GRÜNZUG DULSBERG 1918 - 2018 Ein Wort vorweg.

Bezirksamtsleiter Harald Rösler

„Die Wohngegend am . Tatsächlich gelang Dulsberg präsentiert sich dem damaligen Oberbau- heute verglichen mit an- direktor Fritz Schumacher deren Arbeiterwohnge- mit Dulsberg ein ganz gro- genden als ein wahrhaftes ßer Wurf und eines der Paradies mit Luft und Licht erfolgreichsten Hambur- in Überfülle“, schwärmte ger Städtebauprojekte der das Hamburger 8-Uhr- 20er-Jahre. Bis heute wird Abendblatt im März 1930. Dulsberg von seinen Be- Andere zeitgenössische wohnerinnen, Bewohnern Kommentatoren fühlten und Gästen geliebt. sich an die Utopie Metro- Dulsberg gilt als Sy- polis und deren Oberstadt nonym für gediegene erinnert. Die städtebau- Backsteinarchitektur und liche Qualität des jungen höchste Besiedelungs- Quartiers wurde vielfach dichte. Weniger im Fokus in den höchsten Tönen ge- liegt hingegen, dass der lobt und lieferte Vorbilder flächenmäßig kleine Stadt- für Neubauviertel wie die teil von einer grünen Oase Jarrestadt oder auf der durchzogen ist. Ab 1922

2 schufen Gartenbauer hier Miteinander von genialem grünes Quartier machen, einen Grünzug, der konge- Hochbau und moderner das – auch und gerade nial das Hochbauprogramm Gartenkunst ist eine Er- Dank seiner engagierten ergänzte. Vor den verhee- klärung für die große und und bunten Bewohner- renden Bombardements zeitlose städtebauliche schaft – eine wunderbare des Zweiten Weltkriegs im Qualität des Quartiers. und liebenswerte Hambur- gartenarchitektonischen ger Sehenswürdigkeit ist. Stil, hinterher nach notwen- Diese Broschüre möchte diger rigoroser Neugestal- Sie durch 100 Jahre Grün- Herzlich willkommen auf tung eher landschaftlich planung auf dem Dulsberg dem grünen Dulsberg! ausgeprägt – beide Male begleiten und noch mehr gelungen. Dieses stimmige Lust auf ein tatsächlich Inhalt

Auf dem „Tollsberg“, gleich hinter der um 1900 GRENZWERTIG S. 6 „Irrenanstalt“ Friedrichsberg, geht es noch ländlich zu. Doch nach dem Willen der wachsenden Stadt Hamburg soll hier ein dicht bebautes Industrie- und Wohn- gebiet entstehen ... Geschichtsgruppe Dulsberg e.V. Dulsberg Geschichtsgruppe

Zu dicht und zu wenig Grün: Nicht allen 1917 INITIATIV S. 10 gefällt der geltende Bebauungsplan. Die Hamburger „Patriotische Gesellschaft“ legt einen visionären Gegenentwurf vor und sucht Unterstützung beim neuen Baudirektor ... Wikimedia commons Wikimedia

Baudirektor Schumacher kippt den alten 1918 REFORMIERT S. 12 Bebauungsplan und legt eine radikale städtebauliche Neuordnung vor. Seine planerischen Ambitionen sind immens ...

Städtebau im Vergleich (S. 14) StAHH 720-1 141-6 = 7_64_12_r StAHH

Der erste Bauabschnitt lässt Schuma- 1919 BEGONNEN! S. 16 chers Perspektiven Realität werden. Ge- stalterisch auf Augenhöhe geht Garten- direktor Linne mit dem zentralen Grünzug voran ...

Die Utopie der Stadt (S. 18) StAHH 1926_Bild 23 Wandsbek StAHH

4 S. 22 VOLLBRAcHT 1925-1933 Die Freiraumkonzeption übertrifft die kühnsten Erwartungen: riesige Sand- spielplätze, Planschbecken, Sportfelder und jede Menge Grünräume. Die Bewoh- ner – allen voran die Kinder – nehmen die Anlagen begeistert an ... BUE 1758_4_Dulsberg_1

S. 28 ZERSTöRT 1943-1950 Der Bombenkrieg trifft beson- ders hart. Inmitten von Ruinen müssen die Grünfl ächen des zentralen Grünzugs dringend benötigten Gemüsebeeten wei- chen und Notunterkünften Platz bieten. In den kalten Nachkriegswintern fallen auch die Bäume ... BUE 1758_3_1950_Dulsberg

S. 34 NEUGEScHAFFEN 1953 Die Aufräumarbeiten sind weitgehend abgeschlossen und die meisten Häuser wieder bewohnbar. Gartenamtsleiter Töpfer überrascht mit einer völligen Überarbeitung des Grünzugs ... BUE 1758_14_Dulsberg_1

S. 46 EIN STADTTEIL Zwischenzeitlich wird Dulsberg als Pro- blemstadtteil wahrgenommen. Doch eine FINDET SIcH 1960-heute neue Generation fi ndet Wege des Zusam- menhalts ... Bis hierher und weiter (S. 49) Zeittafel (S. 50) Anhang & Impressum (S. 51) Stephan Rothe (www.dulsberg.de) Rothe Stephan Geschichtsgruppe Dulsberg e.V. Dulsberg Geschichtsgruppe

Ländliche Idylle vor den Toren der Stadt oder banales Rinnsal im Grenzland? An der Mündung der Seebek in die Osterbek ist um 1905 noch wenig Stadt zu spüren

6 Moor, Sumpf und Teufelsberg

Grenzwertig (um 1900)

Auf den ersten Blick scheint das sumpfige Grundbesitzer und dem dänischen Statt- Gebiet mit dem Sandberg zwischen den halter: Erst nach langwierigen Verhand- später Wandse und Osterbek genannten lungen konnten sich die Parteien 1573 Flüsschen nicht sehr einladend gewesen auf einen Grenzverlauf einigen. zu sein, war es doch bis zu Beginn des 19. Eine Siedlungstätigkeit beförderte Jahrhunderts fast unbesiedelt. Allenfalls diese Klärung nicht. Die Barmbeker Dörf- ein paar Feldwege ließen erkennen, dass ler — 1731 ganze 51 Personen — wohnten das Land überhaupt zu etwas zu gebrau- weiterhin im Dorf und nutzten die am chen war. äußersten Rand ihrer Gemarkung gele- Immerhin gut genug für einen brei- gene Dulsberger Heide vermutlich nur als ten Damm, entschied Heinrich Rantzau Schafweide. als Statthalter des dänischen Königs und 1830 nahm die Stadt Hamburg das Besitzer Wandsbeks: Rantzau hatte die mit 1100 Einwohnern noch immer dörf- Wandse zum Betrieb einer Kornmühle zu liche Barmbek unter seine