Rest der Galaxie darstellen, Magnesiumperowskit. Aber wie kann diese Mineral- hat man bislang nur eine recht grobe Vorstellung. Man modifi kation unter den extrem niedrigen Drucken der geht davon aus, dass während der Mission nur etwa Sternatmosphären entstehen? Die plausibelste Erklä- 100 solcher Körner eingesammelt wurden. Bevor sie rung hierfür ist wohl die Umwandlung des Korns in untersucht werden können, müssen sie erst einmal

Die European Synchrotron Radiation Faci- lity – ESRF – ist eine Europäische Großfor- schungseinrichtung, an der über 3000 Ar- beitsgruppen pro Jahr messen können. Die Synchrotronstrahlung (eine hochenergeti- sche Röntgenstrahlung) wurde einst am großen Bruder CERN entdeckt. Da sich diese Art der Strahlung als äußerst nütz- lich erwies, wurden hierfür optimierte Messanlagen wie das ESRF entwickelt. Supermikroskop mit Röntgenstrahlen

elche Struktur hat der Synchrotronstrahlung. Ähnlich mehrere Tage stabil halten. Die WKometenstaub, und wie wie bei einer Röntgenaufnahme nutzbare Ortsaufl ösung ist damit ist seine chemische Zusam- des menschlichen Knochengerüsts um etwa eine Größenordnung bes- mensetzung? Um diese Fragen kann man auf diese Weise den Ko- ser als bei den Strahlungsquellen beantworten zu können, ohne metenstaub durchleuchten. Die von in den USA (Argonne National La- die Proben zu zerstören, so dass uns angewandten Methoden erlau- boratory) und in Japan (Spring 8). sie anderen Wissenschaftlern ben die dreidimensionale Messung für weitere Untersuchungen der chemischen Zusammensetzung zur Verfügung stehen, bediente (Röntgenstrahlfl uoreszenzanaly- sich unsere Arbeitsgruppe der se) und des strukturellen Aufbaus erstaunlichen Möglichkeiten (Röntgenstrahlbeugung) des Kome- an der European Synchrotron tenstaubes. Radiation Facility – ESRF – in Den Weltrekord in Präzision hält Grenoble. Dieses europäische die Beamline-Nummer ID13 des Großprojekt stellt eine Art Rönt- ESRF: Erst kürzlich erreichte man gensupermikroskop bereit. Auf hier eine Punktaufl ösung von nur einer fast ein Kilometer langen fünf Nanometern. Im Routinemess- Kreisbahn werden Elektronen betrieb ergibt sich hierdurch im- auf nahezu Lichtgeschwindigkeit merhin noch eine Fokusbreite von Messstation ID13 an der European Synchrotron Radiation Fa- beschleunigt. Lenkt man die nur 100 Nanometern (1/10000stel cility. Neben der Struktur des Kometenstaubes mittels Rönt- Elektronen von einer geraden eines Millimeters). Zum Vergleich: genbeugung lässt sich vor allem die chemische Zusammenset- Bahn ab, senden sie eine brillan- Ein menschliches Haar ist etwa zung der Partikel dreidimensional mit einer Ortsaufl ösung von te, hochenergetische Röntgen- 1000-mal dicker. Die Messbedin- weniger als 100 Nanometern (ein 10 000stel Millimeter) er- strahlung aus, die sogenannte gungen lassen sich im Idealfall über mitteln.

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Engagement Bilder einzelner Probenausschnitte. Auch Kometen und die Entstehung unseres Sonnensystems für dieses Projekt wurde von der NASA ein relativ klei- nes Voruntersuchungsteam zusammengestellt, das in den nächsten drei Jahren das kostbare Material unter- Der Komet West, erstmals gesichtet im suchen wird. Zurzeit werden lediglich Untersuchungs- August 1975, ging wegen seines spek- takulären Schweifs in die Geschichte methoden akzeptiert, die vollkommen zerstörungsfrei ein. arbeiten. Anfang 2008 wurde am Jet Propulsion Laboratory Vor etwa 4,5 Milliarden Jahren der NASA in Pasadena die erste Probe aus dem Auf- entstand unser Sonnensystem, in- fangbehälter der Mission herausgeschnitten und auf dem ein Staub-Gas-Gemisch sich direktem Weg zu unserer Messung in Grenoble ge- zu einer Molekülwolke verdichte- schickt. Inzwischen liegen die ersten Ergebnisse vor, te. Zunächst bildeten sich größere aber ein defi nitiver Nachweis der interstellaren Materie Staubkörner, die dann zu noch grö- ist noch nicht gelungen. Da die Präparation der Körner ßeren verklumpten. Beim Zusam- inzwischen im Routinebetrieb ohne Verluste möglich menstoß der Klumpen entstanden ist, wagen wir uns nun auch an die besseren Kandida- sogenannte Planetesimale, die in ten für Material aus dem interstellaren Materiestrom der Nähe der Sonne zu Asteroiden, heran. Zweifelsfrei identifi ziert wurden bereits soge- Kleinstplaneten und Planeten an- nannte Sekundärpartikel, die durch den Einschlag von wuchsen. An den kalten Rändern des Sonnensystems entstanden zur gleichen Zeit die Kometen. In ihnen kosmischen Staubpartikeln auf die Sonnensegel ent- wurde das Gas-Staub-Gemisch in einem sehr ursprünglichen Zustand standen. Diese Staubpartikel enthalten auch Reste vom eingefroren. Sie sind daher als Botschafter vergangener Zeiten ein be- ursprünglich eingeschlagenen Partikel, und das könnte gehrtes Forschungsobjekt. Auch der Asteroidengürtel, der sich zwischen sich als interstellares Korn erweisen. Hierzu sind aber den Bahnen von Mars und Jupiter befi ndet, sowie der Kuipergürtel NanoSIMS-Messungen nötig, die erst in einem wei- zeugen bis heute von der Entstehung unseres Sonnensystems aus einer teren Schritt erfolgen sollen, da diese Untersuchung Staubwolke. Und auch außerhalb unseres Sonnensystems verdichten nicht zerstörungsfrei ist. sich Gas-Staub-Gemische an vielen Orten des Universums auch heute Darüber hinaus warten wir gespannt auf den Rück- noch zu Molekülwolken. Sie sind die Geburtsstätten neuer Sterne. transport der Proben des Asteroiden Itokawa von der Hayabusa-Mission der japanischen Weltraumorgani- sation Jaxa. Sie müssten 2010 auf der Erde eintreffen und sollen bereits ein Jahr später an Wissenschaftler in den Proben aufgespürt werden. Weltweit suchen in der ganzen Welt gehen. In absehbarer Zukunft wird zurzeit über 30 000 Laien und Wissenschaftler, die so- es erneut Probenrücktransporte von unseren Satelli- genannten »Stardusters«, nach diesen Körnern. Am ten vom Mond und später auch von den kommenden Bildschirm durchsuchen viele Freiwillige mit großem Marsmissionen geben. ◆

Die Autoren

Prof. Dr. Frank Brenker, 42, studier- der Goethe-Universität und dem Max-Planck-Institut für Che- te Geologie und Paläontologie an der mie in Mainz untersucht, ist allerdings noch mehrere Größen- Technischen Universität Darmstadt ordnungen kleiner. Sternenforschung begeisterte ihn schon und der Eidgenössischen Technischen seit seiner Kindheit. Mit dem Studium der Geologie hat sich Hochschule Zürich. Nach seiner Dok- einer seiner Kindheitsträume erfüllt. torarbeit, die er an der Goethe-Univer- sität und der University of Liverpool Diplom-Mineralogin Sylvia Schmitz, 28, durchführte, war er Assistent in der nahm nach ihrem Abitur 2000 ein Arbeitsgruppe Kosmochemie der Uni- geowissenschaftliches Studium an der versität Köln. Er ist Mitglied im »preli- Universität Potsdam auf, das sie Mit- minary examination«-Team der Stardust-Mission der NASA. te 2006 mit einem Abschluss in Mi- Während mehrerer durch die Deutsche Forschungsgemein- neralogie beendete. In der Frankfurter schaft (DFG) und die NASA unterstützter Forschungsauf- Nano Science-Gruppe arbeitet sie seit enthalte in den USA konnte er sein Wissen auf dem Gebiet zwei Jahren an Material des Kometen der extraterrestrischen Forschung erweitern. Anfang 2007 Wild 2 aus der NASA-Stardust-Mission. erhielt er die erste Heisenberg-Professur der DFG für Na- Sie untersucht es mit dem Transmissi- turwissenschaften. onselektronenmikroskop in Frankfurt und mit von Synchro- tronstrahlung induzierter Röntgenfl uoreszenzstrahlung am Diplom-Geologe Christian Vollmer, 31, ESRF in Grenoble, Frankreich. hatte es bereits während seiner Dip- lomarbeit an der Universität Köln mit winzigen Proben zu tun, die kleiner [email protected] sind als 0,1 Millimeter. Damals waren [email protected] es Einschlüsse in Diamanten, die ihn [email protected] fesselten. Der Sternenstaub, den er http://www.mineralogie.uni-frankfurt.de/nanogeoscience/ seit Oktober 2005 als Doktorand an index.html

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1 Eine regenschwere Cumulo-Nimbus-Wolke baut sich über der Schwäbischen Alb auf. Nur etwa jede zehnte Wolke regnet aus. In den meisten Fällen verdampfen die kleinen Wolkentröpfchen wieder. Damit Regentropfen entstehen, die schwer genug sind, um zu Boden zu fallen, müssen die Wolkentröpfchen auf ein Vielfaches ihrer Größe anwachsen.

Wie in Wolken der Regen entsteht Kristallisationskeime als Schlüssel

Wolken haben einen maßgeblichen Einfl uss auf den Wasserhaushalt der Erde, das Wetterge- von Joachim Curtius und schehen und das Klima. Sie wissenschaftlich zu beschreiben, ist schwierig – und das er - Heinz Bingemer schwert die Niederschlagsvorhersage ebenso wie die Klimamodellierung. Wichtig für die Ent- stehung von Regen in unseren Breiten sind Eispartikel. Sie machen einen großen Teil der Wol - ken aus. Doch wie bilden sie sich, und warum sind sie für viele physikalische Prozesse in den Wolken unentbehrlich? Und schließlich: Wirkt sich menschliches Handeln auf die Wolken aus?

ur Eröffnungsfeier der diesjährigen Olympischen geschuldet ist, bleibt ungewiss. Silberjodid hat zwar tat- ZSpiele in Peking gab es nicht nur ein großes Feu- sächlich einen Einfl uss auf die Entstehung des Regens, erwerk, sondern auch Artilleriefeuer mit Silberjodid- die Vorgänge im Einzelnen sind aber viel zu komplex, Granaten. Während das Feuerwerk allerdings im un- als dass man einzelne größere Regenwolken oder gar mittelbaren Umfeld des Vogelnest-Stadions gezündet das Wetter allgemein heute wirklich so beeinflussen und über das Fernsehen in alle Welt übertragen wurde, könnte, dass Ort, Zeitpunkt und Intensität des Regens fand das Artilleriefeuer fast unbemerkt vor den Toren gezielt im Voraus manipuliert werden könnten. Pekings statt. Die mehr als 1100 Silberjodid-Granaten Wie sich der Regen in unseren Breitengraden bil- sollten am Tag der Eröffnungsfeier verhindern, dass die det, ist inzwischen zumindest im Prinzip verstanden. aufziehenden Wolken über Peking abregneten. Tatsäch- Wolken entstehen, sobald die relative Feuchte in ei- lich blieb der Regen an diesem Tag aus. Ob dies jedoch ner Luftmasse einen Wert von 100 Prozent erreicht. dem Zufall oder den chinesischen »Wettermachern« Dies geschieht meist, wenn sich Luftmassen abkühlen,

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während sie aufsteigen. Es bilden sich zunächst kleine, Bergeron-Findeisen-Prozess fl üssige Wolkentröpfchen, die nur einige Mikrometer groß sind, das heißt kleiner als die Dicke eines mensch- a die Wassermoleküle im Eis auch Eispartikel gebildet haben, lichen Haares. Damit aus den kleinen Wolkentröpfchen Dstärker gebunden sind als in beginnt daher ein Wachstum der Regentropfen entstehen, die schwer genug sind, um zu fl üssigem Wasser, ist bei gleicher Eisteilchen, während die Tröpf- Boden zu fallen, müssen die Wolkentröpfchen auf ein Temperatur der Gleichgewichts- chen verdampfen. Diesen Trans- Vielfaches ihrer Größe anwachsen. Dies ist in der Regel dampfdruck über Eisteilchen fer von Wassermolekülen von nicht der Fall: Die meisten Wolken verdampfen wieder, 1 niedriger als über unterkühlten den Tröpfchen auf die Eiskristalle und nur etwa jede zehnte Wolke regnet aus. Wassertröpfchen. Solange sowohl nennt man den Bergeron-Findei- Eispartikel als auch unterkühlte sen-Prozess. Haben die Eisparti- Ohne Eispartikel kein Regen Wassertröpfchen in einer Wolke kel auf diese Weise eine Größe Entscheidend für die Entstehung von Regen ist ein vorhanden sind, kann sich daher um 50 Mikrometer erreicht, Zusammenspiel von unterkühlten fl üssigen Tröpfchen kein Dampfdruckgleichgewicht steigt ihre Kollisionswahrschein- und Eispartikeln. Nur die allerwenigsten Wolkentröpf- einstellen. Dies führt dazu, dass lichkeit mit den verbliebenen chen gefrieren tatsächlich schon bei Temperaturen ständig Wasser von den unter- unterkühlten Tröpfchen deutlich kurz unterhalb von 0 °C. Bis zu Temperaturen von kühlten Tröpfchen abdampft, da an, und es setzt eine Bereifung –38 °C können sie fl üssig bleiben, ohne zu gefrieren. für sie die Gasphase mit Wasser- der Eiskristalle ein, wobei die Im Temperaturbereich zwischen 0 °C und –38 °C – das molekülen untersättigt ist, wäh- unterkühlten Tröpfchen an den entspricht in unseren Breiten etwa den untersten sie- rend sich Wassermoleküle auf Eispartikeln festfrieren. So kön- ben bis acht Kilometern der Atmosphäre – entstehen den Eispartikeln anlagern, denn nen die Eispartikel bis zu Grö- zunächst nur einige wenige Eispartikel. Jedes dieser in Bezug auf die Eispartikel ist ßen anwachsen, bei denen sie Eispartikel benötigt zu seiner Entstehung einen Eis- die Gasphase übersättigt. schließlich schwer genug sind, keim. Nur die Eispartikel können in den Wolken so Sobald sich in einer Wolke um aus den Wolken herauszu- groß anwachsen, dass sie schwer genug sind, um aus aus fl üssigen Wassertröpfchen fallen. der Wolke herauszufallen und dann als Regen, Grau- pel, Hagel oder Schnee den Boden zu erreichen. Die Wolken, in denen sowohl Eispartikel als auch unterkühlte Flüssigkeitströpfchen gleichzeitig vorkom- men, werden Mischphasenwolken genannt. 2 Die un- terkühlten Flüssigkeitstropfen verdampfen in diesen Aerosolpartikel Wolken, und der Wasserdampf lagert sich dann an den Wolke Eispartikeln an [siehe »Bergeron-Findeisen-Prozess«. Dadurch wachsen die Eispartikel zunächst bis zu einer Größe von etwa 50 Mikrometern an. Danach erfolgt Eiskristalle das weitere Wachstum hauptsächlich durch Zusam- Eiskristalle wachsen durch menstöße der Eispartikel mit den kleinen unterkühl- wachsen durch Bereifung Deposition ten Tröpfchen, die an den Eispartikeln festfrieren. So wachsen die Partikel auf Größen von mehr als 100 Mi- Wolkentröpfchen krometer an und werden so schwer, dass sie aus den verdampfen Wolken herausfallen. In wärmeren Luftschichten Transfer von Wassermolekülen schmelzen sie dann häufi g wieder und erreichen als (Bergeron- fl üssige Regentropfen den Boden. Die Eispartikel sind Findeisen- absinken Eiskristalle also ganz wesentlich an der Entstehung des Regens be- P.) bilden sich an teiligt. Wolkentröpfchen Eiskeimen Warum gefrieren die meisten Tröpfchen auch weit bilden sich an unterhalb von 0 °C nicht? In der Regel fehlt ihnen ein Kondensations- keimen Eiskeim, der eine geeignete feste Oberfläche für das Wachstum des Eiskristalls bietet. Die meisten in der Schnee Atmosphäre schwebenden Partikel (Aerosole) sind fl üs sig, zum Beispiel Sulfattröpfchen oder organische Aerosolpartikel schmelzen (Kondensationskeime, Partikel. Bei den wenigen festen Partikeln kommt es Eiskeime und Partikel, die dann auf die chemische Beschaffenheit, die Größe und nicht in der Wolke aktiviert die Oberfl äche der Partikel an, ob sie sich als Eiskeim werden.) eignen. Gute Eiskeime sind Partikel, deren Kristall- struktur derjenigen von Eis ähnlich ist. Dazu gehört das in Peking verwendete Silberjodid. Die Kristallgitter von Eis und Silberjodid sind fast identisch, und deshalb 2 Bildung von Regentropfen in Mischphasenwolken, die aus fungiert Silberjodid schon bei Temperaturen von –4 °C Eispartikeln und unterkühlten Flüssigkeitströpfchen bestehen. als Eiskeim. Die Eispartikel wachsen, indem sie den Wasserdampf der ver- dampfenden Flüssigkeitströpfchen anlagern. Haben die Parti- Bakterien und künstlicher Schnee kel eine Größe von etwa 50 Mikrometern erreicht, häufen sich die Zusammenstöße mit den unterkühlten Tröpfchen, so dass Noch bessere Eiskeimeigenschaften besitzt ein Prote- /1/ diese an den Eispartikeln festfrieren (Bereifung). Ab einer in, das in Pseudomonas-syringae-Bakterien vorkommt. Größe von 100 Mikrometern werden die Eispartikel so schwer, Diese Bakterien, die vor allem auf verrottenden Blät- dass sie aus den Wolken herausfallen. tern und anderen Pfl anzenresten zu fi nden sind, wir-

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ken schon bei Temperaturen von –2,6 °C als effi ziente –45 –30 –15 0 15 30 45 60 Eiskeime. Diese Proteine werden daher dem Wasser für 60 2 (12) 60 Schneekanonen zugesetzt, um die Schneebildung bei 32 (+– 7) IN/L 1(5) möglichst hohen Temperaturen zu ermöglichen. Nun 29 (+– 12) IN/L 7(22) 3 (17) kommt Silberjodid aber normalerweise nicht in der At- 24 (+– 4) IN/L mosphäre vor, und auch die Pseudomonas-syringae-Bak- 35 (+7) IN/L 50 50 terien können zwar am Erdboden die Eisbildung auslö- sen, sie gelangen aber kaum massenhaft in die Atmo- sphäre, um dort in den Wolken als Eiskeime zu dienen. (12) 34 (+6) IN/L Interessanterweise wirkt nur etwa eines von meh- 40 5 40 reren 10000 Aerosolpartikeln als Eiskeim. Während sich in der Luft ständig in jedem Kubikzentimeter viele 5 (8) Hunderte Schwebteilchen aufhalten (der berüchtigte 39 (+– 10) IN/L 30 »Feinstaub«), fi ndet man darunter nur einige Dutzend 30 4 Eiskeime pro Liter Luftvolumen. Was zeichnet diese (8) seltenen Eiskeime aus? Genau diese Frage ist ein zent- 171 (+– 35) IN/L rales Thema des von der Deutschen Forschungsgemein- –15 0 15 30 schaft (DFG) geförderten Sonderforschungsbereichs © DWD 29. Aug. 2008 »Die Troposphärische Eisphase«, in dem Forscher der Universität Frankfurt, der Universität Mainz, der Tech- 3 Am Observatorium auf dem Kleinen Feldberg im Taunus nischen Universität Darmstadt, des Max-Planck-Insti- haben wir in einer Zeitreihen-Messung Luftmassen beprobt tuts für Chemie in Mainz und des Instituts für Tropo- und auf Eiskeime untersucht. Die elektronenmikroskopische sphärenforschung in Leipzig gemeinsam die Rolle von Analyse individueller Eiskeime erlaubt die Rekonstruktion der Haupt-Transportwege von Mineralstaub, der bis zu 3000 Kilo- Eis in der unteren Atmosphäre untersuchen. meter aus der Sahara bis zur Messstation zurückgelegt hat. Die roten Zahlen geben die mittleren Eiskeimkonzentrationen Seltene Eiskeime in der Troposphäre der beprobten Luftmassen an. Die orangenen Zahlen geben Im Rahmen von »TROPEIS« haben wir in den letzten die Anzahl der untersuchten Fälle an./3/ vier Jahren unter anderem Messverfahren entwickelt, mit denen wir die Konzentration und die chemische zu ermitteln, an dem die niederschlagsentscheidende Zusammensetzung der Eiskeime in der Luft messen Eisphase einsetzt. Wir wollten wissen, ob sich die Vor- können. Es gibt nur eine direkte Methode herauszufi n- hersagen verbessern lassen, wenn man stattdessen die den, welche Partikel aus der Vielzahl atmosphärischer situationsspezifi sche »wahre« Eiskeimkonzentrationen Aerosolpartikel in der Lage sind, in der Atmosphäre als einsetzt. Dazu haben wir mit unseren Projektpartnern Eiskeim zu wirken. Sie besteht darin, diese Partikel den zunächst für einige Monate eine Zeitreihe der Eiskeim- entsprechenden Bedingungen in der Wolke auszuset- konzentrationen für die Luftmassen Mitteleuropas und zen. Dazu unterkühlt man sie wie in der Wolke unter des Nahen Ostens gemessen. Die Messstellen waren den Gefrierpunkt von Wasser und setzt sie einer mit Wasserdampf übersättigten Umgebung aus. (Die Über- sättigung bezieht sich auf den Dampfdruck über Eis.) Literaturangaben

Unter diesen Bedingungen wird nun beobachtet, an /1/ welchen der Partikel das Eis wächst. Möhler, O., DeMott, P. J., Vali, G, Borrmann, Comparison of Two Aerodyna- and Levin, Z. Microbiology and atmosphe- mic Lenses as an Inlet for a Single Particle Je nach gegebener Aufgabenstellung haben wir zwei ric processes: the role of biological particles Laser Ablation Mass Spectrometer Aerosol unterschiedliche Verfahren eingesetzt, um die Eiskei- in cloud physics Biogeosciences: 4, Science and Technology, 42, 970–980. me zu zählen. Für zeitlich hochaufgelöste Messungen 1059 – 1071, 2007. konstruierten wir den schnellen Eiskeimzähler FINCH. /6/ Kamphus, M., M. Ettner-Mahl, F. Wir leiten vor Ort eine atmosphärische Probe in einen /2/ Bundke, U., B. Nillius, R. Jaenicke, Drewnick, S. Borrmann, L. Keller, D. J. Strömungsreaktor, in dem die entsprechende Unter- T.Wetter, H. Klein, and H. Bingemer: Cziczo, S. Mertes and J. Curtius Chemi- cal composition of ambient aerosol, ice nuc- kühlung und Wasserübersättigung eingestellt sind. Die The Fast Ice Nucleus Chamber FINCH, At- mos. Res., in press. lei, cloud condensation nuclei of supercooled sich entwickelnden Eiskristalle werden direkt und in drops in mixed-phase clouds: The Cloud and der Luft schwebend mit einer Spezialoptik von den /3/ Klein, H., et al. poster presented at In- Aerosol Characterization Experiment unterkühlten Tröpfchen unterschieden und gezählt./2/ ternational Conference on Clouds and Preci- (CLACE 6) at the Jungfraujoch Alpine Diese schnelle Messmethode wird beispielsweise auf pitation, Cancun, Mexico, 2008. Station submitted to Atmos. Chem. dem neuen Forschungsfl ugzeug HALO (High Altitude Phys. Discuss., 2008b. /4/ and Long Range Research Aircraft) im kommenden Mertes, S., Verheggen, B., Walter, S., Allgemein: Jahr erstmals zum Einsatz kommen. Für die Messung Conolly, P., Ebert, M., Schneider, J., Bower, K. N., Cozic, J., Weinbruch, S., Cantrell, W. and Heymsfi eld, A. Produc- der mittleren Eiskeimkonzentration der Luft reichern Baltensperger, U. and Weingartner, E. tion of ice in tropospheric clouds Bull. Am. wir dagegen eine Probe des atmosphärischen Aerosols Counterfl ow virtual impactor based collec- Met. Soc., 86, 795 – 807, 2005. auf einem Probenträger an und analysieren diesen da- tion of small ice particles in mixed-phase nach im Eiskeimzähler FRIDGE im Labor./2/ clouds for the physico-chemical characteriza- Pruppacher, H. R., and Klett, J.D. Micro- tion of tropospheric ice nuclei: Sampler de- physics of Clouds and Precipitation 2nd ed., FRIDGE zählt Eiskeime scription and fi rst case study Aerosol Sci- Kluwer Academic Publishers, Dord- recht, NL, 2000. In den Computermodellen der Wetterdienste zur ence and Technology, 41, 848 – 864, 2007. Vorhersage von Niederschlägen verwendet man in Er- mangelung aktueller Eiskeim-Daten bisher die »globa- /5/ Kamphus, M., M. Ettner-Mahl, M. le mittlere« Eiskeimkonzentration, um den Zeitpunkt Brands, J. Curtius, F. Drewnick and S.

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Siliziumträger durch die Abbildung bestimmt sind, 350

(3) können auch ihre chemischen und morphologischen (7) 300 (6/7/5) (5,6,7) Eigenschaften individuell elektronenmikroskopisch un-

Sahara (4) tersucht werden. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit

250 Northern (1)

East Europe (3) der Arbeitsgruppe Umweltmineralogie der Technischen North-East (3,2) North-East (3,2) Scandinavian (2) 200 Mediteranean (5) North-Atlantic (7,1)

Atlantic (Azores) (6) Universität Darmstadt mit einem Environmental Scan- 150 ning Electron Microscope (ESEM). Hieraus ergeben sich Hinweise auf die Natur und Herkunft der Eiskeime. 100

50 Woher kommen die Eiskeime? Ice-Nuclei-Concentration [IN/I] 0 Die Zeitreihe unserer bisherigen Messungen mit 23. April 3. Mai 13. Mai 23. Mai 2. Juni 12. Juni 22. Juni 2. Juli 08 dem neu entwickelten System am Observatorium auf dem Kleinen Feldberg im Taunus weist beispielsweise Continental Air Masses Maritime Air Masses () Number of trajectory-path als markantes Ereignis eine Saharastaub-Episode vom 28. bis 30. Mai 2008 auf, während der die Spitzenwer- 4 Zeitreihe der Konzentration von Eiskeimen in der Luft am Taunus Observatorium. te der Eiskeimkonzentration etwa zehnfach überhöht Auffällig ist die Saharastaub-Episode vom 28. bis 30. Mai 2008, die zu einer zehn- sind./3/ 4 Die meteorologische Analyse und die elekt- fach erhöhten Konzentration der Eiskeime führte./3/ ronenmikroskopische Analyse individueller Eiskeime belegen den Transport von Mineralstaub aus der zen- am Taunus Observatorium der Universität Frankfurt tralen Sahara (Algerien/Libyen) über zirka 3000 Ki- und an der Universität Tel Aviv. Die Projektpartner an lometer. 3 Da wir die Probennahme im Feld und die den Universitäten Mainz und Tel Aviv haben dann mit nachfolgende Probenanalyse im Labor trennen, kön- numerischen Modellen untersucht, welchen Einfl uss nen wir auch relativ unzugängliche Orte beproben. So die beobachtete Variabilität der Eiskeime auf die Wol- werden wir in diesem Winter Proben analysieren, die ken- und Niederschlagsentwicklung hat. amerikanische Kollegen von einem Fesselballon aus Zur Bestimmung der Eiskeimkonzentration in am Südpol sammeln werden. FRIDGE (FRankfurt Ice nuclei Deposition freezinG Ex- Im Rahmen des Sonderforschungsbereichs »TRO- periment) entnehmen wir der Atmosphäre eine reprä- PEIS« und in Kooperation mit der Universität Man- sentative Aerosolprobe. Dazu werden die Aerosolparti- chester, der Eidgenössischen Technischen Hochschule kel eines Luftprobenstroms in einem neu entwickelten Zürich und dem schweizerischen Paul-Scherrer-Institut elektrostatischen Aerosolabscheider elektrisch geladen haben wir auch zwei größere Messkampagnen auf der und auf einem Silizium-Probenträger deponiert. Dieser hochalpinen Forschungsstation Jungfraujoch durch- Probenträger wird danach im Eiskeimzähler FRIDGE geführt. 5 Die Messstation befi ndet sich in 3580 Me- Unterkühlung und Wasserdampfübersättigung ausge- tern Höhe auf dem Bergsattel zwischen den Gipfeln setzt. Nachdem die Eiskeime in der Probe »aktiviert« von Jungfrau und Mönch. Die Station ist im Winter worden sind, entstehen Eiskristalle, die mit einer CCD- häufi g in Wolken gehüllt, bei Temperaturen von –15 Kamera abgebildet und automatisch gezählt werden. bis –20 °C. Dort können wir also direkte Messungen in Da die Koordinaten der einzelnen Eiskristalle auf dem Mischphasenwolken vornehmen. 6

5 Die Forschungsstation Jungfraujoch in 3580 Metern Höhe bietet Gelegenheit, Eispartikel direkt in den 6 Eine Probennahme von Eispartikeln Wolken zu untersuchen. In einem hochempfi ndlichen Partikel-Massenspektrometer können wir die chemi- in den Wolken auf der Forschungsstati- sche Zusammensetzung der Eiskeime analysieren. Da die Forschungsstation nicht immer von Wolken um- on Jungfraujoch ist eine frostige Angele- geben ist und die Eiskeime zudem selten und sehr klein sind, kommen in einer Messzeit von vier Wochen genheit. Sie geschieht glücklicherweise nur etwa 350 Eiskeime zusammen. im Regelfall automatisch.

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7 Die Grafi k zeigt die Häufi gkeit, mit der Hintergrundaero sol - partikel und Eiskeime von den gezeigten chemischen Kompo- Mineralstaub Aerosolpartikel Eiskeime nenten dominiert werden. Die Daten entstammen der mas- senspektrometrischen Analyse von etwa 10 000 Hintergrund- Sulfat und 7% 14% Mineralstaub 4% 18% partikeln und etwa 350 Eiskeimen, die am Jungfraujoch im 38% 3% Februar und März 2007 gemessen wurden. Bei den Hinter- Sulfat und Nitrat grundpartikeln sind Sulfate, Nitrate und organische Verbindun- Sulfat und gen die häufi gsten Aerosolkomponenten. Bei den Eiskeimen ist organische 25% der Anteil von Partikeln, die hauptsächlich aus Mineralstaub- Komponenten komponenten bestehen, stark überhöht. Stark kaliumhaltige und/oder Ruß Partikel, die mineralischen Ursprungs sein können oder aus 25% Kalium Biomassenverbrennung stammen, treten ebenfalls als Eiskei- 47% me überproportional häufi g auf. In vielen Eiskeimen wurden Kalium, Sulfat, 19% auch Anteile von Schwermetallen gefunden, relativ unabhängig Nitrat davon, was die dominierende chemische Komponente ist./6/

Um die Eiskeime analysieren zu können, müssen sie zunächst von allen anderen Partikeln abgetrennt wer- den: Mithilfe eines speziellen Einlasssystems werden in Die Autoren einem mehrstufi gen Verfahren nur die kleinen, frisch Prof. Dr. Joachim Curtius, 39, ist Profes- gebildeten Eispartikel in einem trockenen und war- sor für Experimentelle Atmosphären- men Luftstrom zu den Messgeräten geleitet, während forschung am Institut für Atmosphäre die übrigen Aerosolpartikel, die unterkühlten fl üssigen und Umwelt der Goethe-Universität. Er Wolkentröpfchen und die bereits bereiften Eispartikel studierte Physik in Heidelberg und pro- sehr effi zient von den frisch gebildeten Eispartikeln ab- movierte dort. Nach einem zweijährigen getrennt werden./4/ Die Eispartikel verdampfen in der Post-Doc bei der National Oceanic and Atmospheric Ad ministration (NOAA) warmen Luft auf dem Weg zum Messinstrument. Übrig in Boulder, CO, USA, arbeitete er als bleibt nur der ursprüngliche Eiskeim, der eine Größe wissenschaftlicher Assistent am Institut für Atmosphä- von weniger als ein Mikrometer besitzt. Dieser wird renphysik der Universität Mainz, bevor er 2007 an die dann vor Ort in einem hochempfindlichen Partikel- Goethe-Universität berufen wurde. Er befasst sich mit der Massenspektrometer auf seine chemische Zusammen- Charakterisierung von Partikeln in der Atmosphäre und setzung hin analysiert./5/ Da die Eiskeime so selten und mit Nukleationsprozessen, insbesondere der Neubildung so klein sind und die Forschungsstation nicht immer von Aerosolpartikeln und der Entstehung von Eis. Hierbei kommen massenspektrometrische und optische Methoden von Wolken umgeben ist, waren etwa vier Wochen zum Einsatz. Curtius leitete ein Teilprojekt des Sonder- Messzeit auf der Forschungsstation Jungfraujoch nötig, forschungsbereichs »Die Troposphärische Eisphase« und um 350 einzelne Eiskeime zu analysieren. koordinierte die Messkampagnen an der Forschungssta- tion Jungfraujoch. Zu den Arbeiten haben insbesondere Beeinfl usst der Mensch die Wolkenbildung? beigetragen: Prof. Stephan Borrmann, Dr. Ulrich Bundke, Die Messungen zeigen, dass vor allem natürliche Dr. Michael Kamphus, Diplom-Meteorologe Holger Klein, Mineralstaubpartikel atmosphärische Eiskeime bil- Dr. Stephan Mertes, Diplom-Meteorologe Björn Nillius, Prof. Ulrich Schmidt und Prof. Stephan Weinbruch. Unter- 7 den. Elemente wie Silizium, Kalzium, Aluminium stützt wurde das Projekt von der Deutschen Forschungs- und deren Oxide fi nden sich besonders häufi g in den gemeinschaft sowie der Stiftung Hochalpine Forschungs- Eiskeimen. Sie bilden die bestimmende Fraktion der station Jungfraujoch und Gornergrat (HFSJG). Curtius ist Eiskeime, während sie nur einen kleinen Teil des Hin- Koordinator des 2008 angelaufenen EU-Doktorandennetz- tergrundaerosols ausmachen. Wir fanden aber auch werks »CLOUD-ITN«, in dem der mögliche Einfl uss von Hinweise auf Partikel, die aus anthropogenen Quellen kosmischer Strahlung auf die Aerosol- und Wolkenbildung stammen und die zum Beispiel Schwermetalle enthal- in einem Experiment am CERN untersucht wird. ten, mit erhöhter Häufi gkeit in den Eiskeimen. Weiter- Dr. Heinz Bingemer, 56, ist akademischer Oberrat am Institut hin wurde eine Gruppe stark kaliumhaltiger Partikel für Atmosphäre und Umwelt. Er leitet identifiziert, die entweder mineralischen Ursprungs das Taunus Observatorium der Universi- sind oder aus der Verbrennung von Biomasse stam- tät auf dem Kleinen Feldberg im Taunus men./6/ und ist wis sen schaftlicher Sekretär des Als Nächstes wollen wir untersuchen, ob Eiskeime, SFB 641, in dem er zwei Teilprojekte die durch den Menschen verursacht in die Atmosphä- hat. Er studierte Meteorologie an der re gelangen, tatsächlich die Eigenschaften der Wolken Universität Frankfurt und promovierte dort. Von 1984 bis 1990 forschte er als verändern und so den Niederschlag und das Klima be- Stipendiat der MPG und wissenschaftli- einfl ussen. Dies ist sowohl auf der regionalen als auch cher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Chemie in auf der globalen Skala von großem Interesse. Auf der Mainz, seit 1990 an der Universität Frankfurt. Neben den regionalen Skala könnte dies einen Einfl uss auf den Arbeiten zum atmosphärischen Aerosol gehören vor allem Niederschlag im Abwind von Ballungsräumen und In- experimentelle Feldstudien zum Gasaustausch zwischen dustriegebieten haben. Auf der globalen Skala können Atmosphäre und Ozean sowie Atmosphäre und terrestri- schon kleine Veränderungen der mittleren Eiskeim- scher Biosphäre zu seinem Forschungsschwerpunkt. konzentrationen und ihrer Eigenschaften zu signifi- [email protected] kanten Änderungen der Strahlungseigenschaften und [email protected] der Lebensdauern der Wolken führen. Und das hätte http://www.sfb641.uni-frankfurt.de/index.html einen direkten Einfl uss auf das Erdklima. ◆

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Megacities am Rande des Kollaps? Von Slums und »Gated Communities«: Wie der städtische Raum zerfällt

von Susanne Heeg Mumbai, Mexico City, Lagos und Kairo – das sind Megacities des neuen Jahrtausends. Sie leiden ausnahmslos unter ähnlichen Problemen: Mehr als die Hälfte der Einwohner lebt von unregelmäßigen Einkünften in den Slums am Rande der Metropolen. Die soziale Polarisie- rung wächst ebenso wie das Sicherheitsproblem. Wo das staatliche Gewaltmonopol zuneh- mend zerfällt, nutzen private Akteure ihre Chance, um Sicherheit zu schaffen und Gebiete zu kontrollieren – nicht selten gewaltsam.

ie rapide Verstädterung der Erde ist seit Langem senschaftlichen Diskussion überwiegend als Sprengstoff Dein Thema in der geografischen Forschung. Be- thematisiert, der zu explodieren droht, weil das sozial-, sonders rasant wachsen die Städte in den Ländern des wirtschafts- und naturräumliche Gefüge völlig über- Südens: Während die Einwohnerzahl in Städten des lastet sei. Die Betrachtung der Megacities konzentriert Nordens von 1950 bis 2000 im Durchschnitt um das sich überwiegend auf Probleme: ungebremstes Wachs- 2,4-Fache anstieg, war es in den Städten des Südens tum, Unkontrollierbarkeit und die damit verbundenen das 7,4-Fache (Bronger 2004). Gegenwärtig befi nden Probleme im Bereich von Verkehrs- und Gesundheits- sich zwei Drittel aller Megacities – das sind Städte mit infrastruktur, ökologische Schäden durch hohen Res- mehr als fünf Millionen Menschen – im globalen Sü- sourcenverbrauch, Ausdehnung der Siedlungstätigkeit den. Bis 1940 gehörten nur Städte der Ersten Welt zu in naturräumlich sensiblen Bereichen, Sicherheitspro- den Giganten: Tokio, New York, London, Paris, Osaka- bleme und Kriminalität; Grenzen der staatlichen Kont- Kobe; Shanghai passierte als erste Stadt des Südens in rolle, massenhafte Armut und elitärer Reichtum. den 1950er Jahren die Fünf-Millionen-Grenze. Gegen- wärtig geht man von 34 Megastädten im Süden aus. 1 Schuldenkrise, Willkürherrschaft Die starke Zunahme der Bevölkerung, hervorgeru- und die Folgen fen durch hohe Zuwanderung und steigende Gebur- Viele Länder des Südens sind infolge von Schulden- tenraten, wird in der gesellschaftlichen wie in der wis- krise, Strukturanpassungen, politischer Willkürherr-

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1 schaft von erhöhter Armut und Ungleichheit geprägt; Rang Metropole Einwohner Metropolisie- Die größten das hinterlässt in den Megacities deutliche Spuren. (1990) (in Tsd.) rungs quote Städte der Erde um 2000: Durch Megacities sind Orte hoher sozialstruktureller und 1 (1) Tokio 33 413 26,3 ökonomischer Dynamik; sie sind Orte, an denen sich den Rangvergleich 2 (2) Seoul 20 379 42,2 von 1990 (Zahl in Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten sowie Hoffnun- 3 (6) Mumbai (früher Bombay) 18 576 1,8 Klammern) und gen auf ein (gutes) Auskommen konzentrieren. Mit 2000 wird deut- 4 (3) Mexiko City 17 660 18,1 den Maßnahmen der Strukturanpassung wurden aber lich, wie dyna- Hoffnungen und Aussichten zunehmend enttäuscht: 5 (4) Sao Paulo 17 276 10,2 misch sich einige Eine Reduzierung öffentlicher Ausgaben bedeutet bei- 6 (7) Jakarta 16 853 8,2 Städte entwickelt spielsweise eine abnehmende Anzahl von öffentlich 7 (11) New York 15 885 5,6 haben. »Metropo- lisierungsquote« Beschäftigten, eine zurückgehende Finanzierung sozi- 8 (12) Kairo 14 793 21,4 bezeichnet den alpolitischer Maßnahmen im Bereich von Wohnungs- 9 (13) Manila 13 930 18,2 Bevölkerungsan- bau und Gesundheitsversorgung. Weiterhin wird bei- 10 (10) Kalkutta 13 790 1,3 teil der Gesamtbe- spielsweise weniger – beziehungsweise teilräumlich völkerung, der in 11 (14) Delhi 13 783 1,3 selektiv – in Infrastrukturen der Energieversorgung, Millionenstädten Wasser, Bildung, des Öffentlichen Nahverkehrs inves- 12 (9) Los Angeles 12 366 4,4 lebt. (Quelle: tiert; weniger Mittel fl ießen in die importsubstituie- 13 (8) Osaka-Kobe 12 260 9,7 Bronger 2004: renden Industrien, und nationale Schlüsselindustrien 14 (16) Shanghai 11 778 0,9 174) werden privatisiert, um staatliche Schuldenlasten zu 15 (11) Buenos Aires 11 454 31,8 reduzieren. Dies wirkt sich negativ auf die Lebensbe- 16 (–) Dhaka 9 983 7,7 dingungen breiter Bevölkerungsschichten in den Me- 17 (20) Karachi 9 920 7,1 gacities der Welt aus. 18 (15) Paris 9 644 16,3 Die Verstädterung, die sich am Anteil städtischer 19 (18) Rio de Janeiro 8 732 5,1 Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung eines Lan- des ablesen lässt, nahm insbesondere in Ländern des 20 (–) 8 503 0,7 Südens zwischen 1975 und 2005 zu; dies hängt da- mit zusammen, dass es in diesen Ländern noch eine Rang nach Rang nach BIP 1996 / in ( ) große ländliche Bevölkerung gibt, die in die Städte Ein wohnerzahl (2000) nach Einwohnerzahl 2000 wandern kann. Die Wanderungsbewegung ist in die- 1. Tokio Tokio (1) sem Zeitraum vor allem darauf zurückzuführen, dass 2. Mexiko-Stadt New York (3) große Teile der ländlichen Bevölkerung im Zuge wirt- 3. New York Los Angeles (8) schaftlicher Liberalisierungen und Öffnungen ihre Er- 4. Seoul Osaka (9) werbsgrundlage verloren hatten und in den Städten ihr Glück suchten. Frühere Ursachen der Landfl ucht 5. Sao Paulo Paris (25) – und damit des Städtewachstums – sind koloniale 6. Mumbai London (19) Aufstandsbekämpfung und nationale Unabhängig- 7. Delhi Chicago (26) keitsbestrebungen gewesen, die Flüchtlingsströme in 8. Los Angeles San Fransisco (35) die Städte als vermeintlich sicherere Orte bewirkten. 9. Osaka Düsseldorf (46) Die Folgen sind gravierend: Die Landfl ucht führt zur 10. Jakarta Boston (48) Ausbreitung von Siedlungen in und am Rand von Städten. Die Arbeitslosigkeit steigt, formelle, staatlich 2 Bevölkerung im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) regulierte und kontrollierte Beschäftigungsverhältnis- in den zehn größten Städten der Welt. Beim Vergleich der Ein- se verlieren an Bedeutung. An ihre Stelle treten infor- wohnerzahl von 1 mit 2 fallen divergierende Zahlen auf. Je melle Ökonomien, dazu gehören die Herstellung und nachdem, welche Defi nition und Abgrenzung dem Begriff »Megacity« zugrunde liegt, gibt es unterschiedliche Zuordnun- der Verkauf von Produkten auf lokalen Märkten und gen. Wichtig ist, ob die politischen Grenzen einer Stadt als einfache Dienstleistungen, wie sie Schuhputzer, Haus- Bezugsgröße gewählt werden oder der städtische Verdich- angestellte, Heimarbeiter und Mikrounternehmer mit tungsraum. Dies bedeutet, dass unterschiedliche Zahlen weniger als fünf Mitarbeitern erbringen. Die Mehrzahl »richtig« sein können. (Quelle: Davis 2004:18) der informell Beschäftigten kann der sozial marginali- sierten Bevölkerung zugerechnet werden, doch arbei- in Zentralamerika, 57 Prozent in Südamerika und 60 ten zunehmend auch Angehörige der Mittelschicht im Prozent in Afrika arbeiten im informellen Sektor. Da- informellen Sektor. hinter verbirgt sich, dass die Unsicherheit in Beschäf- tigungs-, Einkommens- und weiteren sozialen Verhält- Von der Ausdehnung der informellen Ökonomie nissen deutlich gestiegen ist. Die Menschen arbeiten Der UN-Habitat-Bericht von 2003 zeigt, dass die häufi g ohne jede Sozialversicherung auf geringem Ein- Arbeit im informellen Sektor im Vergleich zum for- kommens- oder Lohnniveau. Nicht selten leben sie in mellen Sektor deutlich zugenommen hat: 33 bis 40 prekären Wohnsituationen, das Gesundheits- und Bil- Prozent der Arbeitskräfte in Asien, 60 bis 75 Prozent dungssystem bleibt für sie und auch die nachfolgende Generation unerschwinglich. Aus all dem resultieren Die brasilianische Wirtschaftsmetropole São Paulo mit mehr soziale Polarisierungen und räumliche Fragmentierun- als 17 Millionen Einwohnern rangiert auf Platz 5 der Megaci- gen in Städten. ties. Nach einer Untersuchung von Städteplanern wächst die Bevölkerung in den Armenvierteln São Paulos jedes Jahr um etwa 6 Prozent, in den reicheren Gegenden dagegen nur um Die Slums als »Armutsfalle«? 1,5 Prozent. São Paulo ist in den vergangenen 30 Jahren ring- Mit starker Zuwanderung und unsicheren Einkom- förmig um etwa 1100 Quadratkilometer gewachsen. mensverhältnissen dehnen sich die Slums immer wei -

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Zwei Drittel aller schen, die gegenwärtig in Slums leben, leben rund Megacities liegen 946 Millionen, das heißt die überwiegende Mehrheit, im globalen Süden in Entwicklungs- und Schwellenländern. In der wis- – so auch Dhaka, senschaftlichen Diskussion überwiegt ein Bild von die Hauptstadt Slums als »Armutsfalle«, da sich dort ungesicherter von Bangladesch, mit fast zehn Mil- Aufenthalt und fehlender rechtlicher Schutz mit insta- lionen Einwoh- bilen Erwerbsverhältnissen verbinden; es gibt jedoch nern. Die Verstäd- auch Stimmen, welche das produktive und angesichts terung in den schwieriger Lebensbedingungen kreative Potenzial der Ländern des Sü- Bewohner betonen. Slums sind jedoch nur eine Aus- dens hat in den drucksform für die Unterversorgung mit Wohnraum in vergangenen 30 Megacities. Jahren enorm zu- genommen. Hoff- Für viele Zuwanderer in die Megacities des Südens nung auf ein bes- genießt innerstädtischer Wohnraum eine hohe Prio- seres Leben in der rität: Der Weg zu Arbeitsmöglichkeiten ist kürzer, die Stadt ist meist der Fahrtkosten sind geringer. Da es im Stadtzentrum je- Anlass der starken doch kaum bezahlbaren Wohnraum gibt, werden an- Zuwanderung, dere Wohnformen gesucht. Ein Ausdruck dafür sind führt aber nicht Schlafplätze auf Dächern, in Gegenden mit schlechter selten in die Ar- mutsfalle der Wohnqualität, unter Überführungen und an Bahnhö- Slums. fen. Dies bedeutet zwar niedrige oder gar keine Miete, aber auch keinen gesicherten Status. Darüber hinaus besetzen Zuwanderer öffentlichen Boden an den Rän- dern der Städte. Für Bewohner in Notbehausungen auf besetztem Land investiert die öffentliche Hand meist nicht in die notwendige Infrastruktur wie Energie, Wasser und Verkehrsanbindung. Die problematische Wohnraumversorgung sowohl in den Innenstädten als auch am Rande charakterisiert diese Megacities. Aller- dings sollte man die Analyse von Megacities nicht nur auf die stark wachsenden informellen Siedlungen, die Slums sowie die unzureichende Wohnraumversorgung beschränken. ter aus. Sie sind damit ein baulich-räumlicher Ausdruck für wachsende städtische Armut. Obwohl Slums schon Wer gewährt Sicherheit? ein lange bekanntes Phänomen sind, ist die enorme Der Rückzug des staatlichen Gewaltmonopols Ausbreitung dieser Siedlungsform seit den 1960er und die neue Macht der privaten Akteure Jahren neu. Im UN-Habitat-Bericht geht man davon In Bereichen, in denen formale Regierbarkeit und aus, dass die Slumbevölkerung in den am wenigsten Kontrolle verloren gehen, weil staatliche Stellen sich entwickelten Ländern rund 78 Prozent der städtischen aus vielerlei Gründen dazu nicht mehr in der Lage se- Bevölkerung ausmacht; von rund einer Milliarde Men- hen, wandelt sich der gesamte Sicherheitsbereich. In

Unerwünscht und vertrieben von den Polizeipräsenz in staatlichen Ordnungshütern: Mit ihrem einer der Favelas Kind und einem Korb voller Waren fl ieht von Rio de Janei- diese Straßenverkäuferin in Buenos Ai- ro: Zur Einschüch- res. Immerhin suchen 57 Prozent aller terung der Dro- Arbeitskräfte in Südamerika ihr Auskom- genmafi a stürmte men in der »informellen Ökonomie«. die Polizei Teile Sie fertigen Produkte für den lokalen dieses Viertels in Markt, verkaufen diese auf Märkten der brasiliani- und Straßen oder verrichten einfache schen Millionen- Dienstleistungen wie zum Beispiel als stadt – ein klägli- Schuhputzer, Haushaltshilfe oder cher Versuch, Heimarbeiter – ohne jede Chance auf Staatsgewalt in ei- soziale Absicherung. nem seit Jahren von privaten Schutztruppen do- minierten Revier zu demonstrieren.

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vielen Ländern lassen sich neue Formen der Sicher- heitsorganisation auf subnationaler, (teil)städtischer Wann heißen Großstädte »Megacities«? Ebene erkennen. So treten an Stelle des hierarchisch organisierten staatlichen Gewaltmonopols, das in ei- nem abgegrenzten nationalen Territorium wirkt, mehr egacities werden in der Regel des Südens mit den verbliebenen oder minder konkurrierende Gruppen, die Gewalt Müber ihre Bevölkerungsgröße Megacities des Nordens – wie gleichermaßen anwenden wie kontrollieren. Diese defi niert. Dabei stehen zwei Defi - London, New York oder Paris – neu entstehenden Formen sind Ergebnis wie Motor nitionen nebeneinander: Nach der verglichen werden, können deut- des Zerfalls staatlicher Ordnung. Neue Gruppen stel- klassischen beginnt die Megacity liche Unterschiede identifi ziert len bestehende staatliche Gewaltordnungen infrage, bei fünf Millionen Einwohnern; werden. Megacities des Nordens neue Machthaber wachsen in dem Vakuum heran, das die UN-Defi nition setzt die Min- haben »Global-City-Funktionen«; der Rückzug staatlicher Institutionen hinterlässt, und desteinwohnerzahl bei zehn Mil- Megacities des Südens haben eher unterminieren damit das staatliche Gewaltmonopol lionen fest. Weitere Bemühungen nationale Bedeutung. weiter. Zugleich gibt es in Teilräumen von Megacities zur Defi nition konzentrieren sich Schlussendlich ist die Festle- immer häufi ger auch territoriale Pakte zwischen staat- auf die Mindest-Bevölkerungs- gung dessen, was Megacities aus- lichen und privaten Sicherheitsorganisationen. Da- dichte, die mit mehr als 2000 Ein- macht, auch von der Verfügbar- durch wird Sicherheit in vielen Weltregionen ein teils wohnern pro Quadratkilometer keit zuverlässiger Daten und von öffentliches, teils privates, aber stets wertvolles Gut, festgelegt wurde. Um Unterschie- den Interessen der Forscherinnen das von unterschiedlichen staatlichen, gemeinschaft- de zwischen Megacities im globa- und Forscher abhängig. Wenn der lichen und privaten Akteuren produziert, aber auch len Süden und Norden bestimmen Blick auf die starken Ausmaße vernichtet wird. zu können, werden oft nur Städte und das ungebremste Wachstum mit einem einzigen Zentrum in die der südlichen Megacities gelenkt Die Macht der Akteure kann mehrere Ursprünge ha- Betrachtung aufgenommen. »Po- werden soll, werden in der Regel ben: Sie beruht unter anderem auf bestimmten Traditi- lyzentrische Agglomerationsräu- die polyzentrischen Megastäd- onen sowie auf lokaler Identitätspolitik, die ihre Kraft me« wie das Ruhrgebiet mit circa te des Nordens ausgeklammert. aus dem Unterschied zu übergeordneten politischen 12,8 Millionen Einwohnern oder Die Defi nition in diesem Beitrag Ebenen und Machthabern bezieht; sie kann mit Gewalt die niederländische Randstad mit setzt niedrig an und bestimmt als oder politisch erkämpft sowie von der Bevölkerung zu- 7,5 Millionen Einwohnern wer- Megacities solche Städte, die min- geteilt worden sein. Unabhängig davon, über welche den mithin ausgeschlossen. Wenn destens fünf Millionen Einwohner Macht Akteure verfügen, resultiert diese aus dem Ent- nach diesem Kunstgriff Megacities haben. stehen eines Marktes, auf dem Sicherheit zum nachge- fragten und knappen Gut wird. Häufi g bilden sich in abgrenzbaren Territorien der Städte als Reaktion auf Unsicherheitssituationen neue Gewaltoligopole her- mentation, der kleinteiligen Aufspaltung der Territo- aus. Damit einher gehen oft Versuche von mikroterrito- rien, lebt. Das »Mikroterritorium« bietet die Möglich- rialen Machthabern, das Gewaltmonopol (wieder) an keit, sich einerseits über Androhung oder Anwendung sich zu reißen, was neue Gewalt hervorbringt. Eine von Gewalt partikulare Vorteile zu verschaffen; ande- Folge sind permanent umkämpfte kleinräumige Ge- rerseits versuchen die mikroterritorialen Machthaber waltordnungen, die zu einer Fragmentierung des städ- aber auch durch karitative Tätigkeiten und Identitäts- tischen Raums führen. politiken Zustimmung oder loyales Verhalten der Be- Sicherheit zu garantieren oder Vergehen zu ahnden, völkerung zu erwirken. Die geschaffene (Un-)Ordnung wird zu einem Geschäft, das von der territorialen Seg- hat also zwei Seiten: Die mikroterritorialen Machtha-

Dharavi in Mumbai ist die größte Slum- Geschirrspülen mit Dreckwasser. Katastrophale hygienische Verhältnisse wie in die- region in Asien. In den kommenden sie- sem Slum von Kalkutta prägen die Armenviertel der Megacities. Hier liegen zwar ben Jahren sollen hier 2,5 Milliarden große Abwasserrohre, diese wurden jedoch nie an die Kanalisation angeschlossen. US-Dollar investiert werden, um die Oft dienen kleine Tümpel als Nutz- und Trinkwasserreservoir sowie Toilette und Häuser mit Wasser und Elektrizität zu Müllhalde gleichermaßen. Während der Monsunzeit sind sie darüber hinaus eine versorgen. Brutstätte für Moskitos, die Malaria und Dengue-Fieber übertragen.

