Die Tagebuecher Von Etty Hille
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Zu diesem Buch «Die niederländische jüdische Slawistik- und Psychologiestudentin Etty Hillesum begann im März 1941, mitten in Krieg und Judenver- folgung, siebenundzwanzigjährig mit Tagebuchaufzeichnungen, die sie bis zu ihrer Deportation fortführte; zwei Jahre später starb sie in Auschwitz. Vierzig Jahre vergingen, bis die Hefte nach vielen Um- wegen entziffert und in Auswahl 1981 in Holland veröffentlicht wer- den konnten. Bereits eineinhalb Jahre später – so gross war das Echo – erlebten sie die 14. Auflage. Ähnlich wie das Tagebuch der jüngeren Anne Frank geben die Aufzeichnungen Etty Hillesums – auf höherer Reifestufe – Zeugnis vom Ringen einer hochbegabten, ungemein lebensvollen und leiden- schaftlichen jungen Frau um Wesentlichkeit, Vergeistigung und Mit- menschlichkeit angesichts von Unmenschlichkeit, Grausamkeit und Vernichtung. Obwohl die Tagebücher eine unablässige Selbstana- lyse darstellen und daher auch nur mit grosser Geduld zu lesen sind, geht eine mitreissende Anziehungskraft von ihnen aus. Etty hat ein unbändiges Temperament, hat Humor, besitzt den Mut zu oft atemberaubender Ehrlichkeit. Trotz ihrer Geistesgaben ist sie völlig uneitel und natürlich; sie beherrscht die hohe Kunst, seeli- sche Vorgänge differenziert ins Wort zu fassen; ihre Liebesfähigkeit scheint unerschöpflich, ist überströmend; sie überspringt die Zäune der Konventionen, geht aufs Ganze und sucht mit letzter Konsequenz nach den Quellen ihrer Existenz. Je mehr ihr äusserer Lebensraum durch die Schikanen der Juden- verfolgung eingeschränkt wird, umso reicher gedeiht ihr geistiges und religiöses Wachstum. Stehen am Beginn der Tagebücher inneres Chaos, Depression, Angst, Zusammenbruch (stets jedoch gepaart mit dem festen Willen, Ordnung zu schaffen), so dominieren am Ende ihres Weges nach innen Lebensbejahung, Annahme ihres Schicksals, Feindesliebe, Solidarität mit den Leidenden, Freude, Sinnfulle, Nächstenliebe, Gläubigkeit und Geborgenheit in Gott» («Rheinische Post»). Das denkende Herz Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943 Herausgegeben und eingeleitet von J.G. Gaarlandt Aus dem Niederländischen von Maria Csollány Rowohlt Gut, diese neue Gewissheit, dass man unsere totale Vernichtung will, nehme ich hin. Ich weiss es nun. Ich werde den anderen mit meinen Ängsten nicht zur Last fallen, ich werde nicht verbittert sein, wenn die anderen nicht begreifen, worum es bei uns Juden geht. Die eine Gewissheit darf durch die andere weder angetastet noch entkräftet werden. Ich arbeite und lebe weiter mit derselben Überzeugtheit und finde das Leben sinnvoll, trotzdem sinnvoll, auch wenn ich mich das kaum noch in Gesellschaft zu sagen getraue. Das Leben und das Sterben, das Leid und die Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füssen und der Jasmin hinterm Haus, die Verfolgungen, die zahllosen Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin und beginne immer mehr zu begreifen, nur für mich selbst, ohne es bis- lang jemandem erklären zu können, wie alles zusammenhängt. Ich möchte lange leben, um es später doch noch einmal erklären zu kön- nen, und wenn mir das nicht vergönnt ist, nun, dann wird éin anderer mein Leben von dort an weiterleben, wo das meine unterbrochen wurde, und deshalb muss ich es so gut und so überzeugend wie mög- lich weiterleben bis zum letzten Atemzug, so dass derjenige, der nach mir kommt, nicht ganz, von neuem anfangen muss und es nicht mehr so schwer hat. 31.-35. Tausend Oktober 1990 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juli 1985 Copyright © 1983 by F.H. Kerle, Freiburg/Heidelberg Die Originalausgabe erschien 1981 unter dem Titel «Het verstoode Leven, Dagboek van Etty Hillesum 1941-1943» im Verlag De Haan, Harlem Copyright © 1981 by De Haan/Unicbock b. v., Bussum Umschlagentwurf Werner Rebhuhn Satz Bembo (Linotron 202) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 880-ISBN 3 499 15575 3 Eingelesen mit ABBYY Fine Reader Etty Hillesum Neun engbeschriebene Hefte in kleiner, schwer lesbarer Handschrift, so fand ich vor, was mich danach nahezu unablässig beschäftigte: das Leben von Etty Hillesum. In den Heften entfaltete sich die Geschichte einer Frau, 27 Jahre alt, wohnhaft in Amsterdam-Süd. Es waren ihre Tagebü- cher aus den Jahren 1941 und 1942, also Kriegsjahren, aber für den, der ihre Schriften liest, Jahre der persönlichen Entwicklung und paradoxer- weise der Befreiung. Es waren jene Jahre, in denen Juden in Europa ver- folgt und ermordet wurden. Etty Hillesum war Jüdin. In dem Versuch, ihre Bindung zu einer «wild durcheinander gewor- fenen Welt» nicht zu verlieren, sucht sie nach den Quellen ihrer Existenz und findet schliesslich zu einer Lebenshaltung, die ein Bekenntnis zu ei- nem radikalen