Alles nur Taktik Essay Warum die jüngste Eskalation im Nahost-Konflikt unvermeidlich war Von Julia Amalia Heyer

er alte Mann sitzt zusammengesunken in seinem Stuhl, Bereits in den vergangenen Wochen häuften sich die Anschläge er trägt eine Brille und weinrote Hosenträger über dem palästinensischer Einzeltäter, zum ersten Mal seit Jahren. Anders Dkurzärmeligen Hemd. als während der zweiten Intifada von 2000 bis 2005 handelt es „Keine Strategie“, sagt er langsam, den Blick gesenkt. Dann sich diesmal nicht um minutiös geplante Bombenanschläge. Die hebt er den Kopf, spricht direkt in die Kamera: „Nur Taktiken.“ Waffen der neuen Generation von Attentätern, von denen die Avraham Shalom sagt diesen Satz in Dror Morehs oscarnomi - meisten nicht aus den besetzten Gebieten, sondern aus dem an - nierter Dokumentation „The Gatekeepers“. Shalom ist einer von nektierten Ostjerusalem stammen, sind Bagger, Autos, Messer. sechs israelischen Geheimdienstchefs, die für diesen Film öffent - Es sind die Waffen derer, die nichts mehr haben: nichts mehr zu lich Zeugnis über ihre Arbeit ablegen, zum ersten Mal überhaupt. hoffen und damit nichts mehr zu verlieren. Sechs Jahre lang, von 1980 bis 1986, war Shalom Chef des Nach dem Massaker in der Synagoge schwor Premierminister Schin Bet. Sein Leben ist verflochten mit der Geschichte seines Netanyahu die Bevölkerung auf einen „Kampf um Jerusalem“ Landes: Vor der Staatsgründung kämpfte er im , einer ein und verkündete, einmal mehr, die Verschärfung der Sicher - paramilitärischen Organisation, die später in der israelischen Ar - heitsvorkehrungen. Der nationalreligiöse Wirtschaftsminister mee aufging. Er gehörte zu der Gruppe Agenten, die Adolf Eich - Naftali Bennett, Chef der Siedlerpartei „Jüdisches Heim“, for - mann 1960 aus Argentinien nach Israel entführte, um ihn in Je - derte einen Militäreinsatz im arabischen Ostteil der Stadt. P F A

rusalem vor Gericht zu stellen. Die sogenannte neue Dimension des Hasses gleicht der alten /

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Keine Strategie, nur Taktiken – damit kritisiert Avraham Sha - auf traurige Weise. Genau wie die Reaktionen darauf. Auch nach A M lom die Politik seiner damaligen Regierung unter Premierminister dem Massaker von Hebron im Jahr 1994, als ein Siedler 29 Paläs - O M