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Kapstadt I: »Phola Park« gehört zu den seit Jahrzehnten bestehenden »informellen Siedlungen«, die die Randbezirke der südafrikanischen Megacity prägen. Bei Phola Park handelt es sich um ein besonders gefährdetes Gebiet: Bei starken Re- genfällen ist es regelmäßig überschwemmt mit entsprechen- den Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung.

In Megastädten wie Jakarta, Lagos und Rio de Janei- ro setzen sich mikroterritoriale Sicherheits- und Unsi- cherheitsstrategien durch, weil der Staat sich zurück- gezogen und ein Macht- und Legitimitätsvakuum hinterlassen hat. Dieses Vakuum begünstigt die Eta- blierung von sogenannten Gewaltökonomien: In Ge- bieten mit wenigen Erwerbsmöglichkeiten eröffnet die Mitgliedschaft in Gangs oder Banden den Zugang zu attraktiven Verdienstmöglichkeiten. Diese illegalen Tä- tigkeiten in Gebieten, die nicht mehr oder kaum noch der staatlichen Kontrolle unterliegen, sind übrigens in vielfacher Weise mit der »legalen« Stadt verbunden. Marcelo Lopez de Souza, Professor für Geografi e an der Bundesuniversität Rio de Janeiro, weist in einer Studie 2004 darauf hin, dass die Konsumenten der Drogen, die in den Favelas brasilianischer Städten versteckt und ber stellen Ordnungsfaktoren dar, sie sind Identitäts- von dort ausgehend verteilt werden, überwiegend in stifter und Arbeitgeber; gleichzeitig üben sie eine Form Gebieten der Mittel- und Oberschicht sitzen. Ein an- der Tyrannei und Kontrolle über die lokale Bevölke- deres Beispiel aus Asien: In bestimmten Gebieten von rung aus, wodurch deren Lebensmöglichkeiten einge- Jakarta wird in einer Grauzone von krimineller und schränkt werden. staatlicher Praxis Schutzgeld von Händlern erpresst. In der Regel ist dabei eine genaue Trennung von staat- lichen und nicht staatlichen Akteuren nicht möglich. Kapstadt II: Am Rande der Slums entsteht urbane Land- Unabhängig davon, wie die jeweilige Gewaltökonomie wirtschaft. Nicht nur für den Eigenbedarf bauen die Südafri- kaner hier Gemüse an, sie verkaufen es auch auf den Märkten funktioniert, sie kann überwiegend nur dort entste- im Zentrum. Da die Erwerbsarbeit häufi g keine stetigen und hen, wo die Lebensbedingungen in Slums das gesamte ausreichenden Einkommen gewährleistet, sichern die Gärten Gefüge einer Megacity in »Unordnung« bringen. oft das Überleben von Familien. »Gated Communities« und der Wunsch nach räumlicher Kontrolle Der Rückzug des Staats aus dem Bereich Sicher- heit und die Verarmung der Bevölkerung führen dazu, dass der städtische Raum zerfällt: Auf der einen Seite entstehen »Gated Communities« der Vermögenden, auf der anderen Gettos der Armen und Ausgegrenz- ten. Diese Entwicklung nahm im Norden, genauer, in US-amerikanischen Städten, ihren Anfang; als ein frü- hes Beispiel gilt Llewellyn Park in New Jersey (1857). Längst sind »Gated Communities« als Wohn- und Bau- form auch in Städten des globalen Südens angekom- men und fi nden wegen der schwierigen Sicherheits- lage dort besondere Verbreitung. Während bis in die 1980er Jahre in vielen Städten »Gated Communities« eine Wohnform der gehobenen Mittel- und Ober- schicht darstellten, setzten sie sich ab den 1980er Jah- ren auch in Wohngebieten der unteren Mittelschicht durch. Abgeschlossene Nachbarschaften können als eine Strategie der Wiederherstellung sozialräumlicher Grenzen und des Gefühls räumlicher Kontrolle inter- pretiert werden (Plöger 2006). Inwieweit dies gelingt, hängt unter anderem von der finanziellen Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft der Bewohner ab. Es gibt unterschiedliche Modelle von »Gated Communities«: Einige verfügen über Wach- personal und/oder Hausmeister, andere Viertel oder Nachbarschaften sind umzäunt oder mit einem Gitter versehen, in manchen gibt es lediglich gemeinsame Freizeitanlagen und eine interne Bewohnervertretung.

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»Slum«: ein Begriff – unterschiedliche Defi nitionen

en Begriff »Slum« zu defi - schiedliche Slumviertel mit einer lungsformen verwendet, die von Dnieren, ist ein schwieriges Gesamtbevölkerung von über vernachlässigten Altstädten über Unterfangen. Nicht nur, weil er 20 Millionen (Davis 2007). Es informelle Selbstbau-Quartiere häufi g unakzeptable moralische können Megaslums entstehen, bis zu desolaten Hüttensiedlun- Bewertungen wie Ort krimineller wenn sich Elendsviertel an den gen reichen. Die UN-Defi nition, Machenschaften oder sozialer Rändern aufeinander zubewegen. die in diesem Beitrag übernom- Verrohung beinhaltet, sondern Zum Teil gibt es auch vom Zent- men wird, bezeichnet Slums als weil die Ausdrucks- und Erschei- rum ausgehend strahlenförmige überfüllte, ärmliche beziehungs- nungsformen von Land zu Land Ausdehnungen wie in Lima. In weise informelle Unterkunft sehr variieren. Schätzungen ge- Kalkutta handelt es sich meist um ohne angemessenen Zugang zu hen davon aus, dass es mehr als eine Ansammlung von jeweils Trinkwasser und sanitären Ein- 200 000 Slums auf der Welt gibt, fünf Hütten mit circa 45 Quadrat- richtungen sowie ungesicherter deren jeweilige Bevölkerungs- metern, die sich im Durchschnitt Verfügungsgewalt über Grund zahl von ein paar Hundert bis zu 13,4 Personen teilen. In man- und Boden. Damit wird die mehr als einer Million Menschen chen Städten wie Dhaka macht schwierig zu messende soziale reicht. es mehr Sinn, die nicht als Slum Dimension des Begriffs aufgege- Die fünf größten Metropo- klassifi zierten Gebiete als Enkla- ben zugunsten materieller und len Südostasiens – Karatschi, ven in einem Meer extremer Ar- rechtlicher Siedlungsmerkmale Mumbai (früher Bombay), Delhi, mut zu nehmen. [siehe auch Buchtipp von Andrej Kalkutta und Dhaka – haben Insgesamt wird der Begriff für Holm zu Mike Davis »Planet der allein schon etwa 15 000 unter- ein breites Spektrum von Sied- Slums«, Seite 107].

Diese Tendenzen werden von zwei unterschiedlichen Akteursgruppen vorangetrieben: von Nachbarschafts- vereinigungen mit kleinräumigen Interessen und von Projektentwicklern und Bauunternehmen, die dieses Geschäftsfeld für sich nutzen. Je größer das Macht- und Regulierungsvakuum des Staates ist, umso größe- res Gewicht erhalten diese Akteursgruppen. In vielen Städten des globalen Südens – vornehmlich in Latein- amerika und Asien, weniger in Afrika – lässt sich be- obachten, wie bestehende Viertel nachträglich sicher- heitstechnisch »aufgerüstet« und »befestigt« werden und wie neue Viertel entstehen, die Sicherheit, Exklu- sivität und Abgrenzung von Anfang an in ihr Verkaufs- und Vertriebskonzept integrieren. So zerfasert das städ- tische Gefüge, und die Unsicherheit wächst in solchen Gebieten, die sich privatwirtschaftliche Formen der Si- cherheitsgewährleistung nicht leisten können.

Kapstadt III: »Gated Community« Kenilworth – in diesen abgeschlossenen Nachbar- schaften versuchen die Bewohner ihr Eigentum zu sichern. Wer kann, leistet sich in Südafrikas Städten eine Wohnung oder ein Haus in einer »Gated Community«. In- zwischen ist diese Wohnform zu einer Frage des Status geworden. Der Kontakt mit Armut und Gewalt soll dadurch minimiert werden. Häufi g ist die Mobilität der Be- wohner begrenzt; sie fi ndet nur noch zwischen verschiedenen »Gated Community«, gesicherten Shopping Centers und Arbeitsplätzen statt.

Kapstadt IV: Hier in Manenberg sind Mietwohnungen in städtischen »Council Houses« entstanden. Manenberg wurde während der Apartheid-Ära als Wohngebiet für die sogenannte »Coloureds« gebaut. »Coloureds« sind Südafrikaner mit weißen und schwarzen Vorfahren. In der Postapartheid-Ära ist Manenberg für Gangs, eine hohe Kriminalität und Gewalt »berühmt«.

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Global City contra Megacity? tionen – in wichtigen Megacities wie Mexico City (aber Megacities werden politisch, ökonomisch und sozial auch in Shanghai und Hongkong) zu finden seien. als fragile Gebilde wahrgenommen. Wenn es um das Zu den Kunden dieser global agierenden Dienstleister sozioökonomische Entwicklungspotenzial geht, wird gehören häufi g sowohl national große Unternehmen häufi g darauf verwiesen, dass Megacities im Süden ein mit internationalem Marktbezug als auch global täti- hohes Maß an funktionaler Dominanz mit jedoch al- ge Unternehmen, die sich in den jeweiligen Ländern lenfalls nationaler Reichweite (Bronger 2004) aufwei- Märkte erschließen und/oder produzieren. Viele global sen. »Funktionale Dominanz« bezeichnet die hegemo- tätige Unternehmen tendieren dazu, wenn möglich die niale Stellung, die Überkonzentration von Macht- und gleichen Dienstleister an ihren weltweiten Standorten Entscheidungsstrukturen (politisch-administrativer, wie am Heimatstandort einzusetzen; dies bedeutet für wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art) in einer Dienstleister, dass sie ein weitverzweigtes Standortnetz Stadt eines Landes. Demgegenüber würden die einzel- aufbauen müssen. Häufi g folgen Dienstleister wie Mak- nen Megacities des Nordens Global-City-Funktionen ler oder Banken ihren Großkunden an wichtigen welt- aufweisen, die aber allen Großstädten der Entwick- wirtschaftlichen Standorten nach und bilden darüber lungsländer fehlten. 2 In den Megacities des Südens ein globales Netzwerk aus. Für nationale Großunter- fi nden sich demnach keine oder wenige Headquarter nehmen gilt, dass die global tätigen Dienstleister ihnen globaler Unternehmen oder weltweit tätige unterneh- mit ihrer Expertise Zugang zu anderen international mens- und finanzorientierte Dienstleistungen. Mit wichtigen Märkten und Börsen verschaffen können. »Global-City-Funktion« wird in der Humangeografi e Damit stellen die Megacities die Scharniere dar, der Umstand bezeichnet, dass in Städten wie Tokio, über welche die nationalen und städtischen Ökonomi- London und New York eine hohe Dichte an Manage- en in die Weltwirtschaft integriert werden. Megacities ment-, Kontroll- und Koordinationsfähigkeiten be- des Südens sind so – anders als ihre Schwestern im steht, die zum Auf- und Ausbau sowie zur Steuerung Norden – keine Schaltzentralen der globalen Ökono- der weltwirtschaftlichen Austausch- und Globalisie- mie, aber trotzdem globalisierte Orte, die Markteintrit- rungsprozesse beitragen. Megacities in Entwicklungs- te in andere Länder und Kapitalmärkte ermöglichen ländern seien dagegen allenfalls national bedeutsame können. Allerdings gilt dies nicht für alle Megacities wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentren. in gleichem Ausmaß. So haben zum Beispiel Mexico Andere Stimmen relativieren dieses Bild (Parnreiter City, Johannesburg oder Bangalore im Netzwerk der et al. 2005): Man könne erkennen, dass große, inter- Weltstädte eine bessere Position inne als Lagos oder national tätige fi nanz- und unternehmensorientierte Karachi. Zu erklären ist dies mit der unterschiedlichen Dienstleistungen – als die Träger der Global-City-Funk- politischen Stabilität der jeweiligen Länder beziehungs- weise der Makroregionen. Die Megacities der Welt – so das Resümee – sind durch starke räumliche Fragmentierungen geprägt: Die Autorin Hohe Zuwanderung und staatliche Erosion bewirken Probleme bei der infrastrukturellen Erschließung, aber Prof. Dr. Susanne Heeg, 41, lehrt seit auch bei der Gewährleistung von Sicherheit; Gewalt- 2006 geografische Stadtforschung ökonomien sowie soziale Polarisierungen begünstigen am Institut für Humangeographie der das Entstehen von »Gated Communities« auf der einen Goethe-Universität. Ihre Forschungs- Seite und Slums auf der anderen Seite. Gleichzeitig schwerpunkte umfassen Fragen rund um die gebaute Umwelt sowie Stadt- sind viele Megacities durch internationale Geschäftszo- entwicklung und -planung. Heeg stu- nen im »Central Business District« gekennzeichnet; auf dierte zunächst Soziologie mit dem diesem Weg wird die städtische wie die nationale Öko- Schwerpunkt Stadtsoziologie und im nomie in die Weltwirtschaft selektiv einbezogen. Prob- Nebenfach Geografi e in Frankfurt (Main). Sie promovierte leme, die mit Megacities einhergehen, sind jedoch we- anschließend am Lehrstuhl Wirtschafts- und Sozialgeogra- niger Probleme, die ausschließlich mit der städtischen phie der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) Entwicklung selbst erklärt werden können – vielmehr und wechselte dann als wissenschaftliche Assistentin an das Institut für Geographie der Universität Hamburg. In handelt es sich um Ergebnisse politischer Unordnung dieser Zeit begann sie, sich im Zusammenhang mit For- sowie wirtschaftlicher Instabilität auf globaler wie auf schungsaufenthalten in Beirut (Libanon), Kapstadt (Süd- nationaler Ebene. ◆ afrika), Manchester (UK) und Boston (USA) mit der unter- schiedlichen Stadtentwicklung in Städten des Südens und Literatur des Nordens auseinanderzusetzen. Ein jüngerer Artikel zu diesem Thema ist zusammen mit Marit Rosol verfasst wor- Bronger, Dirk (2004) Metropolen – Me- Mitteilungen der Österreichischen den: »Neoliberale Stadtpolitik im globalen Kontext. Ein gastädte – Global Cities. Die Metropolisie- Geographischen Gesellschaft, 147. Jg., Überblick« (Prokla 149, S. 491 – 509). Heeg habilitierte rung der Erde Darmstadt: Wissenschaftli- S. 37 – 66. sich im Jahr 2006 an der Universität Hamburg über die che Buchgesellschaft. Entwicklung der gebauten Umwelt im Spannungsfeld von Plöger, Jörg (2006) Lima, Stadt der Gitter: Stadtplanung und globalen Immobilieninvestitionen am Davis, Mike (2007) Planet der Slums Abgesperrte Nachbarschaften als Reaktion Beispiel der South Boston Waterfront in Boston. Gegen- Berlin: Assoziation A [siehe auch auf veränderte sozioökonomische Rahmen- wärtig baut Susanne Heeg einen Forschungsschwerpunkt Buchtipp von Andrej Holm auf Seite bedingungen In: Gans, P. et al. (Hrsg.) zu Immobilienökonomie sowie mit Prof. Robert Pütz zu 107]. Kulturgeographie der Stadt Kiel: Insti- Fragen von Neuordnungen in Städten im neoliberalen tut für Geographie, 369 – 381. Zeitalter auf. Parnreiter, Christof/Fischer, Karin/Im- hof, Karen (2005) »The World’s local UN-Habitat (2003) The challenge of the [email protected]; www.humangeographie.de/heeg Bank«: Finanzdienstleister, Globale Güter- slums: global report on Human Settlements ketten und das World City Network In: London: Earthscan Publications.

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Pakistanische Menschenrechtsaktivistin- nen demonstrieren für die friedliche Beilegung der Grenzkonfl ikte zwischen Pakistan und Indien.

Balance auf einem schmalen Steg: Vietnamesische Frauen tragen frisch ge- formte Ziegelsteine zum Brennen in eine Ziegelei in Hanoi.

»Gender makes the World go round« Frauenarbeit als Fundament von Weltentwicklung

von Uta Ruppert In der Frauenarbeit liegt einer der wichtigsten Schlüssel zur Weltentwicklung. Frauen arbei- ten – bezahlt und unbezahlt – sehr viel mehr als Männer. Weltweit sind 40 Prozent der Men- schen in Beschäftigungsverhältnissen Frauen. Die unbezahlte Familien- und Fürsorgearbeit, wozu neben Versorgung, Erziehung, emotionaler und gesundheitlicher Pfl ege auch die unent- lohnte Arbeit in der Landwirtschaft gehört, ist bekanntlich überwiegend Frauensache. Frauen sind somit zugleich zentrale Akteurinnen und Adressatinnen, wenn es um die Lösung der großen Probleme von Weltentwicklung wie Klimawandel, Ernährungskrise oder Bevölkerungs- entwicklung geht. Auch die großen politischen Ziele wie die Sicherung von Frieden und De- mokratie lassen sich nur erreichen, wenn Männer und Frauen wirklich gleichberechtigt sind.

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der politischen Teilhabe und besetzen selten zentrale Machtpositionen. Zwar haben die Weltkonferenzen der 1990er Jahre und die »Millennium Development Goals« (MDG) zu partiellen Verbesserungen geführt, grundlegend geändert haben sich die Muster der Un- gleichheit dadurch jedoch nicht.

Wie lässt sich Geschlechtergleichheit messen? Seit der Vierten Weltfrauenkonferenz 1995 in Bejing wurden von den Vereinten Nationen verschiedene Methoden zur Messung von Geschlechtergleichheit entwickelt. Die mit ihnen erhobenen Daten zeigen, dass in den Kernbereichen menschlicher und gesell- schaftlicher Entwicklung weltweit noch immer gravie- rende Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen bestehen. In nahezu allen Ländern der Welt liegt der sogenannte geschlechtsbezogene Entwicklungsindex (»Gender Development Index« GDI) unter dem all- Transnationale Begegnungen am Rande der Vierten Weltfrauenkonferenz 1995 in gemeinen Index menschlicher Entwicklung (»Human Beijing. Dort wurde die »Beijing Declaration and Platform for Action« beschlossen, Development Index« HDI); was schlicht bedeutet, dass die in allen Bereichen von Politik, Ökonomie und Gesellschaft weitgehende Gleich- Frauen nicht die gleichen Gesundheits-, Bildungs- und stellungsziele festlegt und zum Teil konkrete Wege zu deren Erreichung beschreibt. Einkommenschancen haben wie Männer (UNDP). In den meisten Feldern sind, wie im Bereich der Mädchenbildung, diese Maßgaben bis heute nicht erreicht. Daher dient die »Platform for Action« noch immer zahllo- Insbesondere in armen Ländern sind die Lebens- sen Frauenorganisationen rund um die Welt als Leitfaden ihrer Forderungen an die chancen von Frauen oft sehr viel schlechter als die nationale und internationale Politik. der Männer. Seit Jahren bilden arme afrikanische Staaten wie Sierra Leone, Niger und Burkina Faso die Schlusslichter in den Rankings zur Gleichberech- icht nur in der kritischen Forschung über Entwick- tigung. Werden über die elementaren Lebenschancen Nlungsländer, sondern auch in den internationalen hinaus anspruchsvollere Indikatoren wie die Partizi- Institutionen und in der Entwicklungspolitik sind diese pationsmöglichkeiten von Frauen in der Politik und Zusammenhänge seit mehr als einem Jahrzehnt be- den Führungsebenen der Wirtschaft zur Messung von kannt. Gleichwohl kommt Gleichberechtigung nur im Geschlechtergleichheit herangezogen, so fallen die Er- Schneckentempo voran. Wäre die Faktenlage weni- gebnisse noch negativer aus. An den Kennzahlen des ger erdrückend, könnte es beinahe banal klingen: Zu geschlechtsbezogenen Partizipationsindex (»Gender Beginn des 21. Jahrhunderts klafft zwischen offi zieller Empowerment Measure« GEM) wird deutlich, wie politischer Rhetorik und der weltweiten frauen- und hoch das Ausmaß der Ungleichheit zwischen den Ge- geschlechterpolitischen Praxis immer noch eine riesige schlechtern auch in den westlichen Industriestaaten Lücke. Zwar verbessern sich ganz allmählich die Indi- noch immer ist. 1 Insgesamt zeigt die Entwicklung der katoren für Geschlechtergleichheit, doch sind Frauen Geschlechterindizes in den vergangenen Jahren kaum weiter in allen Regionen der Welt im politischen, wirt- noch Fortschritte. Während für die Jahre vor der Welt- schaftlichen und gesellschaftlichen Leben benachtei- frauenkonferenz von 1995 weltweit merkliche Erfolge ligt. Auch wenn sich Art und Ausmaß der Diskrimi- bei der Gleichstellung zu verzeichnen waren, ist seit- nierung von Frauen im Prozess der Weltentwicklung dem nur Stagnation oder Verbesserung im Schnecken- verändern, sich nach Weltregionen unterscheiden tempo zu verbuchen. und von Land zu Land variieren, so sind doch etliche Grundmuster der Ungleichheit weitverbreitet: Frauen Langsamer Wandel: haben meist schlechteren Zugang zu Gesundheitsver- Mädchen holen bei Primarbildung auf sorgung und (höherer) Bildung als Männer; ihre Ein- Armut ist und bleibt neben Gewalt das größte Prob- kommen sind niedriger, ihre Chancen auf gute Jobs lem, das Frauen weltweit betrifft. Auch wenn vor dem sind schlechter, und sie verfügen kaum über eigenen Hintergrund der volkswirtschaftlichen Dynamiken in Besitz. Zudem haben sie deutlich geringere Chancen etlichen Ländern Ost- und Südasiens die Zahl der Ar-

1 Menschliche Entwicklung und Geschlechtergleichheit klaf- 1,2 HDI 2005 fen auseinander: Ein hoher Entwicklungsstandard, gemessen 1 GEM 2005 mit dem Human Development Index (HDI) der UN, bedeutet 0,8 keinesfalls automatisch ein hohes Maß an Geschlechtergleich- heit, gemessen mit dem Gender Empowerment Measure 0,6 (GEM) der UN. In vielen Ländern klafft zwischen diesen bei- 0,4 den Indizes eine gravierende Lücke. Dass dies auch auf In- dustrieländer zutrifft, demonstrieren die Beispiele Schweiz, Ir- 0,2 land und Kanada. Zugleich verdeutlicht das Schaubild, dass 0 arme Länder durchaus in der Lage sind, ein (relativ) hohes

Peru Maß an Geschlechtergleichheit umzusetzen. Peru erreicht den Irland Kanada Schweiz Ägypten gleichen GEM-Wert wie die Schweiz, der Abstand zwischen Malaysia Botswana Norwegen HDI und GEM ist für Botswana nicht größer als für Deutsch- Deutschland Dom. Republik land.

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men weltweit rückläufi g ist, verändert dieser statisti- sche Trend die Lebensbedingungen der knapp eine Mil- liarde Menschen, die mit weniger als einem US-Dollar am Tag auskommen müssen, überhaupt nicht. Obwohl die vorliegenden Daten über Armut weltweit nicht ge- schlechtsspezifisch aufgeschlüsselt sind, machen die vorhandenen Sozialdaten, etwa zu Bildung und Ge- sundheit oder Beschäftigungsmöglichkeiten nach Ge- schlecht, unmissverständlich klar, dass die Mehrheit der Armen dieser Welt weiblich ist. Denn Frauenarmut ist nicht allein eine Frage von Einkommensarmut. Neben Einkommens- und Besitzverteilung entscheiden Fakto- ren wie eben die Zugangsmöglichkeiten zu Gesundheit und Bildung oder zu Ressourcen wie bebaubarem Land, Umweltressourcen oder auch Krediten darüber, ob es für Frauen Wege aus der Armut gibt oder nicht. Bildung, so wird es auch in den Millennium-Ent- wicklungszielen betont, ist eine der wesentlichen Straßenimbiss in Laos. Mehr als 80 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse von Grundlagen persönlicher und gesellschaftlicher Ent- Frauen in Südasien entsprechen solchen Formen einfachster, ungesicherter Tätig- wicklung; und gleiche Bildungschancen gehören zu keiten. »Vulnerable Employment« nennt dies die Internationale Arbeitsorganisation den zentralen Voraussetzungen, um Chancengleich- (ILO); mit »verletzlich« wird vor allem umschrieben, dass für diese Tätigkeiten jegli- che Form vertraglicher und sozialer Sicherung fehlt. heit der Geschlechter zu realisieren. In den Abschluss- dokumenten der Weltkonferenzen der 1990er Jahre 2 hatten die Regierungen fi xiert, bis zum Jahr 2005 die 1,1 Anteil von Mäd- Ungleichheit zwischen den Geschlechtern im Bildungs- chen an der bereich zu beseitigen. Doch dieses Ziel wurde grandios Grundbildung: Im Bereich der verfehlt – immer noch sind zwei Drittel der Menschen, 1 Grundbildung wur- die nicht lesen und schreiben können, weiblich. Aller- den in den vergan- dings haben die Mädchen bei der Grundschulbildung genen Jahren im in vielen Weltregionen substanziell aufgeholt. 2 Dieser 0,9 Weltmaßstab die Effekt lässt aber mit steigendem Bildungsgrad wieder größten Fortschrit- deutlich nach, und im Sekundar- und Hochschulbe- te in der Gleich- reich sind die Disparitäten zwischen den Geschlechtern 0,8 stellung erzielt. sehr viel ausgeprägter. Weltweit hatten 63 Prozent der Gleichwohl gab es Welt auch Rückschrit- Länder mit verfügbaren Daten bis 2005 ein ausgegli- Karibik Osteuropa te, und etliche Westeuropa chenes Geschlechterverhältnis in der Grundschulbil- Zentralasien Mittel- und Weltregionen sind 1999 dung erreicht, doch nur 37 Prozent schafften dies in Subsahara-Afrika LateinamerikaNordamerika u. u. noch weit vom Er- Arabische StaatenOstasienSüd- u. Pazifik u. Westasien 2005 der Sekundarstufe und weniger als 3 Prozent in der reichen des Hochschulbildung, wobei heute in etlichen Ländern, Gleichstellungs- insbesondere im OECD-Raum, mehr junge Frauen als zieles entfernt. Männer an Universitäten studieren. In Subsahara-Afri- Allerdings gelten Strategien wirtschaftlichen Wachs- ka, wo wie in Süd- und Westasien generell nur wenige tums, die zu Lasten der Gleichberechtigung gehen, Kinder die Sekundarstufe besuchen, vergrößerten sich auch in ökonomischer Sichtweise immer häufi ger als die Geschlechterunterschiede in diesem Sektor sogar inakzeptabel. Denn Fortschritte in der Gleichstellung – (UNESCO 2008). das haben progressive Ökonomen längst zur Kenntnis genommen – wirken sich oft positiv auf die gesamt- Ambivalente Globalisierung gesellschaftliche Wohlfahrt aus (Worldbank 2000). Frauen sind die Gewinnerinnen der Globalisierung. Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern wird da- So lautet eines der gängigen Vorurteile über die ver- her nicht mehr nur als eine Frage von »Good Gover- meintlich frauenfreundlichen Beschäftigungseffekte nance«, sondern zunehmend auch als ein Aspekt wirt- von Auslandsdirektinvestitionen. Tatsächlich sieht die schaftlicher Effi zienz behandelt. Bilanz sehr viel ambivalenter aus, und besonders für arme Frauen in den Weltregionen, die bereits vor der aktuellen Finanzkrise krisengeschüttelt waren, ent- Internationales stehen zum Teil immense Belastungen. Ein geläufi ges Callcenter in Ma- Beispiel dafür ist die im Zuge von Deregulierungs- rokko: Die Be- schäftigung in maßnahmen stattfi ndende Privatisierung öffentlicher Dienstleistungsbe- Dienstleistungen wie Wasser- oder Gesundheitsversor- reichen, die keine gung. Fehlt das Geld, um diese vormals billigen oder höheren Qualifi ka- kostenlosen Leistungen zu kaufen, sind es rund um die tionen erfordern, Welt fast immer Frauen, die (noch) mehr Care-Arbeit hat im Globalisie- leisten, um diesen Ausfall zu kompensieren. Parallel rungskontext deut- dazu verschlechtern sich außerdem ihre Einkommens- lich zugenommen. möglichkeiten, die im öffentlichen Sektor meist deut- lich besser sind als in der Privatwirtschaft. 3

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beit, die weltweit zu mehr als zwei Dritteln von Frau- 25 en geleistet wird. Welche enorme Bedeutung die un- Öffentlicher Sektor bezahlte Arbeit von Frauen hat, wird an den Zahlen 20 Privater Sektor deutlich, die anlässlich der Weltfrauenkonferenz 1995 von den UN errechnet wurden. Sie schätzten den mo- 15 netären Wert der unbezahlten Frauenarbeit damals auf 10 elf Billionen US-Dollar jährlich, was mehr als 50 Pro- zent des Weltsozialproduktes gleichkam (UNDP 1995). 5 Zu dieser Arbeit zählen neben der Versorgungs- und Fürsorgearbeit für Familien und Gemeinschaft immer 0 mehr soziale Dienste, wie der Bau von Schulen oder Wasserleitungen, die Unterhaltung von Gesundheits- Polen Belgien Ungarn stationen oder die Errichtung von Erosionsschutzwäl- Spanien Brasilien Finnland ArgentinienNiederlande Deutschland len. Großbritannien Diese Ausdehnung der Fürsorgearbeit, die vor al- lem dann nötig wird, wenn staatliche Dienstleistungen 3 Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern sind höher nicht (mehr) erbracht werden, steht der Verwirkli- im privaten Sektor: Der »gender pay gap« (die Lohn- und Ge- chung von Geschlechtergleichheit diametral entgegen, haltsunterschiede zwischen den Geschlechtern) sind in den weil sie althergebrachte Asymmetrien zwischen Frauen meisten Industrieländern immer noch erheblich. In der Privat- und Männern vertieft. Frauen übernehmen die Care- wirtschaft fällt die Differenz meist sehr viel drastischer aus als im öffentlichen Sektor. Einzige Ausnahme ist Finnland, wo der Arbeit auch unter schwierigsten Bedingungen, ohne Unterschied zwischen Männer- und Frauenlöhnen im öffentli- dadurch einen entsprechenden Zuwachs an eigenen chen Sektor 20 Prozent und in der Privatwirtschaft 17 Prozent Handlungsmöglichkeiten und politischem Einfl uss zu beträgt. gewinnen. Eines der derzeit größten Probleme von Ge- schlechterpolitik besteht daher darin, dass Regierungen die Frage der Geschlechtergleichheit nicht ins Verhält- Gewinnerinnen der Globalisierung? Bra- nis setzen zu den makroökonomischen Entwicklungen silianische Arbeiterinnen löten Mobil- von Liberalisierung und Privatisierung. Die Privatisie- funkantennen für den südamerikani- rung von Bildungs- und Gesundheitsleistungen oder schen Markt – beschäftigt sind sie bei der Energie- und Wasserversorgung wirken ebenso der Niederlassung der Rosenheimer Fir- ma Kathrein in São Paulo. Viele Unter- wenig geschlechtsneutral wie die Entwicklungen der nehmen lagern auch arbeitsintensive Finanzmärkte. Liberalisierungen der Finanzdienste Teile der Produktion für die OECD-Märk- beispielsweise versperrten in vielen Fällen gerade ar- te in Billiglohnregionen aus. Dort arbei- men Frauen den Zugang zu lokalen Kreditmärkten, ten zumeist junge, unverheiratete und andererseits waren internationale Banken (bislang!) kinderlose Frauen, deren Löhne nur ei- potenzielle Arbeitgeber für hoch qualifi zierte Frauen. nen Bruchteil dessen betragen, was Un- Liberalisierung hat somit nicht nur gravierende Effek- ternehmen in den Industrieländern zah- len müssen. te auf Beschäftigungsstruktur und Lohnverhältnisse, sondern immer auch auf die »Care-Economy« (Young

Generell ist Globalisierung ein höchst disparater Afghanische Stu- Prozess mit widersprüchlichen Auswirkungen: Wäh- dentinnen bei der rend zum Teil neue wirtschaftliche Chancen und auch Aufnahmeprüfung neue politische Handlungsmöglichkeiten entstehen, an der Kabuler Universität. Ein verschärfen und vertiefen sich gleichzeitig bestehende Fünftel der 2500 Ungleichheiten zum Beispiel in den Feldern Bezah- Bewerber sind lung und Arbeitsteilung. Entsprechend ungleich sind Frauen, denen un- die Fortschritte bei der Gleichberechtigung auch auf ter der Herrschaft die verschiedenen Weltregionen und gesellschaftlichen der Taliban jeder Gruppen verteilt. Während sich für gut ausgebilde- Zugang zu Bildung te Frauen in einigen Wirtschaftszweigen die Einkom- versperrt war. Weltweit besuchen mens- und Aufstiegschancen deutlich verbessert haben, inzwischen deut- steigt für Frauen in wirtschaftlichen Krisenregionen mit lich mehr Mäd- dem Armutsrisiko auch der Druck, beinahe um jeden chen die Grund- Preis zu arbeiten. Und bis heute gilt die feministische schule als noch in Globalisierungskritik der 1990er Jahre: Mit ihrer unbe- den 1990er Jah- zahlten Fürsorgearbeit tragen vor allem arme Frauen in ren, allerdings ha- den südlichen Kontinenten einen großen Teil der sozia- ben bisher nur we- nige auch die len Kosten ökonomischer Globalisierung. Chance, studieren zu können.. Umdenken der Ökonomie? Der Wert der unbezahlten Fürsorgearbeit Herkömmliche wirtschaftspolitische Debatten über Globalisierung ignorieren die unbezahlte Fürsorgear-

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2007). Diese Zusammenhänge zu erkennen und poli- 90 tisch entsprechend darauf zu reagieren, gehört zu den zentralen Herausforderungen geschlechtergerechter 80 Weltentwicklung. 70 60 Ausbau des Dienstleistungssektors: Immer mehr Frauen sind weltweit erwerbstätig 50 Bezahlte Beschäftigung von Frauen hat unter den 40 Bedingungen ökonomischer Globalisierung in eini- 30 gen Weltregionen zugenommen, in anderen war sie 20 dagegen rückläufig. Die Internationale Arbeitsorga- nisation verzeichnet im Zeitraum von 1997 bis 2007 10 leichte Beschäftigungszuwächse für Frauen in den 0 OECD-Ländern und in Südostasien, deutliche Zuwäch- Welt Afrika se in Lateinamerika und dem Nahen Osten. Abgenom- Ostasien Mittel-Osteuropa u. u. PazifikSüdasien u. Karibik Westeuropa Nordafrika men haben die Beschäftigungsraten von Frauen dage- Südostasien Subsahara – LateinamerikaMittlerer Osten gen im gleichen Zeitraum in Osteuropa, Ostasien und Nordamerika u. Subsahara-Afrika. 4 Die Muster der Erwerbsintegrati- Beschäftigung im Landwirtschafts- Beschäftigung in der gewerblichen on sind regional sehr vielfältig: Verschiedene Gruppen sektor (%) 1997 Wirtschaft (%) 2007 von Frauen profi tieren in unterschiedlichem Maß von Beschäftigung im Landwirtschafts- Beschäftigung im Dienstleistungs- sektor (%) 2007 sektor (%) 1997 den Veränderungsprozessen, die sich seit Beginn des Beschäftigung in der gewerblichen Beschäftigung im Dienstleistungs- 21. Jahrhunderts abzeichnen. In Lateinamerika ist der Wirtschaft (%) 1997 sektor (%) 2007 Beschäftigungszuwachs für Frauen auf die Ausweitung des Dienstleistungssektors zurückzuführen. Knapp 75 Prozent aller weiblichen Erwerbstätigen sind dort in 4 Frauenbeschäftigung nach Wirtschaftssektoren: Dienstleistungen sind Frauenar- diesem Sektor beschäftigt, in den OECD-Ländern sind beit. Weltweit nimmt der Anteil dieser Beschäftigungsart an der Gesamtbeschäfti- es etwas weniger als 85 Prozent (ILO 2008). gung von Frauen immer weiter zu, während die Beschäftigung in der Landwirtschaft im gleichen Umfang zurückgeht. Zentren der Dienstleistung sind nach wie vor Nord- Globalisierungsprozesse haben die Zunahme der und Lateinamerika, während in Südasien und Subsahara-Afrika die Landwirtschaft Arbeitsmöglichkeiten im Dienstleistungssektor be- der bei Weitem wichtigste Beschäftigungssektor ist. schleunigt. Jobs für Frauen entstanden vor allem in den handelsbezogenen Bereichen Tourismus, Finanz- dienstleistung und Datenverarbeitung. Die Nachfrage Der Anteil von Frauen an den Beschäftigten in diesen nach hoch qualifi zierten Dienstleistungen konzentriert Zentren liegt zwischen 70 und 80 Prozent. Dienstleis- sich auf die Industrieländer, die gleichzeitig niedriger tungen in der Computerbranche, wie Software- oder qualifi zierte Dienstleistungen, etwa in der Datenver- Designentwicklung, gehören zu den wenigen Berei- arbeitung, teilweise auslagern. In der Karibik und in chen, in denen Frauen vergleichsweise gute Chancen einigen asiatischen Ländern wurden sogenannte »Di- auf Beschäftigung in höheren Positionen haben. giports« errichtet, wo die Dateneingabe für Internet- Bestelldienste oder Kreditkartenanbieter erledigt wird. Prekäre Arbeitsverhältnisse und Billiglöhne in der Industrie Der Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit muss zu- Das erste Rugby- gleich vor dem Hintergrund der Zunahme von Teilzeit- Match für Frauen arbeitsverhältnissen und der Entwicklung sogenannter in der arabischen informeller beziehungsweise »verletzlicher« Arbeit Welt (7.März (»Vulnerable Employment« heißt es in der neueren 2002): Spielerin- nen zweier tunesi- Diktion der Internationalen Arbeitsorganisation) ge- scher Teams setz- sehen werden. Zu dieser Kategorie zählen zum Bei- ten das Spiel spiel prekäre Arbeitsverhältnisse in Familienbetrie- bewusst am Vor- ben, insbesondere in der Landwirtschaft, aber auch abend des Inter- ungesicherte Formen einfachster Selbstständigkeit wie nationalen Frau- beispielsweise Herstellung und Verkauf von Produk- entags an. ten auf lokalen Märkten. Als informell wurden diese Tätigkeiten früher bezeichnet, weil sie in keiner offi - ziellen Statistik – auch nicht bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts – berücksichtigt werden. Mit der Bezeichnung »verletzlich« soll heute vor allem auf das Fehlen jeglicher vertraglicher und sozialer Siche- rung hingewiesen werden. Zwar ist die Zahl der infor- mellen Beschäftigungsverhältnisse in den letzten fünf Jahren leicht rückläufi g, doch fallen weltweit immer noch mehr als die Hälfte aller bezahlten Arbeiten von Frauen in diese Kategorie. In Südasien und Subsahara- Afrika wurden im Jahr 2007 jeweils mehr als 80 Pro- zent aller Beschäftigungsverhältnisse von Frauen als »verletzlich« gezählt.

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5 Frauen in Parlamenten nach Weltregionen: Fortschritt im 25 Schneckentempo – so lässt sich die Veränderung der Reprä- 1990 sentation von Frauen in der institutionellen Politik zusammen- 2007 20 fassen. In den letzten knapp 20 Jahren stieg die Frauenquote in den Parlamenten im Weltdurchschnitt um vier Prozent. 15 Rückschritte gab es nur in Ostasien.

10 die Quote der Frauen unter den Beschäftigten bis zu 80 5 Prozent (UNIFEM 2008). Die meisten von ihnen sind jung, unverheiratet und kinderlos, und ihre Löhne be- 0 tragen nur einen Bruchteil dessen, was in den Industrie- ländern für die gleichen Tätigkeiten gezahlt wird. Welt Noch immer widersprechen die Arbeitsbedingungen Ostasien Südasien Ozeanien OsteuropaNordafrika Westasien Westeuropaund Karibik Südostasien Mittel- und in diesen Produktionsenklaven vielfach den internatio- Lateinamerika Nordamerika u. Subsahara-Afrika nalen Sozialstandards. Unbezahlte Überstunden, man- gelnde Sicherheit am Arbeitsplatz, fehlender sozialer Schutz und repressives Arbeitsklima bis hin zu körper- Im Zuge der Globalisierung sind immer mehr Unter- lichen und sexuellen Übergriffen sind weiterhin an der nehmen im industriellen Sektor dazu übergegangen, Tagesordnung. Zwar begrüßen viele Arbeiterinnen in arbeitsintensive Teile der Produktion in Billiglohnre- Billiglohnländern die Möglichkeit, Einkommen zu er- gionen auszulagern. Je arbeitsintensiver verschiedene zielen und sich damit teilweise auch patriarchaler Kon- Zweige der Exportindustrie produzieren, umso höher trolle und Unterordnung in ihren Familien zu entzie- der Anteil der Frauen an den Beschäftigten. In soge- hen. Ob es ihnen in Anbetracht extremer Ausbeutung nannten freien Produktionszonen, den Standorten für und menschenrechtswidriger Beschränkungen gelingt, exportorientierte Produktion in Entwicklungsländern, ihren wirtschaftlichen und sozialen Status dauerhaft die in der Regel von Zöllen, Steuern sowie Arbeits- zu verbessern, bleibt jedoch fraglich. und Umweltschutzbestimmungen befreit sind, beträgt Politische Partizipation und globale Frauenpolitik Ausgezeichnet mit dem Alternativen Solche und ähnliche analytische Befunde bilden die Nobelpreis 2008: Die Somalierin Asha empirische Grundlage für die geschlechtskritische po- Hagi engagiert sich in ihrer von Krieg litikwissenschaftliche Entwicklungsländerforschung, und Staatszerfall zerrütteten Heimat am die nach den Chancen der politischen Veränderung Horn von Afrika seit Jahren für die Rechte der Frauen. Als Abgeordnete des von Ungleichheit fragt. Im Mittelpunkt der Untersu- Übergangsparlaments kämpft sie gegen Gewalt und Armut, unter der besonders Frauen und Kinder in den Flüchtlings- lagern zu leiden haben.

Die erste Parlamentssitzung in Afghanis- tan nach über 30 Jahren (20. Dezember 2005). Nach der massiven Unterdrü- ckung durch das Terrorregime der Tali- ban können endlich auch Frauen an po- litischen Entscheidungen in Afghanistan mitwirken.

Literatur

ILO 2008 Global employment trends for UNESCO 2008 World Education Report women Genf. 2000 Paris.

ITUC Report The global gender pay gap UNIFEM 2008 Progress of the World’s Wo- 2008 Brüssel. men 2008/2009 New York.

Ruppert, Uta/Jung, Andrea/Schwarzer, Worldbank 2000 Engendering Develop- Beatrix (2008) Beyond the Merely Feasib- ment. Enhancing Development through At- le. Transnational Women´s Movements´ Po- tention to Gender Washington. litics Today Baden-Baden, i.E. Wölte, Sonja (2008) International – nati- UN The Millennium Development Goals Re- onal – lokal. FrauenMenschenrechte und port 2007 New York. Frauenbewegung in Kenia Königstein im Taunus. UNDP Human Development Report New York, erscheint jährlich mit den neues- Young, Brigitte (2007) Die politische Öko- ten Daten auch über die Entwicklung nomie des Dienstleistungsabkommens der Geschlechtergleichheit im Welt- (GATS): Gender in EU und China Baden- maßstab. Baden.

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chungen, die am Schwerpunkt Entwicklungsländer- forschung des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaf- ten durchgeführt werden, stehen dabei die Ansätze Die Autorin internationaler Frauenpolitik, die in den vergangenen Prof. Dr. Uta Ruppert, 47, befasst beiden Jahrzehnten unter dem Dach der Vereinten Na- sich seit 1985, dem Jahr der Dritten tionen entwickelt wurden. Frauenbewegungen und Weltfrauenkonferenz der Vereinten Frauennetzwerke, so konnten diese Forschungen zei- Nationen in Nairobi, mit den Zusam- gen, sind die wichtigsten Motoren für die Veränderung menhängen zwischen internationaler von Geschlechterverhältnissen, im nationalen wie im Politik und Geschlecht. Fasziniert internationalen Rahmen. Zu den größten Erfolgen der von den politischen Prozessen und Ergebnissen dieser Konferenz begann Frauenbewegungen zählt es, dass sie das Normengefü- sie, Entwicklungspolitik als Knoten- ge der UN in ihrem Sinne beeinfl ussen konnten und punkt internationaler Geschlechterpolitik zu betrachten. die Geschlechterperspektive in den Menschenrechts- Promoviert hat sie in Gießen über Frauenpolitik im Ent- konventionen festgeschrieben wurde. Darüber hinaus wicklungsprozess Burkina Fasos, anschließend arbeite- ist es gelungen, diese neuen, geschlechtssensiblen in- te sie dort über Frauen- und Geschlechterpolitik in den ternationalen Normen zumindest teilweise in natio- Prozessen globalen Regierens. Zu ihren aktuellen For- nale Politiken zu übersetzen (Ruppert/Jung/Schwar- schungsschwerpunkten gehören außerdem die Transnati- onalisierung der Frauenpolitik sowie die Zusammenhän- zer 2008). Unsere Detailstudien zu Kenia, Südafrika, ge zwischen Kultur, Kulturförderung und Entwicklung, Rwanda und Liberia zeigen, dass die Stärkung der insbesondere in Südostafrika. Damit zählt sie zur ersten (Menschen-)Rechte und der politischen Partizipation Generation feministischer Politikwissenschaftlerinnen in von Frauen – gegen zum Teil erheblichen Widerstand Deutschland, die maßgeblich zur Etablierung einer neuen, der etablierten Politik – bei den Frauen selbst hohe Pri- internationalen Standards entsprechenden Forschungs- orität genießen (Wölte 2008). Dabei schließt das Ziel perspektive beigetragen hat. Gelehrt hat sie außer in Gie- der politisch-rechtlichen Gleichheit immer auch die ßen, Hannover und Frankfurt auch als Gastdozentin und Gastprofessorin in Österreich, Spanien und Indonesien. ökonomische Dimension und darin ganz zentral die 2002 wurde Uta Ruppert nach Frankfurt auf die Professur Arbeit der Frauen ein. Beispielhaft dafür ist in Kenia für Entwicklungsländerforschung unter besonderer Be- und vielen anderen afrikanischen Staaten der Kampf rücksichtigung der Geschlechterverhältnisse am Institut um Gleichheit im Landrecht, die für eine Verbesserung für Politikwissenschaft des Fachbereichs Gesellschafts- der Arbeitssituation von Frauen in der Landwirtschaft wissenschaften berufen. Seitdem engagiert sie sich auch grundlegend ist. als eine der Direktorinnen des Frankfurter Cornelia Goethe Damit schließt sich der Kreis, und Geschlechter- Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Ge- schlechterverhältnisse. Außerdem bringt sie im Zentrum gleichheit wird als (notwendiger!) Weg und Ziel von für Interdisziplinäre Afrikaforschung der Universität die Weltentwicklung erkennbar. Denn die für weltweiten Geschlechterperspektive ein. In Kürze erscheint von Rup- Frieden, Demokratie und Wohlfahrt unverzichtbaren pert und ihren Mitarbeiterinnen Beatrix Schwarzer und gleichen sozialen, ökonomischen und politischen Ent- Andrea Jung im Nomos Verlag der Band »Beyond the Me- scheidungsrechte sowie die gleiche Verfügung über rely Feasible. Transnational Women’s Movements’ Politics Ressourcen von der lokalen bis zur internationalen Today«. Seit 2007 ist Ruppert Dekanin des Fachbereichs Ebene lassen sich nur verwirklichen, wenn alle funda- Gesellschaftswissenschaften. mentalen gesellschaftlichen Ungleichheitslagen ausge- [email protected] glichen werden. ◆

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»Carefully selec- ted« – Ghanaische Ananas werden für den Export ver- packt. Wer heute anspruchsvolle Kunden in der westlichen Welt gewinnen will, muss Qualitätswa- re liefern. Doch wie lässt sich »Qualität« defi nie- ren? Neben den klassischen mess- baren Kriterien wie Größe, Farbe und Form spielen zunehmend sozia- le und ökologische Zertifi zierungssy- teme eine Rolle, die von Super- marktketten, Im- porteuren und Nichtregierungs- organisationen eingeführt werden.

»Meet the Farmer« Kleinbauern, Regionalentwicklung und der neue globale Agrarmarkt

von Peter Lindner Lebensmittelkrisen wie BSE, Schweinepest, Vogelgrippe und der »Gammelfl eischskandal« und haben das Vertrauen der Verbraucher in den Agrarmarkt erschüttert. Deshalb verwenden Pro- Stefan Ouma duzenten und Einzelhändler heute mehr Anstrengungen als jemals zuvor darauf, der verunsi- chernden Anonymität der global organisierten Produktion durch die Herstellung sozialer Nähe entgegenzuwirken. So suggerieren Herkunftszertifi kate für Regionalprodukte sowie eine schnell steigende Zahl von Hygiene-, Sozial- und Umweltstandards Verlässlichkeit aufgrund von geringen räumlichen Distanzen und unabhängiger Kontrolle, während Initiativen wie »Caretrace: Meet the Farmer« dadurch Vertrauen schaffen sollen, dass sich der Konsument im Internet über den individuellen Produzenten informieren kann. Doch die Folgen dieser Umbrüche für Produktionsweisen und Anbauregionen sind bislang nur wenig bekannt.

m Zuge der Globalisierung vollziehen sich diese tief Trendwende: Von traditionellen tropischen Igreifenden Veränderungen sowohl in der landwirt- Agrargütern zu »High-Value-Foods« schaftlichen Produktion als auch im internationalen Die Erzeugung hochwertiger tropischer Gartenbau- Agrarhandel. Neue Konsummuster, eine steigende produkte (»High-Value-Foods«) wie Frischgemü se, Nachfrage nach »Convenience«- und »Just-in-time«- Frischobst und Schnittblumen stellt einen der dyna- Produkten und ein zunehmend oligopolistisch organi- mischsten Sektoren der global organisierten Landwirt- sierter Lebensmitteleinzelhandel zählen dazu ebenso schaft dar. Alleine der Handel mit Frischobst und wie eine schnell steigende Zahl von Hygiene-, Sozial- Frischgemüse wuchs zwischen 1980 und 2005 um 243 und Umweltstandards sowie neue Formen der Zusam- Prozent an./1/ Zahlreiche Entwicklungsländer stellten menarbeit zwischen Staaten, Nichtregierungsorganisa- ihren Export auf neue Produktbereiche um. Bis dahin tionen und Unternehmen. wurden überwiegend traditionelle tropische Agrar-

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produkte wie Kaffee, Kakao, Tee, Zucker, Naturfasern, von Vögeln eine wichtige Rolle spielt, es eine klar ab- Nüsse und Gewürze ausgeführt. Während deren Anteil grenzbare Brutzeit in den Tropen aber gar nicht gibt? an den gesamten Agrarexporten aus Entwicklungslän- dern zwischen 1981 und 2001 von 39,2 Prozent auf Neue Marktnischen und Wünsche der Verbraucher 18,9 Prozent zurückging, nahmen die Ausfuhren von Einerseits wird es für Produzenten also immer Gartenbauprodukten im selben Zeitraum von 14,7 Pro- schwie riger, nicht aus dem Markt verdrängt zu werden, zent auf 21,5 Prozent zu./2/ da die Anforderungen an die »Qualität« zunehmen, die Insbesondere einige afrikanische Exportökonomi- Produktionsprozesse komplexer werden und die Pro- en konnten sich in den 1990er Jahren im Zuge von duktionskosten aufgrund von Zertifi zierungsverfahren neoliberaler Strukturanpassung, Exportförderung und und Kontrollmaßnahmen steigen. Andererseits wird veränderten Nachfragepräferenzen als Produzenten eine Ausweitung des globalen Agrarmarktes möglich, hochwertiger landwirtschaftlicher Erzeugnisse glo- da immer spezifi schere Erzeugnisse nachgefragt werden bal positionieren. Schnittblumen (»Equatorial Rose«) und so neue Marktnischen entstehen. Dabei bedeutet und grüne Bohnen aus Kenia oder Ananas aus Ghana »Ausweitung des globalen Marktes« hier keineswegs gehören heute zu den afrikanischen Exportschlagern. nur die Erschließung zusätzlicher Anbauregionen im Kenia und Ghana etwa exportierten 2007 Gartenbau- territorialen Sinn. Vielmehr sind darunter auch eine produkte wie ganzes und weiterverarbeitetes Frischge- stärkere Exportorientierung sowie eine unmittelbarere müse und Frischobst, Schnittblumen und Zierpfl anzen und intensivere Einbindung der beteiligten Akteure in im Wert von 641,66 Millionen (Kenia) beziehungswei- globale Märkte durch die Herstellung sozialer, organisa- se 99,37 Millionen (Ghana) Euro in die 15 Staaten der torischer und regulatorischer Nähe gemeint. Im bereits ›alten‹ EU und erwirtschafteten damit einen erhebli- erwähnten Fall des »Traceability«-Systems »Caretrace: chen Anteil ihrer gesamten Devisen./3/ Schätzungen Meet the Farmer« kommt das ebenso zum Ausdruck sprechen insgesamt von einer Million kleinbäuerlicher wie in der Tatsache, dass bei manchem europäischen Haushalte in Afrika, die direkt (als Bauern) und indi- Supermarkt die Frist zwischen der Bestellung eines be- rekt (als Arbeiter und Haushaltsmitglieder) vom Export reits im Anbaugebiet zubereiteten Fruchtsalats »fresh hochwertiger Agrarprodukte abhängig sind./4/ Was als from harvest« und dem Abtransport im Flugzeug maxi- lose organisierter Handel mit einfachen Primärpro- dukten in den 1980er Jahren begann, ist mittlerweile ein hoch ausdifferenzierter und fl exibel organisierter Agrarmarkt geworden, auf dem Prozess- und Pro- duktstandards eine zunehmend strukturierende und regulierende Rolle spielen. 1 Die Ausbreitung dieser Standards ist Ausdruck einer gestiegenen Refl exivität des Marktes (»Selbstproblema- tisierung«) im Hinblick auf ökologische, sozioökono- mische und hygienische Wechselwirkungen und wird vor allem von privaten Akteuren wie transnationalen Ma Supermarktketten (zum Beispiel »Tesco«), Nichtregie-

rungsorganisationen (zum Beispiel die »Soil Associ- Äg ation«) oder Multi-Akteurs-Konstellationen (zum Beispiel die »Common Code for the Coffee Com-

munity-Initiative«) vorangetrieben. Wer heute für Ga den Weltmarkt produziert, ist deswegen mit einem BF Ät Geflecht aus staatlichen und privaten Regularien El Gh konfrontiert, die verschiedenste Konnotationen von Ug »Qualität« einfordern. Neben klassischen materiel- Ke len Produktattributen wie Größe, Farbe und Form Ta werden dabei verstärkt auch symbolische Eigen- Sa schaften wichtig, die sich einer eindeutigen Bewer- tung entziehen. Scheinbar objektivierende Zertifi kate Si spielen deswegen bei der Sicherstellung von Qualität und der Regulierung von Wertschöpfungsketten eine entscheidende Rolle. Für Produzenten in den Anbau- Sda regionen wirken diese oft aus anderen sozialen, öko- Kartografie: Ö. Alpaslan logischen und ökonomischen Kontexten transferierten Exporte pro Jahr in Mio. Euro Exporte pro Jahr in t in die EU-15 Staaten Zertifi zierungssysteme als erhebliche Handelshemm- 100 200 300 400 500 1.000.000 nisse. Wie soll beispielsweise der in Großbritannien populäre Standard LEAF (»Linking Environment and Anteile verschiedener Produktgruppen 500.000 ganze Früchte Farming«) umgesetzt werden, wenn dafür die Brutzeit 250.000 Baumteile, Schnittblumen, Zierpflanzen 100.000 verarbeit. Gemüse, Früchtemischungen, Nüsse 1 Exporte hochwertiger Gartenbauprodukte 2007: Viele afri- Gemüse, Wurzeln, Knollen 50.000 kanische Länder haben ihre Agrarproduktion in den vergange- nen Jahren auf »High-Value-Foods« wie Frischobst und Ke Ägypten, Äthiopien, Burkina Faso, Elfenbeinküste, Gambia, Ghana, Kenia, -gemüse sowie Schnittblumen umgestellt; sie exportieren Marokko, Sambia, Simbabwe, Südafrika, Tansania, Uganda diese Waren überwiegend in Länder der Europäischen Union.

