Polen und Deutsche

Der Weg zur europäischen Revolution 1989/90

von Gunter Hofmann

1. Auflage

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Thematische Gliederung: Europäische Geschichte – Europäische Geschichte

Suhrkamp Frankfurt;Berlin 2011

Verlag C.H. Beck im Internet: www.beck.de ISBN 978 3 518 42234 2 Suhrkamp Verlag

Leseprobe

Hofmann, Gunter Polen und Deutsche

Der Weg zur europäischen Revolution 1989/90

© Suhrkamp Verlag 978-3-518-42234-2 SV

Gunter Hofmann Polen und Deutsche Der Weg zur europischen Revolution 1989/90

Suhrkamp Erste Auflage 2011 Suhrkamp Verlag Berlin 2011 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der bersetzung, des çffentlichen Vortrags sowie der bertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden. Satz: Hmmer GmbH, Waldbttelbrunn Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm Printed in ISBN 978-3-518-42234-2

123456–161514131211 Inhalt

1 Vorwort: Warum Gorbatschow nicht ber Kohl sprechenwill...... 9 2 Zeithistoriker bei der Arbeit: Dtente oder Politik derStrke...... 23

1969 ...... 49 3 »Die große Zsur ist ohne 1969 nicht zu verstehen. Aber 1969 fing nicht alles an«: , , Peter Bender, und HorstEhmke...... 51 4 »Die Einheit fiel 1989 nicht plçtzlich vom Himmel«: Hans-Dietrich Genscher ...... 122 5 »Ich wollte Deutschlands Einheit«: ber einen Satz HelmutKohls...... 154 6 »Wandel durch Annherung? Da war ja was dran!« Wolfgang Schuble, Horst Teltschik und Heiner Geißler ...... 194 7 »Wir mussten Bahr und Brandt doch schubsen«: Richard von Weizscker ...... 228 8 »Allein Gorbatschow lçste die Implosion aus, unsere Politik hatte keinerlei Einfluss darauf«: ...... 239

1980 ...... 289 9 »Die Lehren der soft power«: Bronisław Geremek . . . 291 10 »Nein, es war nicht Schmidts ›Realpolitik‹, wir waren die Realisten«: Tadeusz Mazowiecki und Adam Michnik ...... 306 11 »Schmidt war ein Realist, kein Romantiker«: Mieczysław Rakowski und Wojciech Jaruzelski . . . . 355 12 »Man muss mit seinen Biographien leben«: Der Runde Tisch in Polen ...... 375 1989 ...... 381 13 »Wir von der 68er/89er-Generation«: , Jens Reich, , Lothar de Maizire und Dieter Segert ...... 383 14 »Venus hat den Kalten Krieg gewonnen« ...... 448

Anmerkungen ...... 469 Biographische Skizzen ...... 486 Personenregister ...... 497 »My idea of American policy toward the Soviet Union is simple, and some would say simplistic. It is this: We win and they lose. What do you think of that?«1 Ronald Reagan fr Brbel und Hansgnther 9

