Sendung vom 16.2.2016, 20.15 Uhr

Stanislaw Tillich Ministerpräsident Freistaat Sachsen, Präsident des Bundesrates im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauer, ganz herzlich willkommen zum alpha-Forum, heute aus Berlin aus dem "studio 4A", denn wir haben einen besonderen Gast: Es ist Stanislaw Tillich, der Ministerpräsident des Freistaates Sachsen und der derzeit amtierende Bundesratspräsident. Ich freue mich sehr, dass Sie hier sind, herzlich willkommen, Herr Ministerpräsident. Tillich: Vielen Dank für die Einladung. Reuß: Vielleicht zuerst einmal ein paar trockene statistische Daten zu Sachsen: Mit gut vier Millionen Einwohnern nimmt es den sechsten Platz ein unter den 16 Bundesländern, von der Fläche her den Platz zehn, denn es ist ungefähr gleich groß wie das Bundesland Rheinland-Pfalz. Wenn Sie jedoch Ihr Bundesland einem Fremden erklären müssten, was würden Sie dann als Besonderheit des Freistaates Sachsen herausstellen? Tillich: Das Besondere in einem Satz: Wir bauen die schnellsten Autos, nämlich in Leipzig den Porsche, wir bauen die leistungsfähigsten Mikrochips, nämlich in bei Globalfoundries und Infineon, wir produzieren die teuersten Uhren und haben die höchste Geburtenrate aller deutschen Bundesländer. Reuß: Und wenn Sie es von den Menschen her sehen: Was ist das typisch Sächsische? Gibt es das überhaupt? Tillich: Ja, das gibt es. Sachsen ist ja neben Bayern eines der ältesten Bundesländer in der Bundesrepublik und deswegen gibt es auch einen Stolz auf das Land und auch eine große Einigkeit. Der Sachse ist auch sehr gastfreundlich, und man sagt, er sei "fischeland", sächsisch für vigilant, er weiß aus einer Situation etwas zu machen, bei der die Lösung vielleicht nicht direkt auf der Hand liegt. Das macht den Sachsen aus, d. h. er ist jemand, der immer wieder nach neuen Lösungen sucht. Reuß: Wenn ich es richtig nachgelesen habe, dann sind Sie derzeit der dienstälteste Ministerpräsident in Deutschland, denn Sie amtieren seit 2008. Seehofer amtiert zwar auch seit 2008, kam aber in diesem Jahr erst ein bisschen später in sein Amt. hat einmal gesagt, Politik könne so etwas werden wie eine Sucht. Würden Sie diesem Satz zustimmen und wenn ja, was macht diesen Suchtcharakter aus? Ist das die Aufmerksamkeit, die man bekommt, sind es die Insignien der Macht? Oder sind es die Gestaltungsmöglichkeiten, die man hat? Tillich: Für mich ist Politik nicht unbedingt eine Sucht. Ich würde wohl auch immer versuchen, es nicht so weit kommen zu lassen, dass man danach süchtig wird. Deswegen habe ich ja schon seit langen Jahren und bis heute mein Wohnhaus auf einem Dorf. Ich wohne zwar inzwischen auch in Dresden, aber der Kontakt zu diesen Bürgern auf dem Dorf, zu meinen alten Freunden und damit letztlich zu denjenigen, die mich schon kannten, als ich noch kein Politiker gewesen bin, ist mir wichtig: Das erdet mich sozusagen. Das ist für mich das Wichtige. Das andere ist, dass man dann, wenn man in der Verantwortung steht, natürlich auch für alles, was man tut, verantwortlich ist. Aber es macht eben auch Spaß, Verantwortung wahrzunehmen, zu entscheiden und sich gleichzeitig auch dem Votum des Wählers zu stellen. Dabei erfährt man, dass man mit der einen oder anderen Entscheidung sehr richtig gelegen hat, aber dass es durchaus auch Kritik gibt. Das ist das Schöne am Leben als Politiker oder in einem Amt wie dem des Ministerpräsidenten. Reuß: Sie selbst sind ja auch schon Fachminister gewesen, als Ministerpräsident haben Sie heute die gesamte Palette abzudecken. Wenn man nachliest, wie Politik verstanden wird, wie Politik definiert wird, stellt man fest, dass es unzählige Definitionen gibt. Bei Bismarck hieß es z. B., Politik sei die Kunst des Möglichen. Und ich darf hier noch einmal Horst Seehofer zitieren, der einmal gesagt hat: "Politik ist das Managen der Lebensbedingungen für die Menschen." Was ist Politik für Stanislaw Tillich? Tillich: Für mich ist Politik – und das ist auch mein Antrieb –, für die Menschen da etwas zu tun, wo sie sich selbst nicht mehr weiterhelfen können. Und die Gesellschaft muss ja auch insgesamt funktionieren, es geht also darum, über den Einzelnen und dessen Verantwortung hinaus die Verantwortung für das Ganze wahrzunehmen. Wir reden in der Politik in diesem Zusammenhang ja immer von den Rahmenbedingungen, die geschaffen werden müssen, damit sich das Individuum entwickeln kann. Gleichzeitig muss man aber auch darauf achten, dass man das Individuum in seinen Rechten nicht beschränkt oder beschneidet. Das ist, glaube ich, das, was mein Verständnis von Politik ist. Und da ist das oftmals auch so, dass man schon an die Grenzen dessen stößt, wo man manchmal auch am Verzweifeln ist. Auf einer Abendveranstaltung hat mir mal ein Besucher die Frage gestellt, was denn der Unterschied sei zwischen meiner früheren Tätigkeit als Ingenieur – der ich ja auch mal gewesen bin, der ich auch als Selbständiger nachgegangen bin – und der Politik. Ich habe ihm geantwortet: In der Politik muss man, um zu einem Ergebnis zu kommen, die Mehrheiten dafür suchen. Denn in der Politik muss eins plus eins nicht zwangsläufig zwei sein. Stattdessen entscheidet in der Politik die einfache Mehrheit. Das ist zwar ein bisschen holzschnittartig, aber mit Sicherheit nicht ganz falsch. Reuß: Als Politiker steht man im Licht der Öffentlichkeit und muss aufpassen, was man sagt, denn man wird genau beobachtet. Sie haben vorhin schon davon gesprochen, dass Ihnen die Bodenhaftung sehr wichtig ist. Sie haben einmal einen sehr schönen Satz gesagt: "Ehrlich, niemals gleichgültig und stets verlässlich zu sein, das sind für mich wichtige Eigenschaften." Können Sie das als Politiker und vor allem als Ministerpräsident immer? Denn Sie müssen ja auch Rücksicht nehmen auf Fraktion, auf Partei, auf Beschlüsse, die Sie ja womöglich nicht immer zu 100 Prozent teilen. Können Sie also auch in Ihrer heutigen Funktion sagen, was Sie denken, und tun, was Sie wollen? Tillich: Es ist ja immer die Frage, wie man etwas sagt, denn man kann ja auch die Chance nutzen und mit der Tür ins Haus fallen. Man kann aber auch diplomatisch sein. Auf beide Arten kann man etwas erreichen. Ich habe übrigens auch mal etwas anderes gesagt: Ein Motor, der laut tuckert, ist nicht leistungsfähiger als einer, der summt, und in der Regel fährt man mit dem, der laut ist, in die Werkstatt. Das heißt also, es kommt immer darauf an, wie man es macht. Was mir jedoch wichtig ist und was ich auch für eine der wesentlichen Voraussetzungen halte, um erfolgreich Politik machen zu können, ist: Man muss denjenigen zuhören, für