MAURICE WEISS / OSTKREUZ Graffiti-Sprüher Karaalioglu: „100 Dosen Farbe, oder ich reiße dir den Kopf ab“

STÄDTE Moks Revier Neukölln, der Stadtteil im Süden von Berlin, ist zum Synonym für die Heimat der verlorenen Schicht geworden. Wer den Deutschtürken Tarkan Karaalioglu durch den Alltag begleitet, ahnt, dass sich daran trotz aller Mühen der Politik wenig ändern wird. Von Thomas Hüetlin

estern war es wieder so weit. Einer, Karaalioglu gab sich diesen Titel, als er 300 Euro würden die 100 Dosen Farbe dessen Name auf die zwei Buch- noch jung war und zu einem der Herrscher kosten. „300 Euro“, sagt Karaalioglu, „ist Gstaben TO geschrumpft ist, hatte von Neukölln aufsteigen wollte. immer noch billiger als für 10 000 Euro Tarkan Karaalioglu beleidigt. Er hatte sei- Heute ist Karaalioglu 33. Die Ecke ne- Schaden im Gesicht, besser als Nase zer- ne Ehre beschmutzt. ben dem Video World ist seine letzte Fes- trümmert, Zähne eingeschlagen, Trom- TO hatte seine Buchstaben über die tung. Wenn sich hier ein anderer breit- melfell geplatzt.“ von Karaalioglu gesprüht, an der brau- macht, ist Karaalioglu ausgelöscht, weg, Karaalioglu sitzt im Traum-Eck, einem nen Wand neben dem „Video World“, am nicht mehr existent. Deshalb, sagt Karaa- orange gestrichenen Imbiss an der Kreu- Hertzbergplatz, der Karaalioglus Revier lioglu, hat er sich TO zur Brust genom- zung Sonnenallee/Hertzbergplatz in Ber- ist. Karaalioglu heißt hier nur Mok, ein men. lin-Neukölln. Über ihm drehen sich die Kampfname, der so viel bedeutet wie „My „Du stellst mir bis morgen 100 Dosen Rollen eines Spielautomaten. Ein halbes own Kingdom“ – „Mein eigenes König- Farbe vor die Tür“, hat Karaalioglu zu TO Grillhähnchen kostet 2,50 Euro, ein Dö- reich“. gesagt, „oder ich reiße dir den Kopf ab.“ ner dasselbe. Einen Tee gibt es für 50 Cent,

50 der spiegel 6/2010 Gesellschaft aber es bestellt niemand Tee. Getrunken Das Rathaus Neukölln liegt nur ein paar macht sich Buschkowsky wenig aus politi- wird Bier, auch morgens. Straßen entfernt vom Traum-Eck. In ei- scher Korrektheit. Es ist eng im Traum-Eck. Kann sein, dass nem Büro im ersten Stock steht Bezirks- Über 150000 Einwohner hat Neukölln, TO die 100 Dosen liefert, denkt Karaalio- bürgermeister Heinz Buschkowsky vor 55 Prozent von ihnen Migranten, sie stam- glu bei sich, wahrscheinlich ist es nicht. einer Landkarte, die seinen Stadtteil zeigt. men aus mehr als 160 Nationen. Bei den Es wird wieder Ärger geben, wahrschein- „Es wird schlimmer von Jahr zu Jahr“, monatlich stattfindenden Einbürgerungen lich eine Schlägerei. Es wird Alltag sein in sagt Buschkowsky. „Das Bildungsniveau spielt ein Duo aus Cello und Hammond- Neukölln. geht rapide nach unten. Nur 18 Prozent orgel die Hymnen der Herkunftsstaaten; „Gewalt ist wie der Automat da oben“, der Schüler mit Migrationshintergrund die Zeremonie dauert manchmal eine hal- sagt Karaalioglu und sieht auf den Glücks- schaffen es bis zum Abitur. Eine Folge ist be Stunde. Dann übergibt Buschkowsky spielkasten. „Wenn es einmal losgeht, kann die Verstetigung der Jugendkriminalität auf die Einbürgerungsurkunden. Er heißt die es keiner mehr stoppen.