1 Vorwort: Warum Gorbatschow nicht ber Kohl sprechen will

Michail Gorbatschow eilte in die Hotelsuite, in der das Interview mit ihm stattfinden sollte. Hans-Dietrich Genscher und der rus- sische Dolmetscher begleiteten ihn. Unser Kamerateam hatte schon alles aufgebaut. Nur die Scheinwerfer mussten noch ange- knipst und das Licht berprft werden. »Was machen wir?«, war seine erste Frage, die er – ohne meine Reaktion abzuwarten – selbst beantwortete. »Wir sprechen ber meinen Freund!« Dabei zeigte er auf Hans-Dietrich Genscher. »Und wir sprechen ber 1989, die deutsche Einheit und das Ende des Kalten Krieges. Aber fra- gen Sie mich nicht nach , kein Wort.« Das hatte ich eigentlich gar nicht vor, aber warum betonte er das so? Ich war von dieser strengen Vorgabe ziemlich berrascht. Aber – kein Problem, abgemacht war tatschlich nur ein grnd- liches Interview vor laufender Kamera mit ihm fr einen Film an- lsslich des 80. Geburtstages von Hans-Dietrich Genscher. Ich hatte bis dahin als Journalist Gorbatschow nie unmittelbar ken- nengelernt, nur war er in aller Munde, mit wem auch immer ich ber den Mauerfall, das Ende des Kalten Krieges und die Einheit Europas sprach. Immer noch umwehte ihn ein Hauch von Groß- macht. Ich glaubte zu spren, warum er an die Parteispitze in Moskau gelangen und hoch pokern, ja das ganze Imperium auf eine Karte setzen konnte: Glasnost und Perestroika. Gab es etwas, was er ausdrcklich nicht sagen wollte ber Kohl, whrend er die Kooperation mit Genscher in den dramatischen Umbruchjahren offen wrdigen konnte? Waren die beiden zweierlei »Freunde« fr ihn? Es sah so aus. Und bald besttigte sich das. Als Michail Gorbatschow we- nig spter seinen 75. Geburtstag in Moskau feierte, waren beide eingeladen, Genscher und Kohl. Das Kamerateam, noch immer 10 Vorwort auf Genschers Spuren, filmte die recht intimen Szenen. Der lang- jhrige deutsche Außenminister war es, den Gorbatschow wie einen alten Vertrauten umarmte, wie seinen engsten Freund ver- abschiedete er Genscher am spten Abend, dagegen wirkte Hel- mut Kohl wie einer der zahlreichen Gste: Freundlich willkom- men geheißen, respektiert, aber doch eine andere Liga. Erneut kamen mir diese Randbeobachtungen in den Sinn, als sich Gorbatschow zu Helmut Kohls 80. Geburtstag im April 2010 im deutschen Fernsehen auf ein Interview einließ. Freund- lich und seelenruhig sagte er: »Denken Sie ja nicht,wir htten uns immer gut verstanden. Ich habe in meiner Autobiographie ge- schrieben, dass ich ihn gefragt habe, ob sich seine Meinung denn nie von der Washingtons unterscheide.« hnlich konnte man es bereits Ende Oktober 2009 im Berli- ner Admiralspalast beobachten, als er an der Seite George Bushs und Helmut Kohls an den 20. Jahrestag des Mauerfalls erinnerte. Bild und Adenauer-Stiftung hatten eingeladen, um die Verdiens- te des deutschen Kanzlers gebhrend zu preisen. Gorbatschow aber rief freundlich lachend ins Gedchtnis, wie empçrt er 1986 ber den Kanzler gewesen sei, als der ihn in einem Interview mit dem Propagandachef der Nationalsozialisten verglich, dem tes- tamentarisch zum Nachfolger des Reichskanzlers bestimmten Joseph Goebbels. Und berhaupt, fgte er noch hinzu, in dieser dramatischen Zeit zwischen 1987 und 1991 htten nicht nur »große Mnner« Geschichte gemacht. Vielmehr habe die Ge- schichte sie auch berrollt. Das heißt: Gorbatschow, der die gro- ße Revolution Ende des letzten Jahrhunderts auslçste, vernebelte nicht, was ihn vom damaligen Kanzler trennte, ausgerechnet er machte sich klein, whrend Kohl so gerne »ich, ich, ich« sagte, wenn es um die Frage ging, auf wen 1989 wirklich zurckzufh- ren sei. Warum also wollte Michail Gorbatschow in dem Interview nicht nach Kohl gefragt werden? In seiner beilufigen Bemer- kung, schien mir, verbarg sich etwas. Kohl gilt als »Kanzler der Einheit«, und Genscher war Außenminister in dieser Zeit. Nach Warum Gorbatschow nicht ber Kohl sprechen will 11 außen blieb das Bild haften, dass sie letztlich an einem Strang zo- gen. Offensichtlich aber war es komplizierter. In manchem stimm- ten sie berein, in manchem gar nicht. Sie