die man Politik macht, damit diese Menschen nicht nur Rezipienten sind, sondern das, was sie wollen, auch widergespiegelt sehen. Wenn Kritik laut wird und berechtigt ist – nicht jede Kritik ist ja dazu geeignet, etwas vorwärts zu bringen, sondern sie kann auch hinderlich sein –, wenn Kritik also dazu führt, dass man besser werden kann, dann ist man meiner Meinung nach klug beraten, nicht nur zuzuhören, sondern diesen Rat dann auch anzunehmen. Reuß: Sie haben vorhin gesagt, dass in der Politik eins und eins nicht immer zwei sein muss. Gibt es denn Wahrheit in der Politik? Ich meine nicht Wahrhaftigkeit, denn diese sei mal wohlmeinend unterstellt, sondern ich meine schon Wahrheit. Oder besteht das Dilemma der Politik nicht genau darin, dass sie oft als unredlich gilt, was sie womöglich gar nicht ist, weil man in der Politik eben vor das Problem gestellt ist, dass man etwas so oder auch ganz anders entscheiden kann? Tillich: Das Schwierige ist, nicht nur eine Entscheidung zu treffen, sondern sie auch zu erklären. Und oftmals muss man eben auch erklären, wie sie zustande gekommen ist. Das heißt, eine Entscheidung des Ministerpräsidenten alleine ist nicht immerzu das Verbindliche, sondern es gibt eben auch politische Mehrheiten, es gibt Fraktionen, es gibt Parlamentsbeschlüsse, die zu einem Ergebnis führen. Diese dem Wähler zu kommunizieren, zu transportieren, ist enorm wichtig. Mein erstes Erlebnis diesbezüglich war eine Abstimmung im Europäischen Parlament. Das war nach der Wiedervereinigung, und der Fraktionsvorsitzende von uns wurde mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt. Was hat er daraufhin gemacht? Er hat sich in seiner Rede für die übergroße Mehrheit der Zustimmung bedankt. In diesem Moment habe ich gelernt: Ja, da gibt es nun eine Minderheit, die zwar nur äußerst knapp unterlegen ist, die aber dennoch akzeptieren muss, dass das nun ihr neuer Vorsitzender ist. Sie muss akzeptieren, dass das jetzt der Weg ist, den man geht. Bei solchen Angelegenheiten wie der Energiewende oder meinetwegen beim Thema der Straußenausbau-Beiträge ist es genauso: Das sind alles Sachen, die die Menschen direkt berühren und sie auch direkt bewegen. Und natürlich haben die Menschen dazu auch immer eine eigene Meinung. Reuß: Man sagt ja oft, dass gerade Ministerpräsidenten, Bundeskanzler usw. Richtlinienkompetenz besitzen und führen müssen. Nun gibt es ja von dem französischen Moralisten Joseph Joubert den schönen Satz: "Politik ist die Kunst, die Menge zu leiten, nicht wohin sie gehen möchte, sondern wohin sie gehen soll." Mit Blick auf die deutsche Geschichte ist das sicherlich ein etwas ambivalenter Satz; dennoch haben Politiker in Führungsfunktion nun einmal die Aufgabe, mit der Verantwortung so umzugehen, dass sie manchmal Entscheidungen treffen müssen, die gut, aber schwer verständlich sind, auch wenn in Umfragen gerade die Mehrheit der Bevölkerung dagegensteht. Tillich: Ja, das ist in der Tat so. Natürlich ist das aber auch von der jeweiligen Ebene abhängig. Ich kann mich noch erinnern, wie das damals war, als ich als junger Mensch in der DDR in den Westen geschaut habe, als der sogenannte NATO-Doppelbeschluss gefasst worden ist und es viele Proteste dagegen gegeben hat. Wir haben bei uns in Sachsen z. B. auch eine Gemeindegebietsreform gemacht, obwohl so etwas bei der Bevölkerung nicht sehr beliebt ist. Da bekommt man viel Gegenwind. Wir haben am Ende des Tages auch mal versucht, die Sparkassen unter ein Dach zu bekommen. Wir mussten dann jedoch einen Volksentscheid akzeptieren, der sich dagegen aussprach. Das heißt, man lernt in der Politik doch, dass es richtig ist, einen Weg zu gehen und dafür auch die Richtung einzuschlagen und als Ministerpräsident bzw. führender Politiker auch die Verantwortung dafür zu übernehmen und die Menschen auf diesem Weg zu führen. Aber man muss eben auch erkennen, dass es in der Demokratie das Recht gibt, solche Entscheidungen zu hinterfragen bzw. sie sogar zu ändern. Ich glaube, auch das macht ein Stück des Wertes unserer Gesellschaft aus. Reuß: Dieses Dilemma zwischen Führen-Wollen bzw. gelegentlich auch Führen-Müssen und dem Wiedergewählt-werden-Wollen ist manchmal nicht so ganz leicht aufzulösen. Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal gesagt: "Wie kann eine Regierung das langfristig Notwendige entscheiden, wenn es kurzfristig unbeliebt ist und den Wahlerfolg bedroht?" Jean-Claude Juncker, der jetzige Präsident der EU- Kommission, hat das noch einmal etwas zugespitzt und gesagt: "Wir wissen oft genau, was wir tun müssen, wir wissen nur nicht, wie wir es schaffen, wiedergewählt zu werden, wenn wir es tun." Ist das ein Dilemma in der Politik? Tillich: Das kann ein Dilemma sein, aber das muss kein Dilemma sein. Oftmals ist es ja so: Man lernt, dass dann, wenn man eine Entscheidung recht zügig trifft, dies wertvoller ist, als wenn man zu lang ausharrt, zu lange diskutiert. Man diskutiert ja meistens nicht mit der Bevölkerung, sondern man diskutiert intern, was die beste Lösung ist. Nach einer langen Diskussion kann es sein, dass der Bürger den Eindruck bekommt, man sei sich nicht sicher, welche Lösung man in der Politik eigentlich haben will. Das ist das Risiko, das man hier wirklich sehen sollte. Das heißt, ich habe gelernt, dass es gut ist – aber ich gebe zu, das gelingt mir auch nicht immer –, sich schnell über den richtigen Weg klar zu werden und eine Entscheidung zu treffen. Wir haben z. B. sogar eine Landtagswahl gewonnen unmittelbar nach einer sogenannten funktionalen Verwaltungsreform: Bei dieser Reform haben wir die Anzahl der Landkreise halbiert. Danach haben wir nicht nur relativ deutlich alle Landratswahlen wiedergewonnen, sondern auch die folgende Landtagswahl. Aber das ging nur deswegen, weil wir das damals gut vorbereitet und dann auch zügig umgesetzt haben. Ich glaube, das ist ein sichtbares und gutes Beispiel dafür, dass das funktionieren kann. Aber es gibt auch andere Situationen, d. h. so ein Vorgehen ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Reuß: Sie sind nun Bundesratspräsident. Dieses Amt wechselt jeweils zum 1. November zwischen den Ministerpräsidenten. Damit bekleiden Sie das vierthöchste protokollarische Amt und sind damit auch Vertreter des Bundespräsidenten. Sie müssen in diesem Amt die Länderkammer einberufen und die Sitzungen leiten: Müssen Sie in dieser Zeit auch ein bisschen moderieren zwischen den Interessen? Wie schafft man diesen Spagat, wenn man Bundesratspräsident ist, dass man dann auch noch die Interessen des eigenen Bundeslandes vertritt? Tillich: Die Situation, die wir