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Vertrauensbilden- Bauern dabei, von den traditionell angebauten Ana- de Maßnahmen nasvarietäten »Sugar Loaf« und »Smooth Cayenne« via Internet: auf die in Europa und den USA immer populärer wer- »Caretrace« infor- dende Varietät »MD2« umzustellen, und die nieder- miert mit der ländische Organisation »Cordaid« fördert die Vergabe Kampagne »Meet the Farmer« die von Kleinkrediten an Bauern zum Anbau von Man- Konsumenten gos. Viele Maßnahmen und Initiativen wie beispiels- über »ihre« Bau- weise ein vom Internationalen Währungsfond (IWF) ern in Afrika. unterstütztes Programm zur Landregistrierung oder der »Millennium Challenge Account« (MCA) der US- Regierung beziehen sich dabei nicht unmittelbar oder ausschließlich auf eine marktorientierte Landwirt- schaft, sondern schließen das soziale, administrative oder infrastrukturelle Umfeld mit ein. Andere beinhal- ten Bedingungen, durch die allgemeine Entwicklungs- ziele mit der Förderung des Agrarsektors kombiniert werden. Als Folge davon bilden sich Unternehmungen und Formen der Produktionsorganisation heraus, die marktwirtschaftliche Ziele mit Aufgaben wie dem Aus- bau der regionalen Infrastruktur, einem verbesserten Zugang zu Bildungsinstitutionen oder dem Umwelt- schutz verbinden, damit teilweise Tätigkeitsfelder von Nichtregierungsorganisationen oder der staatlichen Verwaltung übernehmen und zu ihren Kleinbauern in einem paternalistischen Fürsorgeverhältnis stehen. Formen der Anbauorganisation, die in diesem Kon- text immer wichtiger werden, sind sogenannte »Out- Zurückverfolgen mal zwölf Stunden betragen darf – für die Bauern und grower Schemes«. Dabei richten Kleinbauern ihre bis zum Produzen- Exporteure eine enorme logistische Herausforderung, Produktion – Produkte, Menge, Qualität, Organisati- ten: Mit privaten da Vorratshaltung nur sehr begrenzt möglich ist. on des Produktionsprozesses – von vornherein an den Qualitätsstandards Es ist eines der Kennzeichen der jüngsten Expansi- Anforderungen eines einzelnen Exporteurs aus. Diese und »Traceability«- Systemen wird der onsphase des globalen Agrarmarktes, dass Nichtregie- Verbindung zwischen beiden Seiten beruht manchmal globale Agrar- rungs- und Entwicklungsorganisationen sowie inter- nur auf informellen Absprachen, ist aber meist fest markt zunehmend nationale Organisationen an zentraler Stelle involviert vertraglich abgesichert. Beratung, Bereitstellung von reguliert, was lo- sind. In Ghana wurde beispielsweise die Umstellung Input wie Dünger, Pestiziden und Saatgut, Kredite so- kale Produzenten der Produktionsprozesse entsprechend GLOBALGAP, wie Abnahme- und Preisgarantien können Teil dieser vor neue Heraus- dem weltweit wichtigsten Qualitätsstandard für land- Vereinbarungen sein, die für beide Seiten eine höhere forderungen stellt. wirtschaftliche Erzeugnisse, von der Deutschen Gesell- Planungssicherheit bieten, wobei die Verhandlungs- schaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) im Rah- macht meistens ungleich zugunsten der Exporteure men des »Market Oriented Agriculture Programme«, verteilt ist. Ghana, das sich dem Welthandel auch in Ananasanbau in von der Europäischen Union im Rahmen des »Pestici- anderen Bereichen stark geöffnet hat und im letzten Südghana: Wenn de Initiative Programme« und von der »United States »Doing Business-Report« der Weltbank als »Top Refor- die Früchte reif /5/ sind, werden sie Agency for International Development« (USAID) im mer« bezeichnet wird , forciert eine Anpassung an die »Just-in-time« Rahmen des »Trade and Investment Programme for a neuen Rahmenbedingungen des globalen Agrarmarkts und erntefrisch Competitive Export Economy« gefördert. Die »Horti- und bezeichnet die eigene Landwirtschaft in Imagebro- nach Europa ge- culture Export Industries Initiative« der Weltbank half schüren als »Ready for Take Off«. liefert. Ananas und Mangos aus Ghana – zwei Fallbeispiele Wie nun sehen die Strategien und Geschäftsmodel- le konkret aus, mit denen international vernetzte Ag- rarunternehmen exportorientierte Märkte in Ghana schaffen? Welche Folgen gehen davon für die Anbau- regionen aus? Beides lässt sich am besten anhand von zwei Fallbeispielen nachvollziehen, die in weit vonei- nander entfernten Regionen angesiedelt sind, unter- schiedliche Produkte exportieren und jeweils eigene Geschäftsmodelle entwickelt haben. Für beide spielen Ananas beziehungsweise Mangos, zwei Anbaufrüchte, die in den vergangenen Jahren auf dem globalen Ag- rarmarkt erheblich an Bedeutung gewonnen haben, eine entscheidende Rolle. Im ersten Fall handelt es sich um das multinationale Unternehmen »Fresh Fruit Limited«, das hochwerti- ge »Convenience«-Fruchtprodukte »Just-in-time« an eine unter Zeitdruck lebende, aber kaufkräftige und

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konsumbewusste europäische Klientel liefert. Binnen exporte nach 2004 wider. 2 Ursache war eine plötzli- Gut aufgestellt für zwölf Stunden werden Ananas, Mangos, Papayas und che Verschiebung der Marktnachfrage auf die von »Del die Anforderungen weitere Früchte frisch geerntet direkt vor Ort weiter- Monte« entwickelte und propagierte Varietät »MD2«, des globalen Ag- verarbeitet und anschließend per Luftfracht nach Eu- der die Produzenten wegen der hohen Kosten für neue rarmarktes – so präsentiert Ghana ropa exportiert. »Fresh Fruit Limited«* verfügt über Setzlinge nicht schnell genug nachkommen konnten. seine exportorien- eine Zuliefererbasis von 116 Klein- und Mittelbauern Während die Marktnische für »Fresh Fruit Limited« tierte Landwirt- im Süden Ghanas und wirkt in ihrer Stammregion als die »Just-in-time«-Lieferung von erntefrischen und schaft in einer fokaler Wirtschaftsmotor. bereits verarbeiteten Früchten ist, setzt die im Norden Imagebroschüre. Das Unternehmen siedelte sich 1998 in Ghana an Ghanas angesiedelte »Integrated Organic Fruit Compa- und expandierte von dort aus nach Südafrika, Ägypten ny«* (IOFC) auf die Bio-Zertifi zierung von Mangos und Brasilien. Durch fl exibles »Supply Chain-Manage- als Marktlücke. Dabei wird eine abgelegene Regi- ment«, Produktinnovationen, eine proaktive Unterneh- on durch den globalen Agrarmarkt neu erschlos- menspolitik in Bezug auf soziale und ökologische Zerti- sen und integriert. Zwar ist der Mango-Anbau fi zierungssysteme (»Fairtrade«, »Organic«, »GLOBAL- in Nordghana seit Langem bekannt, er wurde GAP«) und nicht zuletzt durch die geschickte Demonst- jedoch immer nur im kleinen Stil und für den ration von »Corporate Social Responsibility« (CSR) für lokalen Markt betrieben. Die IOFC hingegen Arbeiter und kleinbäuerliche Zulieferer gelang es »Fresh setzt ausschließlich auf den Export, möchte die Fruit Limited«, sich als einer der Marktführer in Europa kleinbäuerlichen Anbaustrukturen aber beibe- zu etablieren. Ein wesentliches Element des Geschäfts- halten. Sie hat sich zudem explizit zum Ziel modells ist dabei die Erzeugung sozialer Nähe zwischen gesetzt, zur infrastrukturellen und sozialen Konsumenten und Produzenten durch Marketinginst- Entwicklung der Region beizutragen und hilft rumente wie »Caretrace: Meet the Farmer«. Die ver- beim Bau von Schulen oder Wohngebäuden meintliche »Entfetischisierung« der Ware und die Über- für Lehrer. Grundlage dafür ist ein Vertrags- setzung lokaler Eigenheiten (Kleinbauern, Frische, Na- modell, in das derzeit 1300 kleinbäuerliche tur) in Produktqualitäten können als marktbezogene Produzenten einbezogen sind, von denen Rahmungsprozesse verstanden werden, die dem Unter- jeder nur einen Acre Land (circa 0,4 Hek- nehmen weiche Wettbewerbsvorteile garantieren. tar) besitzen darf. Die Verträge wurden wesentlich von Wie fragil solche Rahmungsprozesse allerdings sein einer niederländischen Entwicklungsorganisation mit können, zeigt die jüngere Kontroverse um den öko- ausgearbeitet, die dann auch einen Teil der für die An- * Namen der Un- logischen Fußabdruck von luftfrachtbasierten Agrar- fangsinvestitionen (Setzlinge, Dünger, landwirtschaft- ternehmen von produkten – »Food Miles« – in Großbritannien. Die liche Geräte, Bewässerungssysteme) nötigen Kredite den Autoren ge- für biologische Zertifi zierung entscheidende britische bereitstellte. Um eine Verschuldungsspirale zu verhin- ändert »Soil Association« hält den Transport per Luftfracht für unvereinbar mit einer nachhaltigen Landwirtschaft und droht seit 2007 mit einem Bann entsprechender Anmerkungen Erzeugnisse. Davon wäre ein Großteil der kleinbäu- /1/ FAO 2008: Faotstat –Tradestat. /3/ EUROSTAT 2008 Außenhandelsstatis- erlichen Zuliefererbasis von »Fresh Fruit Limited« http://faostat.fao.org/site/535/ tiken EU-27. betroffen, was schwerwiegende Folgen für viele Fa- DesktopDefaultaspx?PageID=535#ancor http://epp.eurostat.ec.europa.eu/por- milien im ländlichen Raum hätte. Durch strategisches tal/page?_pageid=0,1136217,0_ Engagement und Lobby-Arbeit des Unternehmens auf /2/ Jaffee, Steven 2005 Food Safety and 45571467&_dad=portal&_ mehreren Ebenen konnte diese Gefahr aber vorerst Agricultural Health Standards: Challenge schema=PORTAL abgewendet werden. Das Beispiel zeigt, wie stark die and Opportunities for Developing Country Exports Report 31207, Washington D.C. /4/ PIP Magazine 2007, H. 12. Handlungsoptionen und Perspektiven der Marktin- http://siteresources.worldbank.org/ www.coleacp.org/pip tegration lokaler Akteure von Marktmachern im glo- INTRANETTRADE/Resources/Topics/ balen Norden bestimmt werden. Dasselbe Phänomen Standards/standards_challenges_ /5/ Weltbank 2007 Doing Business in spiegelt sich eindrucksvoll im Rückgang der Ananas- synthesisreport.pdf Africa Washington D.C.

Bauer bei der Be- wässerung seines Mangofeldes. Eine niederländische Entwicklungsorga- nisation sorgte da- für, dass etwa 400 Kleinbauern in Nordghana zins- freie Kredite beka- men, um Setzlin- ge und Dünger zu kaufen.

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ren dieses Marktes ist auf zunehmend differenziertere, Ghanaische Ananasexporte in t 1995–2007* und in USD 2000–2007** organisatorische und institutionelle Arrangements mit Tonnen Mill. USD anderen Akteuren angewiesen, die es eigentlich ver- 60000 30 bieten, von »dem globalen Agrarmarkt« zu sprechen. Seefracht in t Wert in USD 50000 25 Veränderungen an den unterschiedlichsten Punkten Luftfracht in t Keine Daten verfügbar der agrarischen Wertschöpfungskette – induziert durch 40000 20 Konsumenten, Abnehmer und Produzenten, aber auch ausgelöst durch technische und organisatorische Inno- 30000 15 vationen – machen diese Märkte hoch dynamisch und 20000 10 zwingen die Beteiligten, sich kontinuierlich neu zu po- sitionieren. Die Integration ökologischer und sozialer 10000 5 Externalitäten, die Entanonymisierung durch »Tracea- 00bility« oder die scheinbare Aufhebung des Marktprin- 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 zips, wenn profi t- und allgemeinwohlorientierte Ziele Quelle: *Sea-Freight Pineapple Exporters of Ghana 2008 **Ghana Export Promotion Council 2008 vermengt werden, sind es, die zu neuen Perspektiven Ghanaische Mangoexporte 2000–2007 in t und USD und Pfaden regionaler Entwicklung führen. Über die Tonnen USD konkreten – positiven wie negativen – Konsequenzen 900 1000000 für die Produktionsregionen im Süden ist bislang noch 800 viel zu wenig bekannt. ◆ Exportvolumen in t 700 800000 Wert in USD 600 600000 500 400 Die Autoren 400000 300 Prof. Dr. Peter Lindner, 39, erhielt 200 200000 2006 einen Ruf auf die Professur für 100 Allgemeine Wirtschaftsgeographie in 00Frankfurt. Er hat an der Universität Er- 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 langen-Nürnberg promoviert und sich Quelle: Ghana Export Promotion Council 2008 habilitiert und war zwischenzeitlich an der Yale University im »Program in Agrarian Studies« sowie an der 2 Export von Ananas und Mangos aus Ghana: Die zeitverzögerte Umstellung des »Moscow School of Social and Econo- Anbaus auf eine mittlerweile häufi ger nachgefragte Sorte hat nur zu einem vorüber- mic Sciences« tätig. Sein wissenschaftliches Grundinte- gehenden Rückgang der seit den 1990er Jahren kontinuierlich steigenden Ananas- resse gilt der Frage, auf welche Weise Güter und Märkte exporte geführt. Als wichtiger Devisenbringer für die ghanaische Landwirtschaft geschaffen, reproduziert und verändert werden. Was oft könnten in Zukunft Mangos die Ananas ergänzen. als eine selbstverständliche Tatsache erscheint, etwa die Existenz von privaten Eigentumsrechten, der anonyme dern, erhalten die teilnehmenden Bauern die Kredite Kauf und Verkauf von Produkten oder das Vertrauen in die Effi zienz von Märkten, wird aus dieser Perspektive zu zinsfrei, müssen bis zur ersten Ernte nach fünf Jahren einer permanenten Konstruktionsleistung, die alles andere nicht mit der Tilgung beginnen und zahlen auch später als »natürlich« ist. Wissenschaftliche, insbesondere öko- immer nur einen Prozentsatz der tatsächlich erzielten nomische Modelle werden dabei nicht primär als Abbil- Erlöse zurück. der, sondern als Handlungsvorlagen verstanden, die sich Dieses Beispiel macht deutlich, wie tief greifend ihre eigene Wirklichkeit schaffen. Peter Lindner arbeitet die Impulse sein können, die von der Ausweitung des zurzeit an Forschungsprojekten zum »globalen Agrarmarkt Marktes auf eine Anbauregion ausgehen. Sie betreffen und seinen unscharfen Rändern« in Ghana, zu »lokalen Marktordnungen und kommunaler Selbstverwaltung« in infrastrukturelle Neuerungen, eine Anpassung des tra- Russland sowie zur »Kreativpolitik und der Performativi- ditionellen Bodenrechts, Aufklärungsmaßnahmen im tät des Kreativitätsparadigmas«. Sein jüngstes Buch trägt für die Biozertifi zierung wichtigen Bereich der Feld- den Titel »Der Kolchoz-Archipel im Privatisierungsprozess: hygiene, die soziale Differenzierung in den Dorfge- Wege und Umwege der russischen Landwirtschaft in die meinschaften, Gender-Beziehungen aufgrund neuer globale Marktgesellschaft«. Formen der Arbeitsorganisation sowie bislang unbe- kannte langfristige fi nanzielle Abhängigkeiten. Sollten Stefan Ouma, M.A., 26, arbeitet seit 2007 als wissenschaftlicher Mitar- sich die Anbauprognosen tatsächlich umsetzen lassen, beiter am Institut für Humangeogra- so könnte Nordghana in wenigen Jahren zwei Prozent phie der Universität Frankfurt. Seine der derzeitigen jährlichen Mango-Importe der Europä- Forschungsschwerpunkte liegen im ischen Union produzieren./3/ Bereich der wirtschaftsgeografi schen Globalisierungsforschung. Insbe- Veränderungen in der agrarischen sondere interessiert er sich für den Wertschöpfungskette und ihre Folgen Zusammenhang zwischen globalen Wertschöpfungsketten, privaten Regu- Die beiden Fallbeispiele zeigen, dass die Ausweitung lierungssystemen und Regionalentwicklung. Er promoviert des globalen Agrarmarktes ein Prozess ist, der vielfäl- zurzeit über das Thema »Konstruktion, Ordnung und Pra- tiger sozialer Veränderungen und technischer Inves- xis von transnationalen Agrarmärkten in Ghana«. titionen im Marktumfeld bedarf. Große Exportunter- nehmen, die kleinbäuerliche Zulieferer an sich binden [email protected]; [email protected]; und zugleich in überregionale Strukturen integrieren, www.humangeographie.de/lindner spielen dabei eine Schlüsselrolle. Doch das Funktionie-

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Wasser weltweit Wie groß sind die globalen Süßwasserressourcen, und wie nutzt sie der Mensch?

von Petra Döll Ohne Wasser kein Leben – die ersten organischen Moleküle entwickelten sich im Wasser, aus Wasser plus Kohlenstoff und Stickstoff, und auch heute brauchen Pfl anzen, Tiere und Men- schen viel Wasser, um zu überleben. Die Erde ist der einzige Planet mit fl üssigem Wasser und der einzige Planet, auf dem es Leben gibt, zumindest in unserem Sonnensystem. Zwei Umstände bewirken gemeinsam, dass nur die Erde die richtige Temperatur für fl üssiges Was- ser an ihrer Oberfl äche hat: ihr Abstand zur Sonne und ihre Masse. Aufgrund ihrer ausrei- chend großen Masse kann sie eine Atmosphäre halten, die die mittlere Oberfl ächentempera- 1 Viele Menschen dieser Erde stellt die Beschaffung sauberen Wassers vor grö- tur von –18 °C auf +15 °C erhöht. Nur daher konnte sich im Frühstadium der Erdentstehung ßere Herausforderungen, wie diesen das Wasser, das in großen Mengen aus dem Erdinnern ausgaste, an der Oberfl äche als fl üssi- Jungen im halbtrockenen Nordosten Brasiliens. ges Wasser in den Ozeanen sammeln.

m Anthropozän [siehe Seite 57] wird das Wasser nun Iknapp. Immer mehr Menschen brauchen immer mehr Wasser und greifen immer stärker in den natürlichen Wasserkreislauf ein. Das beeinträchtigt das Wohlerge- hen nicht nur von Menschen, sondern auch von aqua- tischen Ökosystemen. So fehlen Fischen im Unterstrom von Stauseen die natürlichen jahreszeitlichen Wasser- standsschwankungen und damit zum Beispiel geeignete Laichplätze, oder die Vegetation in Feuchtgebieten stirbt ab, wenn diese durch Wasserentnahmen für Bewässe- rung trocken fallen. Wasserknappheit bezieht sich aber nicht nur auf die Wassermenge, sondern auch auf die Wasserqualität. Ist Wasser nicht von ausreichend guter Qualität, dann ist es nicht nachhaltig nutzbar. Aber auch ein Zuviel an Wasser schafft zunehmend Probleme. Im- mer mehr Menschen wohnen in hochwassergefährdeten Gegenden, und durch den anthropogenen Klimawandel werden sich fast überall die Hochwässer häufen.

Wassernutzung Wir Menschen nutzen Wasser auf vielfältige Wei- se: zum Trinken und Waschen, zur Herstellung von Nahrungsmitteln und von industriellen Gütern, zur Stromerzeugung – und zum Vergnügen. Wir nutzen es direkt (etwa wenn wir uns waschen) oder indirekt als sogenanntes »virtuelles« Wasser (zum Beispiel, wenn wir essen). Als virtuelles Wasser wird diejenige Was- sermenge bezeichnet, die benötigt wird, um ein Pro- dukt herzustellen. Der britische Wissenschaftler John Anthony Allan, der sich mit der Wasserknappheit im Nahen Osten befasste, entwickelte die Idee, Wasser in virtueller Form als Nahrungsmittel zu importieren, wenn eine Ausweitung der (bewässerten) Landwirt- schaft wegen der Wasserknappheit nicht mehr möglich ist./1/ Um das Konzept des virtuellen Wassers für die Identifizierung nachhaltiger Entwicklungsstrategien

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nutzen zu können, müssen sozioökonomische Aspek- te einbezogen werden. So ist Landwirtschaft die Ein- kommensquelle von Milliarden von Menschen (zum Beispiel in Indien von 800 Millionen Menschen), und für den Import von Nahrungsmitteln sind beträchtliche fi nanzielle Ressourcen notwendig. Der Verbrauch an virtuellem Wasser zeigt den »Was- serfußabdruck« eines Menschen oder eines Landes (www.waterfootprint.org), vergleichbar mit dem »öko- logischen Fußabdruck«, der den Flächenverbrauch wi- derspiegelt. Der Konsum von Nahrungsmitteln hat den weitaus größten Anteil am Wasserfußabdruck, da beim Wachstum von Feldfrüchten große Wassermengen verdunsten. Und schließlich: Wir nutzen »blaues« und »grünes« 2 Bewässerungskanal: Das bei Weitem meiste Wasser geht dem blauen Wasser Wasser. 3 Das blaue Wasser ist die Domäne der Wasser- durch die Bewässerung von Feldfrüchten, wie hier im brasilianischen Bundesstaat wirtschaft: das Wasser in Flüssen, Seen und im Grund- Ceará, verloren. Deshalb lohnt es sich für Staaten in trockenen und halbtrockenen wasser, das – meist durch Pumpen – entnommen und Klimazonen, darüber nachzudenken, ob sie nicht Nahrung aus Ländern importieren einer menschlichen Nutzung zugeführt werden kann. können, deren Landwirtschaft auf Regenwasser basiert. In der Landwirtschaft wird blaues Wasser insbesondere zur Bewässerung eingesetzt. Ein Teil des entnomme- nen blauen Wassers verdunstet während der Nutzung Industrielle und wird als konsumtiv genutzte Wassermenge be- Produkte zeichnet, da sie anderen Wassernutzern nicht mehr zur Fabrik Verfügung steht. Als grünes Wasser bezeichnet man Niederschlag das Regenwasser, das auf Ackerflächen verdunstet, Bewässerung Wasserwerk/ um die Produktion von Feldfrüchten zu ermöglichen. Haushalte Die Begriffe »grünes Wasser« und »blaues Wasser« Energie wurden von der schwedischen Wissenschaftlerin Ma- lin Falkenmark eingeführt, um den engen Fokus auf Wärme- kraftwerk die Bewässerung, das heißt auf blaues Wasser, der im Nahrungsmittel Textilien landwirtschaftlichen Wassermanagement vorherrschte, Energie zu erweitern. Dadurch wollte sie in der Diskussion um weltweite Nahrungsmittelsicherheit eine integrierte /2/ Analyse dieser beiden »Wasserarten« unterstützen. 3 Blaues Wasser, das aus Flüssen, Seen oder dem Grundwas- Für eine nachhaltige Entwicklung unseres Planeten ser stammt, wird für die Wasserversorgung von Haushalten, ist es notwendig, auch den Wasserbedarf natürlicher Industriebetrieben und Wärmekraftwerken ebenso wie für die Ökosysteme zu berücksichtigen. Aquatische Ökosyste- Bewässerung von Feldern genutzt. Für die Produktion von me brauchen blaues, terrestrische Ökosysteme grünes Feldfrüchten wird darüber hinaus auch grünes Wasser aus Wasser. dem Regen genutzt, zusammen mit blauem Wasser im Falle von Bewässerung. Ein großer Teil des Bewässerungswassers geht durch die Verdunstung für die weitere Nutzung verloren. Wo ist das Wasser knapp? Hingegen steht das blaue Wasser, das für andere Zwecke ent- Im Allgemeinen versteht man unter dem Begriff nommen wird, nach der Nutzung größtenteils wieder zur Verfü- Wasserressourcen den Anteil des Niederschlags, der, gung, falls es nicht zu stark verschmutzt wurde.

4 In Ceará de- im langjährigen Mittel, nicht verdunstet, sondern in cken die Men- das Grundwasser oder in Oberfl ächengewässer fl ießt schen ihren Was- und dort genutzt werden kann. Diese traditionelle Fo- serbedarf aus kussierung auf das blaue Wasser behindert jedoch die Stauseen, doch in trockenen Jahren integrierte Betrachtung von Ernährung, Wasser und trocknen diese natürlicher Umwelt, da das grüne Wasser eine wichtige aus, so dass auf Ressource für terrestrische Ökosysteme einschließlich Grundwasser zu- rückgegriffen wer- den muss. Grund- Glossar: wasser ist jedoch blaues Wasser: verdunstet, um die Blätter (Trans- zung für andere aufgrund der ho- Wasser in Flüssen, die Produktion von piration). Nutzer verloren hen Verdunstungs- Seen und im Feldfrüchten zu geht. raten versalzen Grundwasser. Die ermöglichen. konsumtiv und muss in ent- Domäne der Was- genutzte virtuelles sprechenden Anla- serwirtschaft. Evapo- Wassermenge: Wasser: gen aufbereitet transpiration: Ver- diejenige Wasser- Wassermenge, die werden. grünes Wasser: dunstung über menge, die durch benötigt wird, um Regenwasser, das den Boden (Eva- Verdunstung bei ein Produkt herzu- auf Ackerfl ächen poration) und über der Wassernut- stellen.

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0,5°-Zellen abgeschätzt werden können [siehe »Globa- le Wassermodelle«, Seite 58]. Mithilfe dieses Modells können beispielsweise Indikatoren der Wasserknapp- heit konsistent berechnet und so die Wassersituation in den verschiedenen Einzugsgebieten der Erde mitei- nander verglichen werden. Dabei ist zu beachten, dass die Berechnungsergebnisse generell mit einer hohen Unsicherheit belastet sind. Wird Wasserknappheit über einen Indikator ange- zeigt, der als Verhältnis von Wasserentnahmen zu er- neuerbaren Wasserressourcen (blaues Wasser) defi niert ist, so zeigt sich, dass nicht nur die trockenen Einzugs- Kein Geringer Mittlerer Hoher Sehr hoher Stress gebiete unter Wasserknappheit leiden, sondern auch dicht besiedelte Gebiete in wohlhabenden Ländern der 0 0,1 0,2 0,4 0,8 humiden Klimazone. 5 Dort führen die hohen Was- serentnahmen allerdings nicht zu einer physischen 5 Wasserstress in Flusseinzugsgebieten um das Jahr 2000. Wasserstressindikator Wasserknappheit, sondern der Indikator drückt die ist das Verhältnis zwischen Wasserentnahmen und erneuerbaren Wasserressourcen allgemeine Belastung der natürlichen Wasserressour- (Niederschlag minus Evapotranspiration). Die Wasserressourcen wurden als langjäh- cen aus, da zwar ein Großteil des dort vorwiegend für riges Mittel der Jahre 1961–1990 berechnet. Haushalte und Industrie entnommenen Wassers wie- der in die Gewässer zurückfl ießt, jedoch in mehr oder der Agrarökosysteme ist. Daher sollte der Niederschlag weniger stark veränderter Qualität. über Flusseinzugsgebieten als die eigentliche erneuer- bare Wasserressource dieses Einzugsgebiets betrachtet Wassereinsatz für die Produktion werden. von Nahrungsmitteln Modelle können dazu dienen, Daten und Wissen Der Handel mit virtuellem Wasser, über den Handel zu integrieren und so zu quantitativen Abschätzungen mit Gütern und insbesondere Nahrungsmitteln, kann von Größen zu gelangen, die von einer Vielzahl von als eine Möglichkeit verstanden werden, der Wasser- Prozessen abhängen. Ein solches Modell ist das globale knappheit zu begegnen. Er führt zu einem Anstieg der Süßwassermodell WaterGAP, mit dem Wasserressour- globalen Wasserproduktivität, das heißt des Ertrags cen (und andere hydrologische Variablen) sowie die von Feldfrüchten als eine Funktion des eingesetzten sektoralen Wasserentnahmen (und die konsumtive Wassers, da Netto-Exportländer von virtuellem Wasser Wassernutzung) räumlich hoch aufgelöst in allen gro- eine höhere Wasserproduktivität haben als Netto-Im- ßen Flusseinzugsgebieten der Erde sowie in einzelnen portländer. Für wasserarme Länder bietet der Import von virtuellem Wasser die Chance, ihre eigenen Was- serressourcen zu schonen. Für ein besseres Verständnis des virtuellen Wasserhandels ist es jedoch notwendig, den Anteil des blauen und grünen Wassers am virtuel- len Wasser zu quantifi zieren. Werden 1000 Liter Was- ser für die Produktion eines Kilogramms Brotgetreide gebraucht, so ist es ein großer Unterschied, ob das Getreide bewässert wurde oder nicht. Das blaue Be- < 0,1 wässerungswasser steht in Konkurrenz zu einer Was- 0,1 – 1 sernutzung durch Haushalte, Industrie und aqua- 1 – 3 tische Ökosysteme, während grünes virtuelles 3 – 10 10 – 25 Regenwasser zum Anbau von Feldfrüchten 25 – 100 nur in Konkurrenz zum Wachstum von na- 100 – 250 türlichen terrestrischen Ökosystemen steht. 250 – 500 In Deutschland werden sogar die blauen Was- 500 – 1000 serressourcen durch Ackerflächen, die grünes > 1000 Wasser »verbrauchen«, erhöht, da die Verdunstung aus dem Boden und den Blättern (Evapotranspirati- on) von Ackerfl ächen geringer ist als die des natürli- chen Ökosystems Wald. Anders gesagt, fl ießt von dem Regenwasser, das auf Ackerfl ächen fällt, mehr in den blauen Wasserkreislauf als bei Waldfl ächen, weil die 0 – 10 Feldfrüchte weniger Wasser verdunsten als der Wald. 10 – 20 20 – 30 30 – 40 6 Konsumtive Wassernutzung für die Produktion 40 – 50 von Feldfrüchten um das Jahr 2000: oben: Ge- 50 – 60 samtwasserverbrauch aus Niederschlag und Be- 60 – 70 wässerung, in mm/a, pro 5-Minuten-Zelle; unten: 70 – 80 Anteil des blauen Wassers aus Bewässerung, in 80 – 90 Prozent. Ein Millimeter Wassersäule entspricht ei- 90 – 100 nem Liter Wasser pro Quadratmeter Fläche.

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Unter Verwendung des globalen Modells GCWM [siehe »Globale Wassermodelle«, Seite 58] haben wir Das Anthropozän nicht nur ein genaues Bild der räumlichen Variabilität des Gesamtwasserverbrauchs (konsumtive Nutzung) für die Produktion von Feldfrüchten gewonnen. 6 er Begriff Anthropozän wird anthropogene Umweltverände- Durch die konsistente Modellierung der blauen und Dzunehmend verwendet, um rungen einen oft exponentiell grünen Wasserflüsse auf bewässerten und nichtbe- die Epoche der globalen anthro- ansteigenden Verlauf: Bevölke- wässerten Flächen ist es auch erstmals möglich, den pogenen Umweltveränderungen, rung, Energieverbrauch, Treib- Anteil des blauen Wassers am virtuellen Wasser, das in der wir uns gerade befi nden, hausgasemissionen, Stickstoffe- für die Produktion von Feldfrüchten notwendig ist, zu zu bezeichnen. Paul Crutzen, At- missionen aus Kunstdüngern und quantifi zieren. Dieser Anteil entspricht dem Bewässe- mosphärenchemiker und Nobel- Verkehr, organische Mikroverun- rungswasserbedarf und ist in trockenen (ariden) und preisträger, hat diesen Begriff für reinigungen, Artensterben, land- /4/ halbtrockenen (semiariden) Gebieten mit einer gut den Zeitraum vorgeschlagen , wirtschaftliche Flächen, Bewäs- ausgebauten Bewässerungsinfrastruktur am höchs- als dessen Anfang man unge- serung, Dämme und vieles mehr. ten, zum Beispiel im Westen der USA, im Norden fähr das späte 18. Jahrhunderts Auch Geologen und Geologinnen Chinas, in Indien und Pakistan, in Nordafrika und im wählen kann, da das Polareis für betrachten den anthropogenen Nahen Osten. 6 In feuchten (humiden) Gebieten wie diesen Zeitpunkt den Beginn des biotischen, geochemischen und Deutschland liegt der Anteil des blauen Wassers an der globalen Anstiegs von Kohlendi- sedimentären Wandel als so stark Gesamtwassernutzung im Ackerbau unter 10 Prozent, oxid und Methan in der Atmo- und stratigrafi sch erkennbar, dass da zum einen der Anteil bewässerter Ackerbaufl ächen sphäre anzeigt. Im Anthropozän, es aus ihrer Perspektive sinnvoll gering ist, und zum anderen auch auf bewässerten Flä- aber insbesondere seit dem Ende erscheint, dem Holozän die geo- des Zweiten Weltkriegs, zeigen logische Epoche des Anthropo- chen der überwiegende Anteil des evapotranspirierten eine Vielzahl von Indikatoren für zäns folgen zu lassen./5/ Wassers aus dem Regen und nicht aus der Bewässe- rung stammt.

Ein globaler Blick auf Wassernutzung Auswirkungen des Klimawandels und Wasserressourcen auf das Süßwassersystem Globale Summenwerte von Wassernutzung und Wie sich der Klimawandel auf das Süßwasser aus- Wasserressourcen verbergen die starken regionalen wirken wird, kann nur mit großen Unsicherheiten Unterschiede, erlauben es jedoch, die wichtigsten quantifi ziert werden, aber qualitative Veränderungen Kenngrößen des globalen Süßwassersystems auf einen sind sicher zu prognostizieren. Während die Tempera- Blick zu erfassen. 7 Weltweit verdunsten jährlich bei tur aufgrund des Klimawandels weltweit steigen wird der Produktion von Feldfrüchten 6500 km3, wovon 80 und die Berechnungsergebnisse der verschiedenen Kli- 7 Prozent Niederschlagswasser sind 6. Der Anteil von mamodelle recht gut übereinstimmen, wird der Nie- Globale Werte 3 der direkt und in- 1200 km pro Jahr, der bei der Bewässerung evapo- derschlag in manchen Regionen (und Jahreszeiten) direkt durch die transpiriert, übersteigt bei Weitem die Verdunstung zunehmen und in anderen abnehmen. Wie die regi- Menschen genutz- von blauem Wasser durch Wassernutzung in Haus- onalen Änderungen des Niederschlags aussehen wer- ten Wassermen- halt, Industrie und Wärmekraftwerken, die sich zu nur den, ist schwer abzuschätzen, insbesondere weil die Si- gen. 100 km3 pro Jahr aufsummiert (entsprechend 8 Pro- zent der gesamten konsumtiven Nutzung von blauem Wasser), da der größte Teil des Wassers bei der Nutzung nicht verdunstet. Signifi kante Reduktionen des Durch- fl usses in Flüssen treten daher vorwiegend in Gebie- 3 ten mit starker Bewässerung auf, beispielsweise im Verdunstung 6500 km /a davon aus Wasserentnahme Einzugsgebiet des Colorado in den USA oder im Falle davon aus Regen 5300 1200 Bewässerung für Bewässerung des Gelben Flusses in China. Die Wasserentnahmen für Niederschlag auf Ackerland 14000 km3/a 2500 km3/a die Bewässerung sind mit 2500 km3 pro Jahr mehr als 3 doppelt so groß wie die konsumtive Wassernutzung, Wassereinsatz für die Produktion von Feldfrüchten 16500 km /a da ein Großteil des entnommenen Wassers im Unter- Andere Wassernutzung 1100 km3/a grund versickert oder in ein Oberfl ächengewässer ab- fl ießt. Für die Wasserressourcen am schonendsten ist

es, wenn die Pfl anzen das zu ihrer Bewässerung ein- 3 Verdunstung 50 km3/a Verdunstung 10 km3/a Verd. 40 km /a gesetzte Wasser vollständig aufnehmen und verduns- 3 3 3 ten. Die Wasserentnahmen für Haushalt, Industrie und Entnahme 400 km /a Entnahme 400 km /a Entn. 300 km /a Wärmekraftwerke betragen 1100 km3 pro Jahr (30 Pro- Haushaltswassernutzung Kühlung von Industrielle Wärmekraftwerken Produktion zent der gesamten Wasserentnahmen). oder Quelle: Berechnungsergebnisse Eingabegrößen von WaterGAP Die Wassernutzung wird aus Wasserressourcen ge- Wasserressourcen speist: Das sind jährlich 110 000 km3 Niederschlag auf Niederschlag Landflächen der Erde (ohne Antarktis) den Landfl ächen der Erde (ohne Antarktis), die durch 110000 km3/a die Evapotranspiration auf 39 000 km3 erneuerbare blaue Wasserressourcen reduziert werden 7. Ein Drittel Erneuerbare Wasserresourcen (Niederschlag minus Evapotranspiration) 3 der erneuerbaren Wasserressourcen wird als Grundwas- 39000 km /a ser gespeichert, das sich gegenüber Oberfl ächenwasser Erneuerbare Grundwasserresourcen durch eine im Allgemeinen bessere Qualität und eine 13000 km3/a zeitlich konstante Verfügbarkeit auszeichnet.

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Globale Wassermodelle

as globale Wassernutzungs- und tive Wassernutzung, vor allem in Wasserbedarf der Feldfrüchte, DWasserressourcenmodell Wa- der Bewässerungslandwirtschaft, der durch Bewässe rungswasser terGAP berechnet Wassernutzung reduziert wird. Zur Berechnung (blaues Wasser) ge deckt wird, und Wasserressourcen weltweit wird auf eine Vielzahl von klimati- sondern auch die konsumtive (außer Antarktis) mit einer räum- schen und physiogeografi schen Da- Nutzung von Regenwasser durch lichen Aufl ösung von 0,5 Grad ten zurückgegriffen, zum Beispiel die Transpiration der Feldfrüchte × 0,5 Grad (entsprechend einer auf Zeitreihen des Niederschlags (grünes Wasser). GCWM basiert Fläche von 55 km × 55 km am zwischen 1901 und 2006 und auf auf einem ebenfalls neu entwi- Äquator). Es umfasst Module zur Daten zur Wasserspeicherkapazi- ckelten globalen Datensatz land- Berechnung der Haushaltswasser- tät des Bodens. Das hydrologische wirtschaftlicher Anbaufl ächen für nutzung, der Wassernutzung zur Modul wurde anhand von Durch- den Zeitraum um das Jahr 2000, Kühlung von Kraftwerken und für fl üssen geeicht, die an 1235 Statio- der für 26 Feldfruchttypen (zum industrielle Zwecke und der land- nen gemessen wurden, so dass die Beispiel Weizen oder Baumwolle) wirtschaftlichen Wassernutzung erneuerbaren Wasserressourcen angibt, in welchem Monat welche (vor allem für Bewässerung). Das realitätsnah berechnet werden kön- Flächen unter bewässerten und hydrologische Modul von Water- nen. Die Genauigkeit für die Was- nichtbewässerten Bedingungen GAP berechnet, welche Anteile des sernutzungsmodule abzuschätzen, in jeder 5-Minuten-Zelle (8 km × Niederschlags evapotranspirieren, wird dadurch erschwert, dass es nur 8 km am Äquator) bebaut werden. als Oberfl ächenabfl uss abfl ießen, wenig zuverlässige Daten zur Was- das Grundwasser neu bilden, in sernutzung gibt. Boden, Grundwasser und in Ober- Eine Ergänzung zu WaterGAP ist Publikationen zu den Model- fl ächengewässern zwischenge- das neue globale Modell des Was- len WaterGAP und GCWM sowie speichert werden und schließlich serbedarfs und der Produktion von zu verschiedenen globalen Daten- die Flüsse erreichen. Dabei wird Feldfrüchten GCWM. GCWM be- sätzen fi nden Sie unter berücksichtigt, dass die Wasser- rechnet nicht nur, wie das Bewäs- http://www.geo.uni-frankfurt.de/ menge in Flüssen durch konsum- serungsmodul von WaterGAP, den ipg/ag/dl/publikationen/

navien, Sibirien) sind sich fast alle Klimamodelle über einen Niederschlagsanstieg einig (nicht aber über das Ausmaß des Anstiegs), und man kann von einer Nie- derschlagsabnahme im Mittelmeerraum, im Westen der USA, in Mittelamerika und in Südafrika ausgehen. Regional unterschiedliche Niederschlagsänderungen zusammen mit Temperaturanstiegen führen auch zu Änderungen der erneuerbaren Grundwasserressour- cen. Nach Modellrechnungen mit WaterGAP können sich die Grundwasserressourcen bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts in manchen Gebieten wie in Nordostbra- silien und im Mittelmeerraum um mehr als 70 Prozent verringern. 9

8 Bei der Bewässerung mit Mikro-Sprinkler-Anlagen, wie hier auf Kreta, kommt das Wasser zum großen Teil den Pfl anzen zugute. Nur Tröpfchenbewässerung aus gelochten Schläuchen ist noch effi zienter.

mulation von Niederschlag durch Klimamodelle noch immer unrealistisch ist. So stimmen für den Großteil der Landfl ächen der Erde höchsten 11 der 15 unter- 0 In manchen Gebieten, wie hier in Pontianak im indonesi- suchten Klimamodelle zumindest darin überein, ob schen Teil von Borneo, sind die Menschen von jeher an viel der Jahresniederschlag jeweils steigt oder fällt./3/ Nur Wasser gewöhnt. Der Klimawandel wird jedoch zu noch stärke- in den nördlichen Breiten (Alaska, Kanada, Skandi- ren Regenfällen und Überschwemmungen führen.

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Jährliche Grundwasserneubildung (langjähriges Mittel 1961–1990)

0 2 20 100 300 1000 mm/Jahr

Prozentuale Änderung der Grundwasserneubildung zwischen 1961–1990 und den 2050er-Jahren

–100 –70 –30 –10 10 30 70 100 Zunahme* *die prozentuale Änderung kann nicht berechnet werden da GWNB = 0 im Zeitraum 1961–1990 A2-ECHAM4 A2-HadCM3

B2-ECHAM4 B2-HadCM3

Zudem ist aufgrund des Klimawandels eine erhöhte 9 Einfl uss des Klimawandels auf die erneuerbaren Grund wasserressourcen. Ände- Variabilität des Niederschlags zu erwarten, das heißt, rung der Grundwasserneubildung zwischen 1961 –1990 und 2041 – 2070. Berech- Dürren und Starkregenereignisse werden in Zukunft nung unter Verwendung des globalen Wassermodells WaterGAP und der Änderungen fast überall zunehmen. Bei höheren Temperaturen von Niederschlag und Temperatur, wie sie von den globalen Klimamodellen ECHAM4 und HadCM3 für die IPCC-Emissionsszenarien A2 und B2 prognostiziert wird weniger Winterniederschlag als Schnee und Eis werden. In B2 sind die Treibhausgasemissionen deutlich geringer als in A2. gespeichert werden, was zu mehr Abfl uss im Winter und weniger Abfluss im trockenen Sommer führen wird. Steigende Meeresspiegel bewirken in flachen Eine Anpassung an den Klimawandel ist notwen- Küstengebieten, dass Süßwasser von Salzwasser ver- dig und sollte vor allem dadurch geschehen, dass wir drängt wird. die anthropogene Belastung des Süßwassersystems, insbesondere Wassernutzung und Wasserverschmut- zung, verringern. Dann werden wir gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels auf das Süßwasser- Die Autorin system weniger empfindlich sein. Maßnahmen zum Prof. Dr. Petra Döll, 46, entdeckte Klimaschutz, das heißt die Reduktion von Emissionen, während ihres Geologie-Studiums an verringern den Anpassungsdruck. Dazu gehören Auf- der University of Colorado in Boulder forstung, die Nutzung von Wasserkraft und der Anbau (USA), dass das Wasser und seine von Bioenergiepfl anzen, doch diese Maßnahmen kön- mathematische Modellierung »ihr nen negative Effekte auf die Wasserressourcen hervor- Thema« ist. Sie arbeitete am Geolo- rufen, die es zu berücksichtigen gilt. ◆ gischen Landesamt Hamburg, an der Technischen Universität Berlin und an Literatur der Universität Kassel, bevor sie 2003 Professorin für Hydrologie an der Goethe-Universität /1/ Allan, J.A. (2003): Virtual water: the mental Panel on Climate Change [Solo- wurde. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die globalskalige water, food, and trade nexus – useful mon, S., D. Qin, M. Manning, Z. Chen, Modellierung von Wasserressourcen und deren Nutzung concept or misleading metaphor? Wa- M. Marquis, K.B. Averyt, M. Tignor während des 20. und 21. Jahrhunderts. Daher ist sie eine ter International 28: 4 –11. and H.L. Miller (hrsg.)]. Cambridge der Leitautorinnen des vierten Sachstandsberichts des University Press, Cambridge, United Weltklimarats IPCC. Ein zweiter Forschungsschwerpunkt /2/ Falkenmark, M. (2007): Shift in Kingdom and New York, NY, USA, 996 liegt auf der Modellierung gesellschaftlicher Akteure, wo- thinking to address the 21st century Seiten (http://www.ipcc.ch/) durch die Akteure bei der Identifi zierung von Strategien hunger gap – Moving focus from blue für einen nachhaltigen Umgang mit Naturressourcen un- to green water management. Water Re- /4/ Crutzen, P.J. (2002): Geology of terstützt werden sollen. An ihrer Arbeit als Professorin in sources Management 21(1): 3–18. mankind. Nature 415(3): 23. der Physischen Geografi e schätzt sie insbesondere die ge- genseitige Befruchtung von Forschung und Lehre. /3/ IPCC, 2007: Climate Change 2007: /5/ Zalasiewicz, J. et al. (2008): Are we The Physical Science Basis. Contributi- now living in the Anthropocene? GSA [email protected] on of Working Group I to the Fourth Today: 18(2), 4–8. http://www.geo.uni-frankfurt.de/ipg/ag/dl/ Assessment Report of the Intergovern-

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Die globale Wasserkrise und der virtuelle Wasserhandel Wie innovative Forschung zu einem besseren Ressourcen-Management beitragen kann

Das Konzept des virtuellen Wassers zum Anfassen: Für die Er- zeugung von einer Flasche Bier werden rund 100 Liter Wasser benötigt – hauptsächlich zur Produktion der Gerste.

ansätze zur globalen Wasserkrise ausgezeichnet. Das Konzept steht beispielhaft für neue Wege einer inte- grierten, transdisziplinären Wasserforschung, wie sie auch Wissenschaftler verschiedener Disziplinen der Goethe-Universität und des Instituts für sozial-ökolo- gische Forschung (ISOE) gemeinsam beschreiten. Die Zahlen werden zu gegebenen Anlässen immer wieder in den Medien zitiert: Obwohl die Erdober- fl äche zu etwa zwei Dritteln aus Wasser besteht, ha- ben rund 1,5 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und müssen 2,5 Milliarden ohne eine hygienische Abwasserentsorgung auskom- men. Täglich sterben weltweit 5000 Kinder aufgrund mangelnder Hygiene und fehlender Sanitäranlagen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wird sich diese dramatische Situation bis zum Jahr 2050 noch verschärfen. Bereits heute sind vor allem die ärmsten Gebiete der Erde vom Wassermangel betroffen. Zur ungleichmäßigen Verteilung der weltweiten Wasserres- sourcen kommt verschärfend der Klimawandel hinzu, dessen Auswirkungen regional äußerst unterschiedlich ausfallen. Zugleich wird die Weltbevölkerung nach den aktu- ellen Prognosen von derzeit 6,7 Milliarden Menschen bis zum Jahr 2050 um zwei Milliarden Menschen an- wachsen. Heute konzentriert sich das Bevölkerungs- wachstum nahezu ausschließlich auf die Entwicklungs- länder und dort insbesondere auf die Städte. Nach Einschätzung der Welternährungsorganisation FAO kann die Ernährung einer wachsenden Weltbevölke- rung nur gesichert werden, wenn die landwirtschaftli- chen Erträge steigen, die Bewässerungslandwirtschaft ausgebaut und das Wassermanagement verbessert werden. Denn mit wachsendem Lebensstandard steigt der Wasserbedarf erheblich. Unstrittig unter den Experten, die auf der diesjähri- gen Stockholmer Konferenz diskutierten, ist, dass eine von er Gedanke ist so einfach wie die Umsetzung schwie- effi zientere Nutzung aller Wasserressourcen angesichts Diana Hummel, Drig: Können nicht Länder dadurch ihre Wasser- der globalen Veränderungen vordringlich ist. Ein wich- Florian Keil und ressourcen schonen, dass sie auf die Erzeugung von tiger Schlüssel für den Umgang mit der Wasserknapp- Alexandra Lux Agrarprodukten, für die sie viel Wasser benötigen, ver- heit und der wachsenden Degeneration der Wasserres- zichten und diese stattdessen importieren? Hinter die- sourcen ist die Steigerung der Wasserproduktivität: Es ser Frage steht das Konzept des virtuellen Wasserhan- muss gelingen, Wasser so einzusetzen, dass der erwirt- dels, für dessen Erfi ndung John A. Allan vom King’s schaftete Ertrag im Verhältnis zur Wasserentnahme College in London im August bei der Internationalen deutlich zunimmt. Weltwasserwoche in Stockholm den renommierten »Stockholm Water Price« erhielt. Der britische Profes- Bei jeder Handelsaktion geht es auch sor ist einer der bekanntesten und meistzitierten Wis- um Wasserressourcen senschaftler in der internationalen Wasserforschung. Virtuelles Wasser ist heute nicht nur in der interna- Durch den mit 100 000 Euro dotierten Preis wurde tionalen Wasserforschung, sondern auch in der Umwelt- Allan für seine innovativen und provokanten Lösungs- ökonomie und der Nachhaltigkeitsforschung ein gän-

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giger Begriff. Zunächst einmal wirkt er jedoch schwer zugänglich: Wasser ist doch nicht virtuell, sondern ganz materiell. Aber »virtuell« ist nicht gleichbedeutend mit »nicht wirklich vorhanden«. Die dem Konzept zugrun- de liegende Idee beruht vielmehr auf einem ganz realen Vorgang: Jedes Produkt und jede Dienstleistung benö- tigt bei der Herstellung je nach Standort, klimatischen Verhältnissen und Produktionsbedingungen eine be- stimmte Menge Wasser – zum Beispiel Bewässerungs- und Regenwasser bei der Produktion von Nahrungs- mitteln, Wasser als Kühl- und Verdünnungsmittel bei der Herstellung von Industriegütern oder einfach das Wasser, das für die Versorgung der Menschen in einem Bürogebäude benötigt wird. Physisch ist nun aber das für seine Erzeugung eingesetzte Wasser im Endprodukt nicht mehr oder allenfalls nur noch zu geringen Antei- len enthalten – daher die Bezeichnung »virtuell«. Der durchschnittliche virtuelle Wassergehalt ist von Produkt zu Produkt sehr unterschiedlich: Um eine Tasse Kaffee auf dem Frühstückstisch zu haben, müs- sen etwa 140 Liter Wasser eingesetzt werden, für die Erzeugung von einem Kilogramm Weizen sind es im Almeria – Südspanien: Auf einer Fläche so groß wie Frankfurt am Main werden in Treibhäusern zehn Prozent des deut schen Schnitt schon 1000 Liter, während es ein Kilogramm Obst- und Gemüseimports produziert. Das dafür erforderliche Käse auf rund 5000 und ein Kilogramm Rindfleisch Wasser wird in dem regenarmen Gebiet aus tiefen Grundwas- gar auf 15 000 Liter Wasser bringen. Zum Vergleich: serleitern gefördert. Übernutzung und Versalzung durch nach- Bei der Herstellung eines Baumwollhemds werden strömendes Meerwasser sind die Folgen. durchschnittlich 2700, bei einem Paar Schuhe 8400 und bei einem Mittelklasse-Auto 400 000 Liter Wasser Was serverfügbarkeiten. Strategisch eingesetzt, kann verbraucht (Hoekstra/Chapagain 2008). der virtuelle Wasserhandel – unter bestimmten ökolo- In jeder Handelsaktion fi ndet somit auch ein indi- gischen, ökonomischen, politisch-institutionellen und rekter Handel mit den im Produktions- oder Dienst- soziokulturellen Bedingungen – zu einem Ausgleich leistungsprozess genutzten Wasserressourcen statt. Es des Wasserdefi zits in regenarmen Ländern beitragen. wird daher auch vom »virtual water trade«, vom »vir- Die Grundidee ist, dort die Volkswirtschaft sektoral so tuellen Wasserhandel« gesprochen. Daraus – und dies umzustellen, dass vornehmlich wassergünstige Güter war der neue Ansatz Allans und seiner Kollegen – er- produziert und solche, deren Herstellung wasserinten- wächst die Möglichkeit eines gezielten Ausgleichs siv ist, vermehrt aus wasserreichen Regionen impor- unterschiedlicher lokaler, regionaler und nationaler tiert werden. Eine derartige Steuerung der virtuellen Wasserströme kann nicht nur Süßwasserressourcen für die direkte Nutzung durch die Bevölkerung freisetzen. Indem so die Abhängigkeit der landwirtschaftlichen Produktion von klimatisch bedingten Schwankungen in der lokalen Wasserverfügbarkeit sinkt, kann gleich- zeitig die Nahrungsmittelversorgung sicherer gemacht werden.

Der virtuelle Wasserhandel und die Verschiebung der Machtstrukturen In der Praxis stößt eine solche Strategie jedoch auf Hin dernisse. So erfordert der Import von Waren, die bisher selbst produziert wurden, Kapital, das gerade armen, bisher von landwirtschaftlicher Produktion ab- hängigen Volkswirtschaften zumeist fehlt. Eine Erhö- hung der Kapitalkraft durch Umstellung auf Sektoren mit einer höheren Wertschöpfung wie Industrie oder Dienstleistungen ist jedoch in erheblichem Maße ab- hängig vom Bildungsgrad der Bevölkerung. Anpas- sungsdruck wegen immer knapper werdender Wasser- ressourcen und gesellschaftliche Anpassungsfähigkeit können daher auf stark unterschiedlichen Zeitskalen liegen. Gleichzeitig kann virtueller Wasserhandel in-

Ehrung für den Erfi nder des virtuellen Wassers: Im August dieses Jahres erhielt John A. Allan, Professor am King‘s Col- lege London, aus der Hand der schwedischen Kronprinzessin Victoria den »Stockholm Water Prize«.

