Moks Revier Neukölln, Der Stadtteil Im Süden Von Berlin, Ist Zum Synonym Für Die Heimat Der Verlorenen Schicht Geworden

Moks Revier Neukölln, Der Stadtteil Im Süden Von Berlin, Ist Zum Synonym Für Die Heimat Der Verlorenen Schicht Geworden

MAURICE WEISS / OSTKREUZ Graffiti-Sprüher Karaalioglu: „100 Dosen Farbe, oder ich reiße dir den Kopf ab“ STÄDTE Moks Revier Neukölln, der Stadtteil im Süden von Berlin, ist zum Synonym für die Heimat der verlorenen Schicht geworden. Wer den Deutschtürken Tarkan Karaalioglu durch den Alltag begleitet, ahnt, dass sich daran trotz aller Mühen der Politik wenig ändern wird. Von Thomas Hüetlin estern war es wieder so weit. Einer, Karaalioglu gab sich diesen Titel, als er 300 Euro würden die 100 Dosen Farbe dessen Name auf die zwei Buch- noch jung war und zu einem der Herrscher kosten. „300 Euro“, sagt Karaalioglu, „ist Gstaben TO geschrumpft ist, hatte von Neukölln aufsteigen wollte. immer noch billiger als für 10 000 Euro Tarkan Karaalioglu beleidigt. Er hatte sei- Heute ist Karaalioglu 33. Die Ecke ne- Schaden im Gesicht, besser als Nase zer- ne Ehre beschmutzt. ben dem Video World ist seine letzte Fes- trümmert, Zähne eingeschlagen, Trom- TO hatte seine Buchstaben über die tung. Wenn sich hier ein anderer breit- melfell geplatzt.“ von Karaalioglu gesprüht, an der brau- macht, ist Karaalioglu ausgelöscht, weg, Karaalioglu sitzt im Traum-Eck, einem nen Wand neben dem „Video World“, am nicht mehr existent. Deshalb, sagt Karaa- orange gestrichenen Imbiss an der Kreu- Hertzbergplatz, der Karaalioglus Revier lioglu, hat er sich TO zur Brust genom- zung Sonnenallee/Hertzbergplatz in Ber- ist. Karaalioglu heißt hier nur Mok, ein men. lin-Neukölln. Über ihm drehen sich die Kampfname, der so viel bedeutet wie „My „Du stellst mir bis morgen 100 Dosen Rollen eines Spielautomaten. Ein halbes own Kingdom“ – „Mein eigenes König- Farbe vor die Tür“, hat Karaalioglu zu TO Grillhähnchen kostet 2,50 Euro, ein Dö- reich“. gesagt, „oder ich reiße dir den Kopf ab.“ ner dasselbe. Einen Tee gibt es für 50 Cent, 50 der spiegel 6/2010 Gesellschaft aber es bestellt niemand Tee. Getrunken Das Rathaus Neukölln liegt nur ein paar macht sich Buschkowsky wenig aus politi- wird Bier, auch morgens. Straßen entfernt vom Traum-Eck. In ei- scher Korrektheit. Es ist eng im Traum-Eck. Kann sein, dass nem Büro im ersten Stock steht Bezirks- Über 150000 Einwohner hat Neukölln, TO die 100 Dosen liefert, denkt Karaalio- bürgermeister Heinz Buschkowsky vor 55 Prozent von ihnen Migranten, sie stam- glu bei sich, wahrscheinlich ist es nicht. einer Landkarte, die seinen Stadtteil zeigt. men aus mehr als 160 Nationen. Bei den Es wird wieder Ärger geben, wahrschein- „Es wird schlimmer von Jahr zu Jahr“, monatlich stattfindenden Einbürgerungen lich eine Schlägerei. Es wird Alltag sein in sagt Buschkowsky. „Das Bildungsniveau spielt ein Duo aus Cello und Hammond- Neukölln. geht rapide nach unten. Nur 18 Prozent orgel die Hymnen der Herkunftsstaaten; „Gewalt ist wie der Automat da oben“, der Schüler mit Migrationshintergrund die Zeremonie dauert manchmal eine hal- sagt Karaalioglu und sieht auf den Glücks- schaffen es bis zum Abitur. Eine Folge ist be Stunde. Dann übergibt Buschkowsky spielkasten. „Wenn es einmal losgeht, kann die Verstetigung der Jugendkriminalität auf die Einbürgerungsurkunden. Er heißt die es keiner mehr stoppen.“ hohem Niveau.