jetzt haben, ist ja etwas einfacher, weil wir in vielen Ländern große Koalitionen haben, d. h. es gibt nicht diesen offensichtlichen Konflikt … Reuß: … zwischen A- und B-Ländern … Tillich: … oder eben zwischen SPD- und CDU-regierten Ländern. Es gibt aber auch widerstrebende Interessen zwischen dem Bund und den Ländern. Da ist es dann durchaus ratsam, dass man eingreift. Das Amt des Bundesratspräsidenten eröffnet einem eben auch die Möglichkeit, auf der bundespolitischen Ebene ein Stück Verantwortung mitzutragen. Und es erweitert den eigenen Horizont deutlich, weil man dabei ja auch mit Themen zu tun hat, die über die üblichen Themen des Landes und des Bundesrates hinausgehen. Reuß: Lassen Sie uns nun ein Problem ansprechen, das uns seit Wochen und Monaten beschäftigt und uns sicherlich noch die nächsten Monate, wenn nicht Jahre beschäftigen wird. Ich meine den enormen und seit einigen Monaten fast schon eruptiven Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland. Alleine im Jahr 2015 sollen ungefähr eine Million Menschen zu uns gekommen sein. Das waren pro Tag teilweise bis zu 10000 Menschen und noch immer, so hört man, sollen pro Tag bis zu 3000 Menschen kommen. Bundeskanzlerin hat gesagt: "Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze … Das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle eines Bürgerkrieges kommen." Das ist de jure sicherlich richtig, aber ist es de facto auch durchzusetzen? Wie schützen wir uns, wenn ich das mal von der anderen Seite her so sagen darf, vor einer Überforderung? Tillich: Der Redlichkeit halber muss man ja sagen, dass diese 1,1 Millionen Menschen, die im letzten Jahr zu uns gekommen sind, in der Tat nicht übers Jahr verteilt kamen, sondern sie kamen in den letzten Monaten des Jahres. Das hat alle wirklich enorm gefordert: auf der Landesebene, auf der kommunalen Ebene, die Bürgermeister, die Landräte und natürlich auch die Landesverwaltungen und die Landesregierungen, aber auch die Bundesregierung. Ich meine, dass wir alle mittlerweile unisono festgestellt haben: So kann es nicht weitergehen, wir müssen etwas tun, damit dieser Flüchtlingszustrom deutlich sinkt. Ich habe unlängst mit meinen Leuten von der Bundesagentur gesprochen, damit wir die Menschen, die zu uns gekommen sind, auch integrieren, d. h. ihnen die Arbeitsaufnahme ermöglichen. Wir haben hierbei aber immer noch die alten gesetzlichen Regelungen, die quasi vorschreiben, dass jemand erst nach drei Monaten die Arbeit aufnehmen kann. Wir können diesen Menschen zwar für einen Euro und noch was eine Arbeit anbieten, insoweit diese Arbeit nicht in Konkurrenz zum Markt steht. Aber das ist meiner Meinung nach nicht die Lösung. Wir merken also, dass wir da eine Aufgabe vor uns haben, die zu lösen wir uns schwertun. Wir Deutschen neigen ja gelegentlich auch dazu, unsere Standards eher zu erweitern als sie abzusenken. In dieser Frage müssen wir eben auch diskutieren, ob wir uns das alles so bewahren können. Ich meine, ich fände es fatal, wenn wir darüber diskutieren, ob ein Zehnklassen- Abschluss in Syrien dem Zehnklassen-Abschluss in Bayern oder in Sachsen entspricht. Stattdessen müssen wir uns hier schlicht den jeweiligen Menschen anschauen und fragen: "Passt der zu diesem und jenem Betrieb? Kann er sich da einarbeiten? Muss ihm nicht die Chance dafür gegeben werden?" Wenn dies lediglich durch Formalien verhindert wird, wird es schwierig. Bei einem Arzt ist das sicherlich anders: Da muss man selbstverständlich darauf achten, ob jemand beweisen kann, dass er auch wirklich Arzt ist. Sie können daran schon erkennen, dass die reine Unterbringung nur die eine Seite der Medaille ist, die bereits schwer genug gewesen ist, während die Integration die andere Seite ist. Und diese wird noch wesentlich schwieriger und aufwendiger. Und dann müssen wir auch konstatieren, dass das Menschen sind, die aus einem anderen Kulturkreis kommen, die also nicht vergleichbar sind mit den Russlanddeutschen, die in ebenfalls durchaus großer Zahl in den letzten Jahren zu uns gekommen sind. Stattdessen gehören sie einer anderen Religion an und haben eine andere Lebensauffassung und auch Lebensweise. Da werden mit Sicherheit auch Welten aufeinanderprallen, weswegen hier viel Toleranz gefragt ist, und zwar von beiden Seiten. Denn Integration gelingt nur, wenn beide Seiten bereit sind zur Integration und wenn es ein gemeinsames Wertegerüst gibt. Reuß: Ich darf noch einmal zum Zuzug kommen, weil dieser ja mit hohen Zahlen weiterhin anhält. Es ist nun Winter und es ist zu befürchten, dass im Frühjahr, wenn das Wetter besser wird, die Zahlen vielleicht noch einmal steigen werden. Sie selbst haben gesagt: "Mit dem Asylrecht können wir nicht alle Probleme dieser Welt lösen." Nun gibt es ja diese Diskussion über Obergrenzen. Ihr Kollege , der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, hat gesagt, bei 12000 sieht er die Obergrenze für sein Bundesland. Der bayerische Ministerpräsident hat mit Bezug auf die gesamte Bundesrepublik gesagt, er sieht bei 200000 Menschen die Obergrenze. Denn er hat darauf hingewiesen, dass ja nicht nur die Flüchtlinge kommen, sondern auch die Freizügigkeit in der EU beachtet werden müsse. Auch dadurch kämen, seinen Angaben nach, im Jahr etwa 500000 Menschen zu uns. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion über Zahlen, über Obergrenzen? Und wenn man sich auf Obergrenzen festlegen würde, wie das Österreich soeben getan hat, wäre das rechtlich überhaupt durchzusetzen? Tillich: Ich finde es ja schon sehr "spannend", was Österreich da gemacht hat: Da trifft man in der Regierung eine Entscheidung und legt eine Obergrenze fest – und anschließend holt man ein Gutachten über die eigene Entscheidung ein. Das sollte kein Vorbild für die deutsche Politik sein. Der zweite Punkt ist in der Tat die entscheidende Frage: Was will man eigentlich erreichen? Ich will eigentlich erreichen, dass der Zustrom geringer wird. Wir hatten Jahre, in denen wir in Deutschland weniger als 200000 Flüchtlinge bzw. Asylbewerber hatten. Deswegen ist die Zahl von 200000 jährlich womöglich eine Zahl, die im Zusammenhang mit einem Zuwanderungsgesetz durchaus hilfreich sein kann, also im Zusammenhang mit einem Gesetz, aufgrund dessen man Fachkräfte ins Land lassen will, wo man also gezielt anwirbt bzw. gezielt in den Arbeitsmarkt integriert. Aber beim Thema Asyl bzw. Flüchtlinge kann so eine Zahl eben auch dazu führen, dass es mit den anderen europäischen Partnern nicht funktioniert. Wir haben ja eine Europäische Union – 28 Mitgliedsstaaten mit insgesamt 500 Millionen Menschen –, in