“ hohem Niveau.“ Sein Finger fährt über die Neubürger willkommen, er weist darauf Tarkan Karaalioglu hat selten erfahren, Karte. Im Jahr 2000 sei die Grenze sozia- hin, dass in Mitteleuropa heute Muskeln dass Konflikte anders gelöst werden kön- ler Segregation bis zum S-Bahn-Ring ge- weniger wichtig geworden sind. Bei sol- nen als mit Fäusten oder härteren Gegen- gangen, 2005 zum Teltowkanal. Jetzt sei chen Zeremonien sagt Buschkowsky, „es ständen. Sein Vater Hassan hat ihn ge- die Blaschkoallee im südlicheren Stadtteil kommt auf das an, was hier drin ist“, und prügelt mit Gürteln und Schuhlöffeln, auf Britz die Frontlinie. In dieser Zone, sagt deutet dabei auf seinen Kopf. dem Schulhof genügte es, wenn einer den Buschkowsky, herrschten andere Gesetze. Wenn man die Statistiken von Neukölln- Fußball nicht schnell genug abgab oder „Die Leute stimmen mit dem Möbel- Nord liest, hat man den Eindruck, dass Schweineschmalz auf dem Pausenbrot hat- wagen ab“, sagt der Bürgermeister. „Wir Buschkowskys Hinweise nicht besonders te. Später ging es um Drogen, Handys und verlieren Kinder der bildungsorientierten ernst genommen werden. 58 Prozent der Flachbildschirm-Fernseher. Immer galt, Schichten; Kinder, deren Eltern als Hand- Migrantenkinder besuchen nur die Haupt- dass recht hatte, wer stärker war. Wer sich werker arbeiten oder als Fleischverkäufe- schule, oft ohne Abschluss. Die Zahl der nicht durchsetzte, der war nichts wert. In rin bei Reichelt; Eltern, die wollen, dass Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren liegt Neukölln hat sich über die Jahre ein Name es ihre Kinder einmal besser haben. Wir bei 60 Prozent. Es ist die Formel einer sys- herausgebildet für solch vermeintlich nie- erleben die Abfahrt derer, die sich mit der tematischen, oft selbstverschuldeten sozialen dere Existenzen: Sie gelten als „Opfer“. Ansprache einmischen: ,Hey, kannste dei- Dauerdegradierung: Migrationshintergrund Ein Opfer ist in Karaalioglus Welt einer, nen Müll da mal wegräumen?‘ Sie werden und Unbildung führen zu Arbeitslosigkeit, der im Kampf unterliegt oder – fast noch ersetzt durch die Ankunft derer, die zu der sozialer Bedürftigkeit und Kriminalität. schlimmer – dem Showdown aus dem Weg einen Tüte Müll noch eine zweite dazu- „Hier gibt es Schulen, an denen 90 Pro- geht. An anderen Orten gibt es Gewinner stellen.“ zent der Eltern in keinem geregelten Er- und Verlierer – in Neukölln gibt es Leute, Wenn Buschkowsky redet, streicht er werbsleben stehen“, sagt Buschkowsky. die Respekt verdienen, und es gibt Opfer. manchmal über seine Krawatte, die sich „Es wachsen Kinder heran, die der Lehre- Um Opfer zu werden, reicht es meist auf seinen Bauch legt. Buschkowsky sagt rin sagen: ,Frau Lehrerin, das Geld kommt schon, wenn einer sein Geld auf ehrliche Sätze, die viele seiner sozialdemokrati- doch vom Amt.‘ Kinder, die nach ihrem Weise verdient. „Acht Stunden am Tag ar- schen Kollegen nie öffentlich aussprechen Berufswunsch gefragt werden, antworten: beiten?“, sagt Karaalioglu. „Was für ein würden, weil ein Sozialdemokrat, der sich ,Ich werde Hartzer.