reagierten und verhiel- ten sich oft, als beurteilten sie die Entwicklungen vollkommen unterschiedlich und als verfolgten sie eine jeweils ganz andere Methode. Genscher, der ewig misstrauische, wirkte vertrauens- voll, wie er auf Moskau zuging. Kohl blieb in Hab-Acht-Stel- lung. Trau schau wem! Solche heimlichen Differenzen – auch die versteckten Wahr- heiten ber die Revolution in Europa und ihre Vorgeschichte hinter der Fassade – begannen mich zunehmend zu interessieren, nicht die einfachen Formeln darber, wer »Sieger« und »Verlie- rer« sei. Von solchen glatten, oft platten Erklrungen hatte es An- fang der neunziger Jahre mehr als genug gegeben. Zwanzig Jahre danach, schien mir, kçnnte man sich neu annhern: Zeit wurde es, die Hypothesen aufzufchern, nicht einzudampfen, um plau- siblen Erklrungen nher zu kommen. Mich fesselte zunehmend, dass in den Nuancen – nicht in der Superpower-Story mit ihren einsamen Helden – offenkundig das Geheimnis verborgen lag. Auf den kleinen Unterschied kam es an: Wie erklrten sich bei- spielsweise Akteure in Warschau oder den großen Umbruch damals, und worauf fhren sie ihn heute zurck? Wie sahen die alten Herren (und Herren waren es durchweg) sich selber zwan- zig Jahre spter? War Tadeusz Mazowiecki erfreut, dass Helmut Kohl ihn in Kreisau vor den Augen der internationalen Medien umarmte? Polen und die Bundesrepublik zhlten nicht zu den Großmchten, aber beide bildeten sie in ihrem »Block« den je- weils einflussreichsten Juniorpartner – Polen mit mehr Einwoh- nern als die anderen ostmitteleuropischen Satelliten Moskaus zusammen (die DDR ausgenommen). Deutschland war die ein- zige zwischen West und Ost geteilte Nation, die Westrepublik wiederum bildete die mchtigste Wirtschafts- und Exporteinheit. Polen, die Bundesrepublik und die DDR haben Geschichte ge- macht. Wird der politische Anteil der Akteure in Polen inzwi- schen hinreichend anerkannt? Aus westdeutscher, ostdeutscher 12 Vorwort und polnischer Sicht ist zu fragen: War wirklich »Sieger«, wer da- mals als Sieger galt? War »Verlierer«, wer als Verlierer betrachtet wurde? ber die Mçglichkeit dieser friedlichen Revolution sowie de- ren Verlauf entschieden die Großmchte. Ohne sie wre es nicht dazu gekommen. Den Rahmen gaben Washington und Moskau vor. Aber mich machte neugierig, wer zwischen den USA und der Sowjetunion den Spielraum nutzte, ja selbst vielleicht die Rah- menbedingungen zwischen den Supermchten beeinflusste. Keineswegs lçste die Opposition auf der Danziger Werft 1980 und auf den Straßen Polens nur Solidarittsgefhle aus, sie stçrte vielfach, auch wenn das selten ausgesprochen wurde. Selbst viele derjenigen, die sie priesen, nahmen sie oft nicht ernst, wollten sie aber benutzen. Moskau blieb unbelehrbar oder ratlos, siehe das Kriegsrecht in Polen! Nein, auch Gorbatschows neue Sprache n- derte nichts an der bitteren Realitt im real existierenden Ost- block! Demonstrative Besuche bei den Streikenden, vor allem bei dem Demonstrationsfhrer Lech Wałe˛sa, wurden angemahnt, mit der notdrftig kaschierten Absicht, daraus innenpolitisch Kapital zu schlagen: Seht her, wie die Sozialdemokraten mit den Machthabern heimlich fraternisieren. Vor Unordnung frchteten sich insgeheim fast alle, gleich welcher Partei. Dennoch, allmhlich bildete sich so etwas wie ein funktio- nierender Kern Europas heraus: informell, indirekt, aber immer- hin. Die Bonner Politik versuchte, die Dramatik in Polen zu be- greifen und die Entwicklung wenigstens nicht zu erschweren. Zwischen Bonn, Paris und Warschau spannten sich Fden, noch bevor der Eiserne Vorhang gefallen war. Das Nobelpreis-Komi- tee hatte 1971 Willy Brandt und 1983 Lech Wałe˛sa den Friedens- preis zugesprochen, dem Ostpolitiker und dem Anfhrer der Solidaritt – und man kann darin nicht nur eine Untersttzung, sondern auch eine Symbolik fr die Vernderungen in Zentral- europa sehen. Dass sich aber ein Ende der Systeme anbahnte, er- ahnten wahrscheinlich zuletzt die Deutschen. Das ist nicht als Vorwurf gemeint, auch dafr finden sich triftige Grnde. Warum Gorbatschow nicht ber Kohl sprechen will 13