der überall Freizügigkeit herrscht: Das heißt, jemand, der vor einem Krieg flieht, kann auch in Slowenien in Frieden leben und seine Chance suchen. Deswegen hat so eine Zahl eben auch einen unguten Nebeneffekt, denn sie kann auch von den europäischen Partnern zuerst einmal als Zielzahl verstanden werden. Das kann dazu führen, dass die anderen Länder sagen: "Ja, dann lassen wir doch zuerst einmal alle nach Deutschland durch, bis die dort ihr Kontingent aufgenommen haben." Ich glaube, das sollten wir in unsere Überlegungen schon auch mit einbeziehen, wenn wir über solche Fragen diskutieren. Umgekehrt sage ich aber auch: Eine Diskussion über Kontingente auf der einen und Obergrenzen auf der anderen Seite ist meiner Ansicht nach doch eine sehr semantische Diskussion. Ich glaube, wir brauchen einfach ein Konzept, das in sich schlüssig ist, ein europäisches und ein nationales Konzept, das mit den anderen europäischen Partnern abgestimmt ist und das dazu führt, dass die Flüchtlingszahlen deutlich geringer werden. Reuß: Sie haben das sehr wichtige Thema der Integration bereits angesprochen. Das setzt natürlich bestimmte Angebote voraus, Sprachangebote, Ausbildungsangebote usw. Aber das setzt natürlich auch die Integrationsbereitschaft der Menschen voraus, die zu uns kommen. Sie haben gesagt: "Wer nicht bereit ist zur Integration, den möchte ich auch dazu zwingen können." Wie könnte denn ein solcher Zwang aussehen? Tillich: Wir haben heute ja relativ harte Forderungen gegenüber denjenigen, die nicht Teil des Arbeitsmarktes sind, die also SGB II-, umgangssprachlich also Hartz-IV-Empfänger sind. Zu diesen Menschen sagt die Arbeitsverwaltung ja: "Du musst schon auch selbst deinen Beitrag leisten." Es kann nämlich nicht sein, dass ein Teil der Gesellschaft im Prinzip all das erwirtschaftet, worauf wir stolz sind, nämlich unseren Wohlstand, während ein anderer Teil davon nur profitiert. Ich möchte also gerne die Bereitschaft aller haben. Zur Integration gehört als Erstes der Spracherwerb. Zweitens erwarte ich, wenn man einen Ausbildungskurs oder eine Arbeitsmöglichkeit angeboten bekommt, dass der ausländische Bürger genauso wie der deutsche Bürger im Prinzip dieses Angebot auch annimmt. Wenn er das nicht tut, dann muss er genau wie der deutsche Bürger auch zur Verantwortung gezogen werden. Das kann dazu führen, dass letztlich deutlich wird: "Hier in Deutschland ist nichts für umsonst zu haben." Denn wir kennen ja auch diese Geschichten darüber, was da so nach Hause gekabelt wird bzw. worüber berichtet wird: dass man in Deutschland dieses und jenes bekommt. Fernsehberichterstattungen haben ja aufgezeigt, dass jemand versprochen worden ist, dass er eine schöne Wohnung bekommt, dass er sofort einen Arbeitsplatz bekommt usw. Es wird immer einen Unterschied geben zwischen Frankfurt am Main und Frankfurt an der Oder. In Frankfurt an der Oder ist die Arbeitslosenrate wesentlich höher, dort wird es für jemand schwerer sein, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen, als in Frankfurt am Main. Das heißt, es wird daher auch unterschiedliche Handhabungen all dieser Regelungen geben müssen. Mit "unterschiedlich" meine ich, dass man in Frankfurt am Main jemanden zwingen kann, dass er eine Arbeit aufnimmt. In Frankfurt an der Oder wird man diesbezüglich das größere Problem haben, weil man dort eben keine Arbeitsplätze hat. Dort wird auch die Integration wesentlich schwieriger sein. Reuß: Aufgrund dieser hohen Zufluchtszahlen gibt es eine starke Polarisierung. Es gibt Menschen, die sagen: "Wir haben noch Möglichkeiten, wir können noch integrieren." Es gibt aber auch Menschen, die Sorgen haben, und seit Herbst bzw. Winter 2014 gibt es ja schon Protestmärsche; ich erwähne hier nur das Stichwort "Pegida", das für "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes" steht. Dort gibt es, das muss man auch sagen, teilweise rechtspopulistische und fremdenfeindliche Parolen. Aber dort laufen sicherlich auch Bürger mit, die sagen: "Wo habe ich denn sonst ein Ventil, meine Sorgen zum Ausdruck zu bringen?" Sie haben in Ihrem Freistaat mit einem Bürgerdialog darauf reagiert. Das Motto dieses Dialogs lautete, "Miteinander in Sachsen". Wie sind Sie da vorangekommen? Wie kann man diese Vorbehalte, diese Ängste aufheben? Man muss sich ja auch mal die entsprechenden Zahlen anschauen: In Sachsen ist der Ausländeranteil relativ gering, gemessen an der Gesamtbevölkerung, d. h. er beträgt dort nur drei Prozent, während er bundesweit rund neun Prozent hoch ist. Wo kommen diese Ängste her und wie kann man damit umgehen? Tillich: Die Grundlagen für diese Ängste sind sicherlich sehr vielschichtig. Wir müssen ja zwei Sachen konstatieren. Nicht nur die Sachsen, sondern die Ostdeutschen insgesamt haben erstens in den vergangenen Jahrzehnten selbstverständlich nicht Erfahrungen damit sammeln können, dass Menschen zu uns kommen. Im Westen sind sie hingegen sogar hereingeholt worden, weil man sie auf dem Arbeitsmarkt gebraucht hat. Darüber hinaus ist es so, dass dieser Zuwachs kontinuierlich vor sich gegangen ist: Mannheim z. B. ist nicht innerhalb von vier Monaten so geworden, wie es heute ist, sondern das geschah über einen langen, langen Zeitraum. Dies ermöglichte auch das Aufeinandereingehen, das Aneinandergewöhnen. Wenn das hingegen sehr schnell geschieht, ist das eine Herausforderung. Der andere Punkt ist, dass Ostdeutsche in den letzten Jahren eine Vielzahl von Veränderungsprozessen mitmachen mussten. Ich will das ganz offen sagen: Natürlich bringt jede Veränderung auch Unsicherheit. Denn die Menschen fragen sich: "Was wird danach?" Die erste diesbezügliche Erfahrung, die man machen musste und die man vorher überhaupt nicht gekannt hat, war die Arbeitslosigkeit. Dann hatte man endlich wieder Arbeit und erlangte zum ersten Mal einen gewissen Wohlstand. Da kommt so ein Sammelsurium an Befürchtungen und Ängsten zusammen. Dazu kommt, dass die Menschen in den letzten Jahren feststellen mussten, dass es für Erspartes bei der Bank kaum noch Zinsen gibt. Auch die Lebensversicherung, die man abgeschlossen hatte, ist nicht mehr das, was sie mal gewesen ist. Noch bis vor Kurzem hatte man doch den Menschen gesagt: "Wenn du fürs Alter vorsorgen willst, dann brauchst du eine Lebensversicherung bzw. musst du dich um eine private Altersvorsorge kümmern." Es gab die Energiewende, der Strompreis stieg stark an usw. Das heißt, das ist doch eine gewisse Gemengelage, die sich dann auch in solchen Protesten artikuliert. Wenn man über diese Themen mit den Menschen spricht, dann erreicht man sie aber noch. Nahezu aussichtslos