‘“ Opfer.“ Er spricht das Wort aus, als würde um sein Niveau sorgt, so nicht spricht. Hartz IV oder Kriminalität, das schei- er es auf den Boden spucken. Ähnlich wie sein Kollege Thilo Sarrazin nen die Alternativen zu sein in Neukölln. Von 537 in Berlin registrierten jugendlichen Intensivtätern kommen 214 aus Neukölln. 90 Prozent dieser Täter haben einen Migra- tionshintergrund, ihre Opfer sind zu 80 Pro- zent Deutsche. Seit 1990 hat sich die Zahl der Strafverfahren mehr als verdoppelt. Der Ursprung der Probleme liegt oft in den Familien, sagt Buschkowsky. „Die Jun- gen werden erzogen zur Tapferkeit, zur Stärke und zum Kampfesmut. Es gibt bei uns bloß nicht so viel zu kämpfen. Hinzu kommen Macho-Allüren und sonstige Kom- plexe. Das Ergebnis ist ständige Gewaltbe- reitschaft als Streetfighter nach dem Motto: ,Isch mach dich Rollstuhl, isch schwör.‘“ In einem Keller des AEG-Hauses am Ho- henzollerndamm rollt sich Mok den ersten Joint des Tages. Es ist ein Uhr mittags. Der Keller dient als Studio für die Aufnahmen einer Rap-Gruppe namens Die Sekte, aber von den anderen ist nichts zu sehen. Mok geht mit einem Techniker ein paar Num- mern durch, die er gestern aufgenommen hat. Einer heißt „Die Kriegstrommel“. Die beiden neigen die Köpfe im Rhythmus der Worte, es klingt hart und abgehackt. „Es

MAURICE WEISS / OSTKREUZ MAURICE geht hier nicht um Rap und Dichtung, es

Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky „Abstimmung mit dem Möbelwagen“ 51 Gesellschaft PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL Wohnblock in Neukölln: „Acht Stunden am Tag arbeiten? Was für ein Opfer“ geht allein um deine Vernichtung. Ich halt Südwesten Berlins. Sie zahlten gutes Geld wenn es illegal erworben war, gab es An- dich unten wie ’ne Kupplung, ich bring dich für seine Ware, er verkaufte im Schulhof, erkennung auf der Straße. Anerkennung Hund wie einen Hund um.“ manchmal fuhr er auch direkt zu den Kun- hieß „Respekt“ – auch so ein Wort, das die Mit Texten dieser Art schockte das Label den. Dann, sagt er, habe er sich gefühlt Cliquen vom amerikanischen Gangsta-Rap vor sechs Jahren das Land. „wie ein Krieger“. Er war im Geschäft, er abgekupfert hatten. Respekt war cool, das Rapper wie Bushido und füllten ihre war wichtig. Gegenteil von Opfer. Texte mit sexuellen Obszönitäten und Damals begannen sich die Dinge zu än- Einen einzigen Moment gab es, da blieb Gewaltphantasien. Beide kletterten weit dern in Neukölln. Seine Eltern waren Ende auch Karaalioglu nicht mehr cool. Er war 17, nach oben in den Hitparaden, deutscher der sechziger Jahre aus Trabzon in der Tür- als er sich an einem Sommerabend an der Gangsta-Rap war in den Vorstädten von kei hierhergekommen. Erste Gastarbeiter- Hauptverkehrsachse von Neukölln, der Reutlingen und Regensburg angekommen. generation, sofort Arbeit gefunden an der Karl-Marx-Straße, umtrieb. Er hörte vier Bushido und Sido wurden von großen „verlängerten Werkbank“ der Frontstadt. Schüsse, rannte über den Asphalt und sah Plattenfirmen gekauft. Aggro Berlin mach- Der Vater schuftete als Zimmermann am einen Mann in seinem Blut