SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt (5)

Mit Michael Struck-Schloen

Sendung: 13. April 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018

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SWR2 Musikstunde mit Michael Struck-Schloen 09. April – 13. April 2018 Blumen und Pflastersteine 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt 5. Die Revolte wird müde ‒ und verwandelt sich

„Blumen und Pflastersteine ‒ 1968 und die musikalische Verjüngung der Welt“ ‒ eine SWR 2 Musikstunde von und mit Michael Struck-Schloen.

Hat es 1968 je gegeben? Ich meine nicht das Jahr selbst, das in aller Welt voller Ereignisse war, sondern den Mythos von „68“: eine ziemlich wilde Mischung aus Revolutionsträumen, echten Veränderungen und späteren Selbstinszenierungen. Vielleicht ist „68“ überhaupt keine scharf umrissene Episode oder gar Epoche, sondern eher ein Assoziationsraum: für gesellschaftliche Erzählungen und Selbstdeutungen, für Aussagen von Anhängern und Kritikern, mit ganz unterschiedlichen Bewertungen für die Nachgeborenen. Und wie es ein „vor 68“ gegeben hat, das in vielen Ländern unterschiedlich lang und heftig war, so gibt es nach dem Attentat auf Rudi Dutschke und der Niederschlagung des Prager Frühlings auch ein „Danach“ ‒ denn vergessen werden die Ideen von „68“ nicht so schnell. Die Musik beteiligt sich an der Bilanz des Gewesenen und der Neubewertung des Einzelnen in der Gesellschaft. Und dabei erhält selbst die gute alte Blockflöte ihr aktuelles Lifting.

MUSIK 1 Henry Mancini 3‘07 Loeki the Lion on the trail of the Pink Panther Amsterdam Loeki Stardust Quartet (Decca 425222-2, LC 00171 ‒ WDR: 6135857105)

Das Amsterdam Loeki Stardust Quartet mit seiner Version von Henry Mancinis Titelmelodie zur Krimikomödie Der rosarote Panther.

Dass die Blockflöte nicht mehr nur Volkslieder oder barocke Fugen spielen muss, sondern auch mal rosarot angemalt wird ‒ das ist einem niederländischen

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Blockflötenvirtuosen zu verdanken, der gegen Ende der sechziger Jahre eine Art Popstar ist. Frans Brüggen ist Mitte 30 und sieht gut aus, weshalb seine Plattenfirma, ganz wie bei den Rockidolen, Poster von ihm in die Plattenhüllen legt. Brüggen verkörpert eine neue körperliche, aber auch ästhetische Lockerheit im Umgang mit den Ritualen der Klassikgemeinde, die nicht nur in den Niederlanden ziemlich konservativ sind. Und dass er ausgerechnet die Blockflöte mit Sexappeal auflädt, hätte wohl niemand gedacht, der das Instrument in der Schul- und Hausmusik hassen gelernt hat.

Aber es tut sich etwas in der Musikerziehung und der Demokratisierung des Klassikbetriebs ‒ und die Niederländer sind dabei Vorreiter. Schon Mitte der sechziger Jahre greift die so genannte „Provo-Bewegung“ kontroverse politische Themen auf und sieht vor allem in der Königsfamilie eine Zielscheibe für Demons- trationen, Happenings und sonstige Provokationen. Wie in den USA wird die fantasievolle und theatralische „Performance“ zum Signal dafür, dass man die alten Formen und Konventionen des Zusammenlebens nicht mehr akzeptiert.

Die Unzufriedenheit mit den alten Gesellschaftsformen und Autoritäten erfasst bald auch den klassischen Musikbetrieb, den man als öffentlich geförderte Repräsentationskunst der Eliten verdammt. Im November 1969 kapert eine Gruppe von Musikern um Misha Mengelberg, Reinbert de Leeuw, Louis Andriessen und Peter Schat ein Konzert mit dem Dirigenten Bernard Haitink im Concertgebouw. Sie nennen sich die „Notenkrakers“, was doppeldeutig die „Nussknacker“, aber auch die „Notenbrecher“ meint ‒ und sie beschweren sich über die undemokratische Struktur des Orchesters, über altmodische Programme ohne zeitgenössische Musik und die elitäre Ausgrenzung Minderverdienender aus den Konzerten.