“ Sein Finger fährt über die Neubürger willkommen, er weist darauf Tarkan Karaalioglu hat selten erfahren, Karte. Im Jahr 2000 sei die Grenze sozia- hin, dass in Mitteleuropa heute Muskeln dass Konflikte anders gelöst werden kön- ler Segregation bis zum S-Bahn-Ring ge- weniger wichtig geworden sind. Bei sol- nen als mit Fäusten oder härteren Gegen- gangen, 2005 zum Teltowkanal. Jetzt sei chen Zeremonien sagt Buschkowsky, „es ständen. Sein Vater Hassan hat ihn ge- die Blaschkoallee im südlicheren Stadtteil kommt auf das an, was hier drin ist“, und prügelt mit Gürteln und Schuhlöffeln, auf Britz die Frontlinie. In dieser Zone, sagt deutet dabei auf seinen Kopf. dem Schulhof genügte es, wenn einer den Buschkowsky, herrschten andere Gesetze. Wenn man die Statistiken von Neukölln- Fußball nicht schnell genug abgab oder „Die Leute stimmen mit dem Möbel- Nord liest, hat man den Eindruck, dass Schweineschmalz auf dem Pausenbrot hat- wagen ab“, sagt der Bürgermeister. „Wir Buschkowskys Hinweise nicht besonders te. Später ging es um Drogen, Handys und verlieren Kinder der bildungsorientierten ernst genommen werden. 58 Prozent der Flachbildschirm-Fernseher. Immer galt, Schichten; Kinder, deren Eltern als Hand- Migrantenkinder besuchen nur die Haupt- dass recht hatte, wer stärker war. Wer sich werker arbeiten oder als Fleischverkäufe- schule, oft ohne Abschluss. Die Zahl der nicht durchsetzte, der war nichts wert. In rin bei Reichelt; Eltern, die wollen, dass Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren liegt Neukölln hat sich über die Jahre ein Name es ihre Kinder einmal besser haben. Wir bei 60 Prozent. Es ist die Formel einer sys- herausgebildet für solch vermeintlich nie- erleben die Abfahrt derer, die sich mit der tematischen, oft selbstverschuldeten sozialen dere Existenzen: Sie gelten als „Opfer“. Ansprache einmischen: ,Hey, kannste dei- Dauerdegradierung: Migrationshintergrund Ein Opfer ist in Karaalioglus Welt einer, nen Müll da mal wegräumen?‘ Sie werden und Unbildung führen zu Arbeitslosigkeit, der im Kampf unterliegt oder – fast noch ersetzt durch die Ankunft derer, die zu der sozialer Bedürftigkeit und Kriminalität. schlimmer – dem Showdown aus dem Weg einen Tüte Müll noch eine zweite dazu- „Hier gibt es Schulen, an denen 90 Pro- geht. An anderen Orten gibt es Gewinner stellen.“ zent der Eltern in keinem geregelten Er- und Verlierer – in Neukölln gibt es Leute, Wenn Buschkowsky redet, streicht er werbsleben stehen“, sagt Buschkowsky. die Respekt verdienen, und es gibt Opfer. manchmal über seine Krawatte, die sich „Es wachsen Kinder heran, die der Lehre- Um Opfer zu werden, reicht es meist auf seinen Bauch legt. Buschkowsky sagt rin sagen: ,Frau Lehrerin, das Geld kommt schon, wenn einer sein Geld auf ehrliche Sätze, die viele seiner sozialdemokrati- doch vom Amt.‘ Kinder, die nach ihrem Weise verdient. „Acht Stunden am Tag ar- schen Kollegen nie öffentlich aussprechen Berufswunsch gefragt werden, antworten: beiten?“, sagt Karaalioglu. „Was für ein würden, weil ein Sozialdemokrat, der sich ,Ich werde Hartzer.‘“ Opfer.“ Er spricht das Wort aus, als würde um sein Niveau sorgt, so nicht spricht. Hartz IV oder Kriminalität, das schei- er es auf den Boden spucken. Ähnlich wie sein Kollege Thilo Sarrazin nen die Alternativen zu sein in Neukölln. Von 537 in Berlin registrierten jugendlichen Intensivtätern kommen 214 aus Neukölln. 