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Wasserbewirtschaftungspläne auf unterschiedlichen administrativen Ebenen entwickelt – von kommunal über regional oder gesamtstaatlich bis hin zu transna- tional. Solche Pläne können virtuellen Wassertransfer als ein Element neben anderen technischen und öko- nomischen Maßnahmen (wie Entsalzungsanlagen, Regenwasserzisternen, Tröpfchenbewässerung, Land- nutzungsänderungen und Wasserpreise) integrieren. Um diesen Managementansatz für eine Region auszu- arbeiten, müssen Experten aus naturwissenschaftlich- technischen und sozialwissenschaftlichen Disziplinen intensiv zusammenarbeiten. Eine Umsetzung des Kon- zepts vor Ort ist aber nur möglich, wenn Bevölkerung und lokale Entscheidungsträger schon bei seiner Aus- arbeitung einbezogen werden – eine Forderung, die in den IWRM-Prinzipien ausdrücklich festgeschrieben ist. Das vom Bundesministerium für Bildung und For- schung (BMBF) geförderte Projekt »CuveWaters«, das vom Institut für sozial-ökologische Forschung (ISOE) koordiniert wird, steht beispielhaft für diesen neuen Autos verbrau- nerhalb einer Gesellschaft zu einer erheblichen Ver- integrierten, transdisziplinären Ansatz in der Wasser- chen Wasser: Bei schiebung der Machtstrukturen führen. In einem Land, forschung. Im zentralen Norden Namibias liegt das der Herstellung das in der Grundversorgung auf Nahrungsmittelautar- Cuvelai-Etosha-Basin, ein Gebiet rund sechsmal so eines Mittelklas- kie verzichtet und seine Bevölkerung durch importier- groß wie Hessen, in dem mit etwa 800 000 Menschen sewagens, wie te Lebensmittel versorgt, kann ein staatliches Monopol fast die Hälfte der gesamten Bevölkerung Namibias hier in Tschechi- en, werden im über die Nahrungsmittelversorgung entstehen. Beson- lebt. Das Wasserdargebot schwankt im Cuvelai-Etosha- Schnitt 400 000 ders in Ländern, in denen eine unsichere Ernährungs- Basin erheblich: Ausgeprägte Dürren oder Trockenperi- Liter Wasser ver- situation mit Korruption, Missmanagement, schwa- oden (Mai bis Oktober) wechseln mit teilweise starken braucht. Der welt- chen Institutionen und unzureichender Infrastruktur Überfl utungen während der zweiten Hälfte der Regen- weite industrielle verknüpft ist, kann virtueller Wasserhandel daher mit zeit (Januar bis April). Häufi g sind bisher erschlossene Wasserverbrauch hohen Risiken verbunden sein. Grundwasservorkommen zu salzhaltig für die Trink- entspricht jedoch Die Beispiele machen deutlich, dass in einer kon- wassernutzung. Trinkwasser wird daher im Wesent- nur 10 Prozent des globalen Was- kreten Problemsituation eine Vielzahl von Aspekten zu lichen über ein Fernleitungssystem bereitgestellt, das serverbrauchs für berücksichtigen ist, bevor virtuelles Wasser als politi- aus dem namibisch-angolanischen Grenzfl uss Kunene die Getreidepro- sches und ökonomisches Instrument für ein nachhal- duktion. tigeres Wasserressourcen-Management genutzt wer- den kann. Für die Forschung bedeutet das vor allem, Chancen und Risiken regionalisiert im Hinblick auf die Adaptionsfähigkeit und Entwicklungspotenziale der jeweiligen Gesellschaften und Volkswirtschaften zu betrachten. So können bei zu treffenden Entscheidun- gen für bestimmte sektorale Politiken und Formen des Ressourcenmanagements Differenzierungen hinsicht- lich geeigneter Regionen oder Länder sowie Varian- ten des Konzepts und seiner Umsetzungsbedingungen vorgenommen werden. In einigen Ländern wie etwa in Jordanien und Ägypten wird dies teilweise bereits praktiziert.

Integriertes Wasserressourcen-Management: Im Norden von Namibia arbeiten Wissenschaftler und Bevölkerung zusammen Nachhaltige Wirkungen können solche Strategien aber nur entfalten, wenn sie die Prinzipien eines Inte- grierten Wasserressourcen-Managements (IWRM) be- rücksichtigen. Diese Prinzipien sind im Zusammenhang mit der »Rio-Konferenz« (UN-Konferenz zu Umwelt und Entwicklung, 1992) entwickelt worden und besa- gen im Kern, dass die Erschließung und das Manage- ment von Wasser, Land und anderen Ressourcen enger verzahnt werden müssen. IWRM soll vor allem eine Erhöhung der sozialen und ökonomischen Wohlfahrt gewährleisten, ohne die betroffenen Ökosysteme in ih- Die Arbeit im Projekt CuveWaters: Workshop mit Bewohnern rer Reproduktionsfähigkeit zu gefährden. In der Um- zur Gestaltung eines Sanitärzentrums für ein formal nicht ge- setzung von IWRM werden zum Beispiel übergreifende nehmigtes Siedlungsgebiet im Norden Namibias.

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entnommenes Wasser in die Region transportiert. Die lokale Bevölkerung ist dadurch stark abhängig von Angola und seiner politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Hohes Bevölkerungswachstum, extre- me Siedlungsdichte und anhaltende Urbanisierung erschweren darüber hinaus vielfach die nachhaltige Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser und sa- nitären Einrichtungen. Um die Lebensbedingungen der Menschen im Cuvelai-Etosha-Basin zu verbessern, entwickelt das Projektteam aus insgesamt über 20 namibischen und deutschen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ein den örtlichen Verhältnissen angepasstes IWRM- Konzept. Kernziel ist es, die Nutzung von Wasser zu optimieren und gleichzeitig Impulse für die Armutsre- duktion und Regionalentwicklung zu setzen. Im Fokus stehen dabei die verstärkte Nutzung lokaler Wasser- ressourcen und die Erhöhung der Wasserproduktivität (Wasserwiederverwendung und Abwasserrecycling zur Gewinnung von Energie, Nährstoffen und keimfreiem Fernwasserversorgung in Namibia: Zwei Mitarbeiter der städtischen Trinkwasserwer- Bewässerungswasser). Mithilfe eines »Multi-Ressour- ke von Oshakati begutachten eine Leitung, die Wasser aus dem Kunene, dem entle- cen-Mix« soll Wasser von unterschiedlicher Qualität genen Grenzfl uss zu Angola, in die wasserarme Region transportiert. und Herkunft für verschiedene Zwecke verwendet werden. Auf diese Weise lassen sich lokale Wasservor- ten Akteure wie Bauern und Dorfbewohner sowie die kommen besser nutzen. Dies trägt dazu bei, die Kon- lokale Administration und traditionelle Autoritäten kurrenz um das Kunene-Wasser zu entschärfen und von Anfang an einbezogen. Die Umsetzung der Maß- die Verteilung des Wassers zu optimieren. nahmen soll in einer für 2009 anstehenden zweiten Für den ländlichen Siedlungsbereich Epyeshona Projektphase erfolgen. wurde beispielsweise eine Lösung erarbeitet, mit der Regenwasser auf Dächern gesammelt werden kann. Herausforderung integrierte Wasserforschung: Andere ländliche Regionen, die nicht an die Fernwas- Das Zusammenwirken sozialer und serleitung angeschlossen sind, sollen dezentral über ökologischer Dynamiken Grundwasser versorgt werden, das mithilfe von so- »In einer Welt, in der die Sektoren Natur, Technik larbetriebenen Anlagen entsalzt wird. Im städtischen und Gesellschaft immer stärker miteinander zusam- Raum wurde für ein formal nicht genehmigtes Sied- men- und voneinander abhängen, wird eine integ- lungsgebiet, in dem bisher kaum Sanitäranlagen be- rierende Betrachtung auch und gerade in der Was- stehen, ein Konzept für ein modernes Sanitärzentrum serforschung unabdingbar«, so betont die Deutsche entwickelt. Hier wird Abwasser als Ressource genutzt, Forschungsgemeinschaft in ihrer wegweisenden, be- indem in einem anaeroben Reinigungssystem Biogas reits vor fünf Jahren veröffentlichten Denkschrift zum produziert und das verbleibende, gereinigte Abwasser Thema Wasserforschung. Doch was sind die wesent- gleichzeitig als Bewässerungswasser und als Boden- lichen Merkmale einer integrierten Wasserforschung, nährstoffl ieferant genutzt wird. Bei der Auswahl von und wo liegen ihre besonderen Herausforderungen? Standorten und der Gestaltung dieser Techniken wer- Entscheidend ist die zunächst einfach scheinende Fest- den nicht nur naturwissenschaftlich-technische Exper- stellung, dass Wasserprobleme – und dies gilt auch für tise und sozial-empirische Forschung vernetzt. Durch vergleichbare Probleme im Kontext einer nachhaltigen Workshops vor Ort werden zudem auch alle relevan- Entwicklung – immer auch gesellschaftliche Probleme

Die Autoren

Dr. Diana Hummel, 45, ist seit 2002 wissen- Arbeiten forscht sie seit mehreren Jahren zum Dr. Alexandra Lux, 33, arbeitet seit 2000 am schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Thema virtueller Wasserhandel. ISOE. In ihrer Forschungsarbeit verbindet sie sozial-ökologische Forschung (ISOE) mit den ökonomische Fragestellungen mit Aspekten Forschungsschwerpunkten Demografi e und Dr. Florian Keil, 39, ist seit 2003 wissenschaftli- des Wasserressourcen-Managements, Infra- Versorgung, Nachhaltigkeit und internationale cher Mitarbeiter am ISOE mit den Forschungs- strukturentwicklung und Versorgungssystemen. Entwicklungen sowie »Gender & Environment«. schwerpunkten Wasserforschung und Modellie- Nach ihrem Studium der Wirtschaftswissen- Sie ist Lehrbeauftragte am Fachbereich Gesell- rung sozial-ökologischer Systeme. Er studierte schaften an der Carl von Ossietzky Universität schaftswissenschaften der Goethe-Universität, Physik, Mathematik und Philosophie an der Uni- in Oldenburg promovierte sie dort 2008 zum Schwerpunkt Vergleichende Politikwissenschaft versität Hamburg; 2001 promovierte er in Ex - Thema »Öffentliche Wasserversorgung und und Internationale Beziehungen. Sie studierte pe rimentalphysik an der Universität Heidelberg. demogra phische Schrumpfungsprozesse«. Der- Erziehungswissenschaften, Psychologie und Seine Forschungsschwerpunkte sind Wasserfor- zeit arbeitet sie am ISOE in unterschiedlichen Gesellschaftswissenschaften an der Universität schung, Modellierung und Simulation sowie Me- Projekten wie beispielsweise »CuveWaters – Frankfurt und promovierte 1999 am Fachbereich thoden transdisziplinärer Forschung. Er koordi- Integriertes Wasserressourcen-Management im Gesellschaftswissenschaften. Am ISOE ist sie nierte die Verbundprojekte INTAFERE (www.inta nördlichen Namibia« und »netWorks – Sozial- verantwortlich für den Forschungsschwerpunkt fere.de) und start (www.start-project.de), in denen ökologische Transformation netzgebundener Bevölkerungsentwicklung und Versorgung. Im die Goethe-Universität und das ISOE aktuelle Fra- Infrastrukturen«. Rahmen von empirischen und theoretischen gen zum Thema Wasserqualität bearbeitet haben.

[email protected], www.isoe.de [email protected], www.isoe.de [email protected], www.isoe.de

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sind. Das heißt: Sie können in der Regel nicht allein mit mit dem ISOE [siehe Forschung Frankfurt 2/2004] in technischen Maßnahmen gelöst werden. Neben den den vergangenen Jahren erfolgreich etabliert. ◆ ökologischen Prozessen ist zu berücksichtigen, welche gesellschaftlichen Antriebskräfte das betrachtete Prob- Weiterführende Links: lem verschärfen oder abschwächen. Dadurch rücken www.cuvewaters.net, www.intafere.de, www.start-project.de, entscheidende Fragen nach der Rolle von etablierten www.isoe.de Produktions- und Gebrauchsmustern, aber auch nach der Bedeutung von unterschiedlichen Problem- und Literatur Risikowahrnehmungen in den Blick. Die Herausforderung liegt also in der Realisierung Deutsche For- Planet’s Freshwater Documentation of eines umfassenderen Problemzugangs, der auf das Zu- schungsgemein- Resources Oxford an International sammenwirken sozialer und ökologischer Dynamiken schaft (2003) u. a.: Blackwell. Expert Workshop Wasserforschung ISOE-Materialien fokussiert. Wissen und Methoden aus den beiden gro- im Spannungsfeld Horlemann, Lena Soziale Ökologie ßen Wissenschaftskulturen zu integrieren, erweist sich zwischen Gegen- & Susanne Neu- 24. Frankfurt am dabei als ein schwieriges Unterfangen. So müssen zum wartsbewältigung bert (2006) Virtu- Main: ISOE. Beispiel Wege gefunden werden, die zumeist quanti- und Zukunftssiche- eller Wasserhandel tativen Modelle und Konzepte der Natur- und Ingeni- rung Denkschrift. – Ein realistisches Keil, Florian et al. eurwissenschaften mit den oft qualitativen Zugängen Bonn. Konzept zur Lösung (2007) Integrierte der Sozialwissenschaften zu verknüpfen. Von besonde- der Wasserkrise? Perspektiven in der Hoekstra, Arjen Bonn: DIE. Wasserforschung rer Bedeutung ist eine enge Zusammenarbeit zwischen & Ashok K. Cha- ISOE-Diskussi- universitärer und außeruniversitärer Forschung. In pagain (2008) Hummel, Diana onspapiere 25. Frankfurt hat sich diese Kooperation durch die Vernet- Globalization of et al. (2006) Vir- Frankfurt am zung mehrerer Fachbereiche der Goethe-Universität Water. Sharing the tual Water Trade: Main: ISOE.

Ein einzigartiges weltweites Experiment: Der Handel mit Emissionszertifi katen Klimawandel als Auslöser – Über die Chancen und Risiken eines neuen dynamischen Marktes

von Rainer Durth ass der Klimawandel von Menschen verursacht ratur noch als erträglich gilt, liegt bei zwei bis drei Grad Dwird und auch von Menschen wieder gestoppt Celsius. Wird sie überschritten, sind die Folgen erheblich werden kann, diese Erkenntnis hat sich 2007 mehr und und kaum mehr kontrollierbar. Um das zu vermeiden, mehr durchgesetzt. Die magische Schwelle, bis zu der muss jedoch der Ausstoß von Treibhausgasen in den eine Erwärmung der weltweiten Durchschnittstempe- nächsten 40 Jahren weltweit im Vergleich zu den Wer-

Regenerative Energien in Schwellenländern – eine Windanlage im Nordwesten Chinas. Neue Anlagen, die kein klimaschädi gen- des Abgas produzieren, können durch den Verkauf der Zertifi kate an europäische Kohlekraftwerksunternehmen profi tieren und ihre umweltfreundlichen Anlagen so kostengünstiger erstellen. Damit wird es für diese aufstrebenden Länder attraktiv, den wach- senden Energiebedarf vermehrt durch schadstoffarme Energiegewinnung zu decken.

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ten von 1990 halbiert werden. Hierfür hat sich die Euro- Wie schaut dieses Handelssystem mit Kohlendi- päische Union Anfang 2007 ehrgeizige Ziele gesetzt. oxid-Emissionen aus? Die Grundidee eines Zertifi kate- Marktes ist relativ einfach: Für den Klimawandel wird Sie hat beschlossen, der Ausstoß von bestimmten Gasen verantwortlich ge- • ihre Kohlendioxid-Emissionen um 20 Prozent gegen- macht. Das bekannteste ist Kohlendioxid (CO2), es ent- über 1990 zu verringern. Falls es zu einem Nachfol- steht zum Beispiel bei allen Verbrennungsprozessen. geabkommen für den Kyoto-Vertrag kommt, strebt Die Auswirkungen von Kohlendioxid auf das Klima sie sogar eine Reduzierung um 30 Prozent an. sind vollkommen unabhängig davon, wer das CO2 • die Energieeffi zienz in Europa bis 2020 um 20 Pro- emittiert und wo es ausgestoßen wird. Um den Klima- zent zu steigern. wandel zu begrenzen, soll der Ausstoß dieser Gase ver- • bis 2020 20 Prozent des Endenergieverbrauchs in der ringert werden, so sieht es der Kyoto-Vertrag zunächst EU durch erneuerbare Energien zu decken. allerdings nur für die Industrieländer vor.

Kyoto und die Folgen für die Kohlendioxid-Emissionen Zertifi kate-Handel bringt Vorteile für Schwellenländer

Welche Anstrengungen notwendig sind, um dies Um die Kosten für eine Senkung der CO2-Emissi- zu erreichen, wird deutlich, wenn man sich den Kyoto- onen möglichst niedrig zu halten, erlaubt der Kyoto- Vertrag von 1997 anschaut, der erstmals eine Begren- Vertrag daher, dass sich ein Land Verringerungen des zung beziehungsweise Verringerung der Treibhausgase Kohlendioxid-Ausstoßes in einem anderen Land ein- vorsieht und erst 2005 in Kraft trat. Dort hatte sich die kauft. Damit dieser Tausch funktioniert, wurde 1997 Europäische Union eine Reduktion um 8 Prozent in 15 ein Eigentumstitel an erlaubtem CO2-Ausstoß geschaf- Jahren vorgenommen und dieses Ziel vor allem deswe- fen. Wer ein entsprechendes Zertifi kat kauft, darf eine gen erreicht, weil der Kohlendioxid-Ausstoß in vielen Tonne Kohlendioxid mehr emittieren, wer es verkauft, Beitrittsländern in Osteuropa nach dem Zusammen- muss eine Tonne weniger in die Atmosphäre freisetzen. bruch des Sozialismus ohnehin zurückging. Nun sol- Die Eigentumsrechte können gehandelt werden, so dass len – allerdings ohne diesen »Zufallsgewinn« – weitere die Einsparung von CO2-Emissionen dort erfolgt, wo es 12 Prozent und – wenn es zu einem Kyoto-Folgeabkom- für alle am billigsten ist. Viele Staaten brechen die Be- men kommt – sogar 22 Prozent der Kohlendioxid-Emis- grenzungen herunter auf ihre Unternehmen. In Europa sionen von 1990 in nur acht Jahren eingespart werden. geschieht dies für rund die Hälfte der europäischen Un- Und auch danach muss es bis 2050 zu weiteren, ähnli- ternehmen im Rahmen des Emissionshandelssystems. chen Reduktionen kommen. Umgesetzt werden sollen Die Einsparung von CO2-Emissionen ist meist dort diese Ziele – jeweils etwa zur Hälfte – über zwei Wege: besonders günstig, wo die entsprechenden Anlagen über staatliche Förderprogramme und eine konsequent nicht nur umgebaut, sondern überhaupt erst errichtet auf Kohlendioxid-Reduktion ausgerichtete Gesetzge- werden müssen. Das sind in der Regel Entwicklungs- bung (festgelegt in den Meseberger Beschlüssen der und Schwellenländer, für die es momentan keine De- Bundesregierung) einerseits sowie über die Überarbei- ckelung der CO2-Emissionen gibt. Doch die Teilnahme tung und Ausdehnung des Europäischen Handelssys- dieser Länder am internationalen Zertifi katemarkt ist tems für Kohlendioxid-Emissionen (ETS) andererseits. aus zwei Gründen besonders wünschenswert: Sie kön- nen besonders billig Kohlendioxid einsparen; und sie Kohlekraftwerke, wie dieses RWE-Kraftwerk in Niederaußem profi tieren bei ihrer Entwicklung von den durchaus be- bei Köln, sind mitverantwortlich für den zu hohen Kohlendi- deutsamen internationalen Kapitalzufl üssen. Deswe- oxid-Ausstoß, der die Erwärmung des Weltklimas beschleu- gen wurde der sogenannte »Clean Development Me- nigt. Im Zuge des Emissionshandels können nun europäische Unternehmen auf dem internationalen Markt Zertifi kate kau- chanism« (CDM) entwickelt. Einzelne Projekte oder fen, die es ihnen erlauben, mehr Kohlendioxid zu emittieren; Programme, die die industrielle und ökologische Ent- dieses muss dann an anderer Stelle – beispielsweise in einem wicklung eines Landes voran- Schwellenland – eingespart werden. bringen, werden daraufhin ge-

Protest gegen den Bau des neuen Kohlekraftwerks Lubmin in der Nähe von Greifswald. Greenpeace-Aktivisten türmten im Oktober 2007 120 schwar- ze Müllsäcke auf. Der Berg sollte die Menge an Kohlen- dioxid sym bolisieren, die in einer Zehntelsekunde aus dem Kraftwerk ausgestoßen wird.

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Aus ökonomischer Sicht fi ndet hier ein einzigartiges Experiment statt: Vor etwa zehn Jahren wurde in in- ternationalen Verhandlungen ein eher abstraktes Ei- gentumsrecht völlig neu geschaffen, das nun auf einem weltweiten, neuen Markt gehandelt wird. Der neue Eigentumstitel wirft viele spannende Fra- gen auf. Wie erfolgt die Deckelung in den Industrie- ländern? Nach welchen Regeln werden die Eigentums- rechte eigentlich an die Projekteigentümer in Entwick- lungsländern vergeben? Und fördert das tatsächlich die Entwicklung dieser Länder? Zum anderen ist aber auch der Markt, der hier gerade entsteht, hochinteres- sant. Wie kommt es zu einem Preis für Kohlendioxid? In welchen Teilen funktioniert der Markt von alleine und wo nicht? Die internationalen Finanzmärkte sind heute sehr ausdifferenziert. Wie funktioniert die Ri- sikoteilung auf dem noch jungen Zertifi kate-Markt? Welche der sonst gebräuchlichen Finanzderivate sind verwendbar? Und welche Parallelen zu den Rohstoff- märkten sowie ihren Instrumenten gibt es? Klimagipfel 1997 in Kyoto. Bei dieser internationalen Konfe- renz wurde erstmals die Verringerung der Treibhausgase be- schlossen. Die Umsetzung der Vereinbarungen gestaltete sich Rasante Entwicklung: Jährliche Wachstumsraten allerdings äußerst langwierig und schwierig – nicht zuletzt von durchschnittlich 90 Prozent seit 2005 wegen der starren Haltung der USA. Der neue Markt für CO2-Zertifi kate ist sehr dyna- misch: Seit Einführung des Europäischen Emissions- prüft, welche CO2-Einsparungen sie mit sich bringen. handelssystems 2005 ist er jährlich um circa 90 Prozent Für diese Einsparungen werden Zertifi kate ausgestellt, gewachsen. 2007 hatte er weltweit ein Volumen von die der Projekteigner dann verkaufen kann. 40 Milliarden Euro und hat sich damit im Vergleich Ein typisches Projekt ist ein Windpark in Indien, der zum Vorjahr verdoppelt; für 2008 rechnen Experten mit regenerativer Energie – also ohne Emissionen – mit einer Wachstumsrate von noch einmal mehr als 50 dringend benötigten Strom erzeugt. Der Projekteigner Prozent.1 Spätestens im nächsten Jahr wird das Volu- kann die Zertifi kate an einen deutschen Energieversor- men dieses neuen Marktes die Ausgaben für die welt- ger verkaufen und die Erlöse in den nächsten – viel- weite Entwicklungshilfe (ODA) übertreffen. leicht bereits mit neuerer Technologie betriebenen – Derzeit entfällt etwa ein Fünftel des neuen Mark- Windpark investieren. So können sich Klimaschutz tes auf Projekte in den Schwellen- und Entwicklungs- und Entwicklung gegenseitig unterstützen. ländern. Mit den Erlösen aus den Zertifi katen werden Projekte (teilweise) fi nanziert, deren gesamtes Investi- Wie werden Eigentumsrechte vergeben? tionsvolumen bereits heute etwa der weltweiten Ent- Eigentumsrechte beschreiben die Möglichkeiten, wicklungshilfe entspricht. Bis 2020 wird sich der Markt über knappe Ressourcen zu verfügen. Die Eigentums- für Projekte in Entwicklungsländern nach Experten- rechte, die Gegenstand des Zertifi kate-Marktes sind, meinung noch einmal verzehnfachen. Aus ökonomi- sind Verschmutzungsrechte. Sie erlauben es, Kohlen- scher Sicht besonders charmant ist, dass hier der Markt dioxid in die Atmosphäre auszustoßen und wurden als Allokationsmechanismus, also als Mechanismus für erst 1997 mit dem Kyoto-Vertrag geschaffen. Initiator die Zuführung von fi nanziellen Mitteln, Produktivkräf- waren damals die USA, die seit den 1980er Jahren mit ten und Materialien, in großem Maßstab genutzt wer- ähnlichen umweltpolitischen Konzepten arbeiten, um den kann, um Entwicklungsprozesse in Gang zu set- mit möglichst niedrigen Kosten Schwefeldioxid-Emis- zen. Je besser das gelingt, umso schneller wächst der sionen zu reduzieren. Der Kyoto-Vertrag ist 2005 in Zertifi kate-Markt und umso größer werden die zusätz- Kraft getreten. Für europäische Unternehmen wurde lichen Ressourcen für Entwicklung. »Development« er mit der Einführung des Emissionshandelssystems und »Finance« wachsen hier zusammen. wirksam, das ebenfalls 2005 seine Arbeit aufnahm. Der Klimawandel ist eine der großen Herausforde- rungen der Gegenwart [siehe auch Beiträge auf Sei- 1 Rasanter An- te 86 und 105]. Mit dem internationalen Zertifi kate- stieg des Volu- Marktvolumen in Millionen Euro Handel haben wir vor etwas mehr als zehn Jahren ein mens: Von 2004 70000 weltweites wirtschaftspolitisches Experiment mit einer bis 2008 hat beeindruckenden Erfolgsgeschichte gestartet. Aber es sich der globale 60000 gibt auch Einschränkungen: Der entstehende Markt ist Markt für Kohlen- 50000 dioxid-Zertifi kate noch kein idealer Wettbewerbsmarkt, das heißt, dass 40000 schwunghaft ent- er effi zienter gestaltet und Klimapolitik damit billiger wickelt. 30000 werden kann. Insbesondere auf der Käuferseite gibt 20000 es überwiegend wenige große Nachfrager wie Staaten und Energieversorgungsunternehmen; Informationen 10000 über den Markt sind unvollständig, unsicher und meist 0 ungleich auf die einzelnen Marktteilnehmer verteilt; 2004 2008 Anpassungen erfolgen nur mit Verzögerung. Zudem

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ist die Zukunft der gehandelten Eigentumsrechte nach 2012 derzeit offen, das macht den Abschluss eines so- Klimaschutz durch CO2-Emmissionsminderung genannten »Post-Kyoto-Abkommens« so wichtig. So funktioniert der KfW-Klimaschutzfonds

Klimaschutzfonds: Zugang auch für kleine Kauf von Emissionsgutschriften ermöglicht Projekte zur CO2-Minderung und mittelgroße europäische Unternehmen in Entwicklungs-, Transformations- und Schwellenländern

Investitionen zur CO2-Einsparung müssen aber heu- te erfolgen. Der Zertifi kate-Markt kann sein Potenzial nur dann voll entfalten, wenn die heute existierenden Unternehmen Marktunvollkommenheiten gezielt angegangen wer- den. Darum bemüht sich beispielsweise der Klima- schutzfonds der KfW Bankengruppe. Das Prinzip des KfW-Klimaschutzfonds ist einfach: Um vor allem klei- nen und mittelgroßen europäischen Unternehmen den Zugang zum Zertifi kate-Markt zu erleichtern, tritt die KfW international mit der gebündelten Nachfrage auf.

Sie erwirbt am Markt Zertifikate aus besonders um- -Emissi- -Emissi- CO2 CO2 weltfreundlichen Projekten in Entwicklungsländern onsgutschriften onsgutschriften und unterstützt so deren Realisierung.2 Zu Beginn kümmerte sich der KfW-Klimaschutz- ten Zertifi kate-Maklern über Consulting-Leistungen, 2 So funktioniert fonds ab 2004 darum, den Markt für Emissionsrechte beispielsweise für Monitoring und Reporting der ver- der Klimaschutz- fonds der KfW überhaupt zu entwickeln. Inzwischen hat sich dieser miedenen CO2-Emissionen, bis hin zu Rechtsanwalts- Markt zwar sehr dynamisch entwickelt, in Teilen funk- kanzleien, die die besonderen, meist auf angelsächsi- Bankengruppe. tioniert er allerdings – wie bereits beschrieben – noch schem Recht basierenden vertraglichen Beziehungen nicht. Momentan geht es daher darum, einzelne, aber beim Zertifi kate-Kauf regeln. Auch das Risikomanage- wichtige Marktsegmente, bei denen Marktmechanis- ment eines Zertifi kate-Fonds steht vor neuen Fragen. men versagen, gezielt zu entwickeln, beispielsweise Wie kann es beispielsweise schätzen, dass ein bestimmtes durch den Einsatz von innovativen Finanzprodukten Projekt in drei Jahren 100 000 Zertifi kate liefern wird? oder der Erzeugung von Nachfrage für die »Post-Kyo- Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Schätzung eintritt? to-Zertifi kate«, die erst nach 2012 generiert werden Und wie verhalten sich die Lieferwahrscheinlichkeiten und für die es heute noch keine rechtlich verbindli- verschiedener Projekte zueinander? Wie sieht ein »op- chen Regeln gibt. Als Förderbank übernimmt die KfW timales Portfolio« an Klimaschutzprojekten für Fonds eine Pionierrolle, möglichst gemeinsam mit anderen aus? Schon bald wird der Zertifi kate-Markt seinen exo- europäischen Förderbanken. tischen Charakter abgelegt haben und mehr und mehr

Lernen von Finanz- und Rohstoffmärkten Mülldeponie in Die Marktmechanismen müssen noch stärker für São João, Brasi- eine ökonomisch effi ziente Klimapolitik nutzbar ge- lien: Bei der Ver- macht werden, dabei kann der junge Zertifi kate-Markt gärung des Mülls entsteht Methan- viel von den internationalen Finanz- und Rohstoff- gas, das zum märkten lernen. Es wird auf dem Zertifikate-Markt Schutz der Atmo- immer mehr neue Produkte geben, die mit jeweils sphäre eingefan- eigenen Risiken verbunden sind und neue Absiche- gen wird. Diese rungsmechanismen – beispielsweise gegen Preis- oder Anlage wurde Wetterrisiken – nötig machen. teilweise über Eine besondere Aufgabe der Entwicklungsökono- Emissionszertifi - kate fi nanziert. men wird es in Zukunft sein, die Märkte und Verfü- gungsrechte so auszugestalten, dass sie den besonderen auch die Banken erreichen. Dementsprechend wächst Erfordernissen der oft kleinen und armen Entwick- die Nachfrage nach Fachleuten. Die Goethe-Universität lungsländer noch besser gerecht werden als heute. ist in diesen Bereichen gut aufgestellt. Sie sollte ihren Kurzfristig wird dabei im Vordergrund stehen, wie sich Standortvorteil in Frankfurt nutzen und die Thematik die Entwicklungsländer vor den Folgen des Klimawan- der internationalen Klimapolitik zeitnah und konse- dels schützen können (»Anpassung«). Langfristig geht quent in ihren Lehrplänen berücksichtigen. ◆ es darum, wie sie ihr wirtschaftliches Potenzial einbrin- gen und gleichzeitig die internationale Klimaschutzpo- Der Autor litik und ihre eigenen Entwicklungsziele unterstützen können (»Vermeidung«). Vor größeren Veränderungen Prof. Dr. Rainer Durth, 42, ist Honorarprofessor der Goethe-Universität in den steht damit auch die Projektfi nanzierung, schließlich Gebieten Bankbetriebslehre und Internationale Wirtschaftspolitik. Nach dem erfordern Anpassung und Vermeidung in den nächsten Studium zum Wirtschaftsingenieur an der Technischen Universität Darmstadt beiden Jahrzehnten zusätzliche Investitionen in Höhe promovierte er über grenzüberschreitende Umweltprobleme und habilitierte sich von weltweit mehreren 100 Milliarden Euro. mit einem Thema zur internationalen Verbreitung von neuem Wissen unter den Bedingungen der Globalisierung. Er ist Abteilungsdirektor im Klimaschutzfonds der KfW Bankengruppe. Vorher war er in der KfW jeweils sechs Jahre in den Be- Nachfrage nach Fachleuten wächst reichen Entwicklungszusammenarbeit und Risikomanagement tätig. Rund um den Zertifi kate-Markt wird es zahlreiche Dienstleistungen geben, angefangen von spezialisier- [email protected]

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Tourist im Ein- baum: Deutschland ist mit 75,6 Millio- Infektionskrankheiten als Mitbringsel nen Auslands reisen die weltweit reise- Reiselust fördert die Verbreitung freudigste Nation. von Erregern Doch wer Reiseziele wie das Oka van- godelta in Mokoro, Botswana, aus- wählt, sollte sich gegen Malaria schützen; durch Moskitonetze und Duftstoffe, die Mücken vertreiben. Das feuchtwarme Klima bietet den Mückenlarven, die diese häufi ge Tro- penkrankheit ver- breiten, hervorra- gende Brutplätze.

n den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Infekti- Deutschen mit 75,6 Millionen Auslandsreisen und Ionserreger neu entdeckt worden, und altbekannte Ausgaben von 57,1 Milliarden Euro weiterhin »Reise- Krankheitserreger haben ihr Verbreitungsgebiet ausge- weltmeister« sind. weitet. Durch klimatische Veränderungen können die Lebensbedingungen von Erregern und ihren Vektoren Gefahr durch rohe Lebensmittel beeinfl usst werden. Bei Tropenreisenden stehen Durchfallerkrankun- Die Angelsachsen bezeichnen die Zunahme der In- gen (»travelers disease«) an erster Stelle: Jeder dritte fektionskrankheiten durch die Verbreitung »alter« Er- Reisende ist davon betroffen. Übertragen werden die reger oder durch »neue« Infektionserreger als »emer- Erreger durch den Verzehr roher Lebensmittel oder ging epidemics«. Dabei begünstigt die zunehmende Ge tränke (Eiswürfel). Um dem vorzubeugen, stehen Mobilität der Menschen die Eroberung neuer Lebens- allgemeine Hygienemaßnahmen an erster Stelle – am räume./1/ Das Beispiel von »SARS« zeigte eindrücklich, bekanntesten ist der Slogan »cook it, boil it, peel it or wie Erreger an einem Tag den halben Erdball umrun- forget it«. Das individuelle Erkrankungsrisiko ist ab- den können. Durch die Rodung der Tropenwälder, Massentierhal- tung und die Intensivierung der Tierzucht bieten sich Übertragungswege von den Krankheitserregern vielfältige Verbreitungsmög- Infektions erregern: lichkeiten. Gerade die Parallelhaltung von verschiede- nen Arten in der Tierzucht oder das enge Zusammen- 1. rohe Lebensmittel (fäkal-oral) leben von Mensch und Tier können den Übergang des 2. Insekten (Stich) Erregers von einer Art auf eine andere ermöglichen. 3. Tierkontakte (Biss) So gelang es auch dem Erreger der Vogelgrippe (aviäre 4. Injektionen/Transfusionen (Nadel) Infl uenza), den Menschen zu infi zieren. 5. Besuche in Höhlen (Fledermäuse) Dass insbesondere Fernreisen Infektionsgefahren 6. große Menschenansammlungen (Tröpfchen- bergen, wird gern verdrängt. Eine Untersuchung der infektion) Deutschen Zentrale für Tourismus belegt, dass die

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hängig vom eigenen Gesundheitszustand, dem persön- lichen Reisestil (Rucksackreisen oder Fünf-Sterne-Ho- tel), dem Reiseland und der Aufenthaltsdauer. Weitere Infektionserreger, die zum Beispiel über Speiseeis und unzureichend gekochte Speisen (Fisch- gerichte, Muscheln) übertragen werden, sind Hepatitis A-Viren. In heißen Ländern ist die Infektionsgefahr – begünstigt durch das tropische Klima und hygienische Mängel – größer. Seit Entwicklung der aktiven Impf- stoffe gegen Hepatitis A Anfang der 1990er Jahre ist ein Rückgang des klassischen Reisemitbringsels zu ver- zeichnen. Auch Typhussalmonellen, Choleravibrionen und das Poliomyelitisvirus (Kinderlähmung) werden fäkal-oral übertragen. Allerdings sind Cholerainfektio- nen zumindest bei Reisenden sehr selten, ebenso die Poliomyelitis, die sich allerdings trotz des Programms der WHO zur weltweiten Auslöschung der Krankheit Länder und Gebiete, in denen die Gefahr (Eradikationsprogramm) erneut in Teilen Afrikas und der Gelbfieber-Übertragung besteht. Asiens ausgebreitet hat. Eine Impfung gegen Typhus empfi ehlt sich für Risikoreisende mit einem längeren Wer in eines der orange markierten Gebiete reist, sollte sich Aufenthalt in Asien (Indien), den Andenländern oder vorsorglich gegen Gelbfi eber impfen lassen, denn dort ist das Nordafrika. Risiko einer Ansteckung besonders groß.

hämorrhagischem Verlauf, wenn Fieber in Verbindung mit Blutungen der inneren Organe auftritt, bei 20 bis 50 Prozent. Eine drastische Zunahme belegen die ak- tuellen Epidemien in Südamerika im Frühjahr und Sommer 2008. Neben Brasilien waren auch Länder be- troffen, die jahrelang von der Infektionskrankheit ver- schont geblieben waren, wie zum Beispiel Paraguay. Konsequente und rasch umgesetzte Impfkampagnen (inklusive Impfpfl icht bei der Einreise) ermöglichten es, die Weiterverbreitung der Krankheit einzudäm- men. Das Pendant zu Gelbfieber ist die Japan B-Enze- phalitis in Südostasien. Der Krankheitserreger gehört, ebenso wie der Erreger des Gelbfi ebers, zu den Fla- viviren und wird durch Mücken übertragen. Seine Insektenschutz gehört zu den wichtigsten Maßnahmen zum Verbreitung ist auf ländliche Regionen (Reisfelder, Schutz vor Infektionskrankheiten wie Gelbfi eber, Malaria oder Schweinezucht) in Asien begrenzt. Es existieren Impf- Dengue-Fieber, die durch Mückenstiche übertragen werden. stoffe, die allerdings in Deutschland (noch) nicht zu- Hier nebelt ein Mitarbeiter einer koreanischen Hilfsorganisati- on mit einer tragbaren Nebelmaschine ein Flüchtlingslager bei gelassen sind. Die Impfung ist für Risikogruppen in- Banda Aceh, Sumatra, ein, um die Seuchengefahr nach der diziert, die sich längere Zeit in den Endemiegebieten Flutkatastrophe von 2005 einzudämmen. Eine Kindergruppe aufhalten. läuft dem Geschehen hinterher. Herausforderung Malaria Tiere als Überträger Die Malaria, die Tropenkrankheit schlechthin, weist Die Ausrottung von Erregern, die vom Tier auf den ein statistisches Infektionsrisiko bei Tropenreisenden Menschen übertragen werden, ist deshalb erschwert, von 1 : 50 auf./2/ Die weltweite Verbreitung der Ano- weil das Vorhandensein eines tierischen Reservoirs den phelesmücke als Überträger der Plasmodien (Mala- Erregern einen Selektionsvorteil bietet. Beispiele sind riaerreger) und die optimalen Lebensbedingungen in Affen als Virusträger des Dschungelgelbfi ebers oder die tropisch-feuchten Ländern begünstigen die Malaria in Kleinsäuger des Waldes in unseren Breiten als Überträ- den Tropen. Dort ist sie die Todesursache Nummer eins ger für die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). bei Kindern unter fünf Jahren. Aus demselben Grund sind Krankheitserreger, die Durch den Bau von Fernstraßen wie die Transama- an einen Vektor (zum Beispiel Mücken, Zecken oder zonica in Brasilien breitete sich die Malaria auch im Mäuse) gebunden sind, wie Gelbfi eber oder Malaria, Amazonasbecken aus. Staudämme und Bewässerungs- schwierig zu bekämpfen. projekte haben großen Einfl uss auf die Umwelt und Das Gelbfieber gelangte mit Sklavenschiffen im ermöglichen indirekt eine Erregerverbreitung, weil 18. Jahrhundert in die »Neue Welt« (Vektorübertra- die neuen Wasserstellen hervorragende Brutplätze für gung) und verhinderte fast den Bau des Panamaka- Mückenlarven bieten. Da es keinen Anti-Malaria-Impf- nals. Gelbfi eber war bis zum 20. Jahrhundert eine der stoff gibt, die Therapie teuer ist, und schlechte soziale gefährlichsten Seuchen. Auch heute erfordert der Ver- und hygienische Bedingungen die Erreger-Ausbreitung dachtsfall eine Isolierung des Kranken, die bis zur Qua- fördern, müssen Maßnahmen zur Eindämmung der rantäne reichen kann. Die Sterblichkeitsrate liegt bei Malaria an verschiedenen Stellen ansetzen: Es werden

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fen. Auch in Südasien ist die Virusinfektion endemisch, das heißt, sie tritt dort andauernd auf. Die Erkrankung wird jedoch häufi g übersehen, was nicht verwundert, denn nach einer Studie von Wichmann und Mitarbei- tern/4/ erfüllten weniger als ein Prozent der nach Euro- pa eingeschleppten Erkrankungen alle diagnostischen Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Anders ausgedrückt: Nicht jeder Tourist, der an Dengue erkrankt, zeigt eine typische Symptomatik. Häufi ger werden neben Fieber eher unspezifi sche Mus- kel-Knochenschmerzen und Kopfschmerzen beschrie- ben. Da noch kein Impfstoff zur Verfügung steht, kann als einzige präventive Maßnahme der Mückenschutz gelten. Dies sollte jedem Reisenden bei Aufenthalt in Endemiegebieten bewusst sein.

Die Tigermücke Aedes aegyptii ist die Haupt- überträgerin des Gelb - fi eber- und des Dengue- In den Tropen ist die Malaria die Haupttodesursache bei Kindern unter fünf Jahren. Virus. Sie lebt in Vor allem in den ärmsten Ländern sterben Infi zierte, weil es keine ausreichende medi- tropischen und zi nische Versorgung gibt. Mit Moskitonetzen, wie hier im westafrikanischen Niger, kann subtropischen man sich wirkungsvoll gegen die Anophelesmücke schützen, die den Erreger überträgt. Regionen.

Moskitonetze an die Bevölkerung verteilt, Innenräu- Eine dem Dengue-Fieber klinisch ähnliche me mit Insektenschutzmitteln besprüht und Mücken- Erkrankung ist das Chikungunya- Fieber, des- larven beseitigt. sen Erreger zu den Alphaviren gehört. Seit Die erfolgreiche Ausrottung der Malaria in Deutsch- 2005 erkrankten auf Inseln des Indischen Oze- land lässt sich aufgrund der klimatischen Bedingungen ans (Reunion, Madagaskar, Mauritius) sowie Indien nicht auf das tropische Afrika übertragen. Reisende neben den Einheimischen auch viele Touristen an ei- sollten sich der Gefahr bewusst sein und primär Mü- ner neuen Virusvariante./5/ ckenstiche verhindern – durch Moskitonetze, hel- le, langärmelige Kleidung in den Abendstunden und Tierkontakte Duftstoffe, die Insekten abstoßen (Repellentien). Für Bissverletzungen bergen neben der Infektionsgefahr Hochrisikogebiete empfehlen sich zusätzlich eine me- durch zum Teil schwer behandelbare Keime aus der dikamentöse Malariaprophylaxe und/oder die Mit- Mundhöhle des Tieres auch zumindest in Endemiege- nahme eines Notfallmedikaments. bieten das Risiko einer Tollwutinfektion. Bei akutem Verdacht muss bei Nicht-Geimpften sofort eine Postex- Dengue-Fieber auf dem Vormarsch positionsprophylaxe mit Immunglobulin und aktiven Das Dengue-Fieber ist eine durch Insekten übertra- Impfungen durchgeführt werden, denn ein Ausbruch gene Viruserkrankung (Arbovirose), die zunehmend der Tollwuterkrankung ist tödlich. Nicht zu vergessen an Bedeutung gewinnt. Es hat der Malaria in vielen ist der Tetanusschutz im Verletzungsfall. Neben einer Regionen Afrikas und Zentralamerikas den Rang als generellen Vorsicht vor streunenden Hunden, Affen häufi gste schwerwiegende Tropenkrankheit abgelau- oder Fledermäusen wird für Länder mit hohem Infek-

Viren können auf- grund ihrer geringen Größe (etwa 20 bis 200 Millionstel Mil- limeter) nur unter dem Elektronenmik- roskop sichtbar ge- Januar macht werden. Die- Isotherm ses Flavivirus wurde am Institut für Me- dizinische Virologie bei einer Patientin mit akuter Dengue- Virusinfektion (nach einem Jamaikaauf- enthalt) isoliert./3/ Juli Isotherm

Geografische Verbreitung von Dengue-Fieber, 2000–2007 Diese von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgege- Gefahr der Dengue-Fieber-Übertragung bene Karte zeigt die Ausbreitung des Dengue-Fiebers (orange Linien umranden Gebiete, in denen der Vektor für Dengue verbreitet ist Punkte) und die Risiko-Gebiete (gelbe Flächen).

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tionsrisiko wie Indien, Südostasien, aber auch Nord- afrika und Südamerika eine vorbeugende Impfung Leitsätze zur Vermeidung von Reiseinfektionen empfohlen. Der gut verträgliche (Tot-)Impfstoff sollte spätestens drei Wochen vor Abreise dreimalig geimpft 1. Reisediarrhoe – cook it, peel ten abweisende Duftstoffe, werden und ist insbesondere für »Rucksacktouristen«, it, boil it or forget it! Moskitonetze »low budget«-Abenteurer, Langzeitreisende oder Mit- 2. Durch Tröpfcheninfektion 4. Sexuell übertragene Erkran- arbeiter im Entwicklungsdienst zu empfehlen. übertragbare Erreger (respi- kungen (HIV) – Safer Sex ratorische Krankheiten wie 5. Durch Blut übertragene Infek- Blutprodukte und infi zierte Nadeln Infl uenza) – große Men- tionen (Hepatitis B und C, Eine Erregerübertragung durch Blutprodukte oder schenansammlungen HIV), Piercing, Akupunktur, infi zierte Nadeln ist in Drittweltländern durchaus als vermeiden Blutentnahmen, Operationen häufi ges Risiko anzusehen. Die Hepatitisviren B und 3. Durch Vektoren übertragene und zahnärztliche Eingriffe C werden über Blutprodukte, Intimkontakte, operative Erkrankungen (Malaria, Den- vermeiden Eingriffe (infi ziertes Besteck, Spritzen) übertragen. In gue, Gelbfi eber, Japan-B-En- 5. Tierkontakte (Hundebisse): vielen Ländern mit niedrigem Hygienestandard treten zephalitis) – Haut schützen, Tiere nicht füttern und direk- Hepatitis und HIV (humanes Immundefi zienz-Virus) langärmelige Kleidung, Insek- ten Kontakt vermeiden viel häufi ger auf als etwa in Europa, unter anderem aufgrund geringerer Sicherheitsbestimmungen (unzu- reichendes Screening der Blutprodukte) und Hygiene- Auch das Beispiel »Hühnergrippe« gehört in die maßnahmen (Mehrfachgebrauch von Nadeln) in ärzt- Kategorie der Krankheiten, die man durch diese vor- lichen Einrichtungen. beugenden Maßnahmen vermeiden kann. Die aviäre Von (Zahn-)Arztbesuchen in Risikogebieten, ge- Infl uenza (H5N1) wird hauptsächlich durch enge Kon- schweige denn Piercingstudios sollte dringend ab- takte vom Tier (Gefl ügel) auf den Menschen übertra- geraten werden. Für Hepatitis B steht gen. Allerdings gibt es dagegen noch keinen Impfstoff. seit 1986 ein gentechnisch hergestell- Im Zuge der Globalisierung und des zunehmenden ter Impfstoff zur Verfügung, der auch Flugverkehrs verbreiten sich Infektionserreger schneller in Deutschland zu den allgemeinen Impfempfehlun- und weiträumiger als zu früheren Zeiten – sei es über gen für Kinder und Jugendliche, für ärztliches Perso- die Mitreise bei Menschen (SARS-Patient), Tieren (grü- nal sowie Patienten zählt (STIKO, Robert Koch-Insti- ne Meerkatzen mit Marburgvirus infi ziert) oder Mü- tut, Berlin). Die Impfprophylaxe ist Risikoreisenden cken (Flughafenmalaria, Dengue-Fieber). Wenn man (Rucksacktouristen, Langzeitaufenthalte medizinischer bedenkt, dass Infektionskrankheiten in tropischen Län- Dienst) dringend empfohlen. dern bis zu 40 Prozent aller Krankheiten ausmachen, ist durchaus mit einer höheren Infektionsgefahr durch Impfung schützt vor Infl uenza Reisen zu rechnen./1/ Hier können eine entsprechende Im Zuge der Reisemedizin sei auch an die Infektions- Information über das Reiseziel und Vorsorge vor einer gefahren durch Erreger erinnert, die über die Tröpfchen- Ansteckung und Verbreitung schützen. Die Beachtung infektion (Aerosole) übertragen werden. Eine Impfung allgemeiner Hygieneregeln, Mückenabwehr, eine Ma- gegen Meningokokken, die beim Menschen verschie- lariaprophylaxe und Impfungen können einen Großteil dene Krankheiten auslösen, ist insbesondere für das der Infektionen vermeiden helfen. ◆ tropische Afrika in der Trockenzeit für Risikoreisende zu empfehlen. Bevorzugt einzusetzen ist der Impfstoff, Literatur der gegen vier Serotypen (A, C, W und Y) wirksam ist. Eine Impfpfl icht besteht für die Pilgerreisen nach Mekka /1/ R. Kurth Das Auftreten alter und neuer Seuchen als Konse- (Hadj). Die »echte Grippe« (Infl uenza) lässt sich ebenfalls quenz menschlichen Handelns Bundesgesundheitsblatt – Ge- durch eine Impfung vermeiden. Weitere wichtige vor- sundheitsforschung – Gesundheitsschutz. 2004:47:611 – 621. beugende Maßnahmen sind das häufi ge Händewaschen Robert Koch-Institut, Berlin. und die Vermeidung zu naher »face to face«-Kontakte. /2/ L. Amsler und R. Steffen Gesundheitsrisiken bei Fernreisen Gerade Südostasienreisende sollten daran denken. in: Tropenmedizin in Klinik und Praxis (Hrsg. W. Lang, T. Lö- scher), Gerog Thieme Verlag Stuttgart, 2000. Die Autorin /3/ Allwinn R, Schieferstein C, Klauke S, Doerr HW Rapid Dr. Regina Allwinn, 47, ist Oberärztin am Institut für Medi- Diagnosis of Primary Dengue Fever by the Immunochromatogra- zinische Virologie und der Reisemedizinischen Impfam- phic Test and by Electron Microscopy – a Case Report Infection: bulanz/Gelbfi eberstelle. Sie studierte Biologie in Gießen 27/6:365 – 367,1999. und Frankfurt/Main mit Schwerpunkt Anthropologie/ Humangenetik. Ihr Interesse an der Infektionsbiologie und /4/ Wichmann O, Gascon J, Schunk M, Puente S, Siikama- Reisemedizin vertiefte sie durch ein Studium der Human- ki H, Gjørup I, Lopez-Velez R, Clerinx J, Peyerl-Hoffmann medizin, Diplom-Tropenmedizin (Bernhard-Nocht-Institut, G, Sundøy A, Genton B, Kern P, Calleri G, de Górgolas M, Hamburg) und der Facharztausbildung für Mikrobiologie Mühlberger N, Jelinek T; European Network on Surveillance und Infektionsepidemiologie. Sie ist seit 1995 in der Reise- of Imported Infectious Diseases. Severe dengue virus infection medizinischen Impfambulanz tätig und leitet die Infektions- in travelers: risk factors and laboratory indicators. J of Infectious serologie. Neben der Routinediagnostik in der Virologie sind Diseases 2007; 195: 1089 – 1096. ihre Arbeitsschwerpunkte impfpräventable und importierte Virusinfektionen. /5/ Borgherini G, Poubeau P, Jossaume A, Gouix A, Cotte L, Michault A, Arvin-Berod C, Paganin F. Persistent arthralgia [email protected] associated with chikungunya virus: a study of 88 adult patients on http://www.kgu.de/zhyg/virologie/impfamb.html reunion island Clin Infect Dis. 2008, 5;47:469 – 75.