Auf die drei Nachbarn in Europa kam es zunehmend an, das war sprbar. Wer eine Neuordnung innerhalb Europas anpeil- te, musste Frankreich unbedingt ins Boot holen. Voraussetzung Nummer eins war die aktive Mithilfe aus Paris. Aber innerhalb des großen Rahmens, Washington und Moskau, konnten Spiel- rume genutzt werden. Bonn und Warschau spielten eine heraus- ragende Rolle dabei. Eine europische Lektion steckt darin, die sich noch nicht herumgesprochen hat. Konzentrieren will ich mich daher darauf, wie gerade die Ak- teure aus der Bundesrepublik und Polen zurckblicken. Ich glau- be, damit verkennt man nicht den Anteil der Großen, schmlert aber auch nicht die Rolle der Kleinen, wie die der Charta 77 in Prag, des polnischen Papstes, der kleinen ungarischen Fhrungs- schicht um Mikls Nmeth oder die der Opposition in der DDR vom Herbst 1989. Klargemacht haben mir die Gesprche in Po- len und hierzulande, so viel vorweg, um welche besondere Nach- barschaft es sich handelt, welche Rolle beide gemeinsam spielten und was sich daraus fr die Zukunft ableitet. Bonn und Warschau operierten nebeneinander. Eine ganz andere Frage ist, ob sie sich als Nachbarn berhaupt wahrnahmen oder ob man erst in der Retrospektive diese Frage ernster nimmt.