ist es hingegen, mit Menschen sprechen zu wollen, die fremdenfeindlich, die rassistisch sind. Das sind aber auch nicht diejenigen, die dann in solche Bürgerdialoge kommen. Diese Menschen erreichen wir also kaum noch. Aber mit den anderen zu sprechen, ist meiner Meinung nach notwendig, um sie nicht aus der Gesellschaft auszugrenzen und sie stattdessen für die Demokratie zurückzugewinnen. Reuß: Es gibt ja auch immer Sätze, die sehr stark polarisieren. Und Politiker werden oft von den Medien ein wenig genötigt, ganz kurz und plakativ zu formulieren. Einer dieser Sätze heißt: "Der Islam gehört zu Deutschland." Diesen Satz haben schon viele gesagt, ich glaube, Wolfgang Schäuble war einer der Ersten anlässlich der Eröffnung der Islamkonferenz 2006. Der damalige Bundespräsident Christian Wulff hat diesen Satz am Tag der Deutschen Einheit 2010 ebenfalls gesagt. Auch die Bundeskanzlerin hat diesen Satz in ihrer Neujahrsansprache bereits gesagt. Sie jedoch haben in einem Interview ganz bewusst gesagt: "Ich teile diese Auffassung nicht. Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört." Diesen Satz haben Sie auf dem CDU-Landesparteitag in Neukieritzsch im November 2015 noch einmal wiederholt. Was ist konkret damit gemeint? Tillich: Ich stamme ja aus einem Teil Deutschlands, wo die Religionsfreiheit zwar in der Verfassung stand, aber nie gelebt worden ist. Von daher ist es für mich schon etwas Großartiges, dass wir nun diese Religionsfreiheit tatsächlich haben. Wir haben ja nicht nur den Islam, wir haben nicht nur die christlichen Kirchen, wir haben auch Buddhisten usw. Und wir haben in Deutschland auch eine große Menge von Menschen, die keiner Religion angehören. Alle sollen in einem friedlichen Miteinander leben können. Und deswegen möchte ich nicht, dass dem einen oder auch dem anderen quasi zugesprochen wird, dass er hier der Stärkere oder der Dominierendere ist. Deswegen steht für mich diese Religionsfreiheit wirklich über allem, und damit auch die Möglichkeit, selbst religiös zu sein. Gleichzeitig ist für mich aber auch noch etwas anderes wichtig: Wir haben im Prinzip die Zeit der Aufklärung hinter uns. Wir haben gelernt, dass bei uns das Grundrecht über der Religion steht, und auch das ist ein wichtiges Element. Diejenigen, die zu uns kommen, müssen sehr deutlich erkennen, dass bei uns in Deutschland womöglich im Unterschied zu ihren Heimatländern oder Heimatregionen eben genau dieses Grundprinzip herrscht, dass das Grundgesetz über der Religion steht und dass Religion eine Privatangelegenheit ist. Deswegen gibt es hier bei uns in Deutschland ja auch diese starke Trennung von Staat und Kirche. Das ist meine Überzeugung – und deswegen auch dieser klare Satz. Reuß: Ich würde hier gerne eine kleine inhaltliche Zäsur machen, um unseren Zuschauern den Menschen Stanislaw Tillich näher vorzustellen. Sie sind am 10. April 1959 geboren, und zwar in Neudörfel, einem kleinen, obersorbischen Ort. Heute zählt dieser Ort um die 160 Einwohner. Wie war denn dort Ihre frühe Kindheit? Wie war Ihr Verhältnis zu den Eltern? Wie sind Sie aufgewachsen? Tillich: Ich hatte eine schöne Kindheit. Auch meine Großeltern lebten noch in diesem wunderschönen Ort Neudörfel. Dort habe ich viel Zeit verbracht und ich habe zwei Cousins, die fast zur gleichen Zeit geboren wurden wie ich. Meine schönsten Erlebnisse sind im Prinzip die von uns dreien, denn ich hatte keine Geschwister, weswegen die beiden Cousins meine Ersatzgeschwister waren. Wir haben viele Dummheiten angestellt. Zweitens hatte ich eine Zeit, die man durchaus als wohlbehütet beschreiben kann. Ich bin auch im Hinblick auf die Schule den ganz normalen Weg gegangen: Ich hatte dort nie Probleme, habe genauso wie jeder andere Fußball gespielt usw. Das war also eine sehr schöne Kindheit auf dem Lande, wo man sich noch so richtig austoben konnte und die eigenen Kräfte gelegentlich in viel Blödsinn gesteckt hat. Reuß: Sie sind in einer sorbischen Familie aufgewachsen, was man den Bürgern aus Westdeutschland vielleicht ein bisschen erklären muss. Die Sorben sind eine anerkannte nationale Minderheit ohne eigenes Staatsgebiet, aber mit eigener Flagge und eigener Hymne und vor allem mit eigener Sprache. Sie sind also in dieser Gemeinschaft aufgewachsen und sprechen wohl auch heute noch Sorbisch zu Hause. War das etwas Besonderes? Sie haben ja auch ein sorbisches besucht, wenn ich das richtig weiß. Haben Sie aufgrund Ihrer sorbischen Abstammung auch mal Nachteile erleiden müssen als Mitglied einer Minderheit? Tillich: (spricht einige Sätze auf Sorbisch) Ich habe jetzt gerade gesagt: "Für unsere Zuschauer sage ich jetzt einige Sätze auf Sorbisch, damit jeder weiß, dass das kein deutscher Dialekt ist." Selbstverständlich hat es im Zusammenleben zwischen Sorben und Deutschen immer mal wieder kleinere und auch größere Konflikte gegeben. Das war zwar nicht schön, aber diese gibt es ja auch zwischen ganz normalen Nachbarn. Ich würde das also nicht überbewerten wollen. Manchmal waren das aber auch Dinge, die richtig wehgetan haben. Ich habe in einem Zeitungsinterview im Zusammenhang mit den ersten Fremdenfeindlichkeiten hier in Deutschland gegenüber Asylbewerbern auch schon gesagt: Es war nicht schön, wenn man als kleiner Knirps von vielleicht zehn Jahren beim Fußballspielen von älteren Männern beschimpft wurde wegen der sorbischen Herkunft oder wegen des eigenen katholischen Glaubens! Das Schlimme ist: Es waren nicht die Jungs, gegen die wir gespielt haben, die uns beschimpft haben, sondern es waren die Väter, die da als vermeintliche Zuschauer am Spielfeldrand standen. Sie können sich sicherlich vorstellen, wie dann die Jungs anschließend gedacht haben. Eine Weisheit, ein Zitat, das ich gerne gebrauche, lautet daher: Niemand auf dieser Welt wird fremdenfeindlich geboren, sondern er wird dazu erzogen. Das zu verhindern, ist eine der großen Verpflichtungen, die wir haben. Aber ich kann trotzdem sagen, dass die Sorben und die Deutschen in dieser Region östlich von Dresden seit über 1000 Jahren insgesamt friedlich miteinander leben – und das wird auch so bleiben. Reuß: Sie haben nach dem den obligatorischen Wehrdienst gemacht und haben anschließend Ingenieurwissenschaft studiert an der Technischen Universität in Dresden. Sie haben Ihr Diplom im Bereich Konstruktion und Getriebetechnik gemacht, später haben Sie dann noch ein Aufbaustudium für Binnenhandel gemacht. Wenn ich mal so direkt fragen darf: War die Wahl dieses Studiums wirklich eine Herzensangelegenheit oder sind Sie damals auch ein bisschen denjenigen Fächern ausgewichen, in denen die