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09 UNI S60_85 2008_03.indd 71 27.11.2008 16:30:40 Uhr Forschung aktuell Eine Erde voller Arten Darwins Vermächtnis in der heutigen Evolutionsbiologie

von Bruno Streit, as Besondere am Planeten Erde sind seine Belebt- Bei der in Europa verbreiteten und schon Darwin bekannten Markus Pfennin- Dheit und sein großer Artenreichtum. Viele Phäno- Flussmützenschnecke herrschte immer wieder Uneinigkeit ger und Klaus mene, die Charles Darwin bereits vor 150 Jahren be- über die Einteilung der Art. Zeitweise wurde sie als eine ein- Schwenk schäftigten, geben auch heutigen Evolutionsforschern zige, sehr formenreiche Sammelart Ancylus fl uviatilis betrach- tet, zeitweise aber auch als eine große Zahl unterschiedlicher noch Rätsel auf. Hier bringt die Anwendung mole- Arten. Unsere molekulargenetischen Analysen zeigten, dass kulargenetischer Techniken zunehmend Licht in das wir mindestens vier sehr distinkte Arten innerhalb Europas Dunkel. unterscheiden können, die seit Langem verwandtschaftlich Die zur Zeit Darwins beherrschende Frage war, ob getrennt sind (Pfenninger et al. 2003). Die mützenförmige biologische Arten – also die Kategorien, in die wir Schalenform ist in der Evolution verschiedener Schnecken- Menschen unsere belebte Umwelt intuitiv einteilen – gruppen im Übrigen unabhängig mehrfach ent standen (Alb- veränderlich sind, oder ob sie unverändert so fortbeste- recht et al. 2004). hen, wie sie von einem Schöpfer geschaffen wurden. Die Naturforscher jener Zeit waren sich bereits weitge- hend darin einig, dass Arten sich verändern; lediglich über den Mechanismus, der diesen Prozess antreibt, war man sich nicht im Klaren. Es ist das große Verdienst Darwins, im Prinzip der natürlichen Selektion den grundlegenden Evolutions- mechanismus erkannt zu haben, der seither in un-

zähligen Beobachtungen und Experimenten bestätigt Charles Darwin und die Evolutionstheorie wurde. Die Evolutionstheorie erklärt aber nicht nur die Artenvielfalt, sondern sie ist für die gesamte Biologie harles Robert Darwin (1809 – reichsten Individuen (diejenigen von grundlegender Bedeutung. In fast allen biologi- C1882) gilt zusammen mit Al- mit der größten biologischen Fit- schen Disziplinen – zum Beispiel der Ökologie, Etho- fred Russel Wallace (1823 – 1913) ness) die größte Wahrscheinlich- logie und Biodiversitätsforschung – stehen Arten im als Begründer der modernen Evo - keit haben, ihre Erbinformation Mittelpunkt der Betrachtung (Streit & Städler 1997). lutionstheorie und ist damit einer an die Folgegeneration weiterzu- Dies ist Grund genug, sich näher mit dem Begriff der derjenigen Wissenschaftler, die geben. Heutige biologische Arten Art zu befassen. Naturwissenschaft und Gesell- waren demzufolge auch alle Ab- schaft nachhaltig beeinfl ussten. kömmlinge früherer Arten, was Streit um die Defi nition der Art Seine Hypothesen bilden auch die Grundlage der Deszen- Im Gegensatz zu höheren systematischen Katego- die Grundlage der Theorie, die denztheorie war. rien wie Gattung, Familie oder Ordnung, die eher das Wallace später als Darwinismus Viele Fragen waren zur Zeit menschliche Bedürfnis nach übersichtlichen Kategorien bezeichnete. Sie fußten auf der Darwins noch nicht zu beantwor- widerspiegeln, stellt die Art nach überwiegender Mei- Erkenntnis, dass die Veränderun- ten. Die genetischen Experimente nung eine fundamentale biologische Kategorie dar. Man gen der organismischen Welt im eines Gregor Mendel waren noch sollte also meinen, dass unter Biologen Einigkeit darü- Laufe der Erdgeschichte allmäh- nicht gemacht worden, und die ber herrscht, was unter einer Art zu verstehen ist und lich vor sich gegangen sind und stoffl iche Grundlage der Vererbung wie man sie von anderen Arten abgrenzt. Kurioserwei- dass wir die Prozesse der Verände- war erst recht unbekannt. Dennoch se gibt es aber kaum einen Streit in der Geschichte der rung auch heute noch erkennen konnte Darwin aufgrund seiner Biologie, der so lange und heftig tobt wie der um das können. Er war vom Prinzip des konsequenten Beobachtung und »richtige« Artkonzept. Selbst Darwin war sich offenbar Aktualismus überzeugt, das seit seiner Schlussfolgerungen die der Schwierigkeiten eines universellen Artbegriffs be- dem Erscheinen des modernen prinzipiell richtigen Schlüsse zie- wusst, denn er drückte sich sogar in seinem Hauptwerk Geologie-Lehrbuchs von Charles hen. Sie bilden die »Von der Entstehung der Arten« um die Defi nition sei- Lyell (1830/33) auch in den Erd- Grundlage zu den nes zentralen Untersuchungsgegenstandes. wissenschaften Einzug gehalten heutigen spezifi schen Wie kommt es zu solchen Schwierigkeiten bei der hatte. Fragestellungen und Artabgrenzung? Ein Grund dafür ist, dass Arten – im Darwin beobachtete, dass bei Forschungsthemen Gegensatz zu übersichtlichen fundamentalen Einhei- allen Arten grundsätzlich mehr der Evolutions- ten wie Genen, Zellen oder Individuen – von einem Nachkommen produziert wur- biologie. menschlichen Beobachter praktisch nie als Ganzes zu den, als später zur Fortpfl anzung erfassen sind. Denn eine Art besteht aus meist sehr gelangten, und dass eine erhebli- vielen Individuen, die oft über große geografi sche Ge- che biologische Variation in den biete verteilt vorkommen und deren verbindende Ei- Nachkommen auftreten konnte. genschaft nicht offensichtlich ist. Außerdem gehört zur Er folgerte, dass ein Auslesepro- Abgrenzung der Arten auch die zeitliche Dimension: zess (eine Selektion) in der Weise Durch ökologische und evolutionäre Prozesse entste- wirkte, dass die jeweils erfolg- hen Arten, verändern sich und sterben aus. Und das in Zeiträumen, die normalerweise die Lebensspanne der

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menschlichen Beobachter um ein Vielfaches überstei- Crustaceenarten der Gattung Daphnia (Wasserfl oh) hybridisieren gen. Es liegt demnach in der schon von Darwin erkann- häufi g untereinander, und deren Nachkommen sind unter be- ten Natur der Arten, dass sie keine unveränderlichen, stimmten Umwelt bedingungen den Elternarten überlegen (hö- jederzeit und überall klar erkennbaren kategorischen here Überlebens- und Reproduktionsraten). Darüber hinaus sind die Hybriden fruchtbar, wodurch sich die Arten teilweise vermi- Einheiten sind, sondern räumlich und zeitlich variabel schen. Dieser Prozess kann zum Genfl uss zwischen Arten führen mit gegebenenfalls unscharfen Rändern. (Introgression) und neue evolutionäre Linien hervorbringen Einen Evolutionsbiologen verwundert es also nicht, (Schwenk et al. 2008). dass die Abgrenzung von Arten manchmal problema- tisch ist und nicht immer die klaren Antworten liefert, wöhnlich die Grenzen zwischen den unabhängig vonei- die von Ökologen, Taxonomen, Naturschützern und nander evoluierenden Arten deutlich. Zum Leidwesen anderen gewünscht werden. Anderseits werfen oft ge- der Taxonomen stimmen diese aber vielfach nicht mit nau diese umstrittenen Fälle ein Licht auf jene evo- den traditionellen Einteilungen überein, die auch in lutionären Prozesse, welche für die beobachtete biolo- Bestimmungswerken zu fi nden sind. Dafür erlauben gische Vielfalt verantwortlich sind. Daher sind sie für die umfassenden Untersuchungen aber unter Umstän- Evolutionsbiologen wichtige Forschungsobjekte. den, dass wir auf die evolutionären und ökologischen Prozesse schließen können, die zur Aufspaltung der Anders als im Bestimmungsbuch Art geführt haben. Zusätzlich können wir abschätzen, Ein weiterer Grund, weshalb es schwierig ist, Arten wann und wo sich die Artbildung abgespielt hat. Auf voneinander zu unterscheiden, ist, dass wir dazu ten- diese Weise haben wir die Artgrenzen bei mehreren dieren, optische Unterschiede (oder deren Fehlen) bei systematisch umstrittenen Gruppen von Land- und der Arteinteilung übermäßig stark zu bewerten. Das Süßwasserschnecken, Muscheln, Wasserfl öhen, Zuck- wird besonders bei den sogenannten »kryptischen Ar- mücken und Süßwasserkrabben fundiert erfasst. ten« deutlich, bei denen es sich um zwei oder mehr eigentlich gut voneinander abgegrenzte Arten handelt, Schnelle Arterkennung die aber aufgrund ihres ähnlichen oder identischen Doch nicht immer ist es möglich, derart aufwendige Erscheinungsbildes als eine einzige Art klassifiziert Untersuchungen durchzuführen. In vielen Bereichen worden sind. Auch Darwin beschäftigte sich in seinen wie der Ökologie, der Klimafolgenforschung oder im Arbeiten über die Entenmuscheln (eine Gruppe der angewandten Bereich, beispielsweise beim Zoll, wo es Krebstiere) mit diesem Phänomen. Wie wir kürzlich in um die schnelle Erkennung geschützter Arten geht, einer Literaturstudie zeigen konnten, sind kryptische ist eine einfache und auch von Nicht-Spezialisten an- Arten entgegen aller Erwartungen in allen Tiergruppen und Lebensräumen etwa gleich häufi g (Pfenninger & Schwenk 2007). Artenbildung Wie können wir Arten und die Artbildung erfor- schen, obwohl es keine allgemein akzeptierte Defi ni- chematische Darstellung ver- sierung zwischen den auseinander- tion dafür gibt? Da wir insbesondere am Verständnis Sschiedener Artbildungen in driftenden Arten, so dass sie gene- der evolutionären und ökologischen Prozesse inter- Form stammesgeschichtlicher tisch nicht vollständig voneinander essiert sind, die zur Entstehung und Verbreitung von Bäume. Die Farben repräsentieren isoliert sind. Der dritte Stammbaum Biodiversität führen, verfolgen wir einen integrierten, das Ausmaß der morphologischen stellt kryptische Arten dar. Sie sind pragmatischen Ansatz. Dazu sammeln wir viele Indi- Unterschiede. Die gestrichelte Linie zwar genetisch verschieden, aber viduen der fraglichen Art(en) über das gesamte Ver- deutet die Beobachtung der geneti- morphologisch gleich. breitungsgebiet und charakterisieren sie genetisch, schen und morphologischen Unter- morphologisch und anatomisch. Je nach Fall erheben schiede zu einem bestimmten Zeit- Zeit wir relevante ökologische, klimatische und/oder eda- punkt an. Der erste Stammbaum phische (den Boden betreffende) Informationen über zeigt die gleichzeitige Vergrößerung die Fundorte und führen gegebenenfalls ökologische der genetischen und morphologi- und Fortpfl anzungsexperimente durch. schen Unterschiede. Im zweiten 1 23 Nach einer komplexen statistischen und populati- Stammbaum gibt es eine Hybridi- onsgenetischen Auswertung der Daten werden für ge-

Ausgewählte Literatur

Albrecht, C., Wil- driven range dyna- taxonomy and homogeneously among cryptic hybridization in ciety B. Vol. 363: ke, T., Kuhn, K., mics in the freshwa- barcoding for the distributed among evolutionary line- Daphnia Hydrobio- 2805–2961. Streit, B. (2004) ter limpet Ancylus inference of larval taxa and biogeogra- ages in freshwater logia 442: 67–73. Convergent evoluti- fl uviatilis (Pulmo- community struc- phical regions BMC limpets of the no- Streit, B., Städ- on of shell shape in nata, Basommato- ture in morpho- Evolutionary Bio- minal form-group Schwenk, K., ler, T., Lively, C. freshwater limpets: phora) Journal of logically cryptic logy 7: 121. Ancylus fl uviatilis Brede, N., Streit, M. (1997), Eds. the African genus Biogeography 35: Chironomus (Dip- (O. F. Müller, B. (2008, Guest Evolutionary Eco- Burnupia Zoologi- 1580–1592. tera) species Mole- Pfenninger, M., 1774) Molecu- Editors) Hybridi- logy of Freshwater cal Journal of the cular Ecology 16: Staubach, S., Al- lar Ecology 12: zation in Animals Animals. Concepts Linnean Society Pfenninger, M., 1957–1968. brecht, C., Streit, 2731–2745. – Extent, Processes and Case Studies 140: 577–588. Nowak, C., Kley, B., Schwenk, K. and Evolutionary Experientia Sup- C., Steinke, D., Pfenninger, M., (2003) Ecological Schwenk, K., Bijl, Impact Philosophi- plementum Vol. Cordellier, M., Streit, B. (2007) Schwenk, K. and morphological M., Menken, S. B. cal Transactions 82; Birkhäuser, Pfenninger, M. Utility of DNA (2007) Cryptic differentiation J. (2001) Experi- of the Royal So- Basel & Boston. (2008) Climate- animal species are mental interspecifi c

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Die Süßwasser- schnecke Radix balthica hat ihr Verbreitungsgebiet im Laufe der Erd- geschichte immer wieder den klima- tischen Gegeben- heiten, insbeson- dere den Eis- und Zwischeneiszei- ten, angepasst. Orte, an denen die Art von uns durch DNA-Barcoding nachgewiesen wurde, sind auf der Karte durch schwarze Punkte markiert. Dar- wendbare Methode gefragt. Deshalb beschäftigen wir der letzten 25 Jahre zeigt jedoch, dass Hybriden, ähn- aus wurde eine uns auch mit der Entwicklung der automatischen mo- lich den kryptischen Arten, häufi ger vorkommen als Abschätzung der heutigen lekularen Identifi kation durch das »DNA-Barcoding«, vermutet und in allen Tiergruppen ungefähr gleich Artverbreitung das ähnlich den Strichcodes im Supermarkt eine »Art- häufig auftreten. Darüber hinaus sind viele Hybride (dunkelgrün) Identifi kation« erlaubt. Diese Methode ermöglicht es, nicht oder nicht generell steril und können so zur Ent- durch Umweltni- ein Individuum aus einer biologischen Probe, zum stehung neuer evolutionärer Linien beitragen. Da dies schenmodellie- Beispiel aus dem Schlamm eines Gewässers, aufgrund in wenigen Generationen abläuft, können evolutionäre rung erstellt. Mo- einer oder weniger kurzer Gen-Sequenzen (den »Bar- Prozesse, wie Selektion und Anpassung, experimentell mentan ist Radix codes«) zuverlässig und vom Beobachter unabhängig besonders gut untersucht werden. Aus diesem Grund balthica im Zuge des Klimawandels einer Art zuzuordnen (Pfenninger et al. 2007). Dieser wurde die Erforschung natürlicher Hybride ein zentra- dabei, den Norden Ansatz hat sich bewährt, denn die Zahl der Proben in les Arbeitsgebiet der Evolutionsbiologie (Schwenk et al. Skandinaviens der Biodiversitätsforschung nimmt ständig zu, während 2008). Wir sind insbesondere im Bereich der Wasser- zu erobern. Auf die Zahl taxonomisch geschulter Fachleute rückläufi g fl öhe, aber auch der Muscheln und Schnecken tätig. welche Weise dies ist. Auch kryptische Arten kann man so »enttarnen«. geschieht, un- Evolutionäre Reise durch Zeit und Raum tersuchen wir im Die natürliche Vermischung der Arten Zu den entscheidenden Anstößen für Darwins The- Rahmen des neu- en LOEWE-For- Trotz der Verwendung von hochaufl ösenden mole- orie gehörte die Beobachtung, dass Individuen einer schungszentrums kulargenetischen Methoden fi nden sich immer wieder Art in verschiedenen Regionen ihres Verbreitungsge- »Biodiversität und Pfl anzen und Tiere, die sich nicht eindeutig einer Art bietes unterschiedlich sein können. Heute können wir Klima«. zuordnen lassen. Dies resultiert aber nicht aus einer aufgrund der geografi schen Verteilung von genetischer Unzulänglichkeit der Methode, sondern diese Orga- Variabilität die Geschichte einer Art mit erstaunlicher nismen sind häufi g das Ergebnis einer Verpaarung von Präzision rekonstruieren. Unsere Arbeitsgruppe ist füh- verschiedenen Arten, sogenannte »zwischenartliche rend, wenn es um das Problem geht, mit dieser Metho- Hybride«. Beispiele hierfür hat schon Darwin ausführ- de herauszufi nden, wie Arten auf Klimaveränderungen lich besprochen. Allerdings maß er diesem Phänomen reagieren. Auch die Vorhersage künftiger Entwicklun- keine große Bedeutung bei, da die meisten Wirbel- gen ist möglich (Cordellier & Pfenninger 2008). tierhybride, etwa die Mehrzahl der Maultiere, steril Arten sind aber nicht nur geografi sch, sondern auch sind. Unsere Literaturstudie über Veröffentlichungen zeitlich veränderlich. So können manche im Süßwas-

Die Autoren

Prof. Dr. Bruno Streit, 60, ist seit 1985 an der Beide Aspekte fi nden in der aktuellen Biodiver- Privatdozent Dr. Markus Pfenninger, 41, eben- Goethe-Universität und lehrt und forscht am sitätsdiskussionen breite Beachtung. falls am Institut für Ökologie, Evolution und Institut für Ökologie, Evolution und Diversität. Diversität, ist seit 1. August 2008 Leiter des Schwerpunkte seiner Arbeiten sind Aspekte der Privatdozent Dr. Klaus Schwenk, 45, ist Evoluti- molekular-ökologischen Labors am LOEWE- Ökologie, insbesondere der Gewässerökologie onsbiologe am Institut für Ökologie, Evolution Forschungszentrum »Biodiversität und Klima«. und der Evolutionsökologie, eine Ausrichtung, und Diversität. Er entwickelt genetische Me- Ihn interessieren Prozesse, die Biodiversität in die evolutionsbiologische Prinzipien zur Erklä- thoden zur Identifi kation von kryptischen und Raum und Zeit strukturieren, wobei klimati- rung ökologischer Phänomene zu Hilfe nimmt. hybridisierenden Tierarten. Zentrale Themen sche Veränderungen und deren Auswirkungen Früh entwickelte er mit seiner Gruppe das seiner Arbeiten sind zum einen die ökologi- auf Arten und Gemeinschaften im Zentrum hierzu benötigte molekulargenetische Rüstzeug sche Genetik und zum anderen der Schutz der Arbeit stehen. Zu diesem Zweck arbeitet für Analysen an Tierpopulationen. Er arbeitete der biologischen Vielfalt. Er beschäftigt sich er hauptsächlich auf den Gebieten der Ab- schon in den 1990er Jahren über die in Süß- hierbei mit den Auswirkungen anthropogen grenzung und molekularen Identifi kation von wassertieren verbreitete Hybridisierung zwi- bedingter Umweltveränderungen auf lokale Arten sowie der statistischen Phylogeografi e. schen Arten und deren mögliche Bedeutung für Populationen. Aktuelle Projekte – im Rahmen Die Fragestellungen untersucht er an so diver- die Evolution von Wasserschnecken. Ebenfalls des neuen Forschungszentrums »Biodiversität sen Taxa wie Land- und Süßwasserschnecken, schon damals verwies er auf die grundlegende und Klima« – zielen darauf, die Anpassung an Insekten und Krebsen. Bedeutung tierischer Invasoren in Mitteleuropa. die globale Erderwärmung zu rekonstruieren.

[email protected] [email protected] [email protected] http://www.bio.uni-frankfurt.de/ee http://user.uni-frankfurt.de/~kschwenk/ http://user.uni-frankfurt.de/~markusp/

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serplankton lebende Kleinkrebse Dauereier produzie- Wo stehen wir heute? ren, die auf den Boden von Seen herabsinken, um Wie zu Zeiten von Charles Darwin steht auch für die ungün stige Zeiten zu überdauern. Wir nutzen diese heutige Evolutionsbiologie das Verständnis der evoluti- biologischen Archive, indem wir Dauereier von Wasser- onären Veränderung von Arten im Zentrum des Inter- fl öhen aus verschiedenen Zeitpunkten des letzten Jahr- esses. Da sich unsere Umwelt durch die Invasion »frem- hunderts »wiederer wecken« und sie mit deren heute der« Arten (Neobiota) und den globalen Klimawandel vorkommen den Nachkommen genetisch und biologisch rapide verändert, sind Erkenntnisse über die Entste- vergleichen. Durch solche Arbeiten haben wir doku- hung und Verbreitung von Biodiversität von akuter Be- mentiert, wie sich durch den Einfl uss des Menschen – deutung. Dabei sind kryptische Arten und Hybridarten, etwa durch Phasen der Überdüngung von Gewässern obwohl lange Zeit lediglich als »taxonomische Proble- im 20. Jahrhundert – die Zusammensetzung der Arten me« und Sonderfälle betrachtet, für die Forschung von verändert hat und wie sich die Genome der Organismen besonderer Bedeutung, denn diese »Seiteneffekte« der evoluiert haben (Schwenk et al. 2001). Laufende Projek- Evolution ermöglichen es, den »Regelfall« zu verste- te in Kooperation mit dem neu gegründeten Frankfurter hen. Diese »Problemfälle« sind somit weder das Ergeb- Forschungszentrum »Biodiversity and Climate« werden nis unserer unvollkommenen Wahrnehmung noch ein sich natürliche und museale Archive zu nutzemachen, biologisches Randphänomen, sondern ein Beweis für um die Auswirkungen des globalen Klimawandels auf die stetige evolutionäre Veränderung unserer Umwelt. die Tier- und Pfl anzenwelt zu erforschen. ◆

Wo wächst die Palmyrapalme? Mit Satellitendaten praxistaugliche Verbreitungskarten erstellen

ie äthiopische Palmyrapalme (Borassus aethiopum) 1 Abendstimmung am Rand eines westafrikanischen Feucht- Dmit einer Wuchshöhe von bis zu 30 Metern gehört waldes. Im Gegenlicht die äthiopischen Palmyrapalme (Bo- zu den größten afrikanischen Palmenarten. 1 Ihr Er- rassus aethiopum), deren Blätter zur Herstellung von Matten, halt ist für die Menschen in Benin und Burkina Faso Körben und Hüten dienen. Das Verbreitungsgebiet dieser wich- tigen Nutzart geht zurück. Hochaufl ösende Verbreitungsmodel- von großer Bedeutung, denn sie stellen aus den Blät- le können dabei helfen, diese Art langfristig zu erhalten und tern der Palme Matten, Körbe und Hüte her. Die me- nachhaltig zu nutzen. lonengroßen, glänzend orangen Früchte sind essbar. 2 Inzwischen geht das Verbreitungsgebiet dieser wich- te auffi nden zu können, bedarf es zunächst einer detail- tigen Nutzart stark zurück. Ursache ist die Zerstörung lierten Erfassung der verschiedenen Tier- und Pfl anzen- flussbegleitender Galeriewälder, in denen die Palme arten und ihrer Lebensräume in Verbreitungskarten. heimisch ist. Die Palmyrapalme ist kein Einzelfall: Welt- Hier können Satellitendaten wertvolle Hilfe leisten. weit ist die Biodiversität inzwischen durch menschliche Traditionell zeichnen Biodiversitätsforscher auf, wo Eingriffe bedroht. Um besonders schützenswerte Gebie- sie eine Art fi nden und welche Bedingungen dort herr-

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2 Essbare Früchte der äthiopischen Palmyrapalme (Borassus aethiopum).

duktion von Nahrungsmitteln oder den Erhalt der Bodenfruchtbarkeit beinhalten. Durch menschliche Eingriffe bedroht sind vor allem die Zentren der Biodi- versität wie Korallenriffe, Regenwälder, Feuchtgebiete und tropische Grasländer. Sie werden fortschreitend zerstört und degradieren zu biologisch verarmten Le- bensräumen. Mit dem Verlust von Arten riskieren wir einen Teil unserer Lebensqualität, setzen die Stabilität des Klimas aufs Spiel und verringern die Effi zienz der ökologischen Dienstleistungen, welche durch die bio- logische Vielfalt aufrechterhalten werden.

Für den Verlust an Biodiversität gibt es viele Ursa- chen. Zu den wichtigsten Faktoren gehören die Um- wandlung und Reduktion von Lebensraum, die direk- te Nutzung der Biodiversität, die Einführung von nicht einheimischen, invasiven Arten und die Folgen des Kli- mawandels. Um diesen Entwicklungen entgegenzuwir- ken, verpfl ichteten sich die Vertragsstaaten der Biodiver- Mauritania sitätskonvention von Rio (1993), die biologische Vielfalt auf nationaler und internationaler Ebene zu erfassen, Mali ihren Schutz und ihre nachhaltige Nutzung zu Niger gewährleisten und »bis 2010 eine wesentliche Reduktion der aktuellen Rate des Biodiversitäts- Niamey verlusts zu erreichen« (UN 2002). Ein wichtiges Ouagadouou Teilziel der Konvention ist dabei die Erfassung der Burkina Faso Biodiversität respektive der Artenvielfalt – eine Aufgabe, die gerade in den ökonomisch armen, aber biologisch reichen Ländern Afrikas nicht aus Benin km eigener Kraft bewältigt werden kann. 0 1000 Satellitendaten präzisieren Verbreitungskarten Aus diesem Grund arbeiten Frankfurter Forscher mit europäischen und westafrikanischen Kollegen im Rah- Elfenbeinküste Ghana Togo Nigeria men von zwei internationalen Forschungsverbünden, Porto dem BIOTA- und dem SUN-Projekt, zusammen, um die 0 100 200 Kilometer Novo Lagos wissenschaftlichen Grundlagen zu erarbeiten, die den Lome Erhalt und die nachhaltige Nutzung der Biodiversität gewährleisten sollen. Der Fokus der Arbeiten liegt da- 3 Satellitenbild von Burkina Faso und Benin – Untersu- bei auf der Erforschung der Pfl anzenvielfalt in Burkina chungsgebiete der Frankfurter Arbeitsgruppe in Westafrika. Faso, Benin und der Elfenbeinküste. 3 Eine enge Zu- sammenarbeit zwischen Mitgliedern verschiedener In- schen. Heute kombinieren sie diese Informationen in stitutionen und eine transdisziplinäre Arbeitsweise sind Computermodellen mit Satellitendaten, die Aufschluss dabei unverzichtbar 4 (Wittig et al. 2007). über die Landnutzung und andere Umweltvariablen Dabei steht zunächst die Erfassung der Pfl anzenviel- in dem betreffenden Gebiet geben. Das Ergebnis sind falt durch Sammelexkursionen und pfl anzensoziologi- Verbreitungskarten, die zeigen, wo geeignete Bedin- sche Aufnahmen im Vordergrund. Ziel ist es, die Pfl an- gungen für unterschiedliche Arten herrschen. Im west- zengesellschaften und die für sie charakteristischen afrikanischen Land Burkina Faso haben Wissenschaft- Artenkombinationen zu beschreiben. Auf langjährigen ler der Universitäten und Forschungsinstitutionen in Dauerbeobachtungsfl ächen werden ergänzend Daten Frankfurt, Ouagadougou (Burkina Faso) und Cotonou zur zeitlichen Entwicklung der Arten erfasst. Anschlie- (Benin) Verbreitungsgebiete von Arten mit bisher nicht ßend werden die botanischen Datensätze in Datenban- erreichter Detailschärfe darstellen können (König et al. ken überführt und mit weiterführenden ökologischen 2006). Sie erlauben es, Lebensräume für die Wieder- Informationen verknüpft. ansiedlung von Arten auszuwählen oder möglichem Botanische Daten zu erheben ist aufwendig, denn Artenschwund frühzeitig entgegenzuwirken. dabei müssen das Vorkommen und die Häufi gkeit al- ler vorkommenden Pfl anzenarten auf einem bestimm- Bedrohte Vielfalt ten Areal erfasst werden. Ist die Vegetation vielfältig, Die Biodiversität umfasst die Summe aller Orga- muss man diese Untersuchung auf Flächen bis zu 1000 nismen auf der Erde. Sie ist die Grundlage aller öko- Quadratmetern ausdehnen. Solche detaillierten Un- logischen Dienstleistungen, die so unterschiedliche tersuchungen sind nur punktuell möglich und reichen Aufgaben wie die Aufbereitung von Wasser, die Pro- häufi g nicht aus, um ein vollständiges Bild der Muster

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der Artenvielfalt zu erhalten. Aus diesem Grund wer- 4 Geländearbeit in der westafri ka nischen Savanne Burkina den heute die Verbreitungspunkte der Arten mit fl ä- Fasos. Zum Ende der Regenzeit erschwert bis zu drei Meter chig vorliegenden Umweltvariablen – beispielsweise hohes Gras (Andro pogon gayanus.) die Aufnahme von botani- interpolierten Klimakarten – über räumliche Model- schen Daten. lierungsansätze [siehe »Ökologische Nischenmodellie- rung«, Seite 78] kombiniert, um Muster der Artenviel- In der geobotanischen Abteilung der Universität falt darstellen und analysieren zu können. Frankfurt werden diese Modellierungsansätze aufge- griffen und erweitert, indem die Daten der botanischen Aufnahmen mit hochaufl ösenden Satellitendaten kom- 4°W 2°W 0° 2°E biniert werden (König et al. in press). Im Ergebnis er- hält man Karten, welche die bisherigen klimabasierten Verbreitungskarten in ihrer Detailschärfe und Realitäts- 5 14°N nähe weit übertreffen. Der Schlüssel liegt dabei in der Nutzung von Fernerkundungsdaten, die eine Fülle von biophysikalischen Variablen wie Bodenfeuchte, Bio- Burkina Faso masseverteilung und Landnutzungsfaktoren erfassen 12°N können. Trotz dieses großen Potenzials gibt es weltweit bisher kaum Studien, welche die Daten von Erdbeob- achtungssatelliten dazu verwenden, die Verbreitungs- muster von Tier- und Pfl anzenarten vorherzusagen. 10°N Vorkommens- wahrscheinlichkeit hoch (100%) Kilometer Anwendungsorientierte Perspektiven 0 50 100 200 niedrig (0%) Die hohe Detailschärfe und Realitätsnähe machen diese neuartigen Verbreitungskarten nun erstmals für 4°W 2°W 0° 2°E anwendungsorientierte Maßnahmen auf lokaler bis nationaler Skala interessant. So können die Ergebnisse beispielsweise eingesetzt werden, um Regenerations- maßnahmen für übernutzte Böden zu unterstützen 14°N

5 Karten der Vorkommenswahrscheinlichkeit der Baumart Burkina Faso Anogeissus leiocarpus in Burkina Faso, Westafrika. Das Ver- 12°N breitungsgebiet erstreckt sich gürtelförmig zwischen dem achten und vierzehnten Breitengrad. Rötliche Bereiche zei- gen eine hohe Ähnlichkeit zur ökologischen Nische der Art, die anhand bekannter Fundorte modelliert wurde. An diesen Vorkommens- Standorten kommt die Art potenziell eher vor als in den blau- 10°N wahrscheinlichkeit en Bereichen. Vergleicht man Verbreitungsmodelle, die auf hoch (100%) Kilometer Klimadaten basieren (oben) mit dem satellitenbildbasierten 0 50 100 200 niedrig (0%) Verbreitungsmodell (unten), erscheint das untere Bild deutlich detailreicher.

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Ökologische Nischenmodellierung.

ie Ökologische Nische beschreibt die Umwelt- Umwelt- Dfaktoren, die für das dauerhafte Überleben einer variablen Art im Ökosystem von Bedeutung sind. Dazu gehö- ren biotische Faktoren wie Fressfeinde oder Kon- Verbreitungsmodell kurrenten sowie abiotische Faktoren wie das Klima oder die Bodeneigenschaften. Dieses Konzept ist die Grundlage für die ökologische Nischen- oder auch Verbreitungsmodellierung. Dabei wird zunächst die ökologische Nische der jeweiligen Art defi niert. Dies geschieht durch die Kombination von bekannten Fundorten mit örtlichen Umweltvariablen inner- halb eines statistischen Modells. Wurde eine Art in einer größeren Region (zum Beispiel Westafrika) beispielsweise an feuchten und schattigen Stand- Fundorte orten gefunden, ist es wahrscheinlich, dass sie dort an Orten mit ähnlichen Bedingungen ebenfalls vor- übertragen. Dabei bekommen die Werte der Um- kommt, auch wenn dies zurzeit nicht durch Funde weltvariablen je nach Ähnlichkeit zum ökologi- belegt werden kann (weil man noch nicht alle Orte schen Nischenbereich eine niedrige beziehungswei- aufgesucht hat und dies wohl auch niemals schaffen se hohe Wahrscheinlichkeit des Artenvorkommens wird). Diese Information wird über mathematische zugewiesen. Im Ergebnis erhält man ein Modell der Verfahren auf das gesamte Untersuchungsgebiet Verbreitung (des Areals) einer Art.

und geeignete Habitate für die Wiederansiedlung von Maßnahmen zum Schutz von Elefanten. Im benachbar- Arten auszuwählen, zum Beispiel von Gehölzarten, die ten Arli-Nationalpark in Burkina Faso sollen die Karten in der traditionellen Medizin für die Behandlung von dazu eingesetzt werden, besonders lohnende Gebiete verschiedenen Krankheiten eingesetzt werden (König für die nachhaltige Nutzung von Medizinalpflanzen et al. in prep). Auf lokaler Ebene unterstützen die ge- auszuweisen. Landesweite Verbreitungskarten werden won nenen Karten schon jetzt das Management des zukünftig in Burkina Faso als Grundlage für die Erar- Pendjari-Nationalparks in Benin bei der Umsetzung von beitung eines nationalen Schutzkonzepts eingesetzt. ◆

Literatur Die Autoren

König, K., Schmidt, M. and Müller, J. (2006) Delineating pat- Dr. Konstantin König, 36, ist wissenschaftlicher Mitarbei- terns of plant diversity in the Sahel zone of Burkina Faso: Modelling ter in der Abteilung Ökologie und Geobotanik am Institut of environmental envelopes with high resolution remote sensing data für Ökologie, Evolution und Diversität und am Institut für In Röder A. and Hill J. (Ed.) Proceedings of the fi rst Internati- Physische Geographie. Er ist Koordinator des Workpackage onal Conference on Remote Sensing and Geoinformation Pro- »Geografi sche Informationssysteme« innerhalb des For- cessing in the Assessment and Monitoring of Land Degradati- schungsprojekts »SUN« der Europäischen Union (EU). on and Desertifi cation (RGLDD-05) Trier, Germany: 317 – 323. Zurzeit ist er für die Erstellung eines Biodiversitätsatlas im Rahmen des BIOTA-West-Projektverbundes verantwortlich. König, K., Runge, J., Schmidt, M., Hahn-Hadjali, K., Agony- Der Schwerpunkt seiner Forschungen liegt auf der Analyse issa, D., Agbani, P. and Wieckhorst, A. (2008) The impact of von Biodiversitätsmustern mit Fernerkundungsdaten. land use on species distribution changes in North Benin In: Run- ge, J.: Dynamics of forest ecosystems in Central Africa during the Dr. Karen Hahn-Hadjali, 46, ist wissen schaftliche Mitarbeite- Holocene. Past – Present – Future Palaeoecology of Africa, 28: rin in der Abtei lung Ökologie und Geobotanik am Insti- 199 – 206. tut für Ökologie, Evolution und Diversität an der Universität Frankfurt. Seit 2001 koordiniert und leitet sie Teilprojekte König, K., Schmidt, M. and Müller, J. (in press) Modelling der Forschungsverbünde »BIOTA West« und des EU- species distributions with high resolution remote sensing data to de- Projekts »SUN«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im lineate patterns of plant diversity in the Sahel zone of Burkina Faso Bereich Geobotanik und Ökologie. ISPRS book series. Prof. Dr. Rüdiger Wittig, 62, ist Leiter der Abteilung für Öko- König K., Thiombiano A., Schmidt M. and Hahn-Hadjali K. logie und Geobotanik am Institut für Ökologie, Evolution (in prep) Predicting the distribution of tree species with remote sen- und Diversität. Seine Forschungsschwerpunkte sind die an- sing data in West African savannas. thropogenen Veränderungen von Vegetation und Biotopen, der Vegetation und Naturschutz im besiedelten Bereich und United Nations (2002) Johannesburg Summit 2002. Ver- der Flora und Vegetation der westafrikanischen Savannen. fügbar unter überprüft [email protected] Oktober 2008. [email protected] [email protected] Wittig, R., König, K., Schmidt, M. and Szarzynski, J. (2007) A study of climate change and anthropogenic impacts in West Af- Links: rica Environmental Science and Pollution Research 14 (3): www.biota-africa.de 182 – 189. www.sunproject.dk

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09 UNI S60_85 2008_03.indd 78 27.11.2008 16:30:45 Uhr Forschung aktuell Wenn es unter den Maaren brodelt Das Eifelvulkanfeld ist noch lebendig

ie Vulkane der Eifel sind weltweit bekannt und für DGeowissenschaftler von großer Bedeutung. Seit der Gründung des »Vulkaneifel European Geopark« sind die Vulkane nun auch zu einer Attraktion für Ur- lauber geworden. Besucher aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden bewundern in zunehmender Zahl die geologischen Schätze, die lange Zeit nur von der Baustoffi ndustrie genutzt wurden. Die Geowissen- schaften und die Faszination, die von der gewaltigen Kraft der Erde ausgeht, sind nun ein populäres Thema. Von den neuen Geo-Touristen als auch von den An- wohnern der Region kommen viele Fragen: Insbeson- dere wollen sie wissen, ob das Vulkanfeld ausgestorben ist oder sich nur in einer Ruhephase befi ndet. Und falls weitere Ausbrüche möglich wären, folgen eine gan- ze Reihe weiterer Fragen: Wo wird es losgehen? Wie wird eine Eruption aussehen? Wird sie groß oder klein sein? Ist das Katastrophen-Szenario in dem Buch »Die Flucht der Ameisen«/1/ realistisch? Die Eifel lässt sich in zwei kleinere Gebiete aufteilen: die Ost-Eifel rund um den Laacher See und die West- Eifel, die sich von der belgischen Grenze circa 50 Ki- lometer bis fast ins Moselletal im Südosten ausstreckt. Geowissenschaftler haben etwa 100 vulkanische Zent- ren in der Ost-Eifel und 250 Zentren in der West-Eifel identifi ziert./2/ 1 Die letzte vulkanische Aktivität in der Ost-Eifel war vor 12 900 Jahren. Damals gab es eine riesige Eruption, die den Laacher See gebildet hat. In der West-Eifel ist das Ulmener Maar, östlich von Gerol- 1 Die Maare in der Vulkaneifel sehen an der Oberfl äche ruhig aus. Hier die Dauner stein, mit zirka 11 000 Jahren sogar noch jünger. Diese Maare: Gemündener Maar im Vordergrund, Weinfelder Maar und Schalkenmehrener Maar. In der Tiefe ist die Temperatur erhöht, was zu Magmabildung und weiterem rezente (aktive) Phase von Vulkanismus fing bereits Vulkanismus führen könnte. Geophysikalische Beobachtungen lassen vermuten, dass vor etwa 700 000 Jahren an, und seitdem gab es ohne das Eifelvulkanfeld noch lebendig ist und sich gegenwärtig nur in einer Ruhephase Zweifel mehrere Ruhephasen von Tausenden von Jah- befi ndet. Doch bis zum nächsten Ausbruch könnten noch einige Tausend Jahre ins ren./2/ Aus geophysikalischen Untersuchungen wissen Land gehen. wir, dass die Temperatur in der Tiefe erhöht ist. Das könnte auch heute zu Magmabildung und weiterem tierenden Vulkanen können wir viel über das wahr- von Alan B. Vulkanismus führen./3/ Des Weiteren sprudeln aus der scheinliche Verhalten von zukünftigen Ausbrüchen ler- Woodland und Tiefe des Laacher Sees Gase, deren isotopische Zusam- nen. Manche Vulkanzentren weisen nur eine einzelne Cliff S. J. Shaw mensetzung ihren Ursprung aus dem Erdmantel belegt. kurzlebige Eruptionsphase auf. Andere haben mehrere Sie kommen also aus dem Quellgebiet für Magmen./4/ Eruptionsphasen und ein längeres Leben gehabt und Anhand dieser Beobachtungen ist zu vermuten, dass bilden sogenannte »Vulkankomplexe«. Ein Ziel unse- das Eifelvulkanfeld noch lebendig ist und sich heute rer Forschung in der Eifel ist es, die zeitliche Entwick- nur in einer Ruhephase befi ndet. Wie lange die Ruhe lung von Vulkankomplexen zu dokumentieren. Diese noch herrscht, ist eine Frage, die niemand genau be- Untersuchungen liefern uns wichtige Informationen antworten kann! über die Dynamik des Magma-Liefersystems in der Tie- fe. Der Rockeskyller Kopf, ein paar Kilometer nördlich Besuch aus den Tiefen des Erdmantels von Gerolstein, ist einer der größten Vulkankomple- Wie und wann ein Vulkan letztendlich ausbricht, xe in der West-Eifel und ist aufgrund der zahlreichen hängt von vielen Faktoren ab. Neben den physikali- Steinbrüche für unsere Forschung gut geeignet. schen und chemischen Eigenschaften eines Magmas Der Vulkankomplex Rockeskyller Kopf hat sich spielen äußere Faktoren wie das Vorhandensein von über drei Ausbruchsphasen gebildet. Die ersten vul- Wasser oder die Nähe zur Erdoberfl äche eine entschei- kanischen Ablagerungen sind Pyroklastika. Das sind dende Rolle. Es kann zum Beispiel ein Schlackenkegel Auswürfe des Vulkans bei einer explosiven Erupti- oder ein Maar entstehen [siehe »Maare und Schla- on. Sie sind reich an Nebengesteinsfragmenten un- ckenkegel«, Seite 81]. Das Liefersystem in der Tiefe ist terschiedlicher Größe und weisen auf eine Serie von ebenfalls von Bedeutung, weil es steuert, wie viel Mag- explosiven Eruptionen mit Maar-Charakter hin 2. In ma nach oben befördert wird und wie schnell dieser diesen Schichten findet man auch sogenannte »Oli- Prozess abläuft. Aus der Eruptionsgeschichte von exis- vinbomben«, die aus mehr als 30 Kilometern Tiefe aus

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in einer Glimmerprobe. Gröbere Kristallfragmente der gleichen Mineralien treten auch in bestimmten Abla- gerungsschichten auf. Bei einem ein Zentimeter großen Kristall dunklen Glimmers ergab sich ein Alter von circa 640 000 Jahren. Er ist damit deutlich älter als die feine- ren Glimmerkristalle aus der Lava. Offenbar gab es ein früheres Stadium von Magmabewegung unter dem Ro- ckeskyller Kopf, das in der Tiefe durch Kristallisation ste- cken geblieben ist. Erst etwa 160 000 Jahre später kam es zum vulkanischen Ausbruch auf die Erdoberfl äche.

Ausbrüche unterschiedlicher Stärke Die Dauer dieser ersten Ausbruchsphase lässt sich nicht genau bestimmen. Jedoch lassen sich mehrere Zeiträume nachweisen, in denen die vulkanische Ak- tivität zur Ruhe kam. In dieser Zeit wurden die Abla- gerungen teilweise abgetragen (erodiert). 4 Nach einer längeren Ruhephase entstand ein neues Ausbruchs- zentrum circa einen Kilometer südwestlich. Dies sig- nalisiert den Beginn einer zweiten Eruptionsphase. Die Ablagerungen dieser Phase bestehen vor allem aus Schlacke, die viel weniger Nebengesteinsfragmente ent- 2 Zeugen der dem Erdmantel kommen 3. Diese Fremdkörper oder hält, was für einen anderen Charakter des Ausbruchs ersten vulkani- Xenolithe hat das aufsteigende Magma von der Kanal- spricht. Im Gelände fi nden sich Hinweise auf weniger schen Aktivität im wand abgerissen und bis zur Oberfl äche mitgeschleppt. explosive Spalteruptionen und kleinere Lavabrunnen. Vulkankomplex Solche Vorkommen sind ein Beweis dafür, dass das Nach dieser Phase kam eine längere Unterbrechung, Ro cke skyller Kopf sind diese Schich- Magma auch vom Erdmantel stammt und durch par- während der auf den vulkanischen Ablagerungen ein ten von Pyroklasti- tielles Aufschmelzen von Mantelgesteinen entstanden Wald gewachsen ist. Die Nadelbäume in diesem Wald ka oder Tephra, die ist. Solche Funde sind auch ein Hinweis dafür, dass das haben einen Durchmesser von 25 bis 30 Zentimetern vor etwa 480 000 Magma direkt aus dem Mantel gekommen sein muss erreicht. 5 Die dritte und letzte Ausbruchphase er- Jahren aus dem und sich nicht lang in einer Kammer in der Erdkrus- eignete sich auf der Südseite des von Phase zwei ent- Erdinneren an die te aufgehalten haben kann. Denn Xenolithe lösen sich standenen Vulkans und vernichtete den Wald in der Oberfl äche ge- in weniger als ein paar Tagen im umgebenden Magma unmittelbaren Nähe. Diese neue Eruption führte zur schleudert wurden. auf, da zwischen beiden kein chemisches Gleichge- Bildung eines Schlackenkegels. 6 Diese Phase endete wicht besteht. Diese chemische Wechselwirkung un- damit, dass der Krater sich mit Schlacke und einem tersuchen wir im Millimetermaßstab im Labor, um die Lavastrom füllte, der zuvor im Krater gestaut und auf Kontaktzeit (und Abschätzung der Aufstiegsdauer des eine Mächtigkeit von 15 Metern angewachsen war. Magmas) eingrenzen zu können. Obwohl keine »Olivinbomben« in den Ablagerun- Auf dem Weg nach oben fängt das Mag- gen der zweiten und dritten Ausbruchsphasen ge- ma zu kristallisieren an. In den Ablagerun- funden wurden, kann man anhand der chemischen gen findet man Pyroxen-Kristalle (ein Zusammensetzung der Laven schließen, dass diese Kalzium-Eisen-Magnesium-Silikat) und Magmen auch aus dem Erdmantel stammen und mehr dunklen Glimmer (Biotit). Prof. Jens oder weniger schnell zur Oberfl äche befördert wurden. Hopp, ein Kollege von der Universität Das Fehlen von Xenolithen ist möglicherweise darauf Heidelberg, hat ein Kristallisationsalter zurückzuführen, dass die Wände der Förderkanäle in von etwa 480 000 Jahren bestimmt. der Tiefe bereits mit kristallisiertem Magma abgedeckt Zugrunde liegt die sorgfältige Analyse waren oder dass das Magma langsam genug aufstiegt, der Argon-Isotopenzusammensetzung um die Bruchstücke vollständig aufl ösen zu können.

3 »Olivinbomben« sind Gesteine, die vom auf- Ereignis 1-2 steigenden Magma von der Ereignis 1-3 Kanalwand abgerissen und aus mehr als 30 Kilometern Ereignis 1-3 Tiefe mitgeschleppt werden. Sie sind häufi g zu fi nden, wenn der Magmastrom sich mit großer Geschwindigkeit nach oben bewegt. In langsamen Magma- strömen lösen sich Gesteine des Erd- Ereignis 1-1 mantels auf.

4 Dort, wo früher Tuff und anders Bau- material abgebaut wurden, erforschen Ereignis 1-1 Mineralogen jetzt die Entstehungsge- schichte der Vulkaneifel. Eingezeichnet sind die Orte, an denen nacheinander Vulkanausbrüche stattfanden.

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Maare und Schlackenkegel

ie Wechselwirkung zwischen steigendem DMagma und dem Grundwasser kann zu gro- ßen Dampfexplosionen führen. Dabei zersplittert das Nebengestein, und Brocken unterschiedlicher Größe werden in die Luft geschleudert. Es bildet sich ein Maar; eine trichterförmige Struktur mit einer umgebenden Wand aus Auswurfprodukten, die als Pyroklastika oder Tephra bezeichnet wer- den. Die Lavamenge in solchen Ablagerungen ist sehr variabel. Häufi g entsteht ein runder See in der Mitte, der recht tief sein kann. 1 Ein Schlackenkegel entsteht durch das Aus- werfen von Magmafetzen, die in der Luft schnell abgekühlt werden. Die abgelagerten Lavapartikel unterschiedlicher Korngrößen bilden schichtweise eine kegelförmige Struktur. 6 Im Vergleich zu ei- nem Maar sind solche Ausbrüche weniger explo- siv, und die daraus resultierenden Ablagerungen enthalten in der Regel nur geringe Mengen an Nebengesteinsfragmenten.

Die vulkanischen Ablagerungen vom Rockeskyller 6 Schlackenkegel, wie hier am Rockeskyller Kopf, entstehen Kopf belegen eine lang währende Ausbruchgeschichte, durch das wiederholte Auswerfen von Magmafetzen mit teil- die sich über mehrere Jahrhunderte, wenn nicht Jahr- weise bizarren Formen, die sich schichtweise ablagern und tausende, hinzog. Die Anfangsphase war explosiv und eine kegelförmige Struktur bilden. Im Vergleich zu einem Maar sind solche Ausbrüche weniger explosiv. meist zerstörerisch. Dies ist auf die Wechselwirkung mit dem Grundwasser in der Nähe der Erdoberfl äche Die Autoren Literatur zurückzuführen. Die späteren Ausbruchsphasen waren /1/ im Allgemeinen ruhiger und wahrscheinlich nur von Prof. Dr. B. Alan Woodland, 49, studierte Geowissenschaften Schreiber, U. C. (2006) Die Flucht lokaler Bedeutung. Wenn die Aktivität in der Vulkan- an der University of Illinois und der University of Oregon in den USA. 1989 promovierte er in den Geowissenschaften der Ameisen Shayol, eifel weiter anhält, wird dies einen starken Einfluss an der Northwestern University, Evanston, Illinois. Nach Berlin. Seite 360f. auf die Region haben, auch auf den Geo-Tourismus! zwei kürzeren Forschungsaufenthalten in Clermont-Ferrand, Berücksichtigt man die Altersverteilung der Vulkane, Frankreich, kam er als Alexander-von-Humboldt-Stipendiat /2/ Schmincke, wird der nächste Ausbruch wahrscheinlich irgendwo nach Deutschland an das Bayerische Geoinstitut in Bay- H.-U. (2004) in der Südost-Hälfte des Vulkanfelds stattfi nden. Aber reuth. Er war wissenschaftlicher Angestellter am Mineralogi- Volcanism Sprin- es kann noch mehrere Tausend Jahre dauern, bis wir schen Institut der Universität Heidelberg, wo er sich 1997 ger-Verlag, Heidel- berg. Seite 324 f. so weit sind. ◆ habilitierte. Nach einem Jahr als Assistant Professor für Mineralogie an der University of Alberta, Kanada, erhielte er einen Ruf nach Frankfurt. Seit Herbst 2001 ist er Professor /3/ Ritter, J. R. R. für physikalisch-chemische Mineralogie am Institut für Geo- (2007) The seismic 5 Nach der zweiten Ausbruchsphase kamen die Vulkane für wissenschaften. signature of the längere Zeit zur Ruhe. Das lässt sich aus diesen Funden von Seine Forschungsschwerpunkte sind: kristallchemische Eifel plume In: Ashfl owtuff mit Abdrücken von Baumästen schließen. Offen- Eigenschaften von eisenhaltigen Mineralien bei sehr hohen Ritter, J. R. R. und bar wuchs auf den vulkanischen Ablagerungen ein Nadelwald, Drücken und Temperaturen, chemische und physikalische Christensen, U. R. dessen Stämme einen Durchmesser von 25 bis 30 Zentime- Vorgänge in der tiefen Erde und die Entstehung von Mag- (Eds.) Mantle Plu- tern erreichten. men, die Untersuchung magmatischer Systeme und Vulka- mes – A Multidisci- nologie. plinary Approach Springer-Verlag, Prof. Dr. Cliff S. J. Shaw, 41, studierte Geowissenschaften Berlin, Seite 501f. an der University of London. Nach seiner Promotion in den Geowissenschaften an der University of Western Ontario, /4/ Aeschbach- Kanada, 1994, war er fünf Jahre lang in Deutschland Hertig, A., Kipfer, als Postdoktorand am Bayerischen Geoinstitut, Bayreuth, R., Hofer, M., und an der Universität Göttingen. 2002 kehrte er zurück Imboden, D. M., nach Kanada. Er folgte einem Ruf auf eine Professur für Wieler, R., Si- Petrologie am Department of Geology, University of New gner, P. (1996) Brunswick. Zurzeit ist er DFG-Mercator-Gastprofessor am Quantifi cati on of gas Institut für Geowissenschaften der Goethe-Universität. Sei- fl uxes from the sub- ne Forschungsschwerpunkte sind: Wechselwirkungen zwi- continental mantle: schen Mineralen und Magmen sowohl in der Natur als auch The example of im Experiment, die Dynamik von magmatischen Systemen Laacher See, a maar sowie die Petrologie des Erdmantels. lake in Germany Geochimica Cos- [email protected] mochimica Acta, http://www.geopark-vulkaneifel.de/ngpve/index.php 60, Seite 31 – 41.

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09 UNI S60_85 2008_03.indd 81 27.11.2008 16:30:48 Uhr Forschung aktuell Böden als Archive Methoden aus der Bodenkunde bereichern die Archäologie

1 Das Wissen des Bodenkundlers ist auf archäologischen Gra- bungsstätten zunehmend gefragt. Hier hilft der Autor Archäolo- gen dabei, die Funktionen unterschiedlicher Bereiche in der Siedlung »Tell Chuera« in Nordostsyrien aufgrund der Spuren zu ermitteln, die ihre damaligen Bewohner im Boden hinterließen.

und darin ablaufende Prozesse zu den archäologischen Befunden in Beziehung. Als Archäopedologie (von Griechisch πέδν: Boden) bezeichnet man, in Anlehnung an vergleichbare Teil- disziplinen aus anderen Fachgebieten (zum Beispiel Ar- chäozoologie, Archäobotanik), diejenige Teildisziplin, die sich speziellen bodenkundlichen Fragestellungen widmet. Gegenstand der Archäopedologie sind »alte Böden«. Das sind zum einen durch natürliche Prozes- se gebildete Paläoböden und zum anderen Böden, die durch menschliche Aktivitäten entstanden sind oder verändert wurden. Für Archäologen und Bodenkund- ler ist es gleichermaßen interessant zu erfahren, wie Menschen vergangener Zeiten auf die Böden einge- wirkt haben, ob dadurch neue Schichten entstanden sind und welche Bedingungen für die Bodenentwick- lung darin herrschten. Nicht zuletzt ist die oftmals gute Datierbarkeit von Eingriffen und Prozessen sowohl im archäologischen als auch im geowissenschaftlichen Kontext interessant.