*** Europas Revolution: Zahlreiche zeithistorische Bcher wurden hierzu publiziert, auffallend viele exzellente amerikanische Auto- ren sind darunter. Eine kleine Bibliothek fllen allein die Auto- biographien, nahezu alle beteiligten Politiker, Botschafter, Beamte haben ihre Sicht der Dinge aufgeschrieben: Michail Gorbatschow, Jimmy Carter und George Bush, smtliche amerikanischen Au- ßenminister, viele der Moskauer Verantwortlichen wie Eduard Schewardnadse und die russischen Botschafter Valentin Falin oder Juli A. Kwizinski am Rhein, die Regierungschefs und Außenmi- nister aus Paris, London, Warschau, Budapest, Bukarest, Sofia, zahlreiche Diplomaten aus Ost und West, selbst die ostdeutsche Nomenklatura von einst wie Markus Wolf, Egon Krenz, Kurt 14 Vorwort

Hager. Vermutlich aus keiner Phase der Weltgeschichte liegen derart viele Selbstzeugnisse vor wie aus dieser. Manche wollen Helden gewesen sein und illuminieren sich entsprechend, andere wnschen, wenigstens nicht als die Schlimmsten der Schurken zu gelten. Dritte schreiben nchtern auf, was war, soweit sie es berblicken. In aller Regel werden die Autoren glauben, die Wahr- heit aus ihrer Sicht festgehalten zu haben. Besonders genau sind inzwischen das Drama des Wendejahres 1989 selbst, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 sowie der Sturz Gorbatschows und das Auseinanderbrechen des Sowjetimperiums 1991 beschrieben worden. Allein schon die Stu- die Alexander von Platos2 ber das Agieren der Supermchte und der verantwortlichen Politiker beantwortet viele der offenen Fra- gen, nicht zuletzt anhand der inzwischen verçffentlichten Doku- mente aus dem Kreml. Von Plato belegt seine Annahmen mit vielen Protokollen von Gesprchen, die er mit nahezu smtlichen Verantwortlichen ber die dramatische Chronologie des Jahres 1989 und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zur »ußeren Ein- heit« Deutschlands bis zum Sommer 1990 fhrte. Grndliche historische Quellenstudien, teils Rckerinnerun- gen von Journalisten mit Sinn fr die historische Dimension des Umbruchs, widmen sich vor allem den Transformationsjahren 1989 bis 1991: Sie behandeln Polen und Ostdeutschland, die sam- tene Revolution in Prag, die Exekution Nicolae Ceaus¸escus in Rumnien, den Umsturz in Budapest, Sofia und Vilnius oder Ri- ga, die deutsche Vereinigung am 3. Oktober 1990 und den Sturz Michail Gorbatschows ein Jahr darauf. Als journalistischer Neuling kam ich nach Bonn in dem Mo- ment, in dem Willy Brandt gewhlt worden war. Ein Jahr zuvor hatten sowjetische Panzer den Reformversuch in Prag niederge- walzt. Vom ersten Tag an ging es dem sozialdemokratischen Kanz- ler vor allem darum, dass die deutsche Politik glaubwrdig Ver- antwortung fr die eigene Vergangenheit bernehmen und einen Neuanfang gegenber den Nachbarn im Osten, den Opfern des Nationalsozialismus, durchsetzen werde – obwohl sich der Wes- Warum Gorbatschow nicht ber Kohl sprechen will 15 ten mit dem Kommunismus in einer großen Systemauseinan- dersetzung befand. Auch die Bundesrepublik hatte sich seit den Zeiten des ersten Kanzlers, Konrad Adenauer, lieber auf diesen neuen »Feind« als auf das Aufarbeiten der eigenen Vergangenheit konzentriert. Das blieb der Code der beiden ersten Nachkriegs- jahrzehnte. Vergeblich rannte eine Minderheit an gegen diese will- kommene Ablenkung, die der Kalte Krieg bescherte, also gegen das große Verdrngen. Brandt reagierte mit seiner Politik unmittelbar auf die Nieder- schlagung des Prager Frhlings, indirekt auch auf den Mauerbau, der acht Jahre zurcklag. Seine Ostpolitik reifte in den sechziger Jahren, sie war bereits eine Antwort auf die Teilung Berlins und den Stacheldraht, der quer durch Deutschland verlief. Aber erst nach der neuerlichen Eskalation, dem Einzug der Panzer in Prag, konnte sie umgesetzt werden. Nicht Drohungen und Vergeltung kndigte Willy Brandt an, seine Politik wartete hingegen mit einem Versçhnungs- und Entspannungsangebot auf. Worin das spter einmal mnden sollte, sah man nicht, ahnte man nicht, auch Brandt vermutlich nicht. Jedenfalls weigerte er sich stets und konsequent, ber langfristige »Ziele« zu sprechen. Es gehe um kleine Schritte, Punkt! Jedoch fhrte der dialektische Gedan- ke seiner Ostpolitik weit darber hinaus. Beides, der Mauerbau und das Ende des Prager Frhlings, hat- te Folgen fr die nchsten Nachbarn: fr Polen und die DDR im Ostblock, fr die Bundesrepublik im Westen. Im Herbst 1969 kam es zum Machtwechsel in Bonn. Willy Brandt, bis dahin Au- ßenminister in der Großen Koalition, wurde zum ersten sozial- demokratischen Kanzler seit Grndung der Republik gewhlt. Seine Entspannungspolitik nahm – trotz oder wegen Prag? – den Schwung der jungen Protestgeneration gerade noch mit, die auf eine Neu- oder Umgrndung der Republik setzte. Ein knappes Jahr darauf, 1970, wurde in Polen Władysław Gomułka von Ed- ward Gierek abgelçst, der mit Wirtschaftsreformen und begrenz- ter Liberalisierung nach innen bereits einen Rettungsversuch in- nerhalb des Systems starten sollte. 16 Vorwort