liegen. Als er te dicht. Ohne die beiden Zugpferde war Bau, die Mutter stanzte im Schichtdienst näher kam, erkannte er, dass der Mann sein Gangsta-Rap für das Underground-Label Deckel für Trinkflaschen. Die Familie leb- Bruder war. Der Bruder starb im Rettungs- ein Minusgeschäft. te in einer Zweizimmerwohnung. Die El- wagen. Es sei damals etwas in ihm zerbro- Nur Männer wie Mok betreiben das tern schliefen im Wohnzimmer, die fünf chen, sagt Karaalioglu, aber er wisse nicht, Genre weiter, weil sie keine Alternative Kinder teilten sich den anderen Raum. Die was. In Zehlendorf geht man nach Tragö- haben und weil Gangsta nach Hollywood Karaalioglus waren das gute Modell einer dien wie dieser zu einem Psychologen, in und Glamour klingt, nach Geld und Ruhm Gastarbeiterfamilie. Schlafen, arbeiten, Neukölln raucht man ein paar Joints. und nicht nach jenen kleinen, grauen Poli- Geld in die Türkei schicken. „Deutschland Karaalioglu erlitt zwei Nervenzusam- zeiakten, die viele in Neukölln besitzen ist nicht unsere Heimat“, sagte der Vater. menbrüche in vier Tagen. Als er sich wie- wie einen ganz normalen Lebenslauf. Man mochte die Deutschen nicht, aber der ein wenig gefangen hatte, bat ihn sein Karaalioglu sucht nun seinen Mari- man liebte ihr Geld. Vater um eine Unterredung. „Mein Vater“, huana-Beutel. Weil er ihn nicht findet, be- Für Karaalioglu, den Sohn, funktionier- sagt Karaalioglu, „verlangte von mir, dass ginnt er leise zu fluchen. Er flucht zwei te diese Rechnung nicht mehr. Die Ar- ich den Mörder meines Bruders umbrin- Minuten. Dann stellt er fest, dass er auf beitsplatzsituation war mies, sein Deutsch ge.“ Als er ablehnte, gab ihm der Vater zu seinen Drogen sitzt. Der Beutel war zwi- gut. „Unsere Generation“, sagt Karaalio- verstehen, dass er nun gar keinen Sohn schen ihn und das rote Sofa gerutscht. Er glu, „wollte das haben, was die Deutschen mehr habe. rollt den nächsten Joint. „Einer“, sagt er, hatten.“ Walkmans, schicke Autos, hüb- Es ist kalt im Aufnahmestudio, weil Ka- „geht noch.“ sche Mädchen. raalioglu das Fenster aufgerissen hat. Be- Mit Drogen, erzählt Karaalioglu, fing Auf schlechtbezahlte Schichtarbeit hatte sucher sollen nicht sofort das Marihuana alles an. Damals, auf der Berufsschule, hat- kaum noch jemand Lust, sie war das Ding riechen. Aber es kommen keine Besucher. te er auch Kids aus Zehlendorf kennenge- der Verlierer. Gewinner trugen schon mit Es kommt nur ein Mann um die dreißig, lernt, dem Stadtteil der besseren Leute im 16 bündelweise Geld in der Tasche. Gerade mit einer dicken Jacke und einem Strohhut

52 der spiegel 6/2010 auf dem Kopf. Er sagt, er heiße June. Sein Sie verhaften Karaalioglu wegen „ge- Buschkowsky befolgte den Wunsch der Beruf? „Kleinkrimineller“, sagt June. werbsmäßiger Bandenhehlerei“. Nach an- Mutter nach einer sauberen Arbeit in ei- Mit June bildete Karaalioglu damals ein derthalb Jahren Untersuchungshaft wird nem Büro. Drei Jahre Verwaltungslehrling, Team. Beide „zogen“, wie sie es nennen, er zu einer Strafe von fünf Jahren und acht drei Jahre Beamtenanwärter, zweieinhalb „Opfer ab“. Sie besuchten Menschen, von