Was kann die Archäopedologie für die Archäologie leisten? Über längere Zeiträume andauernde Verwitterung, vor allem unter dem Einfl uss der vorherrschenden kli- matischen Bedingungen, lassen Böden mit typischen Merkmalen (Bodenhorizonten) entstehen, und zwar in natürlichen wie auch in anthropogenen Substraten [siehe »Was der Boden über seine Geschichte verrät«, Seite 83]. Böden sind somit stets zuständebewahrende Teilbereiche im Ökosystem und durch vergleichsweise stabile Umweltverhältnisse geprägt. Auf der anderen Seite kann aus dem Fehlen von Böden auf Verhält- nisse geschlossen werden, die entweder eine Bildung von Böden unmöglich machten, zum Beispiel ständige Verspülung oder Verwehung auf der alten Oberfl äche, oder auf spätere Erosion. Anthropogene Eingriffe in von Heinrich o der Laie nur Lehm und Gesteinsbrocken sieht, natürliche Bodenprofi le aus allen holozänen Kulture- Thiemeyer Werkennt das geübte Auge des Bodenkundlers pochen der letzten 10 000 Jahre sind noch heute zu schnell unterschiedliche Phasen der Bodenbildung erkennen. Manchmal sind die menschlichen Spuren und deren äußere Umstände. An archäologischen durch nachfolgende Prozesse der Bodenentstehung er- Fund stätten ist dieses Wissen zunehmend gefragt – neut mehr oder weniger verwischt worden. Aber auch vor allem, wenn es darum geht, im Boden die Spu- in diesen Fällen lassen sich anhand der zeitlichen Ab- ren menschlicher Aktivitäten aufzuspüren: Holzkohle- folge und der Art und Intensität nachfolgender oder partikel verweisen auf Kochstellen oder Werkstätten, wieder einsetzender Bodenbildung wichtige Aussagen erhöhte Phosphat- und Nitratgehalte lassen auf einen über menschliche Eingriffe und veränderte Rahmenbe- Stall oder ein Abfalldepot schließen. Die Geoarchäo- dingungen ableiten. Insbesondere die bodenbildenden logie bedient sich seit einigen Jahren einer Vielzahl Faktoren Klima und Zeit erlauben uns bei optimalen naturwissenschaftlicher Methoden, vorwiegend aus Konstellationen differenzierte Aussagen über den Ver- den Geowissenschaften. Zumeist handelt es sich um lauf der Bodenbildung. geophysikalische, sedimentologische und geomorpho- Zu den ältesten bäuerlichen Kulturen der Jungstein- logische Methoden. Sie setzen die natürliche Umwelt zeit, die den Übergang von Sammlern und Jägern zur

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bäuerlichen Lebensweise markieren, gehört die Band- keramische Kultur – so benannt nach der charakteristi- Was der Boden über seine schen Verzierung der keramischen Gefäße. Am Beispiel Geschichte verrät des Siedlungsplatzes Bruchenbrücken in der Wetter- au konnten wir zeigen, dass die ersten Ackerbauern öden bestehen aus einem anorganischen Mix in Deutschland gezielt die besten Böden – Schwarz- Baus Gesteinspartikeln und Mineralen sowie erden – aufsuchten und bewirtschafteten. Sowohl in organischem Material (Humus), das von zersetz- Aufgrabungen als auch in Bodendünnschliffen [siehe ten Pfl anzen stammt. Sie enthalten auch Wasser »Böden unter dem Mikroskop«] war zu erkennen, dass und Luft, die für Verwitterung und Stoffumsätze der Wandel der Bodenlandschaft erst nach Verlassen notwendig sind. Unter dem »Humus« an der Erd- der Siedlung vonstattenging und die Böden sich zu den oberfl äche zeigen Böden unterschiedliche »Bo- heute verbreiteten Parabraunerden weiterentwickel- denhorizonte«. Der Bodenkundler kann daraus ten. die Entstehungsbedingungen der verschiedenen Bodenuntersuchungen können den Archäologen Bodenprofi le rekonstruieren. Ebenso wichtig ist somit darüber Auskunft geben, unter welchen Bedin- die Kenntnis der Substrate (der »Ausgangsgestei- gungen sich Böden bilden, welche Veränderungen es ne«), aus denen die Böden entstanden sind. Die gab, und in vielen Fällen auch etwas über menschli- benötigte Bildungszeit ist indessen sehr unter- che Aktivitäten und Eingriffe vermitteln. Böden auf schiedlich. Sie kann in den Tropen Jahrmillionen archäologischen Fundorten enthalten oft Reste von betragen, umfasst in unseren Breiten dagegen nur kultivierten Pfl anzen und Artefakte wie Tonscherben, die Nacheiszeit, etwa 12 000 Jahre. In jungholozä- Werkzeuge, Waffen oder Schmuck. Die Böden tragen nen Sedimenten, die in der jüngsten Epoche der die Spuren von Feuer und anderen menschlichen Ak- Erdgeschichte entstanden, haben sich nur Initial- tivitäten des täglichen Lebens wie Kochen oder Abfall- stadien der Bodenbildung entwickelt. Gleiches gilt beseitigung. für junge Oberfl ächen (Aufschüttungen, Straßen- In der Archäopedologie werden Böden auf verschie- böschungen) und künstliche Substrate (Bauschutt, dene Weise analysiert. Farb- und Texturunterschiede Deponieablagerungen). können makroskopisch beziehungsweise qualitativ im Feld bestimmt werden. Hier geht es hauptsächlich um die Einbettung des Fundortes in die umgebende Auch die mikroskopische Dimension spielt in der Landschaft, die Abfolge der Gesteinsschichten und Archäopedologie eine Rolle. Dazu müssen Boden- deren Beschaffenheit. Zur exakten Analyse bedarf es dünnschliffe hergestellt werden. In diesen lassen sich indessen der Laboruntersuchungen. Durch mensch- Partikel erkennen, die etwas über die ursprüngliche liche Aktivitäten kann sich die Bodenchemie verän- Funktion archäologischer Strukturen und Hinterlassen- dern, etwa durch die Anreicherung von Nährstoffen. schaften verraten. Beispielsweise deuten kleinste Holz- Dort, wo Menschen gekocht oder Tiere gehalten haben kohlepartikel auf Feuer hin. Viele Pfl anzen enthalten (Dung), fi ndet man verstärkt Phosphor und Stickstoff auch mikroskopisch kleine, feste Körner (Phytolithe im Boden. Durch geeignete Rasterbeprobung inner- oder Pfl anzenopale), die für die jeweilige Pfl anzensorte halb und außerhalb der archäologischen Fundstätte charakteristisch sind und über Jahrtausende im Boden können so räumliche Muster chemischer Konzentra- erhalten bleiben. Entwickelt wurde die mikromorpho- tionen aufgespürt werden, die anzeigen, wo die ehe- logische Methodik ursprünglich von Walter Kubiëna in maligen Bewohner ihren Abfall entsorgten, ob sie den der Bodenkunde. Sie wird zunehmend auch in der Ar- Boden durch Dünger verbesserten und wo sie ihre Tie- chäologie genutzt – wobei die Archäologen außerhalb re hielten. Deutschlands uns hier voraus sind. Deshalb ist es wich- tig, die mikromorphologische Analyse archäologischer Kulturschichten auch hierzulande im Methodenkanon archäologischer Analytik zu etablieren. Böden unter dem Mikroskop Was passierte in Grubenhäusern ine weitere Dimension bei der Untersuchung und auf Siedlungshügeln? Evon Böden erschließt sich, wenn man ein Aktuell geht die mikroskopische Dimension von Lichtmikroskop zu Hilfe nimmt. Dazu müssen archäologischen Befunden in zwei Dissertationen ein, Bodenproben durchsichtig gemacht werden: Das die bodenbildenden Prozessen und Böden besonde- fragile Bodenmaterial wird in Kunstharz gegossen re Beachtung schenken. Schwerpunkt der Arbeit von und nach mehrwöchigem Aushärten zu einem Oliver Wegener sind Grubenhäuser aus verschiedenen 30 Mikrometer dünnen Präparat geschliffen. Jetzt Epochen. Als Grubenhäuser bezeichnen Archäologen kann das Licht Minerale und Strukturen der Bo- Hausfunde aus der Bronzezeit bis zum Mittelalter, bei denprobe durchdringen. In solchen sogenannten denen außer den Pfostenlöchern für die Giebelpfosten Bodendünnschliffen lassen sich Merkmale fest- auch eine Ausschachtung des Innenraumes nachweis- stellen, die sich dem bloßen Auge im Gelände bar ist. Ob es sich dabei um ein einfaches Gebäude nicht zu erkennen geben: mikroskopisch kleine ohne Seitenwände, eine primitive Erdhütte oder ein Partikel fremder Herkunft, Veränderungen der unterkellertes Haus gehandelt hat, verraten oft erst Bodenstruktur, zum Beispiel durch Begehen, oder mikromorphologische Funktionsbeschreibungen des Spuren vergangener Prozesse auf alten Gelän- Bodens. Bei Grubenhäusern sind die Voraussetzungen deoberfl ächen. dafür besonders günstig, weil die alten Laufhorizonte, das heißt die in die Böden eingegrabenen Niveaus, auf

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Abrieb an den Wänden auf den Boden gekommen sein dürften. 4 Es darf daher angenommen werden, dass das Grubenhaus hauptsächlich als Stall für Rinder ge- nutzt wurde. In der zweiten Dissertation sollen mikromorpholo- gische Untersuchungstechniken an Kulturschichten, Böden und Sedimenten in der Siedlung »Tell Chuera« (Nordostsyrien) erweiterte Einblicke in das Leben der damaligen Bewohner geben. Von Interesse sind insbe- sondere die unterschiedlichen Funktionen verschiede- ner Bereiche (offene Flächen, Räume, »Werkstätten«) innerhalb des Tells und seiner Umgebung. 5 Weiter- hin sollen pedologisch-stratigrafi sche Befunde erarbei- tet und zu den bereits vorhandenen naturräumlichen Kenntnissen in Beziehung gesetzt werden beziehungs- weise diese ergänzen. Für die Bodenkunde bietet sich darüber hinaus die Gelegenheit, Prozesse der Bodenbil- 2 Der dunkle denen die damaligen Bewohner liefen, vorzugsweise dung wie die Stoffneubildung, Umwandlung und Verla- Laufhorizont an der Basis des mit Sedimenten überdeckt sind. Da sie auch in der Fol- gerung unter Berücksichtigung der wirksamen Pedofak- Wandprofi ls von gezeit (bis heute) nicht vom Pfl ug oder durch Erosion toren zu erfassen. Dabei ist der Zeitrahmen durch den Befund 1365 wird in Mitleidenschaft gezogen worden sind, haben sich archäologischen Kontext bestimmt. Auf dem Tell ent- nach Westen hin die Spuren der ehemaligen Bewohner zum großen Teil mächtiger. erhalten – zumal die Häuser nicht unbedingt »besen- 3 Dünnschliff rein« verlassen wurden. des Laufhorizonts In einem Haus, das im Zuge des Baus der B 6 n bei aus Befund 1365 Quedlinburg ausgegraben wurde 2, 3, könnte man (Probe vor der Westwand des zum Beispiel bei makroskopischer Betrachtung des Grubenhauses Laufhorizontes vermuten, dass die dunkle Färbung entnommen). dieser Schicht auf Holzkohlepartikel zurückzuführen Unten der durch ist. Das Gebäude hätte eventuell für handwerkliche Begehung verdich- Arbeiten genutzt worden und abgebrannt sein kön- tete Löss. Darüber nen. Tatsächlich zeigte sich aber bei der Untersuchung der dunkle, stra- der Dünnschliffe, dass kaum Holzkohlen vorhanden tifi zierte Laufho- rizont. sind, sondern dass Dung und Pfl anzenreste im Lauf- horizont dominieren. Außerdem ist im Zentrum des Grubenhauses vermutlich von außen eingetragenes Material eingemischt. Das geringe Porenvolumen des Lösses direkt unter dem Laufhorizont zeigt eine Ver- dichtung des Bodens durch Begehung an. Die Rand- bereiche des Grubenhauses sind dagegen nicht so stark verdichtet. Auch die oberen Schichten des Laufhori- zontes sind dort lockerer gelagert als im Zentrum des Gebäudes. Zwischen den Dung- und Pfl anzenrestlagen sind stellenweise Lehmpartikel zu fi nden, die durch

wickelten sich nach Verlassen der Siedlung sogenannte Kastanozeme (graue Steppenböden), in denen sich Hu- mus anreicherte. Dessen Einarbeitung erfolgt durch ein reges Bodenleben. Außerdem sind die Böden durch die Ausbildung einer Zone mit Karbonatkonkretionen ge- kennzeichnet. 6 Die inzwischen etwa 5000 Jahre alten Böden belegen, dass die Richtung der Bodenentwick- lung sich im Vergleich zum Zeitraum vor der Entste- hung des Tells nicht wesentlich geändert hat. Die Beispiele zeigen, dass die mikromorphologische Methodik auch in der Archäologie, speziell zur Klärung sedimentologischer Fragen und zur Beurteilung ver- gangener Umweltbedingungen, gewinnbringend ein- gesetzt werden kann. Um die Goethe-Universität auf diesem Gebiet enger an die internationale Forscher-

4 Der Laufhorizont besteht zu einem großen Teil aus Rinder- dung. Es sind unter anderem Pfl anzenreste, Phytolithe und Spherulite (runde Objekte) zu erkennen (Aufnahme mit linear polarisiertem Licht (PPL); Bildbreite: 0,66 mm).

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Schwemm- sediment

Asche, Holzkohle

dichter Lehm mit Pseudo- morphosen

Phytolithe, fäkale Sphärulite

6 Bildung von Bodenhorizonten an der stabilen Oberfl äche des Tells (gepunktet: 5 Tell Chuera, Syrien; Fußböden in einem Haus; Bodendünn- ehemaliger Laufhorizont (Hoffl äche) und Feuerstelle (Tannur); durchgezogene Lini- schliff. en: Untergrenze der Bodenbildung)

gemeinschaft zu binden, hat die Arbeitsgemeinschaft Diskussionen, die an den mitgebrachten Dünnschlif- Bodenkunde im April 2008 den »International Work- fen unter den Mikroskopen vor Ort geführt werden. shop on Archaeological Soil Micromorphology« aus- Die Präsentationen mit vielen Beispielen dieser weit- gerichtet – die Schnittstelle für Archäologen und Geo- hin noch unbekannten, gleichwohl aufschlussreichen wissenschaftler auf dem Gebiet der Mikromorphologie. Mikrowelt werden demnächst in der Reihe der Frank- Besonders hervorzuheben sind die interdisziplinären furter Geowissenschaftlichen Arbeiten erscheinen. ◆

Literatur Der Autor

Goldberg, P., Frankfurt am Main Sammelband Prof. Dr. Heinrich Thiemeyer, 53, studierte Geografi e, Geolo gie Macphail, R. Sammelband (Frankfurt am und Bodenkunde an der Goethe-Universität Frankfurt und (2006) Practical (Frankfurt am Main). promovierte 1988 in Physischer Geographie. Er war wis sen- and theoretical Main). schaftlicher Angestellter und Laborleiter am Institut für Phy- geoarchaeology Thiemeyer, H. sische Geographie. Die Mitarbeit im Sonderforschungsbereich 454 S.; Oxford Fritzsch, D., Thie- (Hg.)(2008) Ar- »Westafrikanische Savanne« führte ihn viele Male nach Nige- (Blackwell). meyer, H. (im chaeological Soil ria. Daraus entstand eine Habilitationsarbeit, die er nach sei- Druck) Archäope- Micromorphology. nem Wechsel 1994 an die Friedrich- Schiller-Universität Jena Wegener, O. (im dologische und mi- Contributions to 1996 abschloss. 1997 kehrte er als Professor für Bodenkun- Druck) Mikromor- kromorphologische the Archaeological de an das Institut für Physische Geographie der Goethe-Uni- phologische Unter- Untersuchungen in Soil Micromor- versität zurück. Seine Arbeitsgebiete sind: Erforschung der suchungen an Gru- Tell Chuera, NO- phology Working Landschaftsgenese, insbesondere geomorphologische und bo- benhäusern in der Syrien In: Meyer, Group Meeting 3rd denkundliche Grundlagen im archäologischen Kontext. Hierzu Wüstung Marsleben J.-W. (Ed.) Das to 5th April 2008. - gibt es vielfältige Kontakte, unter anderem mit dem Deutschen In: Meyer, J.-W. Graduiertenkolleg Frankfurter Geo- Archäologischen Institut, der Römisch-Germanischen Kom- (Ed.) Das Gradu- Archäologische wissenschaftliche mission, dem Landesdenkmalamt Wiesbaden und den archä o - iertenkolleg Archäo- Analytik der Arbeiten, Serie logischen Wissenschaften der Goethe-Universität. Daneben logische Analytik DFG an der Jo- D, Band 30: ca stehen bodengenetische Forschungsfragen im Vordergrund, in der DFG an der hann Wolfgang 170 S.; deren Rahmen ebenfalls mikro morphologische Methoden ge- Johann Wolfgang Goethe-Universität nutzt werden. Die Arbeit an interdisziplinären Fragen ist für Goethe-Universität Frankfurt am Main ihn stets von besonderem Interesse.

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»Vielleicht muss der Leidensdruck noch steigen« Die Prognosen von Klimamodellen sind unsicher, aber auch im günstigsten Fall ist es höchste Zeit zu handeln

halten und weitgehend eisfreien Polen. Wenn man die Erdgeschich- te anschaut, stellt man fest, dass derartige Treibhausphasen eher der Normalzustand sind. Dass, wie heute, beide Pole vereist sind, ist eher eine Ausnahmesituation in der Erdgeschichte. Gerade in der Niederrheinischen Bucht können wir sehr gut untersuchen, wie der Klimawandel von einer extremen Warmphase zu einer Phase mit ver- eisten Polen, wie wir sie heute ha- ben, typischerweise vor sich geht.

? Welche Methoden gibt es, das Klima früherer Zeiten zu rekonstru- ieren?

Mosbrugger: Es gibt zwei große Gruppen von Methoden, die einen sind geochemisch orientiert. Dabei Der Paläontologe ? Folgt man dem vierten Be- situation zwischen natürlichen und nutzen Sie chemische Prozesse, und Senckenberg- richt des IPCC, des zwischenstaatli- anthropogenen Faktoren verlagert. auch Isotopenfraktionierungen, Direktor Prof. Dr. chen Klimabeirats der Vereinten Das Problem ist, dabei die richtige um das Klima zu rekonstruieren; Volker Mosbrugger Nationen, dann geht man seit 2007 Gewichtung zu fi nden. das andere Set von Methoden be- und der Meteorologe Prof. Dr. Christian mit einer 90-prozentigen Wahr- ruht auf Fossilien, also auf Orga- D. Schön wiese im scheinlichkeit davon aus, dass der ? Herr Mosbrugger, Sie haben nismen. Organismen sind sehr gute Gespräch mit Mensch zur globalen Klimaerwär- sich mehr mit den natürlichen Kli- Klima-Indikatoren, weil sie i mmer Dr. Anne Hardy mung beigetragen hat. Wenn Sie maänderungen im Laufe der Erd- bestimmte Anpassungen an die auf Ihre wissenschaftliche Lauf- geschichte beschäftigt. Was war für Klimasituation zeigen, in der sie bahn zurückblicken, wann kam die- Sie als Paläontologe der Auslöser? evolutionär entstanden sind. Diese ser Verdacht zum ersten Mal auf? Anpassungen können Sie nutzen, »Dass die Pole vereist sind, ist um das damals herrschende Klima Schönwiese: Als ich 1968 in eher eine Ausnahmesituation« zu rekonstruieren. München meine Diplomprüfung in Meteorologie machte, war eines Mosbrugger: Für mich war das ? Herr Schönwiese, inwieweit der Hauptthemen der Klimawan- Thema erst so richtig während greifen Sie auf vergangene Klima- del. Mein damaliger Prüfer, Herr meiner Assistenzzeit in Bonn prä- daten zurück, um aktuelle Klima- Prof. Fritz Möller, beschäftigte sich sent. Mitte der 80er Jahre hatten modelle zu überprüfen? nämlich mit den dafür verantwort- wir die Möglichkeit, in den Tage- lichen Strahlungsvorgängen in der bauen der Rheinbraun AG zu ar- Schönwiese: Das kommt auf die Atmosphäre. In der Wissenschaft beiten. Das ist ein wunderbares Klimaprozesse an, die wir model- ist das Thema somit schon lange Klimaarchiv, mit dem man die Kli- lieren. Es gibt Modelle, die das präsent. Der schwedische Physiko- mageschichte der letzten 30 bis Kommen und Gehen der Eiszeiten chemiker Svante Arrhenius hat be- 40 Millionen Jahre rekonstruieren simulieren, aber auch solche, die reits 1896 Berechnungen ange- konnte. Für mich war das der Ein- versuchen, die Schwankungen der stellt, was die Kohlenutzung und stieg, Methoden zu entwickeln, letzten 100 Jahre nachzuvollziehen. daher der Ausstoß von Kohlendi- wie man »fossiles Klima« bestim- Etwa seit 1850 haben wir direkte oxyd für das Klima bedeutetn. Im men kann. Mich interessierten vor Messungen weltweit in relativ gu- Laufe der Zeit hat sich die Aufmerk- allem die früheren Treibhaus-Zei- ter Qualität. Modelle, die Klima- samkeit dann auf die Konkurrenz- ten mit hohen Kohlendioxid-Ge- schwankungen für die letzten 100

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Jahre zu rekonstruieren versu- mamodelle mit typischen Treib- Jahren schon stolz darauf, außer chen, nutzen diese Beobachtungs- hausphasen der Erdgeschichte der Atmosphäre auch deren An- daten. Bei Modellrechnungen, die überfordert sind. Vor 40 Millionen kopplung an den Ozean modellie- nur das gegenwärtige Klima wie- Jahren war das Eis auf der Erde ren zu können. Dann gelang es, die dergeben, spricht man von einem weitgehend abgetaut, aber das Effekte der Eisgebiete zu berück- Kontrollexperiment. Damit meinen kommt bei den Modellrechnungen sichtigen, später auch der Boden- wir die willkürlich festgesetzte nicht heraus. Das zeigt, dass heu- oberfl äche. Das Schwierigste ist Zeitspanne von 1961 bis 1990. tige Klimamodelle zwar die Jetzt- tatsächlich die Vegetation. Inzwi- Wesentlich schwieriger ist der situation und auch deren Varia- schen versucht man, zunächst die Blick in die Zukunft, denn einige tionen gut abbilden, nicht aber Prozesse, wie den Vulkanismus, Zustände, die völlig anders sind. der einen beträchtlichen Einfl uss Auch aus diesem Grunde sind auf das Klima hat, kann man nicht Prognosen für die fernere Zukunft, vorhersagen. Deshalb lässt man also die Jahre 2200 oder 2300, diese Prozesse weg und schaut sich sehr schwierig. vor allem den Klimafaktor Mensch an. Aber auch da wissen wir nicht, ? Liegt es auch daran, dass die wie er sich künftig verhalten wird. derzeitigen Klimamodelle vor al- Deshalb stellen wir sogenannte lem die unbelebte Natur berück- Szenarien auf. Deren Aussagen be- sichtigen? Wären die Aussagen zu- ruhen aber auf bestimmten An- verlässiger, wenn man auch das nahmen, etwa, dass der Mensch Zusammenspiel dieser Faktoren

den CO2-Ausstoß in einem be- mit der Vegetation und der Tier- stimmten Maße erhöht. Anhand welt berücksichtigen würde? der Modellrechnungen sehen wir dann, wie das Klima vermutlich Mosbrugger: Das ist ein wichtiger reagieren wird. Grob kann man sa- Punkt. Man hat in der Klimamo- Klimaänderungen zu simulieren gen, dass die Erwärmung in den dellierung damit angefangen, zu- und dann mit einem separaten so- letzten 100 Jahren im globalen nächst die Physik und die Chemie genannten Wirkungsmodell die Mittel 0,7 Grad Celsius betrug. Und der Atmosphäre als Prozesse zu Auswirkungen auf die Vegetation. es wird aller Voraussicht nach ver- modellieren. Jetzt versucht man, Will man aber Rückkopplungen, stärkt so weitergehen, wenn der das gesamte Prozessgefüge ein- die ja immer da sind, in das ganze Mensch sich ähnlich verhält wie schließlich der Ozeane, des Eises, Geschehen miteinbeziehen, muss bisher. des Bodens und der Biosphäre zu man die derzeitigen Modelle dras- erfassen, wobei die Biosphäre am tisch vereinfachen. schwierigsten abzubilden ist. Hier Inwieweit man sich auf Details bemüht man sich insbesondere zu einlässt, ist auch eine Frage der Re- verstehen, welchen Einfl uss die chenzeit. Die derzeit aufwendigs- Vegetation, die Photosynthese der ten Modelle für die letzten 100 Jah- Pfl anzen und der Wasserkreislauf re erfordern Rechenzeiten in der auf das Klimageschehen haben. Größenordung von einigen Mona- Ganz wesentliche Schwächen ten, und das bei erheblicher Verein- haben die Modelle aber auch bei fachung des Einfl usses der Wolken, der Abbildung des Wasserkreis- des Erdbodens und der Eisbede- laufs, der Bodenprozesse und der ckung. Beim Meereis gibt es zum Wolkenbildung. Wir wissen nicht Beispiel offene Stellen, die man zuverlässig, wie viel Wasser im Bo- mit den Modellen ganz schlecht den gespeichert wird oder wie viel handhaben kann, die aber energe-

Methan und CO2 die Böden abge- tisch sehr wichtig sind. Es ist also ben. Auch sind diese Faktoren un- ein Riesenaufwand, und trotzdem »Die jetzigen Klimamodelle tereinander gekoppelt: So wirken haben wir diese Schwachstellen. können typische Treibhaus- sich Änderungen der Vegetation phasen der Erdgeschichte sehr stark auf die Strahlungsbilanz »Ich fürchte, man wird die nicht abbilden« und den Wasserhaushalt aus. Vegetation in Klimamodellen nie gescheit berücksichtigen Mosbrugger: Interessanterweise »Es ist ein Riesenaufwand, können« kann an dieser Stelle gerade die und trotzdem haben wir diese erdgeschichtliche Vergangenheit Schwachstellen« Zu berücksichtigen ist auch die helfen. Wir können Modelle, mit regionale Aufl ösung der globalen denen wir in die Zukunft schauen Schönwiese: Dazu muss man sa- Modelle. Inzwischen rechnen wir wollen, auch dazu nutzen, die Ver- gen, dass das Klima eine hoch mit Gittern, deren Maschen 100 gangenheit abzubilden. Wir nen- komplizierte zeitliche Struktur hat. Kilometer weit sind. Vor einigen nen dies das Validieren der Model- Um diese nachzuvollziehen, muss Jahren waren es noch 200 bis 300 le. Und dabei stellen wir zum man viel Aufwand betreiben. Die Kilometer. Dennoch: Eine Gewit- Beispiel fest, dass die jetzigen Kli- Klimatologen waren vor 10 bis 20 terwolke hat eine viel geringere

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Ausdehnung, deswegen müssen mit einer gewissen Unschärfe in wir, wie der Fachmann sagt, para- Zukunft noch einmal der gleiche metrisieren. Man versucht also Wert hinzukommt. Deswegen wird kleinräumige Prozesse durch groß- aktuell so viel von Anpassung ge- räumige Phänomene zu ersetzen sprochen. Denn die Klimaentwick- und das funktioniert meist schlecht. lung der nächsten Jahrzehnte ist Bei der Vegetation ist es das Glei- schon angelegt und das, was wir che, sie ist äußerst heterogen. Ich heute tun, wird sich ebenfalls erst fürchte sogar, man wird das in den in einigen Jahrzehnten auswir- Modellen nie gescheit berücksichti- ken. gen können. Es wird immer bei ge- Viel wichtiger als die Tempera- wissen Näherungen bleiben. Des- tur sind in ihren Auswirkungen halb spricht der Klimatologe auch aber die Niederschlagsumvertei- nicht von einer Klimavorhersage, lungen und Extremereignisse wie sondern von szenariengestützten beispielsweise Stürme. Auch der »Studien zufolge können auf- bedingten Projektionen. Das heißt, Meeresspiegelanstieg gehört zu den grund des Klimawandels 20 wenn ich bestimmte Dinge weglas- Auswirkungen der Erderwärmung. bis 40 Prozent der Arten des se und andere vereinfache, zusätz- Er ist in den letzten 100 Jahren um Festlandes aussterben« lich noch einige Annahmen ma- 17 Zentimeter im globalen Mittel che, dann erwarte ich im Modell angestiegen. Aber auch da haben Mosbrugger: Die Anpassung von eine bestimmte Entwicklung. wir regionale Unterschiede. Es gibt Organismen läuft auf unterschied- nämlich immer noch Landhebungs- lichen Ebenen ab. In der Evolution ? Sogar wenn es uns ab sofort und Landabsinkprozesse. Skandi- sehen wir einerseits langfristige,

gelingen würde, die CO2- und die navien war beispielsweise in der über Jahrtausende und Jahrmillio- Spurengasemissionen weltweit letzten Eiszeit, bis vor etwa 10 000 nen erfolgende Anpassungen. Die- konstant zu halten, ließen sich be- Jahren, mit Eis bedeckt, und die ser Prozess kommt aber hier nicht stimmte Folgen der bereits einge- Entlastung von Eis führt dazu, dass infrage, da wir die Zeit dafür gar die Landmasse sich hebt. Als Folge nicht haben. Wir werden daher se- senkt sich der Meeresspiegel. Die- hen, dass als Folge des Klimawan- ser Effekt ist dort sogar größer als dels viele Organismen aussterben der im globalen Mittel festgestellte werden. Das ist auch etwas, das Meeresspiegelanstieg. Andererseits wir aus der Erdgeschichte lernen: ist beim Meeresspiegelanstieg die Umwelt- und Klimawandel sind Trägheit der Reaktion vermutlich immer auch mit Aussterben gekop- extrem. Es gibt Modellrechnungen, pelt. Es gibt Prognosen, dass allein die zeigen, dass der Meeresspiegel als Folge des anthropogenen Kli- noch Jahrhunderte als Folge der mawandels etwa 20 bis 40 Prozent menschlichen Aktivitäten anstei- der Arten des Festlandes ausster- gen könnte. Die Vorhersage aus ben werden. Wir werden umge- dem letzten IPCC-Bericht liegt für kehrt aber auch eine ganze Reihe die nächsten 100 Jahre bei rund 20 von neuen Arten und Neuein- bis 60 Zentimetern. wanderungen haben. Das beobach- Doch kaum war dieser Bericht ten wir bereits jetzt. Dabei wird es erschienen, gab es schon neuere nicht einfach so sein, dass ganze Veröffentlichungen, unter anderem Ökosysteme wie Buchen- oder des Potsdam-Instituts für Klimafol- Eichenwälder nach Norden wan- tretenen Erderwärmung nicht genforschung. Dort errechnete man dern, vielmehr wandern die ein- mehr verhindern. Womit müssen einen Meeresspiegelanstieg in der zelnen Arten sehr unterschiedlich, wir rechnen? Größenordnung bis zu 1,4 Metern und dadurch entstehen völlig innerhalb der nächsten 100 Jahre. neue Ökosysteme. Schönwiese: Das Klimasystem Davon könnten die Existenz gan- Wir müssen uns also mit der besteht ja aus dem Zusammenwir- zer Inselstaaten und einige Fluss- Frage auseinandersetzen, welche ken von Atmosphäre, Ozean, Eis- deltagebiete bedroht sein, wie zum Ökosysteme wir in Zukunft haben gebieten, Vegetationen und Erd- Beispiel in Bangladesh. Nur reiche werden und welche Konsequenzen oberfl äche. Auf Veränderungen Länder wie die Niederlande oder sich daraus für uns ergeben. Denn reagiert es mit einer gewissen Träg- Deutschland können sich durch wir entnehmen den Ökosystemen heit. Im letzten IPCC-Bericht sind Eindeichung wehren. Verschärft nicht nur Nahrungsmittel, Bau- erstmalig auch Modellrechnungen wird diese Gefahr durch Stürme materialien oder Wirkstoffe für enthalten, in denen man die völlig und Sturmfl uten. Biopharmaka, sondern auch eine unrealistische Annahme zugrunde ganze Reihe von »Ökosystem-

gelegt hat, dass die CO2-Konzent- ? Herr Mosbrugger, wenn Sie dienstleistungen«, wie etwa Rein- ration ab sofort konstant bleibt. Sie die Warmzeiten im Verlauf der haltung des Wassers und der Luft zeigen, dass selbst dann zur Erwär- Erdgeschichte betrachten, wie kön- oder Schutz des Bodens vor Erosi- mung der letzten 100 Jahre, also nen sich Organismen an Wärme on. Das wird sich alles verändern. 0,7 Grad Celsius im globalen Mittel, anpassen? Letztlich muss das Konzept der An-

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passung an Klimawandel darauf hen beispielsweise schon jetzt beim abzielen, dass wir antizipieren kön- Niederschlag, insbesondere im nen, welche Ökosysteme wir im Winter, dass die Häufi gkeitsvertei- Laufe der nächsten 100, 200 Jahre lungen breiter werden. Das heißt, vorfi nden werden, und wir müssen auf Kosten mittlerer Gegebenhei- unsere Nutzung von Ökosystem- ten werden sowohl starke Nieder- dienstleistungen darauf einstellen schläge als auch Dürren häufi ger, können. Da ist mit signifi kanten wenn auch regional sehr unter- Verschiebungen zu rechnen. schiedlich. Bei der Temperatur Die Anpassung an Klimawandel nimmt dagegen recht systematisch wird natürlich auch viele Techno- die Häufi gkeit von extremer Kälte logien betreffen, unsere Heizungs- ab und von extremer Hitze zu. systeme, Klimasysteme bis hin zu den Kläranlagen. Zahllose Prozesse »Versicherer sind durch die stei- hängen letztlich mit dem Klima genden volkswirtschaftlichen zusammen: Temperatur, Nieder- Kosten sehr beunruhigt« schlag, Feuchtigkeit sind Parame- rhein-Westfalen. Ganz Deutschland, ter, die alle chemischen und biolo- Das hat Konsequenzen. Der Hit- damit auch Hessen, könnte aber gischen Prozesse beeinfl ussen. Die zesommer von 2003 in Europa häufi gere und extremere Hitze- Anpassung an Klimawandel wird hatte volkswirtschaftliche Schäden sommer erleben. Es gibt eine Mo- also weitreichende Auswirkungen von 13 Milliarden US-Dollar zur dellrechnung für die nächsten zeigen, von dem einfachen chemi- Folge. In der gleichen Größen- 100 Jahre, die sich regional auf die schen Prozess über die Wanderung ordnung lagen die Schäden durch Schweiz bezieht, aber auch auf von Organismen bis hin zu den die Elbe-Flut im Jahr 2002. Man Deutschland übertragen werden Technologien. schätzt, dass diese Hitzewelle im kann. Demnach wird es immer Jahr 2003 in Europa etwa 55 000 wieder kühlere Sommer geben, ? Herr Schönwiese, welche Sze- zusätzliche Todesfälle gefordert hat. aber die heißen, die in Europa ty- narien gibt es denn für den Fall, Fragt man die Versicherer, dann pischerweise auch Trockensommer dass wir so weitermachen wie bis- äußern sie sich sehr beunruhigt. In sind, werden immer häufi ger und her und mit einer steigenden Welt- seinem viel beachteten Report hat auch heißer. Darunter leiden nicht bevölkerung auch der Bedarf an der Ökonom Nicholas Stern vorge- nur kreislaufvorgeschädigte Men- Ressourcen und Energie weiter zu- rechnet, was der Klimawandel uns schen, die dann mit größerer nimmt? Können Sie ein Szenario kostet. Er kommt im schlimmsten Wahrscheinlichkeit sterben, son- für das Jahr 2100 im Rhein-Main- Falls auf Größenordnungen des dern auch die Landwirtschaft und Gebiet entwerfen? 20-Fachen des globalen Brutto- die Energieversorgung. Wenn inlandsprodukts, wenn wir die nämlich in Hitze-/Dürresommern »Dürren und Dinge so laufen lassen wie bisher. die Flusspegelstände niedrig sind, Überschwemmungen Wenn wir dagegen Klimaschutz- beeinträchtigt das nicht nur die nehmen zu« maßnahmen ergreifen, liegt der Schifffahrt, sondern auch die Kühl- Aufwand dafür im günstigsten wasserversorgung der Kraftwerke. Schönwiese: Das IPCC geht auf Fall bei nur etwa einem Prozent. So etwas kann sich in Zukunft der Grundlage von insgesamt 40 häufen. Leider ist es so, dass sich Szenarien von sechs Leitszenarien der Mensch gegen Kälte besser aus. Ich runde jetzt mal die Zahlen: schützen kann als gegen Hitze. Wir Das schlimmste Szenario würde haben in Deutschland bisher einen bedeuten, dass in den nächsten Temperaturrekord von 40,2 °C. Ich 100 Jahren die Weltmitteltempera- erwarte, dass er in den nächsten tur um sechs Grad Celsius ansteigt. Jahrzehnten übertroffen wird. Es könnte aber auch, im günstigs- ten Fall, nur ein Grad Celsius sein. ? Wie sieht es mit Gefahren Das wissen wir einfach nicht, weil durch die Verbreitung tropischer wir künftige Entwicklungen nur Krankheiten aus? Es wird berich- mit einer gewissen Unsicherheit tet, dass die Stechmücken, die berücksichtigen können. Dabei be- Malaria übertragen, jetzt auch in tone ich immer, dass die Tempera- Wie sich der Klimawandel spezi- unseren Breiten zu fi nden sind. turänderungen möglicherweise gar ell im Rhein-Main-Gebiet entwi- nicht das Wichtigste sind, sondern ckeln wird, ist schwer zu sagen. Ich Mosbrugger: Wie die anderen die Niederschlagsumverteilungen würde eine Tendenz zu milderen Organismen verändern auch die und nicht zuletzt die Neigungen Wintern erwarten, mit weniger Krankheitsvektoren mit dem Kli- des Klimasystems zu einem extre- Schnee und mehr Starknieder- mawandel ihr Verbreitungsgebiet. meren Verhalten. Das ist unser schlägen in Form von Regen. Von Insgesamt haben wir in mittleren spezielles Forschungsgebiet in den Hochwasser wird Hessen allerdings Breiten durch unsere Lage noch letzten zehn Jahren gewesen, aller- weniger betroffen sein als die west- einen gewissen Vorteil: Die hohen dings hauptsächlich auf Europa lichen Bundesländer Baden-Würt- Breiten, also die Polarregionen, und Deutschland bezogen. Wir se- temberg, Rheinland-Pfalz und Nord- sind vom Klimawandel immer

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stärker betroffen als die Tropen. bolisch. Die Industrienationen sollen agieren ihre Zuhörer? Fragen die

Bei uns ist dennoch damit zu rech- demnach ihren Ausstoß von CO2 zum Beispiel nach, was sie selber nen, dass eine ganze Reihe von und einigen weiteren Treibhaus ga- ändern können? neuen Krankheitsbildern auftreten sen um 5,2 Prozent bis zur Zeitspan- wird. Malaria ist wahrscheinlich ne von 2008 bis 2012 gegenüber »Deutschland allein wird kein so großes Problem, da wir sie 1990 reduzieren. Fachleute meinen, dieses Problem nicht lösen« es müsste sehr viel mehr sein. So empfi ehlt der wissenschaftli- Mosbrugger: Es ist ganz interes- che Beirat für globale Umweltver- sant zu sehen, dass es vor allem änderungen der Bundesregierung, zwei Gruppen von Leuten gibt. Die bis 2020, wie auch in der EU dis- einen sind die Fanatiker, die aus kutiert wird, eine 20- bis 30-pro- den Vorträgen immer schon das zentige Reduktion. In Deutschland heraushören, was sie bereits wis- werden 40 Prozent bis 2020 ange- sen. Dabei sind sie entweder Geg- strebt, und spätestens bis 2050 soll- ner des Klimawandels und sagen, ten wir die Emissionen weltweit das ist alles nur aufgebauscht, oder um mindesten 50 Prozent senken. aber sie sind der Meinung, der Im IPCC werden dafür sogar Zah- Mensch zerstöre in seiner Über- len bis 85 Prozent genannt. Ich bin heblichkeit die Erde und müsse da- derzeit allerdings recht skeptisch, ran gehindert werden. Dann gibt dass in den nächsten Jahren die es die zweite Gruppe, die einfach Weichen in diese Richtung gestellt nur nüchtern informiert werden auch medikamentös relativ gut im werden. Vielleicht muss der Lei- möchte. Meine Erfahrung ist, dass Griff haben, aber es taucht bereits densdruck noch steigen, etwa diese zweite Gruppe in den letzten jetzt schon eine ganze Reihe von durch Extremereignisse und die zehn Jahren gewachsen ist. Diese neuen Krankheiten auf. Das Chi- zurzeit unterschätzte Bedrohung Menschen suchen wirklich nach cungunya-Virus wird durch die durch Krankheiten. Lösungsmöglichkeiten und fragen Asiatische Tigermücke übertragen, interessiert nach. Ehrlicherweise die 1990 zum ersten Mal in Italien Mosbrugger: Ich würde noch ei- muss ich sagen, dass wir Wissen- aufgetaucht ist und jetzt 2007 auch nen Faktor dazunehmen. Aus mei- schaftler auch nicht immer die bes- im Oberrheingraben. Sie könnte ner Perspektive, der des Paläonto- ten Antworten parat haben. Man im Laufe der nächsten Jahre auch logen und Geowissenschaftlers, der kann die Leute zwar ermuntern, bei uns in Hessen erscheinen. Die- immer das System Erde im Blick sich umweltbewusst zu verhalten, se und verwandte Fragen werden hat, wird das Klima zum großen aber Deutschland allein wird dieses das Forschungsinstitut Sencken- Teil auch von der Landoberfl äche Problem nicht lösen. berg und die Goethe-Universität im Rahmen des neuen Forschungs- Schönwiese: Diese nüchterne zentrums »Biodiversität und Kli- Gruppe ist auch mir die liebste. In ma« untersuchen, das seit Juli letzter Zeit werde ich zunehmend dieses Jahres von der LOEWE-Ini- in Schulen eingeladen. Gerade die tiative des Landes Hessen gefördert jüngeren Leute gehören eher zu wird. Daran sind auch organis- den Nüchternen, die älteren nei- misch arbeitende Biologen betei- gen dazu, Extrempositionen einzu- ligt, die sofort erkennen, wann ein nehmen. Dagegen kämpfe ich seit neuer Vektor hier ankommt. langer Zeit an. In der Fachzeit- schrift »Science« hat vor einigen ? Seit der Rio-Konferenz von Monaten Naomi Oreskes, eine US- 1992 gibt es Bemühungen, die Er- Professorin für Wissenschaftsge- derwärmung durch menschliche bestimmt. Die Landnutzungsände- schichte, auf der einen Seite Fach- Aktivitäten zu reduzieren. Erste rung ist ein ganz wichtiger Kli- artikel und auf der anderen konkrete Maßnahmen wurden mafaktor, den man sowohl bei der Medienartikel zum Thema Klima- 1997 im Kyoto-Protokoll festgelegt Anpassung als auch bei Vermei- wandel erfasst. Dann hat sie nach- und seitdem auf Nachfolgekonfe- dungsstrategien mehr in den Blick gefragt, wie viele von den Fachwis- renzen konkretisiert oder erwei- nehmen muss. Bisher ist das ver- senschaftlern bezweifeln, dass es tert. Halten Sie diese Maßnahmen nachlässigt worden. Mit dem Kyo- einen von Menschen gemachten für ausreichend? to-Protokoll wird das teilweise be- Klimawandel gibt. Das Ergebnis rücksichtigt, weil Länder, die war: keiner. Bei den Medienver-

»Was das Kyoto-Protokoll an- Wälder aufforsten, mehr CO2 pro- tretern war es dagegen etwa die strebt, ist eher symbolisch … duzieren dürfen. Aber das Gesamt- Hälfte. Das erklärt sicher auch die vielleicht muss der Leidens- konzept, die Landnutzung in den beiden Extrempositionen »Klima- druck noch steigen« Klimawandel einzubauen, steht katastrophe« und »Klimaschwin- erst am Anfang. del«, die wir leider immer wieder Schönwiese: Aus der Sicht vieler registrieren. Aus meiner Sicht solle Klima-Experten ist das, was das ? Sie halten beide viele Vorträge man die Klima-Problematik mög- Kyoto-Protokoll anstrebt, eher sym- zum Thema Klimawandel. Wie re- lichst sachlich angehen. ◆

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»Smart borders«? Puente Juá- rez – Grenzüber- gang zwischen Ciudad Juárez, Chihuahua, und El Paso, Texas: Die Grenzkontrol- len werden je nach Sicherheits- lage und konjunk- tureller Situation verschärft oder ge- lockert. »Uner- wünschte« Men- schen und Waren werden mit gro- ßem technischen und personellen Aufwand am Grenzübertritt ge- hindert.

Warum die »Ver-Marktung« der Gesellschaft nie vollständig gelingen kann Humangeografen nehmen mit ihrer Kritik am globalisierten Ökonomismus die Praxis heterogener Akteure in den Blick

is Tomaten aus Baja California »Kulturelle Geografi en« redu- binären Anfangsunterscheidungen von Christian Bim Supermarkt in Seattle an- zieren das »globale Zeitalter« nicht kämpfte und im Laufe der 1990er Berndt und geboten werden, sind scheinbar auf eine deskriptive Kategorie öko- Jahre auch die Geografi e erreichte, Marc Boeckler eindeutige Grenzen zwischen Me- nomischer Internationalisierung, vermeintlichen Gewissheiten ihre xiko und den USA gleich mehrfach sondern verstehen Globalisierung Selbstverständlichkeit. Als Auffor- überschritten worden. Gesellschaf- als Begriff, der die Sicht frei gibt derung zu konsequent relationa- ten und ihre Ökonomien lassen auf die umfassende Neuaushand- lem Denken zwingt er endgültig sich nicht mehr territorial auf nati- lung der räumlichen Bezüge sozia- dazu, kreativer über Raum und Ort onalstaatliche Grenzen reduzieren. ler Beziehungen – von der Ebene nachzudenken und vielfältige To- Doch was tritt im globalen Zeitalter einzelner Subjekte bis zur Ebene pologien zuzulassen. an ihre Stelle? Mit ökonomischer globaler Politik. Somit erhält die Als »kulturell« werden diese Internationalisierung und modell- Frage, ob es heute zum Nachtisch Geografi en bezeichnet, weil sie förmigen Märkten sind die neuen eine ökologisch zertifi zierte Ananas sich vor der verunsichernden Ein- Realitäten nur unzureichend be- aus Nordghana sein soll oder doch sicht nicht mehr schützen können, schrieben. Es gilt die Vielfalt der selbst gepfl ückte Erdbeeren von ei- dass die Wirklichkeit nicht unbe- unterschiedlichen Akteure in den nem Bauern im hessischen Ried, einfl usst »da draußen« auf die Blick zu nehmen, die in den von den gleichen Stellenwert wie die neutrale wissenschaftliche Beob- Ökonomen geschaffenen und um- weltpolitische Verhandlung der achtung wartet, sondern grundle- gesetzten Modellen keine Beach- Kohlendioxid-Emissionsgrenzen. gend kulturell geschaffen, symbo- tung fi nden; dies tun die Human- Als Refl exivitätsschub raubte die lisch vermittelt und daher auch geografen mit ihrem neuen Ansatz kulturtheoretische Wende, der veränderbar ist. Mit Blick auf die der »kulturellen Geografi en der »Cultural Turn«, der gegen eine geografi schen Hintergründe mo- Ökonomie«. kulturalisierte Weltsicht mit ihren derner Weltbilder ist dadurch insbe-

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sondern ganz im Gegenteil die fen der Realitätsferne zum Trotz Wirklichkeit performativ modell- die Modelle der Ökonomik sehr förmig gestalten; performativ be- wirkmächtig sind. Weil dies aber deutet in diesem Zusammenhang, weniger die Abbild- als mehr die dass sich ökonomische Entitäten Gestaltungsfunktion von Wirklich- wie Märkte oder Unternehmen im- keit betrifft, ergibt sich in der glo- mer erst als praktische Aus- und balen Zusammenschau ein buntes Aufführung ökonomischer Model- Bild vielfältiger Reaktionen, Pro- le realisieren. teste, opportunistischer Assozia- tionen wie auch gewaltförmiger Was ökonomische Widerstände mit und gegen die »Modellarbeiter« ausblenden performative Ökonomik. Kultu- Blickt man auf den globalen relle Geografi en der Ökonomie Süden, lässt sich in geografi scher wollen deshalb ausdrücklich den Feinarbeit rekonstruieren, wie aka- Möglichkeitsraum für alternative demische Ökonomen, Unterneh- Marktformen wie auch Vermark- mensberater, Weltbankangestellte, tungs-Widerstände erweitern. Entwicklungsexperten und andere »Modellarbeiter« in groß angeleg- Die »intelligenten Grenzen« ten Entwicklungsprojekten durch transnationaler Marktordnungen die Einführung von Privateigen- In einem unserer aktuellen For- tum, Rechtssystemen, statistischen schungsprojekte wenden wir diese Instrumenten zur Messung staatli- Gedanken auf jene ökonomisch chen Fortschritts, Mikrokreditpro- re levanten Grenzziehungen an, grammen und zahlreichen anderen deren heimliche Selbstverständ- Apparaturen nicht nur nationale lichkeit im Zeitalter globaler Vernet - Ökonomien, sondern auch indi- zung merkwürdig anmutet. Wir vidualisierte und rational kalku- blicken auf globale Muster der lierende Akteure zu schaffen ver- Grenzproduktion am Beispiel der US-Grenzmauer zwischen San Diego und Tijuana: Abschot- suchen, die modellförmige Märkte Südgrenzen Europas und der USA tung gegen illegale Einwanderer. Trotz all dieser Maßnahmen rahmen und stabilisieren sollen. und wundern uns über die Gleich- gibt es jede Menge Löcher im Grenzsystem, das auch zum Weil aber eben jene »Ver-Mark- zeitigkeit von ungehindert mobi- Nutzen der US-Wirtschaft unterlaufen wird. tung« der Gesellschaft nie vollstän- lem Kapitalfl uss und militarisierter dig gelingen kann, sondern als Er- Abwehrschlacht gegen mobile Ar- sondere die alte Vorstellung einer gebnis der Praxis einer Vielzahl beit. Es wird deutlich, wie aus nörd- natürlichen Raum-Ordnung ins heterogener Akteure letztlich immer licher Perspektive die ambivalente Wanken geraten, die nicht anders prekär bleiben muss, machen wir Grenzproduktion samt ihren Ver- konnte oder wollte, als Gesellschaft uns genau jene Externalitäten zu schleierungsstrategien notwendig »Border Foods« – territorial in nationalstaat lichen Freunden, die von Modellarbeitern wird, um globale Märkte und Han- Grenzgänger der Grenzen zu denken. Wir wenden als Bedrohung empfunden werden. delssysteme je nach eigener Inte- besonderer Art. Das so transpor- unsere Perspektive vor allem auf Wenn beispielsweise die Einfüh- ressenlage einzuführen oder zu tierte Gemüse das Feld der Ökonomie an und rung eines modernen Bodenrechts rechtfertigen. Dies führt zu einem kann dank der hinterfragen die binäre Opposition in Ägypten oder Mexiko entgegen Bild heterogener Geografi en, die Wächter transnati- von wissenschaftlicher Ökonomik den Modellversprechen zu einer kaum mehr zweidimensional kar- onaler Marktord- und wirklicher Ökonomie. Unter raschen Kapitalkonzentration in tierbar sind. Denn Nord-Süd-Gren- nungen die Grenze dem Label »kulturelle Geografi en den Händen weniger führt, dann zen haben sich interessenabhängig nach Texas über- der Ökonomie« zeigen wir, wie die lässt sich zeigen, dass es sich dabei selbst in Bewegung gesetzt: Sie queren, wenn Qua- litätskriterien und Modelle orthodoxer Ökonomen keineswegs um die modellexternen verschieben sich weit in den Nor- Mengenbeschrän- entgegen ihres wissenschaftlichen Folgen moralischer Verfehlung al- den, wenn es um nichtdokumen- kungen der US-Be- Selbstverständnisses die Welt kei- ter Eliten handelt, sondern um tierte Arbeitsmigrantinnen und hörden erfüllt sind. neswegs beschreiben und erklären, einen integralen Bestandteil der -migranten geht, die auf den Fel- Modellperformance selbst. »Kritik« dern kalifornischer oder andalusi- funktioniert hier offensichtlich an- scher Agrobetriebe arbeiten, und ders als bei herkömmlichen poli- dehnen sich weit nach Süden aus, tisch-ökonomischen Ansätzen. wenn man den Blick auf agrarwirt- Diese stellen den kapitalistischen schaftliche Produktstandards richtet. Markt als einen zwar mächtigen, Besonders schön zeigen lässt aber grundfalschen und das Be- sich dies beim grenzüberschreiten- wusstsein vernebelnden Monolith den Handel von Frischobst und dar, den sie mit ihrer fundamenta- Frischgemüse. Das gilt vor allem len Ablehnung paradoxerweise im- für hochwertige Produkte, die so- mer wieder neu bestätigen. Kultu- wohl im Norden als auch im Süden relle Geografi en der Ökonomie produziert werden. Hier werden beginnen dagegen mit der empiri- grenzüberschreitende Bewegungen schen Einsicht, dass allen Vorwür- südlicher Agrarprodukte mit einer

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Chiliernte in Texas: Da die amerikani- schen Konsumen- ten das ganze Jahr über Zugang zu frischem Gemüse verlangen, sind mexikanische Ar- beitsmigranten je nach Saison so- wohl in Mexiko als auch in den Verei- nigten Staaten im Ernteeinsatz.

umfangreichen Palette von Regu- scharfe Grenzen zwischen mexi- Studien zeigen, dass bei der Forma- lierungen kontrolliert und kanali- kanischen und US-amerikanischen tierung dieses scheinbar »intelligen- siert. Gerade in asymmetrischen Produkten einziehen. Erst mit der ten« Grenzregimes neben staatlichen Integrationsprozessen werden sol- nationalen Kodierung der Agrar- Akteuren große Einzelhandelskon- che Handelshemmnisse sehr fl exi- produkte kann die unterschiedliche zerne eine zentrale Rolle spielen. bel eingesetzt. So unterliegen zum Behandlung durch die Wächter Im Verein mit den Konsumenten Beispiel die Bewegungen von Chi- transnationaler Marktordnungen sorgen sie auf beiden Seiten der po- lischoten oder Frischtomaten an gerechtfertigt werden. Auf ihrem litischen Grenze dafür, dass nördli- der US-amerikanischen/mexikani- Weg aus den mexikanischen An- che Standards und Präferenzen bis schen Grenze einem ausgefeilten bauregionen in Baja California oder an die südlichen Produktionsorte Regime aus Qualitäts- und Hygie- Sinaloa in die Supermärkte der gro- vordringen und bei jedem Produk- nestandards, Quotierungen und ßen US-Metropolen überqueren tionsschritt Rahmen vorgeben, die Mindestpreisregelungen. Da die die Agrarprodukte mehrmals die über (richtige) »nördliche« und US-Konsumenten aber einen ganz- Schwelle zwischen Süden und Nor- (falsche) »südliche« Merkmale ent- jährigen Zugang zu frischem Obst den. Die Nord-Süd-Grenze realisiert scheiden. Alle Akteure in den Wa- und Gemüse verlangen, werden sich dabei immer erst in der Praxis renketten orientieren sich an diesen die Bedingungen gleichzeitig in der beteiligten Akteure, die wie Standards, sie suchen Produkte be- den regierungsamtlichen Markt- Zollbeamte, Grenzschützer, Quali- stimmter Größe, bestimmter Farbe ordnungen immer wieder saisonal tätskontrolleure der US-amerikani- oder bestimmter Form. Dadurch und regional gelockert. schen »Food and Drug Administra- kommt es zu einer Homogenisie- Man kann diese Marktordnun- tion« (FDA) oder Lkw-Fahrer die rung der Produkte und letztlich zu gen als Rahmungen lesen, die Grenze performativ in Szene setzen. einer Abnahme von Sortenvielfalt.

Lkw Pkw Fußgänger 1995 2004 1995 2004 1995 2004 Texas 1 894 971 3 036 018 40 878 097 45 805 476 15 443 565 20 440 329 Kalifornien 666 866 1 110 758 12 224 347 34 553 627 9 662 965 18 197 094 Arizona 296 342 323 196 8 336 435 10 195 882 7 621 087 9 186 005 New Mexico 2 446 33 716 346 192 578 904 108 355 260 807

4 Grenzverkehr US Ports of Entry, 1995 und 2004. Seit dem Beginn des nordamerikanischen Freihandels- abkommens (NAFTA) registrieren die US-Grenzbehörden eine erhebliche Zunahme des Grenzverkehrs. Quelle: U.S. Bureau of Transportation Statistics in Border Counties Coalition 2006, S. 10-5.