90 Prozent dieser Täter haben einen Migra- tionshintergrund, ihre Opfer sind zu 80 Pro- zent Deutsche. Seit 1990 hat sich die Zahl der Strafverfahren mehr als verdoppelt. Der Ursprung der Probleme liegt oft in den Familien, sagt Buschkowsky. „Die Jun- gen werden erzogen zur Tapferkeit, zur Stärke und zum Kampfesmut. Es gibt bei uns bloß nicht so viel zu kämpfen. Hinzu kommen Macho-Allüren und sonstige Kom- plexe. Das Ergebnis ist ständige Gewaltbe- reitschaft als Streetfighter nach dem Motto: ,Isch mach dich Rollstuhl, isch schwör.‘“ In einem Keller des AEG-Hauses am Ho- henzollerndamm rollt sich Mok den ersten Joint des Tages. Es ist ein Uhr mittags. Der Keller dient als Studio für die Aufnahmen einer Rap-Gruppe namens Die Sekte, aber von den anderen ist nichts zu sehen. Mok geht mit einem Techniker ein paar Num- mern durch, die er gestern aufgenommen hat. Einer heißt „Die Kriegstrommel“. Die beiden neigen die Köpfe im Rhythmus der Worte, es klingt hart und abgehackt. „Es MAURICE WEISS / OSTKREUZ MAURICE geht hier nicht um Rap und Dichtung, es Neuköllner Bürgermeister Buschkowsky „Abstimmung mit dem Möbelwagen“ 51 Gesellschaft PAUL LANGROCK / AGENTUR ZENIT LANGROCK / AGENTUR PAUL Wohnblock in Neukölln: „Acht Stunden am Tag arbeiten? Was für ein Opfer“ geht allein um deine Vernichtung. Ich halt Südwesten Berlins. Sie zahlten gutes Geld wenn es illegal erworben war, gab es An- dich unten wie ’ne Kupplung, ich bring dich für seine Ware, er verkaufte im Schulhof, erkennung auf der Straße. Anerkennung Hund wie einen Hund um.“ manchmal fuhr er auch direkt zu den Kun- hieß „Respekt“ – auch so ein Wort, das die Mit Texten dieser Art schockte das Label den. Dann, sagt er, habe er sich gefühlt Cliquen vom amerikanischen Gangsta-Rap Aggro Berlin vor sechs Jahren das Land. „wie ein Krieger“. Er war im Geschäft, er abgekupfert hatten. Respekt war cool, das Rapper wie Bushido und Sido füllten ihre war wichtig. Gegenteil von Opfer. Texte mit sexuellen Obszönitäten und Damals begannen sich die Dinge zu än- Einen einzigen Moment gab es, da blieb Gewaltphantasien. Beide kletterten weit dern in Neukölln. Seine Eltern waren Ende auch Karaalioglu nicht mehr cool. Er war 17, nach oben in den Hitparaden, deutscher der sechziger Jahre aus Trabzon in der Tür- als er sich an einem Sommerabend an der Gangsta-Rap war in den Vorstädten von kei hierhergekommen. Erste Gastarbeiter- Hauptverkehrsachse von Neukölln, der Reutlingen und Regensburg angekommen. generation, sofort Arbeit gefunden an der Karl-Marx-Straße, umtrieb. Er hörte vier Bushido und Sido wurden von großen „verlängerten Werkbank“ der Frontstadt. Schüsse, rannte über den Asphalt und sah Plattenfirmen gekauft. Aggro Berlin mach- Der Vater schuftete als Zimmermann am einen Mann in seinem Blut liegen. Als er te dicht. Ohne die beiden Zugpferde war Bau, die Mutter stanzte im Schichtdienst näher kam, erkannte er, dass der Mann sein Gangsta-Rap für das Underground-Label Deckel für Trinkflaschen. Die Familie leb- Bruder war. Der Bruder starb im Rettungs- ein Minusgeschäft. te in einer Zweizimmerwohnung. Die El- wagen. Es sei damals etwas in ihm zerbro- Nur Männer wie Mok betreiben das tern schliefen im Wohnzimmer, die fünf chen, sagt Karaalioglu, aber er wisse nicht, Genre weiter, weil sie keine Alternative Kinder teilten sich den anderen Raum. Die was. In Zehlendorf geht man nach Tragö- haben und weil Gangsta nach Hollywood Karaalioglus waren das gute Modell einer dien wie dieser zu einem Psychologen, in und Glamour klingt, nach Geld und Ruhm Gastarbeiterfamilie. Schlafen, arbeiten, Neukölln raucht man ein paar Joints. und nicht nach jenen kleinen, grauen Poli- Geld in die Türkei schicken.

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