Die Notenkrakers sind kämpferisch und provokant ‒ aber sie haben auch Humor. Als man beim Mitglied Louis Andriessen 1970 ein Werk zum 200. Geburtstag von in Aufrag gibt, montiert er etliche Zitate aus allen neun Sinfonien von Beethoven aneinander. Doch nicht nur das. Wenn Beethoven scheinbar nicht mehr weiter weiß, ertönt entweder die Glocke eines Eisverkäufers ‒ oder seichte Unterhaltungsmusik. Klare Botschaft: die Hörgewohnheiten haben sich geändert

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MUSIK 2 Louis Andriessen 5‘51 Die neun Sinfonien von Beethoven für Orchester und Eisverkäuferglocke (LiederProduktion 24165, LC 06148 ‒ WDR: 6600977105)

Musikalischer Humor auf holländische Art ‒ das waren Die neun Sinfonien von Beethoven für Orchester und Eisverkäuferglocke von Louis Andriessen ‒ komponiert zum Beethovenjahr 1970, das Andriessen hier auf seine Art begeht: mit Ausschnitten aus Beethoven-Sinfonien, aber auch mit Zitaten der „Internationalen“ und der niederländischen Hymne.

Überhaupt hat Beethoven das Pech, dass sein 200. Geburtstag zwei Jahre nach 1968 gefeiert wird und der Titan des klassischen Musiklebens den ganzen Zorn der „Notenkrakers“ und anderer Revolutionäre gegen die steife und übertriebene Heldenverehrung in der Klassik auf sich zieht. Viele Komponisten, die ein neues Werk zum Beethovenjahr 1970 schreiben sollen, nutzen den Auftrag, um eher ihre Distanz zum Beethovenkult als ihre Nähe zur Musik des Meisters zu dokumentieren.

Wieder einmal agiert , der 1959 von Argentinien nach Köln kam und blieb, in vorderster Front, indem er das scheinbar Selbstverständliche bissig und fantasievoll hinterfragt. In seinem Film mit dem damals schon coolen Titel Ludwig van lässt er einen im Stil des 18. Jahrhunderts verkleideten Kameramann durch Beethovens Geburtsstadt Bonn flanieren. Am Ende gelangt er in ein groteskes Beethoven-Gedenkhaus, in dem die Räume hysterisch mit Notenblättern tapeziert sind; in der Badewanne stapeln sich Beethovenbüsten aus Schmalz und Marzipan. Künstler wie Dieter Roth und Joseph Beuys haben sich für Kagels Beethoven-Kult- Kritik einspannen lassen; im Nachrichtenmagazin Der Spiegel wettert Kagel gegen die schlimme „moralische Aufrüstung“ im Konzertsaal, gegen die nur ein Aufführungsstopp von Beethoven-Werken helfe, um das Gehör wieder freizupusten.

In der Konzertmusik Ludwig van für beliebige Besetzung besteht die Partitur aus Fotografien der mit Beethoven-Noten beklebten Räume: die Musiker müssen sich ihre Beethovenmusik individuell von den Wänden zusammenstellen. Das kann dann

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dazu führen, dass der Kontrabassist eine eigene Melodie, der Pianist einen Marsch und der Sänger den Beginn des Finales aus Beethovens Neunter Sinfonie anstimmt: „O Freunde, nicht diese Töne!“ Der Chor reagiert ziemlich irritiert, das „Freude schöner Götterfunken“ löst keinen Jubel, sondern Chaos aus. Der Pianist Alexandre Tharaud hat vor ein paar Jahren zusammen mit Gleichgesinnten Kagels offene Partitur noch einmal neu gesichtet ‒ hier der Schluss.