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US-Präsident George W. Bush spricht zu Mitarbeitern der US Border Patrol an der Grenze zu Mexiko – er will die Gren- zen zum mexikanischen Nachbarn gleichzeitig sichern und offen gestalten: »This week, I saw some of that techno- logy at work on a visit to a border near El Paso, Texas. X-ray machines are being used to thoroughly screen cargo more effi ciently than ever before. During my visit to Mexico, President Fox and I an- nounced an agreement to move toward a ›Smart border‹ between our countries. Through close cooperation and advan- ced technology, we’ll make our shared border more open and more secure.«

wettbewerbsfähigen Preisen, weil sie Arbeitsmigranten aus dem Sü- den Mexikos einsetzen. Die Unter- nehmen auf der US-Seite erhöhen ihre Wettbewerbsfähigkeit dadurch, dass sie auf den Feldern und in den Gewächshäusern ihrerseits mexika- nische Arbeitsmigranten beschäfti- gen und das zu einem großen Teil Die widersprüchliche Durch- wichtigsten Inputfaktoren bei der außerhalb der staatlichen Regulie- lässigkeit »intelligenter Grenzen« Produktion von Frischobst und rungen, das heißt: »illegal«. Mit Dieses Grenzregime hat für alle -gemüse sind auf beiden Seiten der Blick auf die Kapitalseite gilt ein Beteiligten einen so selbstverständ- politischen Grenze Arbeit und Ka- ähnlicher Zusammenhang in um- lichen Charakter erhalten, dass die pital. Und in beiden Fällen werden gekehrter Richtung. Beide Seiten versteckten Widersprüche dieser nahezu identische Produktionsfak- setzen auf Finanzkapital, Technolo- Marktordnung selten thematisiert toren eingesetzt. So sind die Produ- gie und Know-how aus dem globa- werden. Denn während scheinbar zenten in den USA ebenso auf die len Norden: Maschinen, Computer, eindeutige Grenzen zwischen me- Mobilität »südlicher« Arbeit ange- Düngemittel und Saatgut kommen xikanischen und US-amerikani- wiesen wie ihre mexikanischen ebenso aus den USA oder aus Euro- schen Produkten gezogen werden, Pendants. Moderne mexikanische pa wie das Produktionswissen, et- macht ein näherer Blick auf die Agrounternehmen produzieren im wa zu Tröpfchenbewässerung, Produktionsprozesse stutzig: Die Norden des Landes deswegen zu Gewächshausanbau oder substrat- losem hydroponischem Anbau. Erfolg heißt im Kontext solcher Marktordnungen, dass sie allen Beteiligten (Konsumenten und Produzenten) selbstverständlich erscheinen und nicht hinterfragt werden. Asymmetrische territoria- le Marktordnungen funktionieren deshalb nur so lange, wie es gelingt, die zur Produktion hochwertiger Güter notwendigen Paradoxien ökonomischer Integrationsprozesse zu kontrollieren und zu verbergen. Im Großen und Ganzen scheint dies zu funktionieren. Für weite Teile der US-Öffentlichkeit ist es ganz selbstverständlich und natür- lich, Lebensstile zu leben, die glo- Auf ein baldiges Wiedersehen? US-Grenzpolizisten haben nahe El Paso in Texas bale Verbindungen mobilisieren »illegale« Grenzgänger aufgegriffen. Einer der Agenten der U.S. Border Patrol be- und grenzüberschreitende Bewe- schreibt im texanischen El Paso »intelligente Grenzpraxis«: »There are many ways to gungen voraussetzen. Eine unfrei- beat the game. If we do apprehend people we try to get as much information about willige Koalition aus sesshaften them as possible (nationality, date of birth, place of birth) and put it into a data- Bürgern, Politikern, Unternehmern, base. And once we put that in, we identify them with a computerized ID with fi nger- print and a photograph. Before, the guys could just give you a na me, I mean any Managern oder Gewerkschaftern name. And unless you re cognized him from the day before, no way to get him. But sorgt dafür, dass alles nach Plan now we have a way to track these people and that’s been all over the place for a geht: Die Bewegungen von Gütern while and it’s working pretty well.« und Menschen werden gemanaged

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und kontrolliert; es gibt Sicherheits- konferenzen, Kontingente, Aus- führungsbestimmungen, Qualitäts- standards und Labels; Bewegungen werden statistisch festgehalten 1, Migrationsrouten werden kartiert; einzelne Produktionsschritte wer- den isoliert, mit monetären Werten belegt und dann in linearen Wert- schöpfungsketten verortet. Dabei stellt insbesondere der »unerlaubte« Grenzübertritt die Wächter transnationaler Marktord- nungen vor Herausforderungen. »Illegale« fordern die Souveränität des Staates immer wieder heraus. Die Souveränität bleibt nur so lan- ge weitgehend unangetastet, als eine ausgefeilte sozio-technische Infrastruktur die Lücken im Sys- tem unter Kontrolle hält und sta- tistisch so gut es geht fi xiert. Das gilt für mobile Menschen und für mobile Güter. Die grenzüberschrei- tenden Bewegungen mexikani- scher Arbeitsmigranten werden ebenso statistisch erfasst wie die mexikanischer Tomaten oder Chi- lis: Mexikanisches Gemüse und Alltag in Ciudad Juárez: Viele Mexikaner aus dem Süden des Landes kommen in die Obst ist verdächtig und gilt als po- Stadt am Rio Grande, um einen Weg über die Grenze in die USA zu fi nden. Sie ar- tenzielle Quelle von Verschmut- beiten in Offshore-Produktionsbetrieben großer nördlicher Konzerne und leben in zung. In einer eigenartigen Analo- Marginalsiedlungen ohne Zugang zur städtischen Infrastruktur. gie zur »illegalen« Migration von Menschen wird in den »import und emotionale Rufe nach Zuwan- Auf der einen Seite ist eine voll- alerts« und »fruit reports« der US- derungskontrolle provoziert. Nicht ständige Kontrolle unmöglich, denn amerikanischen »Food and Drug selten stecken dahinter die glei- Tag für Tag entlarven »Illegale« die Administration« (FDA) auch im chen Akteure, die auch die Mobili- Porosität ausgefeilter Grenzregime. Zusammenhang mit Agrarproduk- tät von Arbeitsplätzen in den Sü- Andererseits sind die Bewegungen ten von »detention« (Festnahme, den bekämpfen. Die Paradoxie »illegaler« Menschen und Dinge Haft) und »deportation« (Abschie- liegt auf der Hand: Denn wie ein für die Le gitimierung der Grenzsi- bung) gesprochen. ehemaliger mexikanischer Präsi- cherungsinfrastrukturen unver- dent mit Blick auf den Tomaten- zichtbar. In beiden Fällen spielen Unter dem Schleier der sektor treffend bemerkte, die USA unerwünschte Außenseiter deshalb Normalität: Die Paradoxien haben die Wahl: Sie können ent- eine aktive Rolle bei der Reproduk- des Marktregimes weder mexikanische Tomaten oder tion von Marktordnungen. ◆ Aber trotz all dieser Maßnah- mexikanische Tomatenpfl ücker im- men wird der Schleier der Norma- portieren. lität immer wieder abrupt zur Seite In solchen Momenten wird deut- Die Autoren gezogen. In solchen Fällen kom- lich, dass die Grenzregime trans- Prof. Dr. Christian Berndt, 41, hat an der University of Cam- men die versteckten Widersprüche nationaler Märkte äußerst zer- bridge (UK) promoviert und sich an der Katholischen Univer- im System offen zum Vorschein. So brechlich und fragil sind. Das Bei- sität Eichstätt-Ingolstadt habilitiert. Seit Oktober 2004 ist erregen im Norden einerseits im- spiel zeigt, dass auch die Architek- er Professor für Angewandte Wirtschaftsgeographie an der mer wieder Produktionsverlage- ten und Wächter transnationaler Universität Frankfurt. Zu seinen Forschungsschwerpunkten rungen Aufsehen, bei denen nörd- Marktordnungen in einem Klima zählen die heterodoxe Wirtschaftsgeografi e, Geografi en der liche Unternehmen auf der Suche der Unsicherheit agieren. Sie müs- Arbeit sowie Globalisierung und Nord-Süd-Beziehungen. nach niedrigen Produktionskosten sen ständig nach Lösungen für Pro- Dr. Marc Boeckler, 40, ist wissenschaftlicher Assistent am im Süden investieren. Andererseits bleme suchen, die ihrerseits wiede- Lehrstuhl für Kulturgeographie der Katholischen Universität spielen sich an der Südgrenze der rum nichtintendierte Folgen nach Eichstätt-Ingolstadt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen USA immer wieder menschliche sich ziehen. Auf diese Weise entste- im Bereich einer kulturtheoretisch informierten Wirtschafts- Tragödien ab, die medial vervielfäl- hen immer neue Verwicklungen, und Sozialgeografi e. tigt die nördlichen Haushalte errei- sobald man glaubt, ein Problem [email protected]; www.humangeographie.de/berndt chen. In solchen Fällen werden die gelöst zu haben. Unerwünschte [email protected]; Träume von einer territorialen »andere« spielen beim Doppelspiel www.ku-eichstaett.de/Fakultaeten/MGF/Geographie/Kultur Wohlstandsinsel in einem Meer aus Grenzziehung und Grenzüber- geographie/Mitarbeiter/%20boeckler Wirtschafts- und Sozial globaler Unordnung erschüttert schreitung eine zwiespältige Rolle. geografi e.

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Lernen am fri- schen Fang: Für einen angehenden Meeresbiologen gehört die Unter- weisung durch Prof. Michael Tür- kay an Bord des Forschungskutters Senckenberg in der Nordsee zur Ausbildung.

»Ich muss Schiffsplanken unter den Füßen spüren« Was Forscher auf ihren Reisen zu Luft, Land und Wasser erleben

von Marita er unseren Planeten erfor- fes im Norden von Burkina Faso erging es ähnlich: Sie waren sich Dannenmann Wschen will, muss sich auf die aufgeschlagen. Auf dem Dorfplatz bewusst, dass sie unmittelbar mit- Socken machen. Forschungsreisen erzählen sich junge Mädchen in ei- erleben durften, welche immer gehören für fast alle Wissenschaft- nem Reigen tanzend, singend und noch geheimnisvolle Bedeutung lerinnen und Wissenschaftler, die stampfend von den Ereignissen des Rhythmus, Gesang und Tanz für in diesem Heft Ergebnisse ihrer Tages. König hat den stetig wieder- Kommunikation, ja, für das Leben Arbeit präsentieren, selbstverständ- kehrenden, leicht monotonen überhaupt haben. lich zum Beruf. Dass sie dabei na- Chorgesang noch im Ohr und ver- König gibt zu, dass er seit seinen türlich neben rein forschungsbezo- sucht ihn nachzuahmen: »Die je- vielen Aufenthalten in Westafrika genen auch ganz persönliche weilige Erzählerin singt in höheren auch empfänglicher geworden ist Erfahrungen machen, bereichert Tönen, immer untermalt von dem für animistische Phänomene, also ihr Leben. Und sie haben wunder- tieferen, begleitenden rhythmi- für den Glauben an Naturgeister, bare kleine Geschichten zu erzäh- schen Singsang der anderen. Ab die in afrikanischen Kulturen tief len, die wir unseren Lesern nicht und zu löst sich ein Mädchen aus verwurzelt sind. »Mich hat das so- vorenthalten wollen … dem Kreis, um kurz solo zu tanzen, gar ein bisschen angesteckt. Wenn dann ist wieder eine andere dran.« ich zur Erkundung in den Busch Westafrika: Von guten Geistern Dr. Julia Krohmer, die schon gehe, bitte ich auch um Schutz und wilden Tieren öfter in diesem Dorf war und die und fühle mich dadurch irgendwie Am Äquator kommt die Nacht Sprache beherrscht, übersetzte: behütet und besser gewappnet vor im Nu. In der nur von Mond und »Sie singen von ihren weißen Gäs- den Gefahren, die da durchaus lau- Sternen gebrochenen Dunkelheit ten, die heute angekommen sind – ern.« Da er mit seinem GPS immer ändert sich die Wahrnehmung: also von uns –, und anderen Er- vorneweg als Lotse die Führung Hören, Riechen und Tasten gewin- lebnissen des Tages.« Dieses spie- übernimmt – »deshalb habe ich nen gegenüber dem tagsüber do- lerische Ritual des nomadischen nach der Suchfunktion des Naviga- minierenden Sehsinn. Dr. Konstan- Wandervolks der Fulbe, das dort tionsgerätes den Spitznamen »Go tin König und seine Kollegen der seit Generationen ganz selbstver- to« –, hat er besondere Verantwor- Expedition (Dr. Karen Hahn-Hadja- ständlich zum Tagesablauf gehört, tung für die Begleiter. »Allein geht li, Dr. Marco Schmidt und Dr. Jonas hat nicht nur König besonders fas- man nie auf Erkundung. Zumin- Müller) haben ihr Lager mit den ziniert. Allen Mitgliedern der klei- dest ein Ortskundiger ist immer Moskitodomes am Rand eines Dor- nen Frankfurter Expeditionsgruppe dabei«, erläutert König.

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Besonders gut erinnert er sich und gewinnen konnten. Die Inter- wurde mir aber nicht offen gesagt, an die Begegnung mit einer ausge- viewpartnerinnen aus verschiede- sondern indirekt bedeutet. Mit der wachsenen Kobra, die sich plötz- nen politischen und wirtschaftli- Zeit übernahm die damalige Leite- lich nur etwa einen Meter vor ihm chen Organisationen sahen in ihr rin des Women’s Study-Center so- in den Weg stellte: »Zischend mach- wohl zunächst oft nur die Weiße, gar die Regie über meinen Kleider- te sie klar, wer hier zu sagen hat. eine fremde Wissenschaftlerin, die schrank und bestimmte, welches Da ist mir schon das Herz stehen sich ein Urteil anmaßt und letztlich Outfi t für welche Gelegenheit am geblieben«, gibt König zu, aber die zu den Mächtigen zählt. »Auch besten passen würde. Das war Kobra zog sich einfach wieder zu- wenn man mir freundlich begeg- schon komisch …« rück. Bei einer anderen Expediti- nete, kam ich mit meinen Fragen Was sie daraus gelernt hat und on, als er an der Elfenbeinküste zunächst nicht recht weiter«, erin- allen Studierenden rät, die vor Ort zum Waschen in einen Fluss gewa- nert sie sich. Erst ein Ausfl ug mit Feldforschung mit und über Men- tet war, hätte er beinah nähere Be- Madeleine Pusy, der ersten weibli- schen betreiben: »Sich vorher nicht kanntschaft mit einem Nilpferd ge- chen Abgeordneten im Parlament nur wissenschaftlich über Ge- macht, das plötzlich hinter ihm überhaupt und frauenpolitisch schichte, Politik, Wirtschaft und auftauchte. König: »So schnell war vielfältig engagierten Aktivistin, Kultur, sondern auch über das All- ich noch nie aus dem Wasser!« brachte die Wende. »Wir hatten tagsleben informieren! Vielleicht Lästig seien vor allem die kleineren das Brunnenprojekt eines Dorfes, Romane lesen oder Filme schauen. Tiere – wie Tsetse-Fliegen und win- einige Autostunden von Ouaga- Denn ob man gute Ergebnisse er- zige stachellose Bienen, die gerne dou gou entfernt, besucht, das ich zielt, hängt in unserem Wissensge- Körperfl üssigkeiten aufsaugen und drei Jahre zuvor kritisch evaluiert biet nicht zuletzt davon ab, ob und zum Beispiel auch in die Augen- hatte. Und darüber war sie als da- wie die Kommunikation mit den winkel und Ohren fl iegen. »Das ist mals dafür Verantwortliche wohl Interviewpartnerinnen und -part- wirklich unangenehm«, meint er, verärgert gewesen. Auf dem Rück- nern funktioniert und inwieweit »aber darauf muss man sich ein- weg gab ihr klappriger Opel seinen sie bereit sind, das Forschungsan- stellen.« Geist auf. Weit und breit war auf liegen tatsächlich zu unterstützen.« Ohne solche Feldforschung vor der sandigen Savannenstraße aber Erfolg sei immer auch situationsab- Ort könnte er die Satellitenaufnah- keine Hilfe zu erwarten. Mobiltele- hängig. Und manchmal sei eben men [siehe »Wo wächst die Palmy- fone gab’s noch nicht, aber die Au- Zupacken angesagt, manchmal Zu- rapalme?«, Seite 75] nicht auswer- tos waren leichter zu reparieren. rückhaltung. ten, um Landnutzungs- und Beherzt öffnete ich die Motorhau- Verbreitungskarten von Pfl anzen- be und schaffte es schließlich mit Hochsee: Wellen abreiten arten zu erstellen. Wichtig sei auch Hilfe eines Strumpfes, den ich kur- und Distanz halten der Kontakt zur Bevölkerung. zerhand auszog, den gerissenen »Was mich immer wieder faszi- »Man muss wissen, wie das Land Keilriemen der Lichtmaschine zu niert bei all den Reisen, die ich sich entwickelt hat und die Land- ersetzen.« Von da an hatte sie end- nun schon auf verschiedenen For- schaft verstehen, um sinnvolle lich Madeleine Pusys Vertrauen – schungsschiffen gemacht habe: die Empfehlungen für Maßnahmen und deren unschätzbare Hilfe bei Sonnenuntergänge auf See«, ge- zur Renaturierung geben zu kön- der Kontaktaufnahme mit vielen steht Prof. Michael Türkay [siehe nen«, erklärt er. Ein- bis zweimal einfl ussreichen Persönlichkeiten, »Der lebende Ozean«, Seite 18]. pro Jahr reist er deshalb für meh- die nun auch frei heraus und aus- Für den geborenen und überzeug- rere Wochen nach Afrika. führlich auf Fragen antworteten. – ten Frankfurter bedeutet »Frank- »Eigentlich war genau dieses Er- furt a. M.« eben auch »Frankfurt Ouagadougou und Bandung: lebnis der Schlüssel zum Erfolg am Meer«. »Von hier aus bin ich Zupacken oder bestimmen lassen meines Forschungsprojekts«, be- schneller in den wichtigsten Häfen »Mitunter entscheidet der Zufall tont Ruppert. der Welt, als wenn ich in Wil- über Erfolg oder Misserfolg einer Bei ihrer Zeit als Gastprofessorin helmshaven leben würde, wo un- Feldforschungsarbeit in meinem im indonesischen Bandung 2002 ser kleines Forschungsschiff, die Wissensgebiet. Denn meine For- stieß sie dagegen mit ihrer »afrika- ›Senckenberg‹, liegt«, erklärt der schungsobjekte sind die Menschen«, nisch-zupackenden« Art zunächst passionierte Meeresforscher. Min- erläutert Prof. Dr. Uta Ruppert, auf Unverständnis. Sich allein mit- destens einmal pro Jahr muss er Dekanin des Fachbereichs Gesell- ten in der Stadt eine Wohnung für ein paar Wochen die Planken schaftswissenschaften und Profes- nehmen zu wollen, schickte sich unter den Füßen spüren, sonst sorin für Politikwissenschaft und genauso wenig, wie etwa einfach würde ihm etwas ganz Wesentli- politische Soziologie mit dem per Ojek – dem Moped-Taxi – durch ches in seinem Leben fehlen. Er Schwerpunkt Entwicklungsländer die verstopften Straßen zu fahren. unternimmt größere Forschungs- (unter besonderer Berücksichti- Ihre Gastgeber meinten wohl, als reisen – vor allem in der Nordsee, gung der Geschlechterverhältnis- Professorin und respek tab le Frau auf dem Atlantik und Pazifi k, im se). Sie schmunzelt, wenn sie an sei sie am besten immer in Beglei- Roten Meer und dem Indischen ihr Schlüsselerlebnis in dieser Hin- tung unterwegs – zum Beispiel mit Ozean, um »Benthos« – sprich, alle sicht zurückdenkt: Zu Beginn ihrer einer deutschen Studentin, die ne- Arten von Bewohnern des Meeres- Laufbahn wollte sie für ihre Dok- ben ihr auf dem Campus wohnte grunds – mit Netzen, Greifern oder torarbeit vor Ort herausfi nden, wie (wo man sie entgegen ihres aus- Tauchrobotern einzusammeln. Als Frauen im politischen System von drücklichen Wunsches einfach un- Wissenschaftler ist er dabei auf die Burkina Faso Einfl uss ausübten tergebracht hatte). Ruppert: »Das Hilfe und Kenntnisse der Techniker

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Die weite Rumpf- fl ächenlandschaft in der Sahelzone Burkina Fasos wird von markan- ten Inselbergen unterbrochen, die sich bis zu 200 m über die Landschaft erhe- ben. Nach dem schweiß trei ben- den Aufstieg bei mehr als 40 °C werden Konstantin König und Ama- dou Gida Hama- dou durch einen großartigen Pano- ramablick belohnt und bekommen zugleich einen hervorragenden Überblick über die Landschaftsstruk- tur.

und der Schiffsbesatzung angewie- einander so geht, dann wird’s – ehr- ter den realen Bedingungen erst sen. Selbst getaucht ist er noch lich gesagt – auch langweilig.« Tür- bewähren. nicht, aber es wäre ein Traum von kay ist selbst ein richtiger Seebär ihm, die Unterwasserwelt der Tief- und kennt keine Seekrankheit. Nicht nur in Brasilien oder see einmal per Tauchboot persön- Auch Angst brauche man auf den Aus tralien: Wasserdaten aus lich in Augenschein zu nehmen. Schiffen bei Sturm nicht zu haben, vielen Quellen fl ießen in Die eigentliche Forschungsarbeit solange die Maschinen in Ordnung integrative Gesamtmodelle erfolgt aber ohnehin nach dem sind. Gefährlich werde es nur, Eigentlich ist Feldforschung Fang, der Sortierung und der wenn das Schiff nicht mehr richtig nicht ihr Ding – jedenfalls nicht das Konservierung der Krebstiere zu steuern wäre, aber das ist ihm Erheben von Wasserverbrauchs- (Crustaceen), die ihn besonders noch nie passiert. daten, Pegelständen oder Nieder- interessieren, im Labor des For- Eine längere Forschungsreise ist schlagsmengen. Petra Döll, Profes- schungsinstitutes Senckenberg in auch ein wichtiges soziales Erleb- sorin am Institut für Physische Frankfurt. Trotzdem: Zum tieferen nis, bei dem sich alle Teilnehmer Geographie [siehe »Wasser welt- Verständnis der Bedeutung der zwangsläufi g sehr gut kennenler- weit«, Seite 54], weist darauf hin, Biodiversität der Meerestiere gehö- nen – besonders auf kleineren dass solche Daten fast überall – oft ren nach Überzeugung von Türkay Schiffen, in denen es kaum einen schon seit Jahrzehnten – systema- der unmittelbare Kontakt zum Rückzugsraum gibt. Größere Schif- tisch gesammelt werden. »Meine Meer und die vielen intensiven Er- fe sind aber im Grunde wie ein wissenschaftliche Aufgabe sehe ich lebnisse, die mit den meisten Mee- winziges Dorf, in dem man einan- darin, diese Daten sinnvoll zusam- resforschungsreisen verbunden der immer wieder begegnet. »Ich menzufügen in komplexen Ge- sind. »Es kann nicht schaden, lege meinen Studenten dann im- samtmodellen, mit denen ich für wenn auch meine Studentinnen mer ans Herz, zu den Besatzungs- längere Zeiträume und große Ge- und Studenten bei solchen Reisen mitgliedern kein zu enges Ver- biete gesellschaftlich relevante merken: Man kann nicht alles rati- hältnis aufzubauen, weil das Aus sagen über das Wassersystem onal steuern. Manchmal ist man erfahrungsgemäß bei längeren treffen kann. So entstehen am den Gewalten der Natur eben aus- Fahrten zu Konfl ikten führen Computer Expertensysteme, die geliefert – und kann vielleicht bei kann. Manchmal ist es gerade auf zum besseren Verständnis der was- Sturm tagelang nicht arbeiten.« engem Raum gut, eine gewisse Di- serwirtschaftlichen Zusammenhän- Das ist ihm bei einer Reise passiert, stanz zu wahren.« Bei Seereisen ge beitragen und als Grundlage für als er in der Nähe der Ekofi sk-Öl- trenne sich aus seiner Sicht schnell die Politikberatung dienen.« felder in der Nordsee gleich drei- die Spreu vom Weizen. Er spüre Dass Forschungsreisen vor Ort mal hintereinander vor dem Sturm sofort, wer für diese Art von wis- wichtige Voraussetzungen sind, um kapitulieren musste. »Da kann senschaftlicher Meeresforschung den Wasserkreislauf in einem be- man bloß noch die Wellen abrei- geeignet ist und wer vielleicht bei stimmten Gebiet besser zu verste- ten, wie das in der Seemannsspra- der Beschaffung seiner Forschungs- hen, weiß sie aber aus eigener Er- che heißt. Immer rauf und runter objekte lieber nicht so direkt auf fahrung. So waren die beiden 14- geht es dann – das ist für manche See den Elementen ausgeliefert tägigen Rundreisen im Nordosten schwer, für andere gut zu ertragen. sein möchte. Der Traum von der Brasiliens mit einer Doktorandin Aber wenn es 48 Stunden hinter- Meeresforschung müsse sich un- und einem US-amerikanischen

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Forschungsreisen durch den Nordosten Brasiliens verhalfen Prof. Petra Döll zu einem grundlegenden Verständnis der dortigen Wassersituation. Wichtig war vor allem der Austausch mit ihren Be- gleitern, einem US-amerikanischen Wasser ökonomen, brasilianischen Wis- senschaftlern und einer deutschen Dok- torandin.

Wasserökonomen beziehungsweise einem brasilianischen Kollegen keineswegs überfl üssig. Der erfah- rene Wasserökonom half ihr, sich rasch den aktuellen Forschungs- stand in der Wasserökonomie an- zueignen und ihn auf die brasilia- nische Situation anzuwenden, während der brasilianische Hydro- loge sie dabei unterstützte, Kon- takte zu Behörden aufzubauen und die lokalen hydrologischen und wasserwirtschaftlichen Ver- hältnisse zu verstehen. »Er hatte in Deutschland studiert und konnte sich insofern gut auf unsere von der deutschen Wissenschaftskultur schen Forscher entwickelten Soft- in Wolken der Regen entsteht«, geprägte Denkweise einstellen, was ware werden deshalb jetzt soge- Seite 29] damit nicht unbedingt unsere Arbeit sehr erleichterte«, nannte Wahrnehmungsgraphen in den Gedanken an Freiheit. Eher an betont Döll. Sie waren aber ohne- die Modelle integriert, die zuvor spannende Momente bei der Ver- hin – auch sprachlich – gut vorberei- durch Befragung von Experten folgung eines Jets mit dem For- tet: durch selbst an der Universität oder Schlüsselpersonen eruiert schungsfl ugzeug »Falcon« zwecks organisierte Kurse von Mutter- werden. So erprobte sie während sprachlern – mit Schwerpunkten ihres Forschungssemesters in Süd- auf Fach- und Alltagssprache. Döll: australien, wo Wassermanagement »Das hat sich sehr bewährt. Sonst schon lange ein wichtiges Thema hätten wir nicht einfach in einem ist, eine für Naturwissenschaftler kleinen Ort eine Verkäuferin von eher unübliche Form der Datenge- Elektrogeräten fragen können, ob winnung: Sie befragte einzelne Kunden beim Kauf einer Wasch- Personen nach deren Einschätzun- maschine auch etwas über den gen in Bezug auf das Management Wasserverbrauch wissen wollen. natürlicher Ressourcen. Was ist für Wollten sie übrigens nicht …« eine bestimmte Gruppe, einen be- Überhaupt die Menschen: Es är- stimmten Landstrich oder eine be- gert sie, dass die besten Datenerhe- stimmte Wirtschaftsform typisch? bungen und die schönsten Modelle So machte Petra Döll Bekannt- nichts bewirken, wenn die Men- schaft mit ehrenamtlichen Um- schen die aus Wissenschaftlersicht weltschützern, zum Beispiel mit ei- sinnvollen Handlungsstrategien nem Schafzüchterehepaar und nicht umsetzen – aus welchen einer Öko-Milchbäuerin. All diese Gründen auch immer. Das hat sie Begegnungen und Erfahrungen zu einem für sie neuen Forschungs- möchte sie nicht missen, aber sie gebiet geführt. Als »Modellierung ist sich nach wie vor sicher: »Mo- sozialer Akteure« beschreibt sie es; delle zu konstruieren, ist das grö- in die lockere Alltagssprache über- ßere Abenteuer.« setzt: Sie will wissen, wie die Men- schen wasserwirtschaftlich ticken – Über den Wolken und mittendrin und warum sie vernünftige Rat- Anders als Reinhard Mey in sei- schläge nicht in die Tat umsetzen. nem bekannten Song verbindet Welche unterschiedlichen Prob- Prof. Joachim Curtius [siehe »Wie lemsichten und Werte müssen bei der Modellkonstruktion mitberück- sichtigt werden, damit praktikable- Dr. Stephan Mertes, ein Kollege vom Leibniz-Institut für Troposphärenfor- re Ergebnisse mit Realisierungs- schung in Leipzig, im Forschungslabor chancen dabei herauskommen? auf dem Jungfraujoch – enger geht´s Mithilfe einer von einem holländi- nicht.

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Spannung pur erleben Prof. Joa- chim Curtius und seine Mitarbeiter, wenn sie mit dem Forschungsfl ug- zeug »Falcon« in nur 20 Metern Entfernung hinter einer Boeing her- fl iegen, um des- sen Emissionen zu messen.

Emissionsmessung. Denn mit nur liche Forschungsstation – es gibt Physik nicht zuletzt auch deshalb 20 Metern Entfernung einem Air- auch einen Bereich für Touristen, entschieden, weil es über die bus zu folgen, erfordert vom Pilo- die mit der Zahnradbahn kommen, Grundlagenforschung hinaus viele ten hervorragendes Geschick und aber spätestens um 16 Uhr wieder praktisch anwendbare Ergebnisse vom Operateur der Messinstru- abfahren – ist für 12, maximal 14 erzielt und zur Lösung der drän- mente, dem Wissenschaftler, ruhi- Bewohner ausgelegt. genden Klima- und Umweltproble- ges Blut. Ansonsten kommt es vor Gerade zu Beginn solcher For- me beitragen kann. Außerdem allem darauf an, den vorher detail- schungsreisen fällt die Anpassung schätze ich die Lebenserfahrung liert festgelegten Messplan einzu- schwer. Vor allem wegen der unge- durch Begegnungen mit interes- halten, um den Tag mit den extra wohnten Höhe. Unter Kopfschmer- santen Menschen aus aller Welt. für diesen Zweck gebuchten Flug- zen und Unruhe leiden die meisten Und man erlebt absolut Außerge- zeugen optimal zu nutzen. Da in den ersten beiden Tagen. »Auch wöhnliches! Großunternehmen bleibt für Angst wohl keine Zeit. dass man so eng beieinander lebt schicken ihre Führungskräfte auf Dass Flüge mitten ins Gewitter und arbeitet, ist man ja nicht ge- teure Outdoor-Seminare und deutlich mehr an die Nerven ge- wöhnt«, erklärt Curtius. »Die Zim- Überlebenscamps, um die Persön- hen, gibt er gerne zu. »So ein re- merchen sind sechs bis sieben Qua- lichkeit zu schulen; wir bekommen lativ kleines Forschungsfl ugzeug dratmeter groß, es gibt nur ein das hier im Studium und Beruf wird da schon mal plötzlich ohne Gemeinschaftsbad, einen größeren einfach so nebenbei mit«, freut Vorwarnung herumgewirbelt […] Aufenthaltsraum und eine Biblio- sich Curtius. Da wurde es mir sogar mal richtig thek. Gekocht wird meist reihum Also – ähnlich wie bei den an- schlecht.« und abends gemeinsam gegessen.« deren Expeditionen – scheint das Solche Turbulenzen brauchte er Man lebt auf sehr engem Raum Klischee vom einsamen, eigen- auf der hochalpinen Forschungs- zusammen und kann sich nicht bröt lerischen Naturforscher nicht station des Jungfraujochs in den spontan nach draußen begeben. (mehr) zu stimmen. »Man begeg- Schweizer Alpen nicht zu fürchten. Das wäre wegen der Gletscherspal- net allen Arten von Menschen und Dort hat er im Februar/März 2006 ten zu gefährlich. Möglich sind muss mit ihnen auskommen. So eine Messkampagne geleitet, bei Jogging-Runden im Tunnelsys- lernt man sich selbst auch genau der Eispartikelchen in Wolken ver- tem, vorgebuchte Zeiten auf dem kennen«, meint Curtius, eine Be- messen werden sollten. Nötig da- Trimm-Rad, Luftschnappen auf der wertung, der wohl alle Interview- zu – natürlich: schlechtes Wetter. Terrasse, aber viel mehr gibt es ten zustimmen. ◆ Solche Kampagnen dauern deshalb nicht. Curtius: »Das Labor mit den meist etwa sechs Wochen. In der vielen Instrumenten ist zudem so Station sind immer mehrere Wis- eng und vollgepackt, dass man dort Die Autorin senschaftler-Teams aus europäi- bei etwa 30 Grad nur im T-Shirt ar- schen Ländern parallel eingebucht. beitet, während man draußen viel- Marita Dannenmann, 55, arbeitet als freie Journalistin mit den Themen- Sie liegt 3500 m über dem Meeres- leicht Temperaturen von –30 Grad schwerpunkten demografi scher Wan- spiegel und dient schon seit mehr misst.« del, Bildung und Beruf. Die Diplom- als 100 Jahren der Forschung und »Ich habe mich für das For- Volkswirtin konzipiert, recherchiert und der Wetterbeobachtung. Die eigent- schungsgebiet Atmosphärische textet Ratgeber und Magazinbeiträge.

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16 UNI S86_100 2008_03.indd 100 27.11.2008 16:35:13 Uhr Gute Bücher Gute Bücher » … zu Erweiterung der Naturkenntniß unternommen …« Mit dem Aufklärer Georg Forster durch fremde Welten

r. Johann Reinhold Forster’s Sohnes damals an den Naturforscher der neuseeländische Waldschlüpfer »DReise um die Welt, auf Kosten Sir Joseph Banks verkauft, um seine oder der Tahiti-Laufsittich«. Neben der Grosbrittannischen Regierung, stets prekäre fi nanzielle Situation zu der chronologischen Übersicht der zu Erweiterung der Naturkenntniß verbessern und den Reisebericht Reise hätte man sich noch einen unternommen und während den überhaupt drucken zu lassen. Später Plan der Reiseroute gewünscht, so Jahren 1772 bis 1775, in dem von waren die Zeichnungen von Georg wird man allerdings ermuntert, selbst Capitain J. Cook commandirten Forster dann im »Natural History Schiffe the Resolution, ausgeführt. Museum« in London aufbewahrt Georg Forster Beschrieben und herausgegeben worden. Dass nun erstmals Text und von dessen Sohn und Reisegefährten Bild gemeinsam vorliegen, ist über- Reise um die Welt George (!) Forster. Vom Verfasser aus bemerkenswert – eine weitere Illustriert von eigener Hand (Sonderband der selbst aus dem Englischen über- Großtat der Anderen Bibliothek. Anderen Bibliothek) setzt.« So lautet das Titelblatt des Nur 290 Tage von insgesamt Verlag Eichborn, Frankfurt 2007 1784 bei Haude und Spener in Ber- 1100 Reisetagen hatten die Natur- ISBN 978-3-8218-6203-3 lin erschienen Reiseberichts; die forscher Zeit für ihre biologischen, 648 Seiten, deutsche Erstausgabe dieses Erfolgs- geologischen und ethnologischen 99 Euro buches datiert auf die Jahre 1778 Studien. »Die Auswertung ihrer For- und 1780. schungsergebnisse im wissenschaft- Georg Forster In seiner Ausführlichkeit enthält lichen Diskurs hatten die Forsters das Titelblatt alle wichtigen Informati- durch Klassifi zierung der Arten nach Reise um die Welt onen, und mit der Lesung des Titel- Linné’scher Vorschrift genau vor- Gelesen von Frank Arnold. blatts beginnt auch das Hörbuch, bereitet – jede neue Spezies wurde Produktion: eine dem Medienzeitalter angepasste binär mit einem lateinischen Subs- Eichborn Lido 2007, Fassung dieser Reisebeschreibung, tantiv für die Gattung und einem la- ISBN 978-3-8218-5464-9 6 CDs, 473 Minuten, bestens geeignet für unterwegs. In teinischen Adjektiv für die Art verse- 26,95 Euro fast acht Stunden liest Frank Arnold hen.« So erläutert Frank Vorpahl im eine Version des Textes, die sehr ge- Nachwort. Als Bildunterschriften sind einen Atlas zur Hand zu nehmen schickt gekürzt und durch Daten diese Klassifi zierungen nun nachzu- und auf Entdeckungsreise zu gehen. und Ortsangaben der Reiseroute lesen. Von den insgesamt 271 zoo- Als »armchair traveller« können wir strukturiert ist. In der Hörbuchfas- logischen und 301 botanischen den Weltreisenden begleiten, wäh- sung werden vor allem Ereignisse Zeichnungen, die sich durch Detail- rend wir auf den Bericht seiner Rei- und Beobachtungen mitgeteilt, wei- genauigkeit auszeichnen und neue sen hören. terführende Überlegungen und Re- Arten erstmals zeigen, wurde eine Gerade in Zeiten der Globalisie- fl exionen werden häufi g gestrichen; repräsentative Auswahl getroffen. rung lohnt sich ein Studium des lateinische Zitate entfallen. Bei der Der Band enthält viele, auch ganz- Spätaufklärers. Georg Forsters Wahr- Fülle des Materials ist das kein Scha- seitige farbige Abbildungen, die Fors- nehmung und Beschreibung fremder den, zumal die Stationen der Reise ters Zeichentalent beweisen und ei- Welten formuliert nicht nur zivilisati- auch als einzelne Episoden gehört nen guten Eindruck von der Arbeit onskritische Standpunkte, sondern werden können. Die literarische Qua- der Naturforscher vermitteln. lässt auch vielversprechende Ansät- lität Forsters kommt in der Lesung Dieser ausgesprochen schön ge- ze für einen Dialog der Kulturen er- sehr gut zum Ausdruck, denn Frank staltete, illustrierte Reisebericht, der kennen. So haben die Forsters einer- Arnold ist ein Kenner des Reisewer- der verbesserten zweiten Aufl age von seits die pazifi sche Wissenschaft kes. Eigenheiten des Forster’schen 1784 folgt, ist über ein Register der entschieden befördert und anderer- Stils liest er mit Überzeugungskraft, Personen, Tier- und Pfl anzennamen seits auch in Europa zur Herausbil- und wir hören den Bericht als span- gut erschlossen. Ergänzt wird er dung eines modernen erfahrungs- nende Nachrichten aus einer fernen durch ein einfühlsames biografi sches gesättigten und refl exiven Welt- und Welt. Vorwort von Klaus Harpprecht, das Menschenbildes beigetragen. Als Die Hörbuchkassette ist schön auch zwei Illustrationen des engli- eine der neuen Leitlinien notierte aufgemacht, denn sie enthält Zeich- schen Landschaftsmalers William bereits Friedrich Schlegel in seiner nungen, die Georg Forster während Hodges enthält und ein Nachwort Charakteristik Georg Forsters: »Auch der Reise angefertigte. Sie entstam- von Frank Vorpahl, das unter ande- das Vorurteil sollte nicht mit Gewalt men der ebenfalls 2007 im Eichborn rem über die Auswahl der Zeich- bekämpft werden.« ◆ Verlag erschienenen großformatigen nungen informiert. So wurden etwa Neuausgabe des Reiseberichts, in Zeichnungen vom Aussterben be- Die Rezensentin der die Zeichnungen von Tieren und drohter Arten für die illustrierte Neu- Prof. Dr. Carola Hilmes ist Literaturwissenschaftlerin und hat Pfl anzen erstmals zu sehen sind. ausgabe besonders berücksichtigt, den Beitrag » Aufbruchstimmung: Reisen in die nahe und die Reinhold Forster hatte die Blätter des »wie die Ulieta-Drossel auf Raiatea, ferne Fremde« [siehe Seite 12] geschrieben.

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 101 27.11.2008 16:36:12 Uhr Gute Bücher Volkszorn für die Kamera Ilija Trojanows Reportagen werfen Schlaglichter auf Menschen, Länder, Gesellschaften

ußball mag Völker verbinden, Land, sondern eine Sprache – die len etwa die Ideale des Umweltschut- Fdoch in Südafrika spielt die Apart- deutsche Sprache. Er kann gut mit zes auf die des Menschenschutzes, heid mit. Immer noch. Im Township ihr umgehen, wechselt häufi g den wenn Armensiedlungen geräumt und südlich von Kapstadt kicken hoff- Erzählstil und hat eine Schwäche für die Bewohner fünfzig Kilometer au- nungsvolle junge Männer auf Plätzen ungewöhnliche Bilder. Trojanow zeigt ßerhalb einfach auf Brachland aus- ohne Markierung, in Schuhen ohne seinen Lesern die Kellner in einem gesetzt werden, damit sich der Stadt- Stollen. Fürs Auswärtsspiel qualifi - indischen Restaurant, die »fl eder- wald erholen darf. Dass sie beim ziert ist, wer das Geld für die Bus- mäusig an der Wand« kleben und Abriss ihre wenigen Habseligkeiten den Niger, »so klein wie eine einge- verlieren, kümmert niemanden. Ilija Trojanow grabene Steppenschlange«. Das liest sich farbig und lebendig. » Statt dessen wird die Wahrheit Der entfesselte Globus Ob Trojanows Geschichten Repor- weiter begraben gehalten wie Reportagen tagen im klassischen Sinn sind, sei die Toten in den unmarkierten Carl Hanser Verlag, dahingestellt. Manche erscheinen Gräbern…« München 2008 eher als eine Aneinanderreihung von ISBN 978-3-446-23030-9 Eindrücken (»Savanne der Jugend«) Bedrückend ist die Reise, auf die 195 Seiten 17, 90 Euro oder als surreale Miniatur (»Oscar in Trojanow seine Leser nach Bulgarien Afrika«), mal sind es Buchbespre- mitnimmt. In diesem Land, dem chungen, Leitartikel oder philosophi- heutigen EU-Partner, ist das Unrecht sche Betrachtungen. Die Zusam- der Vergangenheit – wie andernorts menstellung hat etwas Beliebiges. auch – nie aufgearbeitet worden. Der Aber unzweifelhaft weiß Ilija Troja- Autor lässt einen Mann namens Ata- now, was er beschreibt und wovon er nas Moskow zu Wort kommen, einen spricht, er ist dort gewesen, er hat Sozialdemokraten, der im Gulag Un- fahrt zusammenkratzen kann. Das mit den Menschen gesprochen, er vorstellbares erlitten hat. Die Opfer sind die »Schwarzen«. Bei den »Far- bereichert die Sicht auf andere Län- des kommunistischen Regimes war- bigen« – die alte Rassen-Terminologie der um überraschende Facetten. So ten bis heute darauf, auch nur aner- scheint lebendig wie eh und je – ste- entpuppt sich etwa der wütende Pro- kannt zu werden. »Statt dessen«, so hen die Chancen für den Fußball- test junger Männer in Pakistan, die bilanziert Trojanow, »wird die Wahr- nachwuchs etwas besser, wenn auch Bilder von Salman Rushdie laut heit weiterhin begraben gehalten, wie nicht rosig. Und die »Weißen«? Die schreiend verbrennen und darauf die Toten in den unmarkierten Grä- spielen Rugby und verachten Fußball. herumtrampeln, als inszenierte und bern auf der Insel Magaretza.« Ob die WM 2010 das verändern wird? bar bezahlte Wirklichkeit, exklusiv Was könnte das Fazit dieses un- Ilija Trojanow wirft in seinem Buch fürs Fernsehen. Sobald die Kameras konventionellen Buches sein? Viel- »Der entfesselte Globus« Schlaglich- aus sind, legt sich der Volkszorn leicht das Lob des Respekts vorein- ter auf Länder und Gesellschaften, schlagartig, und die Leute gehen ander und der Vielfalt, denn – wie auf den Alltag und den Wahnsinn einen Tee trinken. Wie oft sieht der Ilija Trojanow schreibt – »Vielfalt war des Alltags in aller Welt. Stets geht Fernsehzuschauer solche Bilder? schon immer die große Stärke Euro- es dabei um Menschen und ihr Mit- Darf er seinen Augen und seinen pas«. Grenzen sollten als Zusam- einander angesichts oft widriger Urteilen trauen? menfl üsse begriffen werden, als Umstände. Sortiert sind die »Repor- »Spielweisen von Mischkulturen«. tagen«, so der Untertitel, nach Geo- Ist die eigene Sicht Wer sich innerhalb des Kontinents grafi e von Afrika bis Europa, wobei beschränkter als gehofft? abschotten wolle und glaube, dass Europa nur in Gestalt von Trojanows sein System das beste, dass seine Geburtsland Bulgarien vorkommt. Beim Lesen drängt sich ohnedies der Kultur vollendet und fertig sei – der Die Geschichten aus dem ehemali- Verdacht auf, die eigene Sicht sei glaube letztlich an das Ende der Ge- gen Ostblockstaat sind aber die er- beschränkter als gehofft (wenn auch schichte. »Er ist somit dem Tod ge- schütterndsten von allen. sicher nicht so beschränkt und dün- weiht.« ◆ kelhaft wie die Sichtweise jener Kreuz- Heimat ist für ihn kein Land, fahrt-Passagiere, die Trojanow in Die Rezensentin sondern eine Sprache einer der Geschichten gnadenlos vorführt). Dass die indische Stadt Ariane Stech, 48, ist freiberufl iche Jour- Der Autor ist ein Kosmopolit, ein Rei- Bombay Slums und viele Probleme nalistin und arbeitet in der Nähe von sender, der nach Umwegen auch hat, weiß im Westen jeder. Aber wie Bonn. Als Kind hat sie bereits vielfältige Erfahrungen mit anderen Kulturen ge- über Deutschland die Jugend in Afri- vielschichtig und kompliziert sich sammelt – mit ihren Eltern hat sie lange ka verbracht hat und heute in Wien das Mit- und Nebeneinander der in Namibia und England gelebt, heute lebt, mit zahlreichen Stationen da- Menschen gestaltet, das ist den gehört das facettenreiche Leben in Groß- zwischen. Heimat ist für ihn kein meisten Lesern sicher neu. Da pral- britannien zu ihren Spezialthemen.

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 102 27.11.2008 16:36:12 Uhr Gute Bücher Im Kanon der Geschichtswissenschaft angekommen Eine souveräne Synthese der Umweltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts

it der Aufnahme in die renom- weltpolitische Praktiken weitgehend markante methodische und themati- Mmierte »Enzyklopädie deutscher auf bereits zuvor angelegten Pfaden sche Vielfalt der Umweltgeschichte, Geschichte« scheint die Umweltge- bewegten. Ob allerdings der »Boom« ohne, wie lange Zeit üblich, verbis- schichte endgültig im Kanon der Ge- der Naturschutzarbeit während des sen nach einer verbindlichen, ein- schichtswissenschaft angekommen Nationalsozialismus – wie von Ueköt- heitlichen Klammer zu suchen. zu sein. Uekötter belegt mit dieser ter behauptet – weniger auf eine ideo- Dabei ist es erfreulich, dass den Arbeit sowohl das große Spektrum logische Affi nität der entscheidenden fruchtlosen vergangenen Debatten als auch die enorme Dynamik um- Akteure zur Blut- und Boden-Ideolo- um eine bio- oder anthropozentri- welthistorischer Themen und Ansät- gie, dafür aber umso mehr auf Her- sche Umweltgeschichte nur wenig ze und bietet, innerhalb der vorge- mann Görings private Initiativen und Platz eingeräumt wird. Ohne die gebenen Struktur, die sich in einen speziell seine Jagdleidenschaft zu- Eigenlogik der natürlichen Umwelt »Enzyklopädischen Überblick«, ei- rückzuführen ist, bleibt – zumindest zu bestreiten, macht Uekötter noch nen Abschnitt »Grundprobleme und in dieser holzschnittartigen Skizze – einmal deutlich, dass die Fragestel- Tendenzen der Forschung« sowie zweifelhaft. Abschließend behandelt lungen der Umweltgeschichte un- einen thematisch geordneten Quel- Uekötter die Nachkriegszeit, wobei vermeidlich anthropozentrisch be- len- und Literaturteil gliedert, eine die Umweltgeschichte der DDR deut- gründet sind. anregende Orientierung in das noch lich weniger Raum einnimmt, was Einen Band für die Reihe »Enzyk- recht junge Forschungsfeld. aber vor allem die in diesem Bereich lopädie deutscher Geschichte« zu Unter Verweis auf aktuelle Prob- bestehenden Desiderate der For- verfassen, bedeutet vor allem, die Er- lemlagen wie etwa globale Erwär- schung spiegelt. Insgesamt sei die mung, Atomkraft oder »Artenster- Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ei- Frank Uekötter ben« liefert Uekötter eine souveräne ne umwelthistorische Wasserscheide, Synthese der Umweltgeschichte des die insbesondere ab den 1970er Jah- Umweltgeschichte 19. und 20. Jahrhunderts. Das gilt ren durch den Aufstieg der Umwelt- im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher insbesondere für den ersten Teil, den bewegung und, auf der politischen Geschichte 81) enzyklopädischen Überblick, der die Ebene, durch die Gen scher’sche Oldenbourg Wissenschafts- Hauptwerke und Probleme der For- Umweltpolitik geprägt war. verlag, München: 2007 schung berücksichtigt. In dieser ISBN 978-3-486-57631-3, Beziehung kann hervorgehoben wer- Ein wichtiges und hilfreiches 160 Seiten, den, dass der Autor auch den Er- Buch, das den problemorien- 19,80 Euro trägen der ausländischen Forschung tierten Einstieg in die Umwelt- die gebührende Aufmerksamkeit geschichte erleichtert schenkt und dadurch gerade »Ein- steigern« interessante Debatten der Im zweiten Teil, der den »Grundpro- Umweltgeschichte eröffnet. blemen und Tendenzen der For- Der Forschungsüberblick ist chro- schung« gewidmet ist, präsentiert träge der Forschung auf knappem nologisch geordnet. Während das Ueköeter zehn zentrale Felder der Raum sinnvoll zusammenzufassen, 19. Jahrhundert als eine Art umwelt- Umweltgeschichte. Beginnend mit zuverlässig über den Forschungs- historisches »Ancien Regime« zur einem Überblick zu der doch über- stand inklusive seiner noch weißen Industriemoderne charakterisiert schaubaren Anzahl von Fachzeit- Flecken zu informieren und auf die wird, das vor allem den Übergang schriften, umwelthistorischen Buch- relevanten wissenschaftlichen Kont- vom Zeitalter des Holzes zu fossilen reihen und Basisliteratur sowie einer roversen hinzuweisen. Diese Aufgabe Energieträgern markiere, deutet der Skizze der bescheidenen Ansätze hat Uekötter gemeistert. Das Buch Autor das Kaiserreich als eine um- einer Institutionalisierung in der uni- bietet gemäß seiner Konzeption ei- welthistorische Sattelzeit. Sie ist ge- versitären Landschaft, widmet er nen generellen Überblick und einen prägt durch das Spannungsverhält- sich der Ideengeschichte der Umwelt systematisierenden Zugriff auf die nis von anhaltenden ökologischen und Natur. Daran anknüpfend be- Umweltgeschichte und ist eine wich- Krisensituationen im Zuge des Wan- handelt der Autor die Wald- und tige und hilfreiche Arbeit, die vor al- dels vom Agrar- zum Industriestaat Forstgeschichte, Ressourcenproble- lem den problemorientierten Einstieg einerseits und mannigfaltigen Lö- me, Umweltverschmutzung und in das Thema erleichtert. Das Werk sungsstrategien staatlicher sowie Stadthygiene sowie den Naturschutz kann sowohl »alten Hasen« als auch zivilgesellschaftlicher Akteure ande- und die Umweltbewegung nach Einsteigern uneingeschränkt zur Lek- rerseits. Demgegenüber wird die ge- 1945. Hinzu kommen umwelthistori- türe empfohlen werden. ◆ meinsam behandelte Zeit der Wei- sche Aspekte der Landwirtschaft marer Republik und des Nationalso- sowie das noch junge Themenfeld Dr. Noyan Dinçkal, 39, ist wissenschaft licher Mitarbeiter am zialismus als eine Periode relativer »Natur als Gefahr und Risiko«. Ab- Lehrstuhl für Technikgeschichte an der Technischen Universi- Ruhe bezeichnet, in der sich um- schließend unterstreicht Uekötter die tät Darmstadt.

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 103 27.11.2008 16:36:13 Uhr Gute Bücher Politik von heute für die Welt von morgen Wie ein Bewusstsein von Nachhaltigkeit auf der Ebene der Weltpolitik den Krieg vermeiden könnte

ie müssten die Vorraussetzungen das zwar sehr plausibel. Doch Müller gem Regieren. Er darf daher nicht Wfür nachhaltiges Weltregieren macht eindrucksvoll deutlich, dass Mittel zum Zweck sein. Müller geht aussehen? Dieser Frage geht Harald gerade der westliche Herrschaftsan- sogar noch weiter und sagt, dass es Müller, Leiter der Hessischen Stiftung spruch eher Teil des Problems denn möglich wäre, den Krieg als politi- für Friedens- und Konfl iktforschung der Lösung ist. Eine wirklich nachhal- sches Mittel abzuschaffen. Dies sei und Professor für Internationale Be- tige Entwicklung kann nur dann statt- kein frommer Wunsch, sondern kön- fi nden, wenn die westliche Welt es ne durchaus vernünftige Realpolitik Harald Müller versteht, die nicht demokratischen sein. Seiner Meinung nach sind alle Staaten als solche zu integrieren und derzeitigen Konfl ikte lösbar. Wenn sie Wie kann eine neue nicht zu bevormunden. Müller, der auch nicht sofort beizulegen sind, so Weltordnung aussehen? schon 2001 mit »Das Zusammenle- können sie doch so lange einge- Wege in eine nachhaltige Politik ben der Kulturen« ein Gegenkonzept dämmt werden, bis sich die streiten- Fischer Taschenbuch Verlag zu Huntingtons »Kampf der Kultu- den Parteien kompromissbereit zei- Frankfurt am Main 2008 ren« entwarf, weist darauf hin, dass gen, weil sie des Kampfes müde ISBN 978-3596176663 gerade der Umgang mit Verschieden- sind. Die Kontrahenten brauchen ei- 320 Seiten, heit einer der Schlüssel zu erfolgrei- nen Mediator, der sowohl mit freund- 9,95 Euro chem nachhaltigem Weltregieren ist. lichem als auch mit unfreundlichem Nur wenn Verschiedenheit akzeptiert Druck auf sie einwirkt. wird, ist es möglich, Konfl ikte zu lö- Um diese Welt ohne Krieg zu er- sen, indem Entscheidungen getroffen möglichen, sollte nach Ansicht des werden, die für alle Streitparteien ak- Politikwissenschaftlers und -beraters ziehungen an der Goethe-Universität, zeptabel sind. Damit dieses Wirklich- an der zentralen Rolle der Staaten in seinem im Fischer Verlag erschie- keit werden kann, muss akzeptiert festgehalten werden. Sie allein sind nenen Buch nach. Mit dem Begriff werden, dass auch Akteure, die Men- in der Position gegenüber den Men- der Nachhaltigkeit verbindet man ge- schenrechtsverletzungen begehen schen, die in ihrem Gebiet leben, wöhnlich einen verantwortungsvollen oder gar Diktaturen, legitime Akteu- Recht durchzusetzen. Des Weiteren Umgang mit ökologischen und ökono- re sind. Eine durchaus provokante führt er an, dass es nur dann mög- mischen Ressourcen. Was bedeutet These, die den Leser im ersten Mo- lich ist, die politische Autonomie der nun aber nachhaltiges Weltregieren? ment vielleicht irritiert, wenn nicht gar Völker zu schützen, wenn Regeln Offensichtlich ist, dass nicht nur ein- schockiert. Es passt nicht zu unseren zwischen Staaten vereinbart werden. zelne Länder von Umweltkatastrophen säkularen und liberalen Vorstellun- Allerdings stehen sie schon lange oder der Finanzkrise betroffen sind, gen, mit Diktaturen zu kooperieren nicht mehr alleine da. Internationale sondern alle. Um in der Zukunft um- und Unterdrückung hinzunehmen. Organisationen und Nichtregierungs- zusteuern und Risiken für Natur und organisationen sowie Unternehmen Mensch zu vermeiden, bedarf es also Krieg als Hauptfeind haben längst einen festen Platz in einer gemeinsamen Lösungsstrategie. von nachhaltigem Regieren der internationalen Gemeinschaft ein- Diese kann nur gefunden werden, genommen und werden zu Recht in wenn sich alle betroffenen Parteien Wenn aber Entscheidungen über die Fragen internationaler Politik ange- an einen Tisch setzen und bereit sind, Köpfe dieser Akteure hinweg und hört. Der Staat ist stark, bedarf zur miteinander zu verhandeln. Klingt ein- nicht mit ihnen zusammen entwi- Umsetzung nachhaltiger Politik aber fach, ist es aber nicht. ckelt werden, so sind sie mit großer der Zivilgesellschaft. Gleich zu Beginn erläutert Müller Wahrscheinlichkeit nicht dauerhaft Müller bringt seine Thesen in all- die vier Optionen des Weltregierens – umsetzbar. Und sie lassen sich auch gemein verständlicher Sprache vor, das Imperium, den Friedensbund der nicht durch Kriege aufzwingen. Ha- so macht er seine wissenschaftlichen Demokratien, die Weltrepublik und rald Müller, Experte für Rüstungskon- Überlegungen von hoher gesell- Global Governance –, um sie gleich trolle und langjähriges Mitglied des schaftlicher Relevanz einem breiten darauf zu verwerfen. Das scheint Beratungsausschusses zu Abrüs- Publikum zugänglich. Nachhaltige auf den ersten Blick befremdlich: tungsfragen des Generalsekretärs der Veränderungen und vor allem Ver- Entstünde denn der Frieden auf der Vereinten Nationen, verweist darauf, besserungen in der Gesellschaft kön- Welt nicht von selbst, wären alle dass die »Ordnungskriege« und die nen nur gelingen, wenn alle daran Staaten erst einmal demokratisiert? »humanitären Interventionen« der teilnehmen; und jeder Einzelne kann Für unsere westlichen Ohren klingt 1990er Jahre alle ernüchternde Bi- etwas tun. Harald Müller rät den Le- lanzen vorzuweisen haben. Und auch sern, sich zu informieren, Zeitung zu Die Rezensentin der Irakkrieg hat gezeigt, dass ein ge- lesen, in die Politik zu gehen, Leser- wonnener Krieg noch lange nicht be- briefe zu schreiben. Meine Empfeh- Kerstin Eisbrenner hat Politikwissenschaften an der Goethe- Universität studiert und ist Projektmanagerin der Frankfurt deutet, dass Sicherheit und Ordnung lung lautet: Lesen Sie für den Anfang Graduate School for the Humanities and Social Sciences an einziehen. Ganz im Gegenteil ist der doch ein gutes Buch – dieses Buch der Universität Frankfurt. Krieg der Hauptfeind von nachhalti- zum Beispiel! ◆

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 104 27.11.2008 16:36:13 Uhr Gute Bücher Die globale Zukunft der Gewalt Führt der Klimawandel des 21. Jahrhunderts zu einer bisher unbekannten Eskalation der Gewalt?

nter dem etwas irreführenden Ti- (etwa der US-Soldaten in Vietnam »Klimakriege« Utel »Klimakriege« beschreibt der oder der Hutu in Ruanda 1994) ext- gab es schon früher Sozialpsychologe Harald Welzer, wie reme Gewalteskalationen auslösen Ressourcenknappheit zu sozialen können. Beispiele für unlogisches Fragwürdig ist weiterhin, ob der aktu- Katastrophen – Gewaltexzessen und Verhalten fi ndet der Autor auch im elle Klimawandel die Hauptursache Flüchtlingswellen – führen kann. Sei- Größenwahn, der zur Natur- und für den Krieg im Sudan ist. Zwar be- ne zentrale These ist, dass infolge Selbstzerstörung eines Volkes führt schreibt Welzer eindrücklich, wie die des Klimawandels die privilegierten (wie auf den Osterinseln) sowie in Bevölkerungsgruppen entlang ethni- Weltregionen von riesigen Flücht- kriegerischen Auseinandersetzun- scher Grenzen um die abnehmen- lingswellen erfasst werden, die ge- gen, die durch Habgier verlängert den Ressourcen konkurrieren. Er walttätige Reaktionen hervorrufen. werden (wie in Afghanistan oder zeigt jedoch gleichzeitig, wie die su- Als Beleg dient dem Autor der Krieg Darfur). Ebenso kritisiert er es als danesische Regierung den Konfl ikt in Darfur, der seiner Einschätzung unmenschlich, wie Europa sich aus verschärfte, indem sie ihn ethnisierte nach der erste »Klimakrieg« ist. Angst vor »Überfremdung« abschot- und traditionelle Formen der Kon- Den Klimawandel beschreibt Wel- tet. Für alle diese alarmierenden fl iktlösung unmöglich machte. Hier zer anhand des vierten Sachstands- Phänomene muss die globale Ge- hat also offensichtlich das Staatssys- berichts des Weltklimarates IPCC des sellschaft seiner Meinung nach Lö- sungen fi nden. Jahres 2007, nach dem die Mensch- Harald Welzer heit seit Mitte des 19. Jahrhunderts Zu kritisieren ist, dass Welzer krie- eine starke, größtenteils anthropogen gerische Auseinandersetzungen, die Klimakriege. verursachte Erderwärmung erlebt. durch einen Klimawandel verursacht Wofür im 21. Jahrhundert Durch die Trägheit des Klimasystems werden, als grundsätzlich neues Phä- getötet wird wird diese noch einige Jahrzehnte nomen betrachtet. Ein Blick in die S. Fischer Verlag, anhalten – selbst wenn die optimis- Geschichte zeigt, dass auch in der Frankfurt am Main 2008 ISBN-10 3100894332 Vergangenheit Klimaänderungen zu tischsten Szenarien zur Einsparung 335 Seiten, von Treibhausgas eintreffen sollten. verschlechterten Lebensbedingun- 19,90 Euro. Der Klimawandel wird in vielen Welt- gen und daraus resultierenden Kon- regionen zu verschlechterten Lebens- fl ikten führten. So brachte die Kleine bedingungen führen und die Ent- Eiszeit, die bis ins 19. Jahrhundert wicklung von Konfl ikten beeinfl ussen. andauerte, Nahrungsmangel, Seu- Eine der Stärken des Buches liegt chen und gewalttätige Unruhen mit tem versagt. Folgt man dem Histori- zweifellos darin, drastische Zukunfts- sich: Dazu zählen der Dreißigjährige ker Wolfgang Behringer in seiner szenarien zu entwerfen, die auf na- Krieg, der Sturz der Ming-Dynastie »Kulturgeschichte des Klimas«, so turwissenschaftlichen, soziologischen und die Französische Revolution. In- sah man bereits in der Kleinen Eis- und historischen Informationen beru- sofern ist der Krieg in Darfur nicht zeit, im Zeitalter der Aufklärung, hen. Die Notwendigkeit zum Han- der erste Klimakrieg. Hungerkatastrophen als Versagen deln ist daraus eindeutig erkennbar. Warmphasen wie das Optimum der staatlichen Institutionen an. Besonders interessant wird es, wenn der Römerzeit (zirka 500 v. Chr. bis Funktionierende Staatssysteme kön- Welzer Verhaltensformen bei sich än- 400 n. Chr.) und die Hochmittelalter- nen sozialen Katastrophen vorbeu- dernden Lebensbedingungen sozial- liche Warmzeit (zirka 1000 bis gen. Ein weiterer, von Welzer nicht pyschologisch interpretiert; so reagie- 1300 n. Chr.) brachten zwar günstige- ausreichend berücksichtigter Aspekt ren Menschen auf Naturkatastrophen re Lebensbedingungen, führten aber ist die Bevölkerungsexplosion: Die völlig unterschiedlich, und zwar ab- gleichzeitig zur Expansion von Hoch- Bevölkerung hat sich im 20. Jahr- hängig davon, wie vorhersehbar das kulturen auf Kosten anderer Völker. hundert verfünffacht. Ereignis für sie war. Die Menschen So fi elen in die erste Warmzeit die Welzer legt ein aufrüttelndes, in- neigen im Falle angekündigter Natur- Blütezeiten der Han-Dynastie und formatives Buch vor, auch wenn er katastrophen weniger zur Schuldpro- des Imperium Romanum. Die zweite den Beweis schuldig bleibt, dass der jektion auf unschuldige Sündenböcke. Warmzeit sah die Verbreitung der Wi- Klimawandel erstmals die »Ursache kinger bis Nordamerika und die Bil- Nr. 1« für kriegerische Konfl ikte sein Welzer entwirft drastische dung des Heiligen Römischen Rei- soll. Er ist – wie bei früheren Katast- Dr. Bodo Ahrens, Zukunftsszenarien, die zum ches. Durch die günstigen rophen – eine wichtige Mitursache; 41, ist Professor Handeln auffordern Lebensbedingungen kam es zu ei- und zusammen mit dem Raubbau am Institut für At- nem starken Bevölkerungswachs- an der Natur, der Bevölkerungsex- mosphäre und Um- Welzer zeigt außerdem, wie wenig tum. Gleichzeitig brachte die Hoch- plosion und dem Versagen der Insti- welt an der Goethe- Universität und die Entwicklung von Gesellschaften mittelalterliche Blütezeit auch die tutionen könnte er die von Welzer leitet dort die Ar- logischen Theorien folgt und wie sehr Kreuzzüge. Aber gab es Klima kriege prophezeiten gewaltigen sozialen beitsgruppe »Me- im Gegensatz dazu »gefühlte Proble- aufgrund günstiger Klimabedingun- Umwälzungen mit Dauerkriegen und soskalige Meteoro- me« oder Bedrohungsszenarien gen? Flüchtlingsmassen verursachen. ◆ logie und Klima«.