Monaten verurteilt. Während er die Zeit Jahre Probezeit, schließlich mit fünfund- denen sie glaubten, dass sie zu Hause Geld mit Kartenspielen wegdrückt, machen Bu- zwanzigeinhalb Jahren diplomierter Ver- aufbewahrten oder Drogen. „Wir brauch- shido und Sido Karriere. Sie erzählen Ge- waltungswirt. In Neukölln hatte die SPD ten fünf Minuten, um eine Wohnung leer schichten wie die von Karaalioglu, sie wer- damals 66 Prozent, Buschkowsky schloss zu machen“, sagt June. „Wenn es viel Geld den reich damit – legal, in Freiheit, mit sich der traditionsreichen Arbeiterpartei war, 3000 bis 4000 Mark, haben wir es re- richtiger Arbeit. an. Apo-Nachfahren und linke Theoreti- investiert in Drogen, wenn es weniger war, Wenn Heinz Buschkowsky das Wort ker, die an anderen Orten allmählich die haben wir die Kohle anders verprasst.“ Nie „Arbeit“ ausspricht, bekommt sein Blick Partei eroberten, waren ihm suspekt. sei ein Opfer zur Polizei gelaufen. Die Be- etwas Glühendes. Buschkowsky hat immer Statt großer Theorien zählten für ihn stohlenen hatten zu viel Angst. Auch das kleine Taten: ein Jugendheim in Britz re- bedeutet Sozialstatus in Neukölln. ER HÖRTE SCHÜSSE, novieren, einmal im Vierteljahr eine Stadt- Das Geschäftsfeld wurde breiter, Karaa- EIN MANN LAG IN SEINEM BLUT. rundfahrt mit den Altersheimbewohnern, lioglu stellte fest, dass An- und Verkauf ein Sommerfest für die Eltern behinderter auch mit anderen Dingen funktioniert; ES WAR SEIN BRUDER. Kinder. Neukölln war ein sozialdemokra- Dingen, die illegal auftauchen in Neukölln; tisches Modellviertel, weit entfernt davon, Dingen wie Flachbildschirmen, Handys, gearbeitet. Als Kartoffelstoppler, da war eine der härtesten Gegenden im Deutsch- Laptops, Digitalkameras. er 10. Als Zeitungsjunge, da war er 11. Als land des frühen 21. Jahrhunderts zu sein. Seine Wohnung sah aus wie ein Lager. Gewindedreher, da war er 13. Es ist früher Nachmittag, halb zwei, als In Regalen stapelte sich die Ware, ständig Sein Vater war Schlosser bei den Ber- Tarkan Karaalioglu das Traum-Eck betritt, kamen Lieferwagen vorbei. „Die Nach- liner Verkehrsbetrieben, sein Bruder lern- um zu frühstücken. Er bestellt einen Dö- barn“, sagt Karaalioglu, „dachten, wir wä- te ebenfalls Schlosser, und weil Mutter ner. Sein Freund, ein Kleindealer, stellt ren ein Kurierdienst für Karstadt oder Buschkowsky als Sekretärin arbeitete und sich zu ihm. Der Kleindealer trägt einen sil- Quelle.“ Er fuhr jetzt einen schwarzen Por- abends oft die schmutzige Wäsche von bergrauen Anorak, es ist Winter, sein Ar- sche Boxter, gekauft für 70000 Mark. Vater und Sohn reinigen musste, sagte beitsplatz ist die Straße, er friert viel. Zwei Jahre geht das so. Dann klopft es an sie zu ihrem Jüngsten Heinz: „Lern in Karaalioglu deutet auf den Anorak und der Tür, als Karaalioglu auf dem Sofa sitzt der Schule, dass du klug wirst, damit du sagt: „Diese Jacke wird dich noch mal ver- und einen Joint raucht. Es ist ein Spezial- später einmal im Büro arbeiten kannst und raten. Du brauchst eine neue.“ einsatzkommando der Polizei mit Helmen, dir nicht die Hände schmutzig machen Es ist wieder einer von den Tagen, an kugelsicheren Westen, Maschinenpistolen. musst.