MUSIK 3 Mauricio Kagel 6‘20 Ludwig van Finale François Le Roux (Bariton) Chœur Remusat Alexandre Tharaud (Klavier) (Aeon AECD0311, LC 19608 ‒ WDR: 6172632102)

Der Schluss von Mauricio Kagels Beethoven-Collage Ludwig van, gesungen von François Le Roux und dem Chœur Remusat, gespielt vom Pianisten Alexandre Tharaud und seinem Ensemble.

Mauricio Kagel gehört um 1970 zu den Komponisten, die ihre Kunst als Kritik zu gesellschaftlichen Entwicklungen bzw. Fehlentwicklungen verstehen. Und er nimmt in vielen Stücken den Arbeitsalltag und die streng organisierte Kommunikation der Musiker untereinander aufs Korn; meist dient eine theatralische Versuchsanordnung der Verdeutlichung. Für Laien, darunter Zither- und Akkordeonorchester, schreibt er Gespräche mit Kammermusik, im Laborstück Probe: Versuch für ein improvisiertes Kollektiv sollen Reaktion und Motivationen im Ensemble geübt werden ‒ es ist wohl Kagels radikalstes Stück, das nicht mehr mit künstlerischen, sondern nur noch mit sozialpsychologischen Kriterien bewertet werden kann. Die von der 68er-Bewegung angestoßene Debatte um antiautoritäre Erziehung spielt hier ebenso eine Rolle wie die Frage, ob für ein künstlerisches Kollektiv wie ein Chor oder ein Orchester überhaupt die Möglichkeit besteht, sich individuell und ohne Anweisungen eines Bosses zu verwirklichen.

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Nicht immer wissen die Musiker und die wenigen Musikerinnen, die allmählich in die Orchester kommen, die Freiheiten zu schätzen, die ihnen sozial aufgeschlossene Komponisten anbieten. Und es scheint, dass sich ein Orchestermusiker als funktionierender Teil eines gut geölten Apparats besser fühlt als in einer Freiheit, die er nicht versteht. Eine Konzeptkunst, die in der Bildenden Kunst und bei den Happenings zur sexuellen Befreiung durchaus Sinn macht, kommt in der Ensemblemusik an ihre Grenzen.

Das muss auch der Theologe und Komponist Dieter Schnebel erfahren, als er 1978 vom Westdeutschen Rundfunk eingeladen wird, im hoch aktuellen Projekt „Orchesterwerkstatt“ den altgedienten Apparat und seine Hierarchien zu hinterfragen. Schnebel liefert mehrere Blätter mit meist verbalen Anweisungen, das Orchester muss sich frei im Publikum und auf Zeichen improvisieren, Schnebel versteht das Ganze als künstlerisch-sozialen Lernprozess. Der aber macht dem WDR Sinfonieorchester nur wenig Spaß, es kommt zur offenen Rebellion, nach der sich die einen bestätigt fühlen, dass Kunst Autorität braucht ‒ und die anderen endgültig den Bankrott der Orchesteridee aus dem 19. Jahrhundert erkennen. Immerhin verhindern solche Experimente, dass alles so weitergeht wie bisher ‒ sicher auch eine Folge der Diskussionen um das Phänomen „Gesellschaft“.

Hier ein Ausschnitt aus Schnebels Stück Orchestra, in dem die Musiker bekanntes Repertoire von Igor Strawinsky, Claude Debussy und Edgard Varèse spielen müssen.

MUSIK 4 Dieter Schnebel 4‘30 Orchestra Ausschnitt WDR Sinfonieorchester Ltg. Ladislav Kupkovic (WDR [EP]: 6107475101)

Ein Ausschnitt aus dem Werk Orchestra von 1978, in dem der Komponist Dieter Schnebel die Struktur und Hierarchie des Orchesters befragt.