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Yitzhak Shamir. Er verdammt ihre Kurzsichtigkeit im Umgang tinenser in einer Moschee erschoss, wurden die Sicherheitsvor - B B A mit den Palästinensern; ihr Vorgehen im Kampf gegen den Terror kehrungen verschärft. Die Innenstadt von Hebron, der größten : O T O und für die Sicherheit des israelischen Staates. Stadt im Westjordanland, wurde zur militärischen Sperrzone er - F Sein Satz passt auf das Handlungsmuster der meisten israeli - schen Regierungen der letzten Jahre, doch auf keine so präzise wie auf die jetzige von Premierminister Benjamin Netan- yahu. Auch deshalb ist die Lage in Israel im Augenblick so brand - gefährlich wie lange nicht mehr. Wer in den vergangenen Jahren Randalierer am 18. November bei Ramallah die Politik der Regierungen verfolgte, konnte verzweifeln über die Unausweichlichkeit, mit der sich die gegenwärtige Eskalation anbahnte. Natürlich sind auch die palästinensischen Extremisten für die immer schneller rotierende Spirale aus Gewalt und Gegengewalt verantwortlich. Doch die Regierung in Jerusalem, so nationalreli - giös wie keine vor ihr, hat sich von der Vorstellung eines friedlichen Nebeneinanders endgültig verabschiedet. Der Regierungschef heizt die hasserfüllte Atmosphäre an, statt die Gemüter zu beruhigen. Weil es ihm nur darum geht, die bestehenden Macht- und Kräfte - verhältnisse zu erhalten, taktiert er. Die Folgen dieses Handelns treten jetzt zutage. Alle sechs Geheimdienstchefs, die Moreh in seinem Film in - terviewt, sind derselben Ansicht. Israel begreife nicht, sagt einer, dass es „jeden Kampf gewinnt, aber den Krieg verliert“. Diese Männer haben sich jahrzehntelang in der Schaltzentrale des Kon - flikts befunden, sie sind keine Pazifisten. Und alle sagen sie, dass Frieden sich nicht mit militärischen Mitteln schaffen lässt und Is - rael letztlich aus den palästinensischen Gebieten abziehen muss. Die Zukunft des Landes sei düster, sagt Avraham Shalom, der Älteste von ihnen, in Morehs Film. Doch es könnte sich bei der Zukunft, von der er spricht, um die Gegenwart handeln. Vergangene Woche stürmten zwei junge Palästinenser aus Ost - jerusalem – bewaffnet mit Äxten und Messern – in eine Synagoge im Westteil der Stadt und ermordeten vier ultraorthodoxe Männer beim Morgengebet sowie einen Polizisten. Die beiden Attentäter wurden noch am Tatort erschossen. Nie zuvor hatte es einen sol - chen tödlichen Anschlag in einer Synagoge gegeben. Ist dies der Beginn einer neuen Dimension religiösen Hasses? Wenn der Kon - flikt, der sich bisher vor allem um Land drehte, zum Religionskrieg würde, wäre er kaum noch zu lösen.