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 105 27.11.2008 16:36:13 Uhr Gute Bücher Gentechnik gegen Hunger? Biochemiker Klaus Halbrock sucht Lösungen für Probleme der Welternährung

mmer wieder weist die Ernährungs- Themen aus dem Bereich der nach- deren ethische Bewertung. Der Autor, Iund Landwirtschaftsorganisation der haltigen Entwicklung den Forschungs- Professor für Biochemie, sieht als Vereinten Nation FAO (Food and Agri- stand und mögliche Optionen allge- entscheidendes Kriterium für die culture Organization) darauf hin, dass mein verständlich darzustellen. ethische Bewertung der Gentechnik mehr als 800 Millionen Menschen in in der Landwirtschaft die Gegenüber- der Welt unterernährt sind und das Jeder zusätzliche Mensch … stellung eines verstärkten Eingriffs in Ziel der Weltgemeinschaft, den Hun- ein Nahrungskonkurrent die Evolution von Nahrungspfl anzen ger bis 2015 zu halbieren, in fast un- und einer ökologischen Gefährdung erreichbare Ferne rückt. Zwar ist seit In insgesamt neun Kapiteln widmet durch Übernutzung der Biosphäre 1960 der globale landwirtschaftliche sich der Autor der Frage, wie die für die menschliche Ernährung. Doch Ertrag um rund zwei Prozent pro Jahr menschliche Ernährung trotz anhal- habe die Gentechnik ihren Nutzen gestiegen und ermöglichte trotz Be- tenden Bevölkerungswachstums und für die menschliche Gesundheit und völkerungswachstums eine höhere zunehmender Umweltdegradierung Landwirtschaft bereits vielfach be- Kalorienversorgung pro Kopf. Doch langfristig gesichert werden kann. wiesen. »Aufgrund bisheriger Erfah- diese Zunahme hat vor allem in na- Dabei wird gleich im Vorwort die rung sind Schäden für Mensch und turräumlich, technologisch und struk- »Grüne Gentechnik« als wichtiger Umwelt bei richtiger Handhabung turell begünstigten Regionen stattge- Lösungsansatz favorisiert: Der wirt- der Gentechnik nicht zu erwarten. funden, während Länder in Afrika schaftliche Gewinn gentechnisch ver- Gegenteilige Befürchtungen ohne südlich der Sahara und kleinbäuerli- änderter Agrarpfl anzen komme vor sachlich fundierte Begründung sind che Regionen in Lateinamerika und allem Kleinbauern in Entwicklungs- Ausdruck mangelnder globaler Ver- Teilen Asiens ihre Flächenproduktivi- ländern zugute, und durch verringer- antwortung und Ergebnis einer sen- ten Einsatz von Pfl anzenschutzmit- sationellen oder ideologischen Verfäl- Klaus Hahlbrock teln profi tiere die Umwelt erheblich. schung von Inhalten und Zielen der Kann unsere Erde die Menschen noch Beide Aussagen sind wissenschaft- Gentechnik.« ernähren? lich hochgradig umstritten. Im letzten Kapitel werden Schluss- Bevölkerungsexplosion – Umwelt – Die ersten drei Kapitel des Buches folgerungen für die Praxis gezogen: Gentechnik befassen sich mit der Entwicklung der Neben verbesserter chemischer, me- Fischer Taschenbuch Verlag, Weltbevölkerung und ihren ökologi- chanischer und biologischer Verfah- Frankfurt am Main 2007 schen Folgen, der historischen Ent- ren der Pfl anzenzüchtung, Düngung ISBN 978-3-596-17272-6 wicklung von Naturverständnis, Land- und des Pfl anzenschutzes wird die 318 Seiten, 9,95 Euro wirtschaft und urbaner Lebensweise Reduktion der Bevölkerungszahl als sowie der Stellung des Menschen in eine der dringlichsten Aufgaben be- seiner Umwelt. Wir erfahren von den trachtet, um eine ausreichende Errungenschaften der Neolithischen menschliche Ernährung zu gewähr- tät kaum steigern konnten. Entspre- Revolution, dem Leben früher Hoch- leisten. chend hat zwar der Anteil der Hun- kulturen in der Bronzezeit, den Epi- Zwar ist das Buch leicht lesbar gernden und Unterernährten seit demien im Mittelalter und dem ambi- und auch für wissenschaftliche Laien 1990 global abgenommen, doch in valenten wissenschaftlich-techni- verständlich, doch die Darstellung den Entwicklungsländern ist die Zahl schen Fortschritt der Gegenwart. Das des Forschungsstandes ist selektiv der Unterernährten im Zeitraum 1995 Bevölkerungswachstum in Entwick- und unausgewogen. Eine differen- bis 2003 wieder gestiegen. Die aktu- lungsländern hält der Autor für eine zierte Auseinandersetzung mit der elle Nahrungsmittelkrise hat diese wesentliche Bedrohung der Existenz- Bedeutung der Gentechnik in der Trends noch verschärft. und Ernährungssicherung: »Jeder Landwirtschaft suchen die Leserin Die Ursachen von Hunger, Armut zusätzliche Mensch ist nicht nur und der Leser ebenso vergeblich wie und Unterernährung sind komplex, Nahrungskonkurrent, er trägt auch mit den Ursachen und Folgen der und entsprechend lückenhaft ist das durch sein bloßes Dasein und seine globalen Bevölkerungsentwicklung. Wissen über die ökologischen, öko- Ansprüche an Lebensqualität unaus- Soziale Aspekte wie etwa die Bedeu- nomischen, sozialen und politischen weichlich zur weiteren Reduktion der tung von Geschlechterrollen in der Wirkungszusammenhänge und Lö- Artenvielfalt und zu den vielen sonsti- Landwirtschaft fi nden keinerlei Be- achtung. Die Rezensentin sungsansätze. Diese Leerstelle will gen Gefährdungen der Umwelt bei.« die Publikation von Klaus Hahlbrock Besonders auffällig ist die fehlen- Dr. Diana Hummel füllen und beginnt mit einer ein- Ideologische Verfälschung … de Auseinandersetzung mit den welt- ist wissenschaftli- drücklichen Beschreibung des Prob- von Zielen der Gentechnik wirtschaftlichen und politischen Rah- che Mitarbeiterin lems. Das Buch wurde konzipiert im menbedingungen landwirtschaftlicher am Institut für so- Rahmen der von Klaus Wiegand her- In den folgenden vier Kapiteln wird Produktion und Ernährungssiche- zial-ökologische Forschung [siehe ausgegebenen Buchreihe »Forum die Pfl anzenzüchtung behandelt und rung, zum Beispiel den Folgen der auch Autoreninfo für Verantwortung«, die darauf ab- hier insbesondere die Gentechnik in Globalisierung und der Liberalisierung auf Seite 63] zielt, zu insgesamt zwölf zentralen Forschung und Anwendung sowie der Agrarmärkte. ◆

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 106 27.11.2008 16:36:14 Uhr Gute Bücher Elendsviertel – die dunklen Seiten der explodierenden Megastädte Amerikanischer Stadtforscher prognostiziert: 2030 leben zwei Milliarden Menschen in Slums

ike Davis gilt als einer der kri- das Angebot von Arbeitsplätzen an- auf einen »Planeten der Slums« zu Mtischsten amerikanischen Stadt- getrieben« sei. bewegen. Doch der überwiegend forscher und beschäftigt sich seit deskriptive Zugang und eine Erzähl- Jahren mit den dunklen Seiten der Staatliches Desinteresse an technik der Montage lassen beim Le- Stadtpolitik. Die Verdrängung und den Lebensverhältnissen der sen schnell den Überblick verlieren. Kriminalisierung von marginalisierten »Überfl üssigen« Dort, wo Beobachtungen aus Manila, Bevölkerungsgruppen in Los Angeles Lagos und Mumbai in kurzen Ab- (City of Quartz. Ausgrabungen der Mit Beispielen aus dutzenden Städ- Zukunft in Los Angeles, 1994) und ten in den drei Kontinenten des Sü- Mike Davis die ökologischen Effekte der voran- dens beschreibt Davis eindrucksvoll schreitenden Verstädterung (Ökolo- die katastrophalen Lebensverhältnis- Planet der Slums gie der Angst. Das Leben mit der Ka- se in solchen Siedlungen. Armut und Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2007 Hunger, Krankheiten und Seuchen tastrophe, 1999) gehören ebenso in ISBN 978-3-935936-56-9 sein Repertoire wie etwa die Ausbrei- bestimmen das düstere Bild der 248 Seiten, tung der Vogelgrippe (Vogelgrippe. Slums. Doch Davis bleibt nicht bei 20 Euro Zur gesellschaftlichen Produktion einer Beschreibung und Typologie von Epidemien, 2005) und Hunger- verschiedener Formen von Slums katastrophen (Die Geburt der Dritten stehen, sondern begibt sich auf die Welt. Hungerkatastrophen und Mas- Suche nach Ursachen: Die durch senvernichtung im imperialistischen Industrialisierung und Strukturan- Zeitalter, 2004). In seinem aktuellen, passungsmaßnahmen zerstörten nun auch in der deutschen Überset- Existenzbedingungen der Landbevöl- zung vorliegenden Buch wendet er kerung, ein unzureichender Woh- schnitten ineinanderfl ießen, entste- sich den Elendssiedlungen der welt- nungsbau und das staatliche Desinte- hen Bilder, die sich einer systema- weiten Megastädte zu. resse an den Lebensbedingungen tischen Analyse entziehen. »Slum« wird dabei zu einem Syn- der Armen und Überfl üssigen wer- onym und Sammelbegriff für meist den von Mike Davis als »Verrat des Eine eindrückliche Spurensuche informell errichtete Elendsviertel Staates« beschrieben. Meist – so der für die Ärmsten der Armen in den Autor – greift der Staat erst ein, wenn Das Buch liest sich als bedrückende schnell wachsenden Städten des die Slums zu unregierbaren und da- Spurensuche des städtischen Elends Südens. Zum ersten Mal in der Ge- mit gefährlichen Siedlungen ange- der Gegenwart, und statt der erhoff- schichte der Menschheit – so Davis – wachsen sind. Kriminalisierung der ten Auswege skizziert Davis zum lebt der größte Anteil der Weltbevöl- Bewohner und Versuche, mit militä- Ausklang seiner Studie ein Szenario kerung in Städten. Insbesondere die risch-polizeilichen Instrumenten die des Krieges. So zitiert er strategische sogenannten Megastädte in Afrika, Slums zu beseitigen, seien eher ein Überlegungen aus dem Umfeld der Asien und Lateinamerika wachsen Krieg gegen die Armen denn ein US-Army, die die »failed cities« der in einem schreckenerregenden Tem- Kampf gegen die Armut. Selbst die Dritten Welt – und vor allem ihre äu- po zu Metropolen mit über zehn wohlmeinenden Selbsthilfeprogram- ßeren Slumbezirke – zu »Schlachtfel- Millionen Einwohnern. Davis spricht me von internationalen Institutionen dern des 21. Jahrhunderts« erklären. von »explodierenden Städten«. Ein würden letztlich die Armut weiter ver- Trotz oder gerade wegen dieser Hoff- großer Teil dieses rasanten Wachs- schärfen, weil sie auf private Investi- nungslosigkeit ist das Buch ein Muss tum geht auf die stete Ausbreitung tionen setzen und die Siedlungen in für alle, die sich den globalen städti- der überfüllten Armensiedlungen die Verwertungskreisläufe des Woh- schen Herausforderungen stellen zurück, die keinen angemessenen nungsmarktes zu integrieren versu- wollen. ◆ Zugang zu Trinkwasser und sanitä- chen. Diese Programme verbesser- ren Einrichtungen haben und deren ten zwar die Situation der räumlichen rechtlicher Status ungesichert ist. Strukturen, nützten aber denen we- Bis zum Jahr 2030 – so die Progno- nig, die nicht genug haben, um dort Der Rezensent se von Davis – wird die globale Slum- weiterhin zu wohnen. bevölkerung auf zwei Milliarden Das vorliegende Buch gibt einen Dr. Andrej Holm ist Soziologe und koordi- Menschen anwachsen. Im Gegen- guten und umfangreich recherchier- niert am Institut für Humangeographie satz zu klassischen Verstädterungs- ten Überblick der aktuellen Stadtent- ein Forschungsprojekt zu den »Neuord- nungen des Städtischen im neoliberalen prozessen bezeichnet Davis diese wicklungsprozesse in den Städten Zeitalter«. Seine Arbeitsschwerpunkte Entwicklung als »Überurbanisie- des Südens. Die dichte Beschreibung sind Stadtentwicklungsprozesse und rung«, weil die städtische »Repro- basiert auf Beispielen aus aller Welt Wohnungspolitik im internationalen duktion von Armut und nicht durch und zeigt überzeugend, dass wir uns Vergleich.

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 107 27.11.2008 16:36:14 Uhr Gute Bücher Weltraum zwischen den Zeilen Niels Werbers Beitrag zur »refl exiven Globalisierung«

er Mensch war schon immer ein Medien und Politik ihre theoreti- auch, dass uns die mediale Welt- Dglobales Wesen – nur lange Zeit schen Grundorientierungen von den raumordnung – noch, möchten viele wusste er dies nicht. Den Prozess, geopolitischen Fantasien geborgt vielleicht hinzufügen – nicht zu einer bei dem die Mitglieder moderner Ge- hat, die schon vor 200 Jahren ver- friedlichen »global community« zu- sellschaften dieses neu gewonnene breitet waren. sammenschweißen konnte, sondern Wissen um ihre globale raumzeitliche Die aktuellen Einschätzungen dar- dass der Raum seine globale politi- Verbundenheit in ökonomische und über, welche Bedeutung der Raum sche Bedeutung offenbar nicht ganz kulturelle Chancen verwandeln, für die Verteilung von Macht und eingebüßt hat. könnte man refl exive Globalisierung politischer Handlungsfähigkeit hat, Was hat nun die Literatur dazu zu nennen; Werbers Buch beleuchtet könnten nicht unterschiedlicher sein. sagen? Anders als man vielleicht mei- diesen Prozess aus literatur- und kul- Was haben die medialen Revolutio- nen könnte, sind literarische Werke – turwissenschaftlicher Perspektive. nen des vergangenen Jahrhunderts – genauso wenig wie die Gesinnung Hegel hätte gesagt, der Mensch sei von Telefon und Radio bis zu Fernse- ihrer Urheber – geopolitisch unschul- an sich schon immer globalisiert ge- hen und Internet – global bewirkt? dig. So kann man anhand eines Zei- wesen, nur für sich noch nicht. Mit Während die einen à la Fukuyama tungsartikels von Kleist aus dem Jahr Werbers Essay im Hinterkopf können mit der sozioökonomischen Alter- 1810, der dessen »Entwurf einer wir nun sehen, dass auch die Weltli- nativlosigkeit von Wirtschaftslibera- Bombenpost« enthält, nachvollzie- teratur des 19. und 20. Jahrhunderts lismus und Demokratie nach dem hen, dass der Traum von rapider me- von Kleist über Melville und Tolkien Zerfall des Ostblocks das Ende der dialer Verbundenheit nicht erst seit bis zu George Lucas schon immer Geschichte antizipieren, sehen die einigen Jahrzehnten geträumt wird geopolitische Utopien ausgemalt hat, anderen einen »clash of civilizations« und überdies militärischer Natur ist. In Hegels »Philosophie der Ge- Niels Werber schichte« kann man nachlesen, wie sich der europäische Intellektuelle Die Geopolitik der Literatur. seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Vermessungen einer media- Amerika vorstellt. Die herkömmli- len Weltraumordnung chen Stereotypen von geistlosem Hanser Verlag, München 2007 ISBN Pragmatismus und kapitalistischem 978-3-446-20947-3 Yankeetum des amerikanischen 334 Seiten, Bürgers werden bei Hegel, der ja 24,90 Euro eigentlich als der Philosoph bekannt ist, der die Rolle der Zeit für die Welt- geschichte betont hat, geografi sch begründet: fl aches Land, fl ache Gedanken und so viel Platz, dass wenn auch vielleicht nicht immer ab- à la Huntington heraufziehen; man sich keine »Kultur« bilden kann, sichtlich und schon gar nicht poli- weiß nicht so recht, welche Vision nur »Zivilisation«. tisch unverdächtig. man erschreckender fi nden soll. All das ist freilich keine Eigentüm- Der Untertitel von Werbers Buch lichkeit der Romantik und ihrer Er- kündigt eine »Vermessung der medi- Und doch scheint es ben, denn auch in der modernen alen Weltraumordnung« an. Das klingt nicht gleichgültig, wo Populärkultur und den Epen, die sie fremd und vertraut zugleich, jeden- etwas stattfi ndet … hervorgebracht hat, lassen sich geo- falls aber ambitioniert und ist eigent- politische Ordnungsentwürfe wieder- lich gar nicht das, was Werber vor- Einer einfl ussreichen These zufolge fi nden. In Tolkiens »Herr der Ringe« hat: Ihm geht es vielmehr darum zu hat uns insbesondere das Internet wird der Charakter einer Rasse, sei- beschreiben, wie die Literatur die eine Welt ohne Raum beschert. Im en es Orks, Hobbits oder Elben, globale Ordnung von Räumen und Fahrwasser von Luhmanns Begriff durchweg mit deren geografi scher Lagen thematisiert, refl ektiert und der »Weltgesellschaft« behaupten Verwurzelung in Verbindung ge- auf die politische Tagesordnung die Vertreter dieser Theorie, mit den bracht, und auch der »Krieg der setzt. Seine Hauptthese ist denn raumzeitlich völlig entschränkten Sterne« stellt ein Beispiel dafür dar, auch, dass die gegenwärtige philo- Kommunikationsströmen des »world wie die populären Erzählungen der sophische und soziologische Ausei- wide web«, die unkontrollierbar sind Moderne ein »geopolitisch Unbe- nandersetzung mit dem Zusam- und ohne hierarchische Organisation wusstes« enthalten, das von den po- menhang von Raum und Macht, auskommen, befänden wir uns in ei- litischen Theorien der Gegenwart nur nem Prozess der Deterritorialisierung, zu gern übernommen wird. Werbers Der Rezensent der geradewegs nach »Atopia« füh- Fazit lautet denn auch, dass die The- re: Wo etwas stattfi ndet, ist fortan se von der fortschreitenden medialen Hanno Sauer studiert Philosophie und Germanistik an der Uni- versität Frankfurt und hat soeben seine Magister-Arbeit über gleichgültig. Bagatellisierung des Raums voreilig die Rolle des Begriffs instrumenteller Vernunft in der Sozial- Andererseits lehrt uns das welt- ist: »Der Raum macht einen Unter- philosophie abgeschlossen. historische Faktum des Terrorismus schied«. ◆

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 108 27.11.2008 16:36:14 Uhr Gute Bücher Von Frühlingsrollen in der Diaspora und dem etwas anderen Restaurant als »transnationalem Kontaktraum« Über das Essen als Nahrungsmittel und kulturelle Praxis

ast Food. Slow Food« ist eine Slow-Food-Bewegung, die das Regina Römhild et. al. (Hrsg.) »F bunte Mischung »Ethnographi- »Recht auf Genuss« einfordert, da- scher Studien zum Verhältnis von mit auch ein kosmopolitisches Mani- Fast Food. Slow Food. Globalisierung und Regionalisierung fest aufstellt, das sich gegen den zu- Ethnographische Studien zum in der Ernährung«, herausgegeben nehmenden Globalisierungsdruck Verhältnis von Globalisierung von Regina Römhild und anderen des Fast Food wendet und stattdes- und Regionalisierung in der Ernährung Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sen »die regionale Vielfalt der Roh- Kulturanthropologie Notizen des Instituts für Kulturanthropologie stoffe und der Zubereitungen, die Schriftenreihe des Instituts und Europäische Ethnologie der Uni- Lust am langsamen Genießen des für Kulturanthropologie und versität Frankfurt. Das Besondere Essens, die Mahlzeit als kommuni- Europäische Ethnologie der an diesem Band ist wohl der ethno- katives, gemeinschaftliches Alltags- Universität Frankfurt am Main grafi sch-kosmopolitische Blick auf ereignis« zelebriert. Band 76, Frankfurt 2008 Essen als Nahrungsmittel und kultu- ISBN 978-3-923992-78-2 226 Seiten, 19 Euro relle Praxis. Kosmopolitisch ist die Biodynamisch: Der Umgang forschungsleitende These dahin ge- mit einer globalisierten Welt Produzenten und Konsumenten hend zu verstehen, »dass sich Glo- auf dem Dottenfeldhof als Akteure bei McDonald’s balisierung und (…) Regionalisierung nicht gegenseitig ausschließen, son- Mit dem Beitrag »Rodelika und ihre Wer kennt ihn nicht, den Slogan »Ich dern sich aufeinander beziehen, sich Schwestern. Gemüsezüchtung und liebe es!«? Genau, es handelt sich um in enger Wechselwirkung (…) gegen- der Umgang mit einer globalisierten die globale Werbestrategie der Fast- seitig hervorbringen«. Es sind gerade Welt auf dem Dottenfeldhof« zeigt Food-Kette McDonald’s. Was steckt das Verhältnis lokaler/globaler Pro- Gunvor Schmidt am Beispiel eines aber hinter den klug ausgetüftelten zesse und die daraus hervorgehen- »biologisch-dynamisch« geführten Werbekulissen? Georgette Carbonilla, den gesellschaftswirksamen Praxen und anthroposophisch orientierten Nadine Demtrio, Benjamin Wösten des Essens und der Ernährung, die Bauernhofs, wie sich die »globale und Daniel Zipf beantworten diese die thematische Klammer des vorlie- Regionalisierung« auf die Produktion Frage, indem sie die »Produzenten genden kulturanthropologischen und Vermarktung von Bio-Saatgut und Konsumenten als Akteure bei Bandes bilden. und Bio-Gemüsesorten auswirkt. McDonald’s« in den Blick nahmen: In acht ethnographischen Skizzen Dabei zeichnet Schmidt einen viel- McDonald’s funktioniert als Unter- der »Kulturanthropologie Notizen« schichtigen alltagsweltlichen Prozess nehmen nach dem Baukastenprin- werden soziokulturelle Topografi en nach, der einerseits der ideellen und zip, das mit regionalen Akteuren das der kulturellen Praxis von Essen und materiellen Emanzipation regionaler globale Image McDonald’s in ein re- Ernährung vorgestellt, die den Ver- Praxis von globalökonomischen gionales Erscheinungsbild transfor- strickungen von Globalisierung und Strukturen und Abhängigkeiten gilt miert. Ali, Özgür und Nasan sind – Lokalisierung ihre vielstimmige Reali- und andererseits die produktive Ein- mit ihrem Migranten-Hintergrund – tät geben. Wie dies die Region Mittel- bettung in globale Vernetzungsstruk- beispielsweise typische transnationale rhein »zwischen Massentourismus turen verändernd zu nutzen sucht. McJobler und auch McDonald’s- und Weltkulturerbe« in all ihrer Am- Ist die Forderung nach »Bio für Stammgäste. Sie nutzen McDonald’s bivalenz – zwischen »kreativer Traditi- alle« ein Trend, der gerade nicht zur weniger als kulinarische Anlaufstelle, onalisierung« und Krisenmanage- regionalen Diversität, sondern zur für sie ist »das etwas andere Restau- Der Rezensent ment – tangiert, zeigen Aline Krämer Vereinheitlichung der Produktion rant« vielmehr ein zentraler Ort ihrer und Michaela Nietert sehr deutlich. und Vermarktung von Bio-Produkten Freizeitgestaltung und der Inszenie- Michael Schillmeier, So kann ein Nahrungsmittel wie führt? Wie wirkt sich dies auf so un- rung multi-ethnischer Lebenswelten. PhD, lehrt Sozio- Suppe »im Spannungsfeld von Ein- terschiedliche Konzepte und Ange- Wie Christian Ritter in seinem schö- logie an der Ludwig-Maximili- wanderungsstadt und Global City« auf bote wie Bio-Läden, Bio-Supermärk- nen Beitrag »Frühlingsrollen in der ans-Universität unterschiedlichste soziale (Macht-) te und Reformhäuser aus? Um diese Diaspora. Asiatische Lebensmittel jen- München. Seine Praxen verweisen, wie Katharin Fragen zu beantworten, spürt seits der Enklavenökonomie« zeigt, Schwerpunkte in Schwab am Vergleich karitativer Sup- Christian Abresch »Neue Entwicklun- können Asia-Läden ebenso wie der Lehre und For- penküche und trendiger Suppenbar gen zwischen Öko-Nische und Su- McDonald’s als »transnationale Kon- schung sind unter skizziert. Darüber hinaus zei gen Re- permarkt« auf. Und dabei stellt sie takträume« interpretiert werden, in anderem Soziolo- gina Römhild in ihrer Einleitung und fest, dass es sowohl zu Annäherun- denen so etwas wie kosmopolitische gie der Körper und Sinne, »Science, Catharina Kern in ihrem Beitrag zu gen als auch zu Distinktionsgewin- Kompetenzen im Umgang mit unter- Technology & Soci- »Perspektiven auf Globalisierung und nen zwischen den unterschiedlichen schiedlichen sozialen und kulturellen ety« sowie Sozio- Regionalisierung im Frank furter Con- Anbietern von Bio-Produktion Milieus ein- und ausgeübt werden logie der Behinde- vivium« sehr anschaulich, dass die kommt. können. ◆ rung.

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 109 27.11.2008 16:36:15 Uhr Gute Bücher Die globalisierte Familie Trotz räumlicher Trennung bleibt die enge Verbundenheit erhalten

lobalisierung – dieser Begriff ist men die Kontaktfrequenz und -in - und Emanzipation kultureller Identi- Guns mittlerweile schon so geläu- tensität mit modernen Kommuni- täten. Während Familien, die an fi g wie die Phänomene, die wir mit kationsmitteln zwar mit der Dauer einem Wohnort in einem National- ihm verbinden: Aufl ösung der Natio- des Auslandsaufenthalts ab, jedoch staat zusammenleben, weiterhin ih- nalstaaten, weltoffene Märkte, mas- bricht der Kontakt nicht ab. Je länger re Wertvorstellungen teilen können senmediale Informationsbeschaffung. der Aufenthalt, desto intensiver und und gesellschaftlichen Bezüge mitei- Doch neben diesen Veränderungen relevanter werden die neuen Wahl- nander erleben, ist die transnationale auf einer Makroebene geht Globali- bindungen. Fragt man aber die Be- Familie damit konfrontiert, dass die sierung weiter – sie betrifft unsere all- troffenen nach ihrer Defi nition von tagsweltliche Lebenspraxis und hält Heimat, wird diese dort lokalisiert, wo Weggezogene sorgen für Einzug in die individuelle Lebenspla- ein großer Teil der familiären Bezugs- neue kulturelle Einfl üsse personen lebt, wo sich also das sozi- und Rollenverteilungen Katharina Zoll ale Umfeld befi ndet, in das sie hin- Stabile Gemeinschaften. eingewachsen sind; nicht das, in dem weggezogenen Familienmitglieder Transnationale Familien sie jetzt leben. neue kulturelle Repräsentationssys- in der Weltgesellschaft Die familiäre Einheit wird auch teme mit in die Familie bringen und transcript Verlag, über Nationalstaatsgrenzen aufrecht- neue Rollenverteilungen entstehen. Bielefeld 2007 erhalten und behält ihre zentrale Diese beiden kulturellen Bedeutungs- ISBN 978-3-89942-670-0 Bedeutung: Die Familie ist trotz Dis- systeme beeinfl ussen sich dann in 244 Seiten, tanz und geringerer Kontaktintensität der Familie gegenseitig, und die Mit- 25,80 Euro die Gemeinschaft, die Stabilität und glieder erleben die kollektive und Kontinuität bietet, insbesondere in individuelle Identitätsbildung als dy- Konfl iktsituationen, wie bei Geld- namischen, immer fortlaufenden nöten oder Problemen in der Part- Prozess, in dem alte Herkunftsbin- nung. Die Frankfurter Soziologin nerschaft. Die Familie internalisiert dungen auf neue Wahlbindungen Katharina Zoll widmet sich in ihrer ihre Transnationalität, indem sie un- treffen. Studie genau dieser Thematik und terschiedliche Lebensphilosophien Am Beispiel der transnationalen untersucht transnationale Familien in und Identitätsprojekte akzeptiert und Familien macht die Autorin deutlich, einer sich entwickelnden Weltgesell- damit fl exibel auf Veränderungen dass die Weltgesellschaft nicht das schaft: Soziale Beziehungen be- Ergebnis eines politischen oder gar schränken sich nicht mehr auf einen Familie auch in der kulturellen Zusammenschlusses ist, Wohnort. Flexibilität und Mobilität – Weltgesellschaft kein sondern das Resultat einer Transna- insbesondere auf dem Arbeitsmarkt – Auslaufmodell tionalisierung von unten, entstanden zwingen dazu, Grenzen zu über- aus der Möglichkeit oder dem Zwang schreiten, sie ermöglichen Individuen, reagiert, ohne an Wichtigkeit einzu- der Individuen zu migrieren, um bei- in ein anderes Land zu migrieren. büßen. Es zeichnet sich ein span- spielsweise in einem anderen Land So tragen Menschen unterschiedli- nender Prozess ab: Je mehr sich der zu arbeiten. Diese Familien sind so- cher Herkunft in einem Land zu kul- Nationalstaat aus der Regulierung wohl Symptom als auch zugleich turellen Transformationsprozessen der sozialen Lebenswelten der Indivi- Agenten von kultureller Globalisie- bei. Familien werden zu transnatio- duen zurückzieht und ihnen damit rung und damit von der Weltgesell- nalen Gemeinschaften und müssen Flexibilität und Eigenverantwortung schaft – sie erweitern bisherige, lokale neue Strategien fi nden, um ihre Zu- abfordert, desto gewichtiger wird die Familienstrukturen um einen globa- sammengehörigkeit aufrechtzuer- stabilisierende Funktion der Familie len Typus. halten. als Solidargemeinschaft. Die Autorin Was lässt sich als Fazit ziehen, Das scheint den transnationalen bestätigt mit ihrer Studie die These wenn es um die Stabilität der Famili- Familien zu gelingen, wie Zoll in ihrer des verstorbenen Frankfurter Sozio- en in einer sich weiterentwickelnden Untersuchung an ausgewählten Bei- logen Karl Otto Hondrich, der sich Weltgesellschaft geht? Familie bleibt spielen zeigt: Lebt ein Familienmit- gegen die Annahme wandte, der Fa- auch bei Transnationalität eindeuti- glied in einem anderen Land, neh- milie käme eine schwindende Be- ger Bezugspunkt der Individuen. Fa- deutung zu. milie ist damit kein Auslaufmodell, Die Rezensentin Zoll zeigt in ihren empirischen sondern sie nimmt nur eine andere Fallbeispielen, die sie auf nur fünf Gestalt an. Die familiäre Gemein- Rabea Krätschmer-Hahn arbeitet als wis- eingrenzt und die leider unterschied- schaft passt sich an äußere gesell- senschaftliche Mitarbeiterin am Institut liche Operationalisierungen aufwei- schaftliche Rahmenbedingungen an für Gesellschafts- und Politikanalyse sen, wie sich die transnationale Fami- und agiert fl exibel im Kontext der mit dem Schwerpunkt »kultureller und lie neue Interaktionsmuster aneignet. Globalisierung, gleichzeitig hält sie sozialstruktureller Wandel«. In ihrer Dis- sertation beschäftigt sie sich mit dem Weltgesellschaft impliziert für das In- dabei ihre ungebrochene Relevanz Einfl uss von Lebensstilen auf das Fer- dividuum, das sich in dieser globali- als wichtigstes Bezugssystem der In- tilitätsverhalten von Paaren. sierten Welt bewegt, Entgrenzung dividuen aufrecht. ◆

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 110 27.11.2008 16:36:15 Uhr Gute Bücher Die Welt in wahren Maßstäben Eine neue Perspektive auf globale Zusammenhänge

lobale Ungleichgewichte sind nung mithilfe von Differenzialglei- GThemen in aktuellen Debatten chungen verhalten sich die Umrisse der Politik, der Ökonomie und der der Karte bis zu ihrer endgültigen Wissenschaften. Engagierte Gruppie- Form entsprechend der sich vertei- rung versuchen Verteilungen von Ka- lenden Tinte. Die Karten verdeutli- pital und Ressourcenzugang gerech- chen den Lesern, welche verschwin- ter zu gestalten und die sozialen dend geringe oder übermäßig große Veränderungen wie Zugang zu Bil- Rolle ein Land in globalen Zusam- dung und Geschlechtergleichheit menhängen einnimmt. Es entstehen weltweit anzustoßen. Statistiken in für das an die Weltkarte gewöhnte Form von Zahlenreihen, Tabellen, Auge kartografi sche Verzerrungen, Säulen und Kuchendiagrammen do- kumentieren diese realen Schiefl a- Daniel Dörling, gen und Missstände; Daten im glo- Mark Newman, balen Maßstab lassen sich im Anna Barford Internet inzwischen bestens recher- Der schlaue Planet. chieren, aber sie bleiben häufi g So haben sie die Welt schwer interpretierbar. Die Welt ein- noch nie gesehen. mal anders sehen, globale Zusam- Süddeutsche menhänge in Form von Kartografi en Zeitung Edition zu betrachten und dabei eine neue 2008 (Lizenz- Ein Beispiel für die 366 Karten, Perspektive auf die bekannte Welt- ausgabe), die Entwicklungen auf unserem karte zu werfen, dies erlaubt Der München 2008 Planeten zeigen, wie sie wirklich ISBN 978-3- sind. schlaue Planet, soeben von Daniel 86615-656-2, Dorling, Mark Newman und Anna 400 Seiten, Barford herausgegeben und bei in 49,90 Euro der Edition der Süddeutschen Zei- tung erschienen. die zunächst eher erstaunen und globalen Migrations- und Flüchtlings- Die Autoren haben statistische Er- dann ernüchternd zur Feststellung ströme ist. gebnisse aus verschiedensten Berei- führen, dass die bekannten statisti- Erschreckend zeigt das Kapitel chen zusammengetragen, insbeson- schen Zahlen in der Visualisierung über die Ressourcen, wo diese zu dere aus Studien der Vereinten eine schockierende Realität wider- fi nden sind und wo sie schließlich Nationen und internationaler Organi- spiegeln können. verbraucht werden: Wo ist beispiels- sationen – beispielsweise von der Das Inhaltsverzeichnis gliedert die weise der Wasserverbrauch hoch, wo geschlechterspezifi schen Analphabe- Karten in die verschiedenen The- verschwindend gering und wo wird tenquote bis zur Wiederverwertungs- menbereiche, wie beispielsweise Wasser zur Mangelressource. The- rate von Müll oder der Anzahl ausge- »Die Welt des Handels« oder »Die men, die unmittelbar zusammenhän- rotteter Tierarten. Aus umfänglichem soziale Welt«. So sind für jeden Inter- gen, sind auf Doppelseiten darge- Datenmaterial sind auf Basis von Er- essenhorizont die entsprechenden stellt, aber auch beim Vor- und kenntnissen der theoretischen Phy- Karten zu fi nden. Mag den Mediziner Zurückblättern fi nden die Leser In- sik 366 thematische Weltkarten ent- interessieren, wo am meisten Heb- formationen, die im Kontext von Inte- standen. Die Autorengruppe hat ammen und Krankenschwestern resse sind. So wird beispielsweise of- dabei mit der Methode der Physiker arbeiten, in welchen Ländern der fengelegt, in welchen Ländern die Michael Gastner und Mark Newman Zugang zur medizinische Grund- Einnahmen aus Erdölexporten be- gearbeitet, die von einer Strömungs- versorgung für die Mehrheit der Be- sonders hoch sind und trotzdem die dynamik ausgehen und Aspekte wie völkerung gewährleistet wird und in dort lebenden Menschen durch- eine Diffusionsfl üssigkeit mit abfal- welchen Regionen viele Ärzte prakti- schnittlich weniger als zwei US-Dollar lender Dichte behandeln. Mit Diffe- zieren, kann der Tourismusspezialist täglich pro Kopf zur Verfügung ha- Die Rezensentin renzialgleichungen lassen sich diese im Kapitel »Reise und Verkehr« Kar- ben. Beim Durchblättern formt sich Sarah A. Lippke ist Aspekte mathematisch nachbilden tografi en zu den Fakten der Ziellän- ein Gesamtbild des heutigen Weltzu- Studentin am Ins- und in Kartografi en übertragen. Bild- der, der Fluggastzahlen und den standes. Die Leser, die alle 366 Kar- titut für Kulturan- lich könnte man sich vorstellen, dass Herkunftsländern der Touristen fi n- ten studieren, gewinnen ein breites thropologie und eine Flasche Tinte in ein Schwimm- den. Der Sozialwissenschaftler erhält Wissen, das zum Nachdenken, Dis- Europäische Eth- becken geleert wird. Zu Beginn ist Visualisierungen von quantitativen kutieren und Vertiefen anregt. Das nologie der Goe- die Tinte dort am dichtesten, wo sie Messungen und kann »sehen« wie Buch ist eine empfehlenswerte In- the-Universität und studentische in das Wasser gekippt wurde, aber sich Veränderungsprozesse im Zuge vestition als anschauliches Nach- Hilfskraft in der im Laufe der Zeit verbreitet sie sich der Globalisierung vollziehen. So wird schlagewerk für die Hausbibliothek, Abteilung Marke- gleichmäßig über das gesamte Was- im Kapitel »Flächen und Bevölke- aber auch für die Verwendung in der ting und Kommu- ser. Bei der kartografi schen Berech- rung« dargestellt, wie der Verlauf der Lehre und im Unterricht. ◆ nikation.

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19 UNI S101_112 2008_03.indd 111 27.11.2008 16:36:16 Uhr Das nächste Mal

Die nächste Ausgabe von »Forschung Frankfurt« erscheint Anfang April 2009 »An den Händen beiden, ließ er sich nicht schneiden...« Der Struwwelpeter-Schöpfer Heinrich Hoffmann und die weltweite Wirkung seines berühmten Bilderbuchs

rankfurt feiert im Sommer 2009 seinen berühmten Sohn Heinrich Hoffmann. Aus Anlass seines 200. Geburts- Ftags nehmen Wissenschaftler der Goethe-Universität und des Sigmund-Freud-Instituts den »Struwwelpeter«, den der Arzt und Psychiater als Weihnachtsgeschenk für seinen dreijährigen Sohn gemalt und geschrieben hat, kritisch unter die Lupe. Unter psychoanalytischer, pädagogischer und literarischer Perspektive beschäftigen sie sich mit den Spätfolgen des Hoffmann’schen Werks. So beeinfl ussten die widerborstigen Kinderfi guren beispielsweise die politische Karikatur der 1848er-Zeit und dienten als Vorlage zur Darstellung von Revoluz- zern. Der »Struwwelpeter« hat bis heute Autoren und Illustratoren angeregt: Keckheit, Aufmüpfi gkeit, Stärke und Mut haben die Helden aktueller Bücher mit ihren Hoffmann’schen Vorfahren gemeinsam. Eini- ge dieser Bilderbücher, so wird der Literaturwissenschaftler Prof. Hans-Heino Ewers erläutern, lassen sich als verdeckte Antworten auf den Struwwelpeter lesen – allerdings ergeht es den kindlichen Nachfahren der Struwwelpeter-Figuren heute merklich besser: Sie müssen nicht mit dem Daumen oder gar dem Leben bezahlen. Die Psychoanalytikerin Prof. Marianne Leuzinger-Bohleber wird den »Struwwelpeter« als eine Fundgrube unbe- wusster Wünsche und Ängste herausstellen.

Wissenschaftsmagazin der Goethe-Universität liothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz; Seite 14 oben: Archiv für Kunst und Geschichte, akg-Image, Berlin (veröffentlicht in Georg Forster s.o.); Sei- Impressum te 14 unten: beide Bilder Verlag Eichborn (veröffentlicht in Georg Forster s.o.); Herausgeber: Der Präsident der Goethe-Universität Frankfurt am Main Seite 15 oben: Bild Ida Pfeiffer in Annegret Pelz, Reisen durch die eigene Fremde. Reiseliteratur von Frauen als autogeographische Schriften, Verlag Böhlau, Köln Redaktion: Ulrike Jaspers, Diplom-Journalistin, 1993; Seite 15 unten: Bild: Bildarchiv Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt; Sei- Referentin für Wissenschaftskommunikation (Geistes- und Sozialwissenschaften), te 16 oben: Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bpk Berlin; Seite 16 unten: Archiv Senckenberganlage 31, Raum 1053, 60054 Frankfurt am Main, Otto Krätz (s.o.); Seite 17 oben: Bild Stiftung Stadtmuseum Berlin, Reproduktion: Telefon (069)798-23266, Telefax (069) 798-28530 Hans-Joachim Bartsch, Berlin; Seite 17 unten: in Otto Krätz, Alexander von Hum- E-Mail: [email protected] boldt: Wissenschaftler – Weltbürger – Revolutionär (s.o.); Seite 17: Autorenfoto: Dettmar. Dr. phil. Anne Hardy, Diplom-Physikerin, Referentin für Wissenschaftskommunika- tion (Naturwissenschaften und Medizin), Senckenberganlage 31, Raum 1059, Forschung intensiv – Meeresforschung: Seite 18 oben: Foto V. Diekamp, MARUM, 60054 Frankfurt am Main, Telefon (069)798-28626, Telefax (069) 798-28530 Universität Bremen; Karte unten nach Marshall 1979; Seite 19 oben: Bildarchiv E-Mail: [email protected] IKAN; Seite 19 unten: Prof. Michael Türkay; Seite 20 links: F. Krupp; Seite 20 rechts: T. Jellinek, Seite 21 oben und Mitte: M. Türkay; Seite 21 unten: P. Winter- Vertrieb: Ingrid Steier, Senckenberganlage 31, 60054 Frankfurt am Main, steller; Seite 22 oben: M. Türkay; Seite 22 Mitte: ©MARUM, Forschungszentrum Raum 1052, Telefon (069)798-22472, E-Mail: [email protected] Ozeanränder, Universität Bremen; Seite 23: ©MARUM, Forschungszentrum Ozean- ränder, Universität Bremen. Forschung Frankfurt im Internet www.muk.uni-frankfurt.de/Publikationen/FFFM/index.html Forschung intensiv –Sonnensystem: Seite 24: Hubble Space Telescope; Seite 25 oben: Foto JPL/NASA; Seite 25 Mitte: Foto ESRF; Seite 25 unten: Prof. Frank Anzeigen und Verlag: Universität Frankfurt, CAMPUSERVICE GmbH, Rossertstraße 2, Brenker; Seite 26 oben: JPL/NASA, Mitte: F. Brenker; Seite 27 Mitte: Foto ESRF/P. 60323 Frankfurt, Birgit Wollenweber, Telefon (069) 71 58 57-15, Ginter; Seite 27 unten: Foto F. Brenker; Seite 28 Foto oben: ©Observatoire de Telefax (069) 71 58 57-10, E-Mail: [email protected] Haute Provence, France, Autorenfotos: Dettmar (außer Vollmer). Druck: Frotscher Druck GmbH, Riedstraße 8, 64295 Darmstadt, Forschung intensiv – Atmosphärenforschung: Seite 29: Foto Joachim Schreiber, See- Telefon (06151) 3906-0, Internet: www.frotscher-druck.de heim; Seite 30: Grafik Schreiber nach einer Vorlage der Autoren, Seite 31 und 32 Illustrationen, Layout und Herstellung: schreiberVIS, Joachim Schreiber, oben: Holger Klein, Goethe-Universität, Seite 32 unten: Prof. Joachim Curtius; Villastraße 9A, 64342 Seeheim, Tel. (06257) 962131, Fax (06257) 962132, Seite 33 Grafik: Michael Kamphus et. al. submitted to Atmos. Chem. Phys. Dis- E-Mail: [email protected], Internet: www.schreibervis.de cuss., 2008b; Seite 33: Autorenfoto Elke Födisch, Goethe-Universität. Grafisches Konzept: Elmar Lixenfeld, Büro für Redaktion und Gestaltung, Forschung intensiv – Megacities: Seite 34 bis 37 alle Fotos dpa Picture-Alliance, Werrastraße 2, 60486 Frankfurt am Main, Telefon (069) 7075828 Frankfurt; Seite 38 und 39: Fotos Prof. Dr. Jürgen Oßenbrügge, Institut für Geo- E-Mail: [email protected] graphie, Universität Hamburg; Seite 40: Autorenfoto Dettmar. Forschung intensiv – Geschlechterforschung: Seite 41 bis 46: Fotos dpa Picture-Alli- Bezugsbedingungen: »Forschung Frankfurt« kann gegen eine jährliche Gebühr von ance, Frankfurt; alle Grafiken: Prof. Uta Ruppert, Frankfurt; Seite 42: ullstein bild, 15 Euro abonniert werden. Das Einzelheft kostet 5 Euro. Einzelverkauf u.a. im Berlin; Seite 47 Autorenfoto Dettmar. Buch- und Zeit schriftenhandel in Uni-Nähe und beim Vertrieb. Forschung intensiv – Globaler Agrarmarkt: Seite 48: Foto Stefan Ouma, Frankfurt; Für Mitglieder der Vereinigung von Freunden und Förderern der Johann Wolfgang Seite 49: Kartografie Ö.Alpaslan, Entwurf Ouma; Seite 50: Firmen-Labels aus dem Goethe-Universität Frankfurt am Main e.V. sind die Abonnementgebühren für Internet; Seite 50 unten: Foto Marc Boeckler; Seite 51 unten: Foto: Prof. Peter »Forschung Frankfurt« im Mitgliedsbeitrag enthalten. Lindner, Frankfurt, Seite 52: Autorenfotos Dettmar. Hinweis für Bezieher von »Forschung Frankfurt« Forschung intensiv – Wasserressourcen: Seite 54 bis 57 und Seite 59: Fotos und (gem. Hess. Datenschutzgesetz): Für Vertrieb und Abonnement verwaltung von Karten Prof. Petra Döll, Seite 55 und 58: Grafiken Schreiber nach Angaben der »Forschung Frankfurt« werden die erforderlichen Daten der Bezieher in einer auto- Autorin. matisierten Datei gespeichert, die folgende Angaben enthält: Name, Vorname, An- schrift, Bezugszeitraum und – bei Teilnahme am Abbuchungsverfahren – die Bank- Forschung aktuell: Seite 60: Foto Manna, Stockholm, Schweden; Seite 61 oben: verbindung. Die Daten werden nach Beendigung des Bezugs gelöscht. Foto dpa Picture-Alliance: Seite 61 unten: Foto Stockholm International Water Ins- titute, Schweden, Seite 62 oben: dpa Picture-Alliance; Seite 62 unten und Seite Die Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder. Der Nachdruck von Beiträgen 63: Jutta Deffner, ISOE, Frankfurt. Seite 64, 65, 66: Fotos dpa Picture-Alliance; ist nach Absprache möglich. Seite 67: Foto und Grafik: KfW Bankengruppe, Frankfurt. Seite 68: dpa Picture-Al- liance/ NHPA/photoshot, Seite 69: Foto von epd-bild / Stefan Trappe; Seite 69: Bildnachweis Karte WHO; Seite 70 oben: Foto von dpa, Picture-Alliance/ ZB; Seite 70 Foto Mit- te: James Gathany, Wikipedia Commons; Seite 70 unten: Institut für Medizinische Titelbild: Foto NASA. Virologie, Goethe-Universität; Seite 70 unten: Karte WHO; Seite 72 oben: Prof. Editorial: Foto Jérôme Müller-Dupage, Frankfurt. Bruno Streit; Seite 72 unten: Wikipedia Commons, Seite 73 oben: Klaus Schwenk; Seite 73 Mitte: Markus Pfenninger & Klaus Schwenk; Seite 74: Foto Moritz Salin- Inhalt: Hinweise bei den jeweiligen Beiträgen. ger; Verbreitungskarte von Mathilde Cordellier, Seite 75 bis 78: alle Fotos und Kar- Nachrichten: Seite 4: Foto Jürgen Lecher, Frankfurt; Seite 5, 6: Fotos Dr. Julia ten von Konstantin König, Seite 79: Foto Martin Schildgen, Wikipedia Commons; Seite 80 und 81: alle Fotos von Cliff Shaw und Prof. Allan Woodland; Seite 82: Krohmer, Seite 7: Grafik Dr. Jasper Kirkby, CERN; Seite 8 Mitte: Foto Uwe Dett- Foto Prof. Heinrich Thiemeyer; Seite 84 oben: Foto Landesamt für Archäologie mar, Frankfurt; Seite 8 unten: Foto »kunstverein familie montez«; Seite 9: Grafiken Sachsen-Anhalt; Seite 84 Mitte und unten: O. Wegener; Seite 85 links: D. Prof. Lindner, Frankfurt; Foto Seite 10: Fotos Dettmar. Fritzsch; Seite 85 rechts: Thiemeyer. Forschung intensiv – Reiseliteratur: Seite 12: Vorlage für Collage nach Scherenschnitt Perspektiven: Seite 86 bis 90: alle Fotos Dettmar; Seite 91: Foto Prof. Christian Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Abteilung historische Berndt, Frankfurt; Seite 92 oben: Fotos dpa Picture-Alliance; Seite 92 unten und Drucke (veröffentlicht in Georg Forster, Reise um die Welt, Illustriert von eigener Seite 93: Fotos Berndt; Seite 94: Fotos dpa Picture-Alliance; Seite 95: Foto Hand, Sonderband der Anderen Bibliothek, Verlag Eichborn, Frankfurt 2007); Sei- Berndt. Seite 96: Foto Kristin Pietratus; Seite 98: Foto von Konstantin König; Sei- te 13 oben: Archiv Otto Krätz, Starnberg, (veröffentlicht in Otto Krätz, Alexander te 99 Foto oben: Privatbesitz Petra Döll; Seite 99 Foto unten Seite 100: Privatbe- von Humboldt: Wissenschaftler – Weltbürger – Revolutionär, 2. korr. Aufl., Verlag sitz Joachim Curtius Callwey, München 2000); Seite 13: Bild Ibero-Amerikanisches Institut, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, bpk Berlin; Seite 13 rechts unten: Bild bpk/ Staatsbib- Vorschau: Struwwelpeter-Museum, Frankfurt.

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