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Das WDR Sinfonieorchester, das hier unter Anleitung von Ladislav Kupkovic gespielt hat, konnte den Aufforderungen zu Improvisationen und ungewohnter Reaktion nicht viel abgewinnen ‒ und die Revolte der Musiker veranlasste die Redaktion des WDR, das Projekt „Orchesterwerkstatt“ für beendet zu erklären.

Sie hören die SWR 2 Musikstunde ‒ heute mit Überlegungen, ob und wie sich der gesellschaftliche Umbruch am Ende der sechziger Jahre auf die Musik ausgewirkt hat. Folgen für die Kunst äußern sich in musikalisch-sozialen Lehrstücken wie Schnebels Orchestra noch vergleichsweise subtil, trotz des Aufstands der Musiker. Und man kann die Gründung von kleineren, selbstverwalteten Ensembles in den Niederlanden, England und Deutschland als direkte Folge der Kritik am traditionellen Orchester und des musealen Konzertbetriebs empfinden. Spektakulärer und meist auch plakativer sind allerdings Werke, die den Protest der Studentenrevolte gegen den Vietnamkrieg ausweiten zu einem globalen Engagement für die Unterdrückten in der so genannten „Dritten Welt“.

Vor allem die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika lösen unter amerikanischen und europäischen Intellektuellen eine regelrechte Welle der Solidarität aus. Viele wollen die saturierten Verhältnisse in ihrer Heimat aufgeben und die Verhältnisse in Ländern wie dem sozialistisch regiertem Kuba kennenlernen. Und so brechen Sympathisanten der Westberliner Studentenbewegung wie der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger oder der Komponist Hans Werner Henze auf in das Land Fidel Castros, helfen in der Landwirtschaft, diskutieren mit den Künstlern vor Ort und formulieren ihre neuen Erkenntnisse und Erfahrungen in dezidiert politischen Werken.

Dazu gehört ein Musiktheater, mit dem Henze und Enzensberger ganz bewusst an Formen des Lehrstücks und der Volks- und Unterhaltungsmusik anknüpfen ‒ auch hier soll nicht die Kunst, sondern die Kommunikation im Vordergrund stehen. Das revueartige Vaudeville mit dem Titel über die kubanische Clubsängerin Rachel ist eine Nachhilfestunde in kubanischer Geschichte ‒ und eine Reflexion über den wahren Charakter der Revolution. La Cubana, wie Rachel genannt wird, blickt im Jahr 1959 auf ihr bewegtes Leben in den Music-Halls zwischen Idealisten, Opportunisten und Geschäftemachern zurück. Am Ende der Geschichte bricht die

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Revolution offen aus und die Aufständischen dringen auf die Bühne. Doch es ist offenkundig, dass Enzensberger und Henze in den Revoluzzern die Studenten des Jahres 1968 sehen, die nicht am gesellschaftlichen Wandel, sondern nur am Geld interessiert sind. Ein ziemlich pessimistisches Bild, das Henze mit vielen musikalischen Trivialitäten ausstattet.

MUSIK 5 Hans Werner Henze 4‘00 La Cubana 5. Bild Anja Silja (Sopran) Hamburger Chor Hamburger Kammerorchester Ltg. Jan Latham-König ( 60129/30-50, LC 19608 ‒ WDR: 6004796101)

Das Finale von La Cubana oder Ein Leben für die Kunst von Hans Werner Henze ‒ mit Anja Silja als Rachel und dem Hamburger Kammerorchester unter Leitung von Jan Latham-König.

Henze bezeichnet sein Stück von 1973 nach einem Text von Hans Magnus Enzensberger bewusst nicht als Oper, sondern als „Vaudeville“ ‒ als Musik aus den Theatern der Vorstadt also, die sich bewusst gegen die Staats- und Stadttheater mit ihren etablierten Formen richtet. Es ist der Versuch, im Geist von „68“ das Musiktheater zu reformieren und mit den damals entstehenden spontanen Theaterformen anzunähern; schon Henzes „Show“ Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer ist eine Art Happening mit Improvisationen und aggressiv-politischen Inhalten.