“ denen Karaalioglu einen Kater hat von Gesellschaft dem, was gestern war, und keinen Plan von dem, was heute passieren soll. Draußen auf der Sonnenallee fährt ein alter Mercedes-Lieferwagen vorbei. Der Wagen gehört einem türkischen Gemüse- händler, der in Karaalioglus Straße wohnt. „Auch so ein Opfer“, sagt Karaalioglu „Das Ding ist Schrott. Ich hab ihm schon ein paarmal angeboten, ihm das Auto schön zu besprayen. Aber das Opfer will nicht.“ Der Vorschlag scheiterte schon daran, dass die Graffiti von Karaalioglu eigent- lich immer nur ein Motiv haben – das Kür- zel Mok, seinen Kampfnamen. Karaalioglu will nicht verstehen, dass ein Gemüsehändler seinen eigenen Namen auf seinem Lieferwagen lesen will, nicht den eines Graffiti-Menschen, der um halb zwei nachmittags zum Frühstücken geht. Karaalioglu empfand die Ablehnung als Respektlosigkeit. „Zur Strafe“, sagt Ka- raalioglu, „habe ich dem Opfer meinen Namen zweimal auf die Windschutzschei- be gesprüht.“ Graffiti sind neben Musik Karaalioglus zweite Leidenschaft. Er ging noch zur Schule, als er sich einer Straßengang mit dem Namen Neukölln-Hustlers anschloss, auch so ein Begriff, der nach harten ame- rikanischen Ghettos klingen sollte. Hust-

lers, was so viel heißt wie kleine Zuhälter- WEISS / OSTKREUZ MAURICE typen. Auch hier ging es wieder um die ge- Rapper Sido: „Ich möchte nie wieder zurück“ sellschaftliche Grundwährung Neuköllns. „Respekt“ und „Opfer“. gewisses Alter erreicht, keine großen Hoff- hat. Er sagt: „Ich möchte nie wieder zu- Um ihren Status zu steigern, verlegten nungen mehr hat auf ein Happy End. rück. Ich habe jetzt eine Krankenversiche- sich die Gangs schnell auf U- und S-Bah- Bei Rückfallquoten von über 80 Prozent rung, ich bin in Deutschland gemeldet, ich nen. „Wenn du so ein Ding besprühst, fährt hat der Bürgermeister zudem den Glauben zahl pünktlich meine Miete und alle meine dein Name am nächsten Tag durch die an die verändernde Wirkung eines Ge- Unkosten. Ich will das alles nicht mehr ver- ganze Stadt“, sagt Karaalioglu. fängnisaufenthalts verloren. „In vielen lieren.“ Auch deshalb kriecht er bis heute fast Familien“, sagt Buschkowsky, würden Haft- Vergangenen Herbst musste Sido vor jede Nacht in abgelegene Zugdepots und strafen als eine Art Auszeichnung emp- Gericht, weil er beim Streit um einen Park- wird tätig. Das Ziel sei, die „Stadt zuzu- funden. „Dort gilt das Motto: ,Knast macht platz in Berlin-Friedrichshain einen An- malen“, die „Bahnen gehören uns, den Männer.‘“ wohner bedroht haben soll mit den Wor- Neukölln-Hustlers“. Deshalb hat er Bildung zu seinem The- ten: „Ich stech dich ab … mit der einen Manchmal, sagt er, verkaufe er auch ma gemacht. Er hat Stationen mit Sozial- Krücke erschlag ich deine Mutter, die an- Leinwände mit Graffiti, er bemale sie zu arbeitern an Schulen eingerichtet, er hat dere steck ich dir in den Arsch.