ideologische Indoktrinierung viel stärker gewesen ist? Tillich: Nun ja, man konnte einerseits ausweichen. Bei uns gab es damals eine sehr starke Werbung dafür, dass die Jungs entweder Lehrer oder Offizier werden sollten. Das war natürlich nicht mein Interessensgebiet. Ich habe mich eigentlich für Sprachen interessiert, aber das hätte wiederum anderer Voraussetzungen bedurft. Ich hätte dafür z. B. freiwillig für drei Jahre zur Armee gehen müssen, was ich aber nicht wollte. Ich war aber auch technisch interessiert und deswegen hat mir mein Studium sehr wohl Spaß gemacht. Ich bin wirklich heute noch mit Herz und Seele Ingenieur. Gut, ich bin Ministerpräsident – und war mal Ingenieur. Aber das ist einfach etwas, das man hat und das auch bleibt. Es war aber in der Tat damals so, dass das mit der Wahl des Studienfachs nicht so einfach war. Ich hatte Schulkameraden, die Ärzte werden wollten. Aber in ihren Beurteilungen stand drin, dass sie aus einem katholischen Elternhaus stammen. Sie sind alle nicht zum Medizinstudium zugelassen worden. Das hat es also alles gegeben in der DDR. An diesem sorbischen Gymnasium war es auf der einen Seite leichter, als Christ das Abitur abzulegen. Denn ansonsten wäre das nicht so leicht oder unmöglich gewesen. Aber es hat auch regionale Unterschiede gegeben. Sie wissen vielleicht, dass es in der DDR keine Verwaltungsgerichte gegeben hat: Man konnte sich nicht zur Wehr setzen. Der Schulleiter oder der Kreisschulrat hat eben den Daumen nach oben oder nach unten gehalten – und damit war die Entscheidung über den persönlichen Lebensweg bereits getroffen. Das heißt, es hat da auch eine sehr individuelle Einflussnahme auf den Lebenslauf der Schüler, der Studenten und überhaupt der jungen Menschen gegeben. Reuß: Sie haben es schon gesagt: Sie waren, wenn man das so salopp formulieren darf, im Grunde genommen Angehöriger einer doppelten Minderheit. Sie waren Sorbe und Sie bekannten sich zu Ihrem Glauben. Ich glaube, Ihr Vater war evangelischen Glaubens und Ihre Mutter katholischen Glaubens. Erzogen wurden Sie katholisch. Erdet das, schafft das auch Bodenhaftung, prägt einen das, wenn man dieses Gefühl, einer Minderheit anzugehören, immer wieder zu spüren bekommt? Tillich: Das ist in gewissem Sinne auch heute noch bei bestimmten politischen Entscheidungen, die man treffen muss, wertvoll. Denn man hat einfach eine andere Sicht auf die Dinge. Ich habe mich nie darin geübt, mich immerzu zu wehren, nur weil ich einer Minderheit angehöre. Stattdessen habe ich eher darauf geachtet, dass ich versuche, das zu tun, was ich auch von anderen erwarte, mich nämlich nicht zu diskriminieren aufgrund dessen, dass ich in der Minderheit bin. Das war immer meine politische Motivation bzw. sogar meine Lebensmotivation. Das ist etwas, was man immer brauchen kann. Ich habe es ja vorhin schon angedeutet: Mein erster Weg nach der Wiedervereinigung 1990 führte mich nach Brüssel. Das war ein Zugewinn an Lebenserfahrungen, aber auch an Erfahrungen damit, wie man mit anderen umgeht, wie man sich in andere hineinversetzen kann. Eine Frage lautete damals z. B.: "Warum haben die Spanier bei dieser Abstimmung nun so entschieden und nicht anders?" Das ist etwas Wertvolles, von dem ich bis heute als Mensch, aber auch in der Politik sehr zehre. Reuß: Für jemanden, der in Westdeutschland aufgewachsen ist, ist es natürlich immer schwierig, sich vorzustellen, wie bestimmte Lebensphasen in der DDR ausgesehen haben. Trotzdem meine ich – das kann man nachlesen und herauslesen –, es gab auch in der DDR verschiedene Wege, damit zurechtzukommen. Man hätte sich z. B. ganz zurückziehen können. Sie jedoch haben sich engagiert und Sie haben sich – so selbstverständlich war das ja keineswegs – auch politisch engagiert: Sie sind in die CDU gegangen. Sie gingen nicht in die SED, in der man vielleicht leichter hätte Karriere machen können, wenn einem das wichtig gewesen wäre. Sie gingen also in die CDU: Das war zwar eine Blockpartei, anders ging das ja nicht damals in der DDR, aber was hat den Ausschlag dafür gegeben, dass Sie im Alter von 28 Jahren gesagt haben: "Ich trete in diese Partei ein!"? War das auch Ihr Glaube? Oder war das der Versuch, über diesen Weg, soweit es eben ging, auch ein bisschen Einfluss nehmen zu können? Tillich: Das waren damals vielleicht auch sonderbare Gründe, die man aus heutiger Sicht womöglich nicht so leicht nachvollziehen kann. Wir waren damals Eltern von Kindern, die in die Schule gingen. In der DDR gab es die Möglichkeit, für maximal drei Tage unentschuldigt zu fehlen, denn sonst wurden die Kinder in der Schule nicht versetzt. Als katholische Bürger hatten wir natürlich an uns selbst den Anspruch gestellt, diesen Glauben auch leben zu wollen und an bestimmten kirchlichen Feiertagen diesem Glauben auch nachzukommen. Dies hat der Staat versucht zu verhindern. Es gab eben nicht den Ostermontag als Feiertag: Das war in der DDR kein schulfreier Tag. Auch an Fronleichnam war nicht schulfrei, ebenso wenig an Heilige Drei Könige. Das heißt, man musste sich immerzu entscheiden, und damals haben wir – also ich zusammen mit einigen anderen – darum gekämpft, zu erreichen, dass jenseits dieser drei Tage den Kindern zumindest an den kirchlichen Feiertagen die Möglichkeit gegeben wird, ihrer Religion und ihren religiösen Auffassungen nachzukommen. Das war z. B. einer der Gründe, warum ich damals in die CDU eingetreten bin. Wenn man sich heute die CDU in den ostdeutschen Ländern anschaut, dann wird man feststellen, dass sie viel stärker und intensiver auch noch von den Kirchen geprägt ist. Der Anteil der Gläubigen in dieser Partei ist wesentlich höher, als das in den anderen Parteien der Fall ist. Das heißt, die CDU war damals eben auch in gewisser Weise ein Ventil: Darin hat sich jemand, der sich als Christ in der Gesellschaft engagieren wollte, letztlich wiedergefunden. Da hat das Thema der Blockpartei, wie das dann in Berlin gehandhabt worden ist, eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Reuß: Ich versuche, Ihre weitere Biografie nun ein wenig zu komprimieren. Nach der Wende haben Sie sehr mutig ein Unternehmen gegründet und für die Volkskammer kandidiert. Der Wahlausgang der ersten freien Volkskammerwahl war ja für viele überraschend, und auch die Demoskopen hatten etwas anderes vorausgesagt. Sie sind dann, wie Sie schon gesagt haben, zunächst als Beobachter ins Europäische Parlament gegangen. Später wurden Sie dorthin auch gewählt. Im Europäischen Parlament waren Sie dann stellvertretender Vorsitzender des sehr einflussreichen Haushaltsausschusses. Sie haben dabei auch