Der politischen Radikalisierung der Kunst, wie ihn in den frühen siebziger Jahren so manche Komponisten in der Bundesrepublik verfolgen, steht eine ungleich gefährlichere Radikalisierung einiger linker Jugendlicher gegenüber, die sich mit dem Ende von „68“ und der Vereinnahmung der Bewegung durch die SPD und ihre Lichtgestalt Willy Brandt nicht abfinden wollen. Noch vor dem Attentat auf Rudi

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Dutschke haben Andreas Baader, Gudrun Ensslin und weitere Linksterroristen Frankfurter Kaufhäuser angezündet, um gegen den Kapitalismus und den Viet- namkrieg ein flammendes Zeichen zu setzen. Nach der gewaltsamen Befreiung und dem Untertauchen von Baader bildet man eine Terrorzelle nach dem Vorbild der südamerikanische Stadtguerilla und lässt sich von der palästinensischen „Fatah“ in Kampftechniken ausbilden. 1970 beginnt man unter dem Namen „Rote Armee Fraktion“ den terroristischen Kampf gegen die Führungseliten der Bundesrepublik und überzieht das Land mit Morden, Bombenanschlägen, Banküberfällen und Entführungen.

Auch dies ist ein Erbe von „68“ ‒ vor allem die Radikalität und Ausdauer der RAF- Terroristen, die kaum Parallelen hat und allenfalls mit dem Terror von links und rechts in Italien zu vergleichen ist. Zwar hat die RAF ideologische Sympathisanten ‒ aber das blutige Ausmaß ihres rücksichtlosen Vorgehens verschreckt zuletzt auch die, die instinktiv spüren, dass sich hier nicht nur Kriminelle, sondern eine verunsicherte und zornige Generation aufbegehrt. Die Berliner Gruppe Ton Steine Scherben hat diesem Zorn in den siebziger Jahren eine aggressive Stimme gegeben.

MUSIK 6 Rio Reiser 3‘40 Macht kaputt, was euch kaputt macht Ton Steine Scherben (Sony Music Media2700020104, LC 02604)

Macht kaputt, was euch kaputt macht: mit diesem Lied und diesem Programm von Ton Steine Scherben um dem Frontmann Rio Reiser startet die linke Rockmusik in den siebziger Jahren durch.

Auch die Frauen protestieren in dieser Zeit gegen den zügellosen Kapitalismus und ihre psychischen Deformationen, gegen die Ausbeutung an den Maschinen ‒ aber auch gegen die Bevormundung ihres eigenen Körpers. Im Sommer 1971 erscheinen auf dem Titel der Zeitschrift Stern die Fotos von 28 Frauen ‒ darunter Prominente wie Romy Schneider und Senta Berger ‒ mit dem provokanten Titel „Wir haben

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abgetrieben!“ Alle haben einen Appell unterzeichnet, in dem sie für die Abschaffung des Paragraphen 218 plädieren und die soziale Komponente hervorheben: „Frauen mit Geld“, heißt es, „könne gefahrlos im In- und Ausland abtreiben. Frauen ohne Geld zwingt der Paragraph 218 auf die Küchentische der Kurpfuscher“.

Der Schwangerschaftsabbruch ist nur eines der Reizthemen, mit denen Frauen seit 1968 gegen die Behandlung der Frauenfrage als so genannten „Nebenwiderspruch“ des Klassenkampfes zur Wehr setzen, der durch den Sexismus des Alltags und die aufreibende Rollenanhäufung der Mutter, Hausfrau und Geldverdienerin geprägt ist. Viele linke Frauen wollen mit der „Lösung der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau nicht auf Zeiten nach der Revolution warten“, wie es die Filmregisseurin Helke Sander formuliert. Weil das Private eben politisch ist, bilden sich „Aktionsräte zur Befreiung der Frauen“, Kinderläden und Frauenbuchhandlungen werden gegründet, Zeitschriften entstehen, „Frauenhandbücher“ klären über körperliche und soziale Bedingungen des Frauseins auf ‒ gern unter dem Hinweis auf die biologische und seelische Katastrophe namens Mann.