Als fruchtlos, so sah Brandt es, hatte sich die Konfrontations- politik gegenber dem Osten erwiesen, festgefahren war die Po- litik der Nichtanerkennung des ostdeutschen Nachbarstaates, der DDR. Der Bonner Alleinvertretungsanspruch brçckelte. Dass eine Politik des »Dritten Weges«, ein »Sozialismus mit mensch- lichem Antlitz«, im Sowjetimperium nicht durchsetzbar sei, das hatte das Prager Beispiel gelehrt. Festbetoniert fr ewig schien die Breschnew-Doktrin von der eingeschrnkten Souvernitt: kein Spielraum fr einen der Pakt-Staaten, sofern das die Stabi- litt des Gesamtprojektes gefhrdete. Im Westen richtete die Pro- testgeneration ihre Projektionen enttuscht fortan kaum noch auf Europa, sondern auf die Dritte Welt. Auch in der intellektuellen Linken blieben es Ausnahmestimmen und kleine Zirkel, die sich auf Osteuropa konzentrierten und heimliche Koalitionen zu schmieden suchten gegen die herrschende Orthodoxie. Zu sp- ren bekam das in den achtziger Jahren die polnische Gewerk- schaftsbewegung: Carepakete auch aus der Bundesrepublik erhielt Solidarnos´c´ in Flle, aber die politische Solidaritt hielt sich in Grenzen. Man wollte nicht noch einmal desillusioniert werden wie in Prag. Auch deshalb bekam Brandts Kurs Untersttzung: Reformen mssen von »oben« kommen, nur mit und nicht ge- gen die Herrschenden, so bitter es auch ankommen mag. Diesen »historischen Kompromiss« ging die Ostpolitik bewusst ein. Wr- den die Vter der Ostpolitik heute noch dazu stehen, wollte ich wissen. Die Opposition in Polen hingegen empfand das Verhal- ten der Deutschen in der zweiten Hlfte der achtziger Jahre als »Verrat« und sagte es auch. Wrde sie es Jahrzehnte danach an- ders beurteilen? Geradezu militanten Widerstand gegen den Entspannungsver- such leistete die Bonner Opposition, tatkrftig untersttzt durch die Medien. Uns jungen Journalisten erschien der Anstoß Brandts und Egon Bahrs hingegen keineswegs als Anbiederung, im Gegenteil, die Ostpolitik enthielt eine große Herausforderung: Unverhohlen handelte es sich um den Appell, den Kalten Krieg zu beenden. Auf beiden Seiten. Fr richtig hielten wir Bonner Warum Gorbatschow nicht ber Kohl sprechen will 17

Neulinge diese Politik, auch wenn offenbar niemand genauer be- nennen konnte, wohin sie fhren wrde oder fhren solle. Diese Vorgeschichte war immer prsent, wenn ich mir 1989 zu erklren versuchte. Ja, man kann fragen, ob Geschichte ber- haupt »Anfnge« hat. 1968 konnte man nicht denken ohne 1956, den Einmarsch des Warschauer Pakts in Ungarn. Und Ungarn war 1953 vorausgegangen, der Aufstand in Ostberlin und in meh- reren ostdeutschen Stdten. Das Kriegsrecht in Polen, 1981, er- innerte noch einmal daran. Hat man damals einfach nicht ernst genommen, dass die Breschnew-Doktrin nicht mehr angewandt wurde, traute man dem Frieden nicht, konnte man sich das Ost- West-Verhltnis nicht mehr anders vorstellen? Erst Michail Gor- batschow sprach offen aus, dass jeder sein eigener Herr sei und ohne »brderliche Hilfe« auskommen msse, aber das Unvorstell- bare wurde naturgemß nicht richtig geglaubt. Welche Politiken im Vorfeld zum Umbruch fhrten, interes- siert mich besonders. Was hat aus der Sicht der damaligen Ak- teure die Revolution berhaupt erst ermçglicht? Wann beginnt fr Deutsche und Polen, die damals Verantwortung trugen, der Teil der Vorgeschichte, der in die Wendezeit von 1989/90 mnde- te und schließlich zum Erfolg, zur Einheit Europas, fhrte? Wissen wollte ich, ob sich im Laufe der Jahre das Urteil der Verantwortlichen von damals darber gendert hat, was beitrug zu der großen Zsur. Was bedeutet fr die Nachbarn, Polen und Deutsche, die Ostpolitik, Brandts Kniefall vor dem Ghetto- Mahnmal in Warschau 1970, die Konferenz fr Sicherheit und Zusammenarbeit (1975) und der gesamte Helsinki-Prozess? Was der Konflikt um die »Nachrstung« in der Bundesrepublik, der im selben Jahr eskalierte, als der Werftarbeiterstreik in Danzig 1980 eine Lawine auslçste? Welches Gewicht hatten der polni- sche Papst, die katholische Kirche, das Kriegsrecht, der Runde Tisch und die ersten freien Wahlen in Polen? Wer wollte Deutschlands Einheit wirklich, zu der es 1990 kam, und fr wen handelte es sich nur um ein Lippenbekenntnis? Wie erklrt sich, dass ausgerechnet einflussreiche polnische Stimmen 18 Vorwort sich vor einem vereinten Deutschland nicht frchteten, sondern geradezu Hoffnungen auf ein Ende der Teilung setzten, whrend wir schon lange nicht mehr damit rechneten? Ab wann gab es kei- ne Umkehr mehr? Wo hat wer geirrt? Was haben sie dazugelernt? Interessiert hat mich das Urteil derjenigen, die Politik gemacht und gedacht haben, die einen oben, die anderen unten, was sie damals ber Ost und West, Polen und die »deutsche Frage« dach- ten und was sie heute denken – ber sich und ber die anderen. Drei Jahre lang habe ich sie aufgesucht, um zu hçren, was ihre Wahrheit ist.