die Verfehlungen, die es damals in der EU-Kommission gegeben hat, sehr genau untersucht. Ihre Empfehlung lautete dann, die Kommission nicht zu entlasten aufgrund dieser Vorkommnisse. Die Kommission musste dann zurücktreten. War das ein Schritt, der das Selbstbewusstsein des Parlaments – das ja immer als schwach galt gegenüber der Kommission, gegenüber den Nationalregierungen – gestärkt und auch die Transparenz erhöht hat? Denn das ist ja immer die entscheidende Frage: Wie gehen die da in Brüssel mit unserem Geld um? Tillich: Zuerst einmal muss ich Ihnen Respekt zollen, Sie haben sehr gut recherchiert: Das hat mir bisher noch kein Interviewer vorgetragen; danach hat mich noch keiner gefragt. Aber Spaß beiseite, ich hatte damals, nachdem ich nicht mehr Beobachter war, verschiedene Optionen, mich in die Arbeit des Parlaments einzubringen. Ich habe mich ganz bewusst für den Haushaltsausschuss entschieden, weil mir da auch schon geläufig war: Wo das Geld ist, ist auch die Verantwortung, und dort spielt auch die Musik. Das war damals aber auch eine schwierige Situation, denn wir hatten in der Tat deutliche Verfehlungen zu konstatieren: nicht nur der einzelnen Kommissare, sondern der Kommission insgesamt. Sie haben vorhin nach der Wahrheit und Ehrlichkeit in der Politik gefragt: Man konnte einfach nicht so tun, als wäre nichts passiert. Dass die Kommission letztlich den Weg des Rücktritts gewählt hat, war dann eine logische Folge. Das hat aber auch im institutionellen Gefüge dazu geführt, dass das Parlament in den Mitgliedsstaaten an Respekt gewonnen hat. Das war der Grund dafür, warum bei anschließenden Gipfeln dem Parlament mehr Rechte zugebilligt worden sind: weil es eben in der Lage war, mit den ihm anvertrauten Rechten verantwortungsvoll umzugehen. An diesem Prozess ein bisschen mitbeteiligt gewesen zu sein, ist durchaus etwas, von dem man sagt: "Ja, das hast du richtig gemacht. Da hast du auch ein Stück weit die Geschichte mit bewegt." Ich habe Jacques Santer jetzt gerade bei den Trauerfeierlichkeiten anlässlich des Todes von Helmut Schmidt getroffen. Wir sind trotzdem gute Kollegen und wir freuen uns wirklich, wenn wir uns gegenseitig wiedererkennen. Das war damals für ihn und seine Kommission sicherlich ein bitterer Moment. Aber ich glaube, auch das zeugt von Größe, dass man anschließend wieder anständig miteinander umgeht. Reuß: Sie wurden 1999 erneut ins Europaparlament gewählt, waren dann aber nicht lange dort, denn der damalige sächsische Ministerpräsident , der gerade zum dritten Mal in Sachsen bei den Landtagswahlen die absolute Mehrheit erreicht hatte, holte Sie zurück. Sie waren zunächst einmal Leiter der Staatskanzlei, wenn ich richtig informiert bin … Tillich: Nein, ich war zuerst Bundes- und Europaminister. Reuß: Genau, erst danach waren Sie Leiter der Staatskanzlei und später auch Staatsminister für Umwelt und Landwirtschaft. Schließlich wurden Sie Finanzminister in Sachsen. Ihre Kabinettskollegen freuen sich heute wahrscheinlich nicht so arg darüber, dass Sie sich in so vielen Ressorts selbst so gut auskennen, weil Sie viele der entsprechenden Ämter selbst schon innehatten. Welches Amt hat Ihnen denn am meisten gelegen? Wo waren die größten Gestaltungsmöglichkeiten? Tillich: Mein Traum war, Finanzminister zu werden. Genau das war ich aber wirklich nur wenige Monate. Das schönste Amt, und das sage ich auch immer meinen Umwelt- und Landwirtschaftsministern, ist das Umwelt- und Landwirtschaftsministerium – weil man es dort nur und ausschließlich mit guten Menschen zu tun hat. Dieses Ministerium hatte damals auch noch die Bezeichnung "Lebensministerium": Denn man will saubere Luft, man will gesunde Tiere usw. Und man hat es dabei auch wirklich immer mit Menschen zu tun, die etwas bewegen wollen, die in der Regel kaum etwas verhindern wollen. Wir hatten damals zwar diese schwierige Zeit des Hochwassers 2002 zu bewältigen. Und den Hochwasserschutz durchzusetzen, war auch nicht immer einfach. Aber das gehört einfach mit zum Job. Nein, im Ernst, das Amt des Finanzministers war im Prinzip für mich das erstrebenswerte Amt. Aber leider Gottes ist mir das nicht in der vollen Länge gelungen: Ich war das keine ganze Legislaturperiode lang. Reuß: Man muss ja auch immer Glück haben bzw. man kann auch kräftig Pech haben. Sie hatten keine ganz leichte Zeit als Finanzminister, denn es gab damals diese große Krise um die Landesbank Sachsen: Sie war im Zuge der weltweiten Finanzkrise nämlich in eine schwere Notlage geraten. Zu dieser Krise kam es u. a. auch deswegen, weil es da irgendwelche Verbriefungsgeschäfte mit amerikanischen Hypothekenmarktkrediten gegeben hatte. Die Sparkassen mussten daraufhin mit Milliardenkrediten die Liquidität der Landesbank sichern. Sie haben sich dann um einen Verkauf der Landesbank bemüht und mussten diesen Verkauf wiederum mit Staatsbürgschaften in Milliardenhöhe sichern. War das eine der schwierigsten Entscheidungen, die Sie als Finanzminister treffen mussten? Tillich: Einerseits ja. Ich durfte dabei ja eine Suppe auslöffeln, die andere eingebrockt hatten. Denn das Ergebnis war ja eine pleitegegangene Bank. Die LBBW war bereit, sie zu übernehmen – dies aber nicht ohne Konditionen. Es ging darum, diese Konditionen so zu auszuhandeln, dass der Freistaat Sachsen hinterher auch noch Luft zum Atmen hat. Das war schwierig. Wir waren damals die Ersten, die diesen bitteren Weg gegangen sind: Die Sächsische Landesbank war die erste, die zusammengebrochen ist. Im Nachhinein muss ich sagen: Mit der Bürgschaft von 2,75 Milliarden Euro kann man irgendwie noch leben, denn ich sehe ja, was andere Länder bis heute im Nachhinein an Lasten zu tragen haben wegen ihrer Landesbanken. Da ist uns in Sachsen damals doch ein Ergebnis gelungen, das man durchaus als eines bezeichnen kann, das den Freistaat Sachsen nicht überfordert. Wir zahlen allerdings nach wie vor diese Bürgschaft ab, weil sie fällig wurde, da von diesen Papieren nur ein geringer Teil etwas wert war, während die anderen absolut nichts mehr wert waren. Das Unangenehme ist, dass nun der Steuerzahler dafür herhalten muss. Das erinnert mich natürlich auch immer wieder an diese Situation damals. Ja, das war in der Tat einer der schwierigen Momente. Aber ich meine, dass ich es am Ende des Tages doch recht gut hinbekommen habe, dass der Freistaat Sachsen dabei nicht restlos überfordert worden ist, sondern die Sache handhabbar war. Ich bin dabei auch allen Partnern, die damals mitgeholfen haben, sehr dankbar. Das war die große Sparkassenvereinigung, also früher Herr Haasis und später Herr Fahrenschon, und