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klärt, sie gleicht immer noch einer Geisterstadt. Die palästinen - das sein Volk mehr und mehr beherrscht. Er, dessen Mandat sischen Männer, die im Juni drei jüdische Jugendliche entführt längst abgelaufen ist, steht der sklerotischen Autonomiebehörde und getötet haben, stammten aus Hebron. vor, an die keiner mehr glaubt und die nur noch dem Selbstzweck Natürlich gibt es keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Versorgung ihrer Mitglieder dient. Besatzung und Mordtaten. Aber es gibt einen zwischen Besat - Doch die Israelis haben die Ruhe der vergangenen Jahre vor zung und Hoffnungslosigkeit. Diese Wahrheit wird in der israe - allem Abbas zu verdanken. Er hat die Zusammenarbeit seiner lischen Öffentlichkeit kaum noch diskutiert. Die Fähigkeit, auch Behörde mit dem Geheimdienst Schin Bet massiv vorangetrieben. das Leiden der anderen Seite wahrzunehmen, hat sich nach 47 Zum Dank hat ihn Netanyahu gnadenlos demontiert und in im - Jahren als Besatzungsmacht stark verringert. mer neuen rhetorischen Volten als Urheber der palästinensischen Seit fast einem halben Jahrhundert leben Millionen Palästi - Feindseligkeiten gebrandmarkt. nenser unter israelischer Militärherrschaft; ihr Leben wird be - stimmt durch Checkpoints, Personenkontrollen, Hausdurch- rst war Abbas für ihn kein Partner für Friedensverhand - suchungen. In Ostjerusalem fühlt sich die palästinensische Be - lungen, weil er im Gaza-Streifen, kontrolliert von der isla - völkerung fremd in der eigenen Stadt; dagegen hat sich die Zahl Emistischen Hamas, keine Macht habe. Als Abbas im Früh - der jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten seit dem Osloer sommer versuchte, eine palästinensische Einheitsregierung von Friedensprozess in den Neunzigerjahren verdreifacht. Fatah und Hamas unter seiner Obhut zu schaffen, schimpfte Ne - Erst im September zogen 25 Siedlerfamilien unter dem Applaus tanyahu ihn einen Handlanger des Terrors. des israelischen Establishments in den Ostjerusalemer Stadtteil Dabei ist es Netanyahu selbst, der die Hauptschuld daran trägt, Silwan. In den Zeitungen erschien eine Anzeige, in der den Sied - dass jeder neue Versuch, über ein friedliches Nebeneinander zu lern gedankt wurde. Unterzeichnet haben zum Beispiel der Frie - verhandeln, zur Farce verkommt. Sein Lippenbekenntnis zu ei - densnobelpreisträger Elie Wiesel und der frühere Regierungs- nem souveränen palästinensischen Staat nimmt ihm spätestens berater Amos Yadlin, mittlerweile Chef eines Thinktanks. seit der jüngsten Gesprächsrunde niemand mehr ab, in der US- Nie war die israelische Landnahme raumgreifender als im ver - Außenminister John Kerry neun Monate lang eine Niederlage gangenen Jahr, nie wurden mehr jüdische Bauvorhaben auf paläs - nach der anderen einstecken musste. tinensischem Boden verwirklicht. Und fast wöchentlich kündigt die Was genau Kerry dazu verleitete, mit dieser extrem rechten Jerusalemer Regierung neue an. Sie weiß, dass sie damit eine poli - Regierung den Friedensprozess wiederbeleben zu wollen, bleibt tische Lösung zunehmend unmöglich macht, und auch ansonsten wohl sein Geheimnis. Noch nie saßen in Regierung und Parlament erweckt sie den Eindruck, lieber zündeln als verhandeln zu wollen. so viele Siedler und übten so großen Einfluss aus. Ausgerechnet Selbst Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas wird nun von der langjährige Siedlerführer Uri Ariel wurde von Netanyahu israelischen Regierungsmitgliedern als „Kriegstreiber“ beschimpft. zum Wohnungsbauminister ernannt. Abbas trägt sicherlich Mitschuld am Gefühl der Ausweglosigkeit, Hardlinern wie Ariel oder seinem Parteiführer Bennett gilt so - gar Netanyahu als verweichlichter Linker; sie wollen Israel grund - legend verändern: Der jüdische Charakter des Staates ist ihnen wichtiger als seine demokratische Verfasstheit. Vor Kurzem mach - te Netanyahu den Entwurf eines neuen Grundgesetzes zur Chef - sache. Darin wird Israel ausschließlich zum „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ erklärt, die 1,6 Millionen palästinensischen Bürger würden damit ignoriert und das Arabische, bisher neben dem Hebräischen offizielle Landessprache, zur Sprache „mit spe - ziellem Status“ deklassiert. Wenn Jerusalem der Zankapfel des Nahost-Konflikts ist, ist der Tempelberg mit Felsendom und al-Aksa-Moschee das Kern - gehäuse. Als ihn der spätere Premier im Jahr 2000 Netanyahu bestieg, löste das die zweite Intifada aus. Juden ist der Besuch, vor allem aber das Beten auf dem Areal verboten – auch von heizt die den eigenen Rabbinern. Dennoch stieg in den vergangenen Mo - naten die Zahl der jüdischen Besucher weiter an. Es gibt einen hasserfüllte regelrechten Pilgertourismus nationalreligiöser Juden, und seither Atmosphäre kommt es rund um den Tempelberg zu heftigen Ausschreitungen. Manchmal eskortiert die israelische Polizei schwer bewaffnet die weiter an, Besucher, statt sie am Eingang abzuweisen. Einer der Pilgerführer, der extremistische Rabbiner Yehuda Glick, wurde vor wenigen statt die Wochen von einem Palästinenser angeschossen. Gemüter zu Dies war das Vorspiel zur explosiven Situation, die das Land nun beherrscht, und alles deutet darauf hin, dass sie weiter eska - beruhigen. lieren wird. Auch weil auf israelischer Seite kaum jemand den Mut hat, die Radikalen zu stoppen und die Logik der Vergeltung zu durchbrechen. Während des Gaza-Kriegs im Sommer wurden Teilnehmer an Friedensdemonstrationen von rechten Mobs gejagt und verprügelt. Selten war die Hoffnung auf eine Einigung so gering wie heute und der Pessimismus so erdrückend, und das will etwas heißen. Als Avraham Shalom, der frühere Schin-Bet-Chef, der vor ei - nigen Monaten gestorben ist, in Morehs Film darüber nachdenkt, was über 40 Jahre Besatzung aus seinem Land gemacht haben, zögert er lange. Er traue sich gar nicht, es auszusprechen. „Wir sind grausam geworden“, sagt er dann. ■

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