*** Jeder hat seine Erklrung, seine Wahrheit in der Rckerinnerung. Ich finde das legitim. Zugegeben, auch ich habe, um dies vorweg- zunehmen, meinen eigenen Fixstern in dieser Vorgeschichte. Den entscheidenden historischen Moment fr mich jedenfalls stellt Brandts Kniefall im Dezember 1970 vor dem Ghetto-Mahnmal in Warschau dar. Jedenfalls erscheint er mir als die umfassende Metapher. Wortlos beugte er sich nieder. In Polen. Von da an, so fand ich vom ersten Augenblick an, gab es kein Zurck. Um eine Entwaffnung handelte es sich, eine Entfeindung, ein stum- mes Angebot. Aber das bleibt natrlich, zugegeben, eine deut- sche Perspektive. Polens Machthaber mssen den Sprengsatz er- ahnt haben, sonst htten sie sich die Peinlichkeit erspart, das Foto mit dem knienden Brandt zu zensieren. Ein Deutscher, der Ab- bitte leistet, das geht nicht, Revanchisten sind unbelehrbar! Also schnitten sie ungeniert den unteren Teil des Fotos mit dem knien- den Brandt ab, damit der Eindruck entstand, er stehe. Das war ein dialektischer Moment. Der Kniefall war subver- siv, gerade weil er aus dem Muster des Kalten Krieges ausscher- te und sich einließ auf die andere Seite. Ich sehe Brandts Geste auch als erste Station einer ganzen Abfolge von vertrauensbil- denden Momenten der Geschichte – nach Mauerbau, Kubakrise und den russischen Panzern in Prag im August 1968. Dazu muss man dann auch die deutsche Entscheidung zhlen, die Konfe- Warum Gorbatschow nicht ber Kohl sprechen will 19 renz fr Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 1975 in Hel- sinki im eigenen Interesse zu nutzen und zu forcieren. Oder die Rede Richard von Weizsckers zum 8. Mai 1985. Und das sehr allmhliche, aber doch beharrliche Lernen der Deutschen, mit der eigenen Vergangenheit leidlich ehrlich umzugehen. Ja, man kçnnte die Geschichte der Bundesrepublik als einen permanen- ten Prozess der Vertrauenswerbung beschreiben. Dafr steht der Name des Daueraußenministers Hans-Dietrich Genscher, der 18 Jahre amtierte, bis 1992. Man konnte ihn als stabilen, bere- chenbaren Faktor einordnen: Genschers Amtsdauer und die Art seiner Amtsausbung – wie sehr das beruhigte, sieht man erst aus der Distanz. Sich innerlich auf den Westen einzulassen, auf die parlamentarische Demokratie, auf das Leitbild einer eman- zipierten Brgerlichkeit, aus dem Zivilisationsbruch des eigenen Landes lernen zu wollen – das alles gehçrte zu dieser Vertrauens- bildung. Dem Osten, das hatte Brandt erkannt, musste man dar- ber hinaus aber noch demonstrieren, dass man trotz dieses »langen Weges in den Westen« nicht nur eine abhngige Variable Washingtons oder der Allianz sei. Und das, ohne im Westen Miss- trauen zu erwecken. Darin bestand sein Balanceakt. Auffallend viel zu Papier gebracht hat zur Zsur in Europa Helmut Kohl, der Zeitzeuge, den man nicht mehr sprechen kann und der nie eine Autobiographie