“ Sido trägt Hause, in der Wohnung des Vaters, wo er eine Initiative von sogenannten Stadtteil- jetzt einen ordentlichen Scheitel, eine or- inzwischen, nach zwei gescheiterten Be- müttern ins Leben gerufen; Migrantinnen, dentliche Brille, er sieht aus wie jemand, ziehungen mit zwei Kindern, wieder ein- die sich darum kümmern sollen, dass Mi- der beweisen möchte, dass er sein altes Ich gezogen ist. Ein paar sei er schon losge- granten, die sich störrisch zeigen, ihre Kin- zurückgelassen hat. worden – für 400 Euro das Stück. Neulich der pünktlich und regelmäßig zur Schule Er steht in einem Konferenzraum seiner hat auch ein Kindergarten aus dem Berli- schicken. Plattenfirma Universal Music. Der Tisch ner Stadtteil Reinickendorf angerufen. Die „In vielen Familien der migrantischen ist aus dunklem Holz, die Stühle schilfgrün Anfrage lautete, ob er nicht für ein paar Unterschicht“, sagt Buschkowsky, „beherr- und von Charles Eames, durch die Fenster Euro eine Unterführung bemalen könnte. schen die Eltern die deutsche Sprache nur sieht man die zerfurchte Skyline von Ber- Karaalioglu möchte diesen Auftrag nicht schlecht oder gar nicht. Manchmal ist es lin. Neukölln ist fern hier oben, irgendwo annehmen. Ein Gangsta-Sprayer wie er den Kindern sogar verboten, Deutsch zu weit hinten löst es sich auf. in einem Kindergarten in Reinickendorf. sprechen, eben weil die Eltern es nicht ver- In einem fauligen Keller lernte Sido 1997 „Ich will etwas anderes“, sagt Karaalioglu. stehen und Angst haben, die Kinder wür- ein paar Jungs kennen, mit denen er üb- „Zwei, drei große Ausstellungen in Mai- den über sie reden. Im Grunde genommen te, schnelle Reime zu sprechen. Einer von land oder London und dann nichts wie haben wir nur eine Chance: Wir müssen die den Jungs war Karaalioglu. Sie nannten raus aus Neukölln.“ Kinder aus diesen Milieus holen, ob die El- sich Die Sekte. Karaalioglu, sagt Sido, sei Wenn man Bürgermeister Buschkowsky tern wollen oder nicht. Das heißt, verbind- der Erste gewesen, der sich den Namen die Geschichte von Karaalioglu erzählt, liche Vorschulerziehung und Ganztagsschu- der Gruppe auf den Arm habe tätowieren atmet er schwer. Buschkowsky kennt vie- le. Ich will, dass diese Kinder eine Chance lassen. le solcher Geschichten, und ihr stets ähn- auf ein selbstbestimmtes Leben haben.“ Heute stellt Sido fest, dass Karaalioglu licher Verlauf hat bei ihm dazu geführt, Der HipHop-Millionär Sido ist einer, der und den Sektenjungs vor allem eins fehle: dass er, haben die Betroffenen einmal ein die Flucht vor seinem Milieu angetreten „Pflichtbewusstsein“. Sie würden lieber

54 der spiegel 6/2010 Partys feiern, verschliefen Termine, sie sei- zen. Plattencover, Logos für Künstler, es cke geschenkt. Es gibt jetzt ein anderes Pro- en oft nicht da, wenn es drauf ankomme. gebe einen Markt. blem. Er hat die Hände in die Hosentaschen Er selbst hat sich mit einer Solokarriere Sido schließt für einen Moment die gestopft, sein Kopf hängt schwer zwischen vor sieben Jahren aus diesem Leben ver- Augen. Es scheint ihm plötzlich unange- den Schultern. Sein Vater, sagt Tarkan, habe abschiedet. Heute kann er 250 Songs vor- nehm, dass er so über Mok gesprochen hat. heute seine Bilder zerstört, alle. weisen, die bei der Gema eingetragen sind, Schließlich