Altruismus ist. Die letzten Worte in ihrem Tagebuch lau- ten: «Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein.» Wer war Etty Hillesum? Unter ihren Eintragungen vom Donnerstag Morgen, dem 10. Novem- ber 1941, steht: «Lebensangst auf der ganzen Linie. Völliger Zusammen- bruch. Mangel an Selbstvertrauen. Abscheu. Angst.» Und am Freitag Abend des 3. Juli 1942: «Gut, diese neue Gewissheit, dass man unsere totale Vernichtung will, nehme ich hin. Ich weiss es nun. Ich werde den anderen mit meinen Ängsten nicht zur Last fallen, ich werde nicht ver- bittert sein, wenn die anderen nicht begreifen, worum es bei uns Juden geht. Die eine Gewissheit darf durch die andere weder geschwächt noch entkräftet werden. Ich arbeite und lebe weiter mit derselben Über- zeugtheit und finde das Leben sinnvoll, trotzdem sinnvoll» – zwischen diesen beiden Eintragungen spannt sich Ettys Existenz. Und die vielen Schattierungen dazwischen: ihr Verhältnis mit S. (über ihn später) und anderen Männern, ihre Beziehungen zur Familie, ihre Auseinanderset- zungen über die «Frauenfrage», ihre Ansichten über die Literatur der Russen und der Deutschen, vor allem Rilke, ihre Einsichten in die Ge- schichte und das Judentum, ihr beständiges Streben nach einem Leben, das sich gegen den Hass wehrt, der Freund und Feind beherrscht, ihre Ehrlichkeit und Freimütigkeit, auch in Bezug auf die Erotik, ihre Stim- mungen, ihre lyrische Empfindsamkeit, das drohende Geschehen und die 5 stets gewichtigeren Beweise eines «zerstörten Lebens» um sie herum: sie lotet sie aus, schreibt sie nieder, klar, intensiv, mit einem auffallen- den literarischen Talent. Das Tagebuch beginnt am Samstag, dem 9. März 1941. Im Februar dieses Jahres ist sie einem Mann begegnet, der im Brennpunkt ihres Denkens und Fühlens stehen wird. Dieser Mann ist der Psychochirologe Dr. Julius Spier, ein zu jener Zeit berühmter «Experte der Handlinien». Spier – von Etty konsequent als S. bezeichnet – war ein jüdischer Emi- grant aus Berlin. Am 25. April 1887 in Frankfurt geboren, übte er dort den Beruf eines Bankdirektors aus. Im Laufe der Jahre entdeckte er sein Talent, aus den Handlinien eines Menschen dessen Fähigkeiten und Charakter herauszulesen. 1925 gründete er den Iris-Verlag, nahm Ge- sangunterricht und zog anschliessend nach Zürich, um eine zweijährige Lehranalyse bei Carl Gustav Jung zu machen. Es war Jung, der ihn dazu inspirierte, die «Psychochirologie» zu seinem Beruf zu wählen. Überall, wo Spier hinkam, machte er Schule. 1939 emigrierte er nach Amster- dam in die Niederlande, wo seine Schwester wohnte. Seine Kinder Ruth und Wolfgang blieben bei seiner nichtjüdischen Frau, von der er seit 1935 geschieden war. Ein sehr ungewöhnlicher Mann, eine «magische Persönlichkeit», wie viele Menschen, vor allem Frauen, ihn charakteri- sierten. Seine Begabung, aus den Händen auf das Leben der Menschen zu schliessen, scheint verblüffend und faszinierend gewesen zu sein. Und was er aus der Hand las, versuchte er als Psychologe weiter zu ana- lysieren. Diese ziemlich nüchternen Daten stehen in keinem Verhältnis zu der heilenden Wirkung, die seine Arbeit auf die Menschen ausübte. Für Etty jedenfalls war er der Katalysator ihrer Selbstanalyse. Eine unablässige Selbstanalyse, die an vielen Stellen universellen Charakter annimmt. Mit letzterem meine ich: Etty Hillesum beschreibt in ihrem Tagebuch nicht nur sich selbst, sondern ebenso die menschlichen Mög- lichkeiten eines jeden anderen Menschen zu jedem beliebigen Zeit- punkt. Bei alledem entwickelt sich in Etty ein religiöses Bewusstsein, das vielen Lesern möglicherweise unbegreiflich und abschreckend er- scheint. Etty war eine «Gottsucherin», die schliesslich zu der erlebten Erkenntnis gelangt, dass Gott wirklich existiert. Bereits in ihren ersten Schriften kann man dem Wort «Gott» begegnen, auch wenn es dort noch scheinbar fast unbewusst gebraucht wird. Langsam, aber sicher findet eine Verschiebung statt zu einer nahezu ununterbrochenen Gotteserfah- rung. Ettys Aufzeichnungen bekommen einen ganz besonderen Stil, wo 6 sie zu Gott redet. Sie spricht ihn unmittelbar an, ohne eine Spur von Be- fangenheit. Ettys religiöses Erleben ist unkonventionell, sie war kein Mitglied einer Synagoge oder Kirche, sondern besass ihren eigenen re- ligiösen Rhythmus. Dogmen, Theologie oder Systematik lagen ihr völlig fern. Sie spricht zu Gott wie zu sich selbst. Im Laufe dieser Jahre fühlt sie, wie sie durch eine tiefere Wirklichkeit als diejenige, die sie in der Aussenwelt erfährt, getragen und genährt wird. Sie sagt: «Wenn ich bete, bete ich nie für mich selbst, immer für andere, oder aber ich führe einen verrückten oder kindlichen oder todernsten Dialog mit dem, was in mir das Allertiefste ist und das ich der Einfachheit halber als Gott bezeichne» (von mir hervorgehoben, J.G.G.). Und