schreiben wollte. Er konnte nicht mehr dazu beitragen, als ich das Buch vorbereitete, ich ver- mute, er htte auch nicht gewollt. Sein Bild dieser Jahre hat er selbst gezeichnet. Er gab die Erlaubnis zur Vorabverçffentlichung von Akten zur Deutschlandpolitik des Kanzleramtes, die an sich dreißig Jahre unter Verschluss bleiben – sorgfltig ausge- suchte Akten, von sorgfltig ausgesuchten Historikern gesichtet und klassifiziert. Wie wenige hat Kohl dafr gesorgt, dass sein Bild – oder ein bestimmtes Bild – von seiner Kanzlerschaft domi- niert, damit aber auch ein Bild davon, wie es zur Einheit Deutsch- lands und Europas kam. Er ist der eine steinerne Gast in diesem Buch.3 Der andere stumme, steinerne Gast: Willy Brandt. Zur deut- 20 Vorwort schen Einheit direkt hat er zu Lebzeiten kein Buch mehr zurck- gelassen, sich aber geußert in zahlreichen Gesprchen. Einige Bcher hingegen verfasste er ber die Vorgeschichte seit der Ost- politik, nicht zuletzt seine Memoiren unter dem Titel Links und frei. Peter Merseburger hat eine vorzgliche, grndliche Biogra- phie ber Brandt und sein Lebensthema vorgelegt, die Frage des jungen Mannes, »wie soll Europa nach dem Krieg aussehen«, und die Frage des aktiven Kanzlers, was seine Entspannungspoli- tik in ihrer »seltenen Mischung aus Idealismus und Realismus« zum gemeinsamen Europa beitragen kçnne.4 Seit Beginn seiner Kanzlerschaft, besonders aber in den achtziger Jahren, habe ich hufig als Journalist fr die Zeit mit ihm gesprochen.5 Auch Willy Brandt hatte, vermute ich, irgendwann den Ge- danken aufgegeben, die deutsche Einheit sei realisierbar – sehr wohl aber hielt er die allmhliche Vereinigung Europas fr ein realistisches Ziel. Eine europische Reliefkarte ohne Systemgren- ze hatte er immer vor dem inneren Auge. Unmittelbar nach dem Mauerfall freilich, in einer aufgewhlten Atmosphre, in der es um laute Bekenntnisse zur Einheit ging und seine SPD vor dem verbreiteten vaterlndischen Pathos erschrak, dementierte er das eigene Wort, er habe die »Wiedervereinigung« fr eine Lebens- lge gehalten. Die große Chance wollte er nicht aufs Spiel set- zen. Gleichwohl hielt er diese offiziçs propagierte Hoffnung fr Selbstbetrug. Und er hatte Grnde, das so zu sehen. Viele Versionen kursieren bei den Akteuren, mit denen sie Europas Zsur erklren. Wahrscheinlich werde es darber »noch mehr Deutungen geben als ber 1914«, sagt mir Fritz Stern, der New Yorker Historiker. Das fange schon damit an, dass »1989/90 eine Chiffre fr vieles, zu vieles zugleich« sei: deutsche Einheit, Zsur in Europa, Ende des Kalten Krieges, Demokratie in Po- len, Erfolg Gorbatschows . . . berrascht hat mich, wie souvern und selbstkritisch viele der Verantwortlichen zwei Jahrzehnte danach mit der Erfahrung ihres Lebens umgehen. Keineswegs stilisieren sie sich zu Helden oder zu »Herren der Geschichte«, auch nicht zu »Helden des