ist Mok sein Freund, immer „Ich nehm mir ein Beil und hack dir den er kann pro Auftritt sechsstellige Gagen noch. „Wenn ich nicht so viel Glück gehabt Kopf ab“, so habe er seinen Vater ange- verlangen. Seit er ohne Führerschein er- hätte“, sagt Sido, „wäre ich wahrscheinlich schrien. wischt wurde, beschäftigt Sido einen Fah- auch immer noch so wie Mok. Dann wäre „Ist doch nur Papier“, sagte der. rer, der ihn in einem weißen Touareg durch mir alles scheißegal. Wenn du weißt, es gibt „Aber das Papier ist cooler als du, es die Gegend fährt. Sido erzählt, dass in dem keinen Ausweg, dann versuchst du, es dir lässt mich nämlich in Ruhe“, schrie Tarkan. Auto noch mal „70000 Euro extra an Aus- so angenehm wie möglich zu machen. Das Jetzt steht Tarkan in der Kälte und traut stattung stecken“. Seine Nasenflügel heben Sprühengehen, das Gefühl, vielleicht doch sich nicht mehr rein. Egal, wie alt er sei, sich vor Stolz. sagt er, er werde immer Hassans Sohn blei- Von Gangsta-Rap will Sido nichts mehr SIDO HAT SICH IN RAGE ben, solange Hassan lebe. Und Hassan wissen. Er reimt jetzt nachdenkliche Songs GEREDET. SEIN FAHRER BAUT IHM sehe, wenn er auf ihn, Tarkan, blicke, vor mit zarter Klavierbegleitung. In denen rät allem eins: Schande. Tarkan zündet sich er seinem Publikum, die Schule zu been- EINEN JOINT. ER INHALIERT TIEF. eine Zigarette an, bläst Rauch in die neb- den, am besten mit Erfolg. Rap sei keine lige Dunkelheit der menschenleeren Stra- Karriere, auf die man sich verlassen könne, erwischt zu werden, schenkt dir diesen ße. Er überlegt. sagt Sido, Rap sei ein Sieb mit „nur zwei Kick, der dir zeigt, dass du lebst.“ Eigentlich habe die Geschichte mit sei- oder drei Löchern“. Was Sido an seinem dunklen Konfe- nem Vater und ihm begonnen, als er als Karaalioglu hat das Loch im Sieb nicht renztisch nicht weiß, ist, dass es Karaalio- Kind die ersten Filzstifte in die Hand nahm erwischt. „Mok“, sagt Sido, „hat viele Stei- glu schon mit Graffiti in Heimarbeit ver- und davon träumte, später einmal ein an- ne im Weg gehabt und die falsche Metho- sucht hat. Nur zu Hause herrscht Karaa- deres Leben zu führen, kein „Kanaken- de gewählt, um diese Steine rumzukom- lioglus Vater Hassan. leben“. Sein Vater sei jedes Mal, wenn er men. Er hat die Steine kaputtgeschlagen, Es ist an einem dieser bleiernen Winter- ihn mit Filzstift sah, auf ihn zugerannt, als statt einen Weg darüber weg zu finden.“ abende in Neukölln, als Hassans Sohn Tar- halte er etwas Gefährliches in der Hand. Sido blickt in den Berliner Dunst. Er hat kan, genannt Mok, vor der Dreizimmer- Man muss an Sido denken und an sein sich in Rage geredet. Sein Fahrer baut ihm Mietwohnung steht, Parterre links, Wilhelm- Bild vom Weg voller Steine, und man fragt einen Joint. Sido inhaliert tief. Mok, sagt Busch-Straße. Die Abrechnung mit TO ist sich, wie schwer es einer hat, wenn der er, solle endlich erwachsen werden. Er sol- ausgefallen fürs Erste, aber seinem Freund, größte Stein schon im Weg liegt, bevor die le sich zu Hause an seinen Computer set- dem Kleindealer, hat Tarkan eine neue Ja- Reise überhaupt losgegangen ist. ™