natürlich die LBBW und die baden-württembergischen Sparkassen; das hat uns letztlich eine Lösung ermöglicht, die für alle tragbar war. Reuß: Wir müssen und können aus zeitlichen Gründen auf die Einzelheiten nicht eingehen, aber es war dann so, dass Sie, als Ministerpräsident von seinem Amt zurückgetreten ist, sein Nachfolger wurden: im Amt des CDU-Vorsitzenden und im Amt des Ministerpräsidenten. Sie haben einmal gesagt: "Es mag ostdeutsch sein, aber ich habe mich nicht schon von Geburt an dazu berufen gefühlt." Trügt der Eindruck, dass das Amt eher zu Ihnen gekommen ist, als Sie zum Amt? Tillich: Nein, dieser Eindruck trügt nicht. Das ist so. Eine solche Situation, dass jemand als Finanzminister zurücktritt und man selbst Finanzminister wird, um nach einigen Monaten, weil der bisherige Ministerpräsident zurücktritt, selbst Ministerpräsident zu werden, ist ja nicht allgegenwärtig. Sie haben ja meine Karriere beschrieben: Ich war mir natürlich bewusst, dass dann, wenn sich so eine Frage eines Tages stellen würde, ich jemand sein werde, der danach gefragt wird. Damit habe ich mich also sehr wohl auseinandergesetzt. Ich habe mich auch gefreut, dass die Partei und auch die Menschen in Sachsen gesagt haben: "Das ist unser Mann!" Deswegen konnte ich es mir auch leisten, im Wahlkampf 2009 zu plakatieren "Der Sachse". Der Wahlerfolg 2009 hat das auch unterstrichen: Die Menschen waren stolz darauf, einen Ministerpräsidenten zu haben, der Stanislaw Tillich heißt. Sie haben mir damit bis 2014 einen großen Vorschuss gegeben und diesen dann bei der letzten Wahl noch einmal bestätigt. Reuß: Sie waren ja nach der Wende der erste sächsische Ministerpräsident, der selbst aus dieser Region stammt. Sie gelten bei Vertretern aller Parteien als Mann des Ausgleichs. Man sagt Ihnen eine ruhige Hand nach, und dies auch in politisch aufgeheizten Situationen. Auffällig ist, dass viele ehemalige DDR-Bürger – Journalisten suchen ja immer nach Zusammenhängen, selbst dann, wenn es womöglich gar keine gibt –, die dann nach der Wiedervereinigung in politische Spitzenämter gekommen sind, Naturwissenschaftler sind. Das gilt für Angela Merkel, die Physikerin ist, das gilt für die Bundesbildungsministerin Johanna Wanka, die Mathematikerin ist. Sie sind Ingenieur. Prägt das den Politikstil? Hat das ein bisschen damit zu tun, dass man Fakten haben möchte, dass man sehr genau abwägt, dass man eine sehr naturwissenschaftliche Herangehensweise hat? Oder ist es doch eher eine Sache des Naturells, der Sozialisation, wie Politik gemacht hat? Tillich: Ich komme da gerne noch einmal zurück zu Ihrer Frage von vorhin: Was wollte ich studieren? Denjenigen, der damals Jura studiert hat oder auch Politologie – obwohl, das gab es damals in der DDR gar nicht, sondern das hieß damals wahrscheinlich Marxismus-Leninismus –, würde man doch komisch anschauen, wenn er heute in der politischen Verantwortung stünde – es sei denn, er wäre bei den Linken. Von daher hat es schon seinen Grund, warum Angela Merkel Physikerin ist und ich Ingenieur bin und z. B. auch Herr Platzeck Ingenieur ist. Nein, Spaß beiseite, es führt natürlich auch zu einem gewissen Pragmatismus, wenn man Naturwissenschaftler ist. Ich weiß, dass das, was ich jetzt sage, womöglich überheblich klingt gegenüber den Geisteswissenschaftlern, aber man hat in den Naturwissenschaften einfach mit Lösung zu tun, die irgendwie funktionieren müssen. Ich als Ingenieur oder Konstrukteur habe Lösungen entwickelt, die wirklich funktionieren mussten. Wenn man das mal gemacht hat, dann geht man auch an die Politik anders heran, nämlich weniger idealistisch, als jemand, der ein großes politisches Konzept hat und sagt: "Das wird schon gutgehen!" Beides in der Politik zu vereinen, also diesen Pragmatismus und Realismus und eben auch ein Stück weit diesen Idealismus, ist das Kunststück, das man auch als Ingenieur können muss. Reuß: Zum Schluss unserer Sendung würde ich gerne noch einmal auf Sie als Person zurückkommen. Sie sind verheiratet und haben zwei Kinder, die inzwischen erwachsen sind. Welche Rolle spielte und spielt Familie für Sie? Tillich: Eine ganz große Rolle. Ich habe vorhin bei Ihrer Frage nach der Politik als Sucht nicht so richtig gewusst, wie ich Ihnen darauf antworten soll. Politik wird bei mir nicht nur wegen meiner Kinder und meiner Frau nicht zur Sucht, sondern weil die Familie insgesamt für mich einen ganz, ganz großen Wert hat. Es ist vielleicht auch etwas typisch Sorbisches, dass wir sehr viel Wert auf die Familie insgesamt legen. Das heißt, die Familie beschränkt sich bei uns nicht nur auf die Kernfamilie. Die Familie bedeutet mir wirklich sehr viel. Und für mich ist das auch ein Stück Solidarität: Ich brauche nicht per se den Sozialstaat, denn ich weiß, dass ich mich auch auf meine Familie verlassen kann. Das ist etwas, was einen einerseits ruhig sein lässt, was einem andererseits aber auch die Kraft gibt für die Anforderungen im Amt des Ministerpräsidenten. Denn da wird man oft sehr heftig kritisiert, da wird man gelegentlich auch für Dinge kritisiert, für die man gar nicht verantwortlich ist – was man dann vielleicht auch ein bisschen als ungerecht empfindet. Da eine Familie zu haben, die zu einem steht, da Freunde zu haben, die zu einem stehen – ich schließe die Freunde hier fast noch in die Familie mit ein: Das ist es, was einen stolz macht und auch gelassen macht. Aber man muss sich eben auch die notwendige Zeit für die Familie nehmen. Und genau deswegen muss man sich eben in Sachen Sucht und Politik ein wenig zurückhalten. Reuß: Das ist ein schönes Schlusswort, denn unsere Sendezeit ist leider schon zu Ende. Ich darf mich bei Ihnen, Herr Ministerpräsident, ganz herzlich bedanken für Ihr Kommen und für das angenehme Gespräch. Tillich: Ich bedanke mich ebenfalls. Reuß: Ich würde gerne mit einem Zitat enden, das in der Tageszeitung "Die Welt" über Sie zu lesen war und das versucht, Sie ein bisschen zu beschreiben. Es hieß dort: "Stanislaw Tillich ist einer, der keine vollmundigen Ankündigungen mag, der geräuschlos und effizient arbeitet und dabei stets auf den Ausgleich der Interessen bedacht ist." Das dürfen wir, wie ich glaube, kommentarlos so stehen lassen. Noch einmal ganz herzlichen Dank. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit Stanislaw Tillich, dem Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen. Ich danke dem Team hier im "studio 4A" in Berlin und Ihnen, verehrte Zuschauer, für Ihr Interesse, fürs Zuschauen und fürs Zuhören. Auf Wiedersehen. Tillich: Auf Wiedersehen.

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