Auch hier also gesellschaftliche Erosionen und Bewusstseinsveränderungen, die fünf Jahrzehnte anhalten werden. In der zeitgenössischen Musik, die Jahrhunderte lang von Männern dominiert wurde, bringen Musikerinnen und Komponistinnen eigene Themen, manchmal auch eine eigene Ästhetik ein. Zu ihnen gehört Pauline Oliveros, Komponistin, Akkordeonspielerin, bekennend lesbisch und feministisch. Bekannt wird sie als Pionierin der elektronischen Musik in den USA; später entwickelt sie ihr Konzept des „Deep Listening“, wobei sie sich tief in die Klänge und den Organismus des Akkordeons hinein versenkt ‒ eine „akustische Schule der Achtsamkeit“, wie man es zutreffend beschreibt.

Love Song von Pauline Oliveros, gespielt und gesungen von ihr selbst.

MUSIK 7 Pauline Oliveros 4‘40 Love Song Pauline Oliveros (Gesang & Akkordeon) (Eigenstein ES 2025, LC 06767)

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Die amerikanische Komponistin Pauline Oliveros spielte und sang ihren Love Song, aufgenommen 1984 in einem unterirdischen Reservoir des Kölner Wasserwerks.

Wahrscheinlich hätte eine eigensinnige und durchsetzungslustige Musikerin wie Pauline Oliveros auch ohne „68“ und die Frauenbewegung ihren Weg gemacht. Aber sie wäre dann wohl, wie Jahrhunderte vorher, als Außenseiterin angesehen worden und nicht als Ansporn und erreichbares Vorbild. Man brauchte solche Vorbilder ‒ und man brauchte den Ansporn in sozialer und künstlerischer Hinsicht, diese globale Selbstbefragung der Nachkriegsgesellschaften ‒ auch wenn vieles, was damals in Bewegung gesetzt wurde, später wieder zurückgenommen wurde. Der französische Historiker Paul Veyne hat, mit Blick auf den Mai 1968 in Paris, überlegt, ob 1968 nicht vielleicht die letzte „heiße“ Revolution und die erste „coole“ Revolte gewesen sei ‒ ein Aufruhr der Massen auf der einen Seite, der zumindest in Frankreich eine kurze Zeit nach Bürgerkrieg schmeckte; und andererseits ein neuer, irgendwie cooler Umgang mit Politik. Die coole Revolte, so Paul Veyne, will nicht die Herrschaft an sich reißen, sondern das Leben verändern.

… und, so darf man hinzufügen, auch die Kunst verändern. In der Musik gab es jedenfalls genug Impulse von 1968 ‒ bis hin zur Emanzipation der Blockflöte. Ich hoffe, die SWR 2 Musikstunde in dieser Woche hat ihnen über einige Verbindungen von Musik und Revolte die Ohren geöffnet. Eine Woche lang können Sie diese letzte Folge noch im Netz nachhören, unter swr2.de; auch die Manuskripte haben wir da eingestellt, mit allen Details zu den Musiken und Interpreten. Und wenn es heute überall im Land so schön bleibt wie gerade hier in Baden-Baden, dann gehen Sie ruhig auf die Straße und genießen den Apriltag ‒ Sie müssen ja nicht gleich eine Revolte anzetteln. Für Zuhören dankt Michael Struck-Schloen.

MUSIK 8 Leenhouts, Paul 4‘07 When shall the sun shine? Amsterdam Loeki Stardust Quartet (Decca 425222-2, LC 00171 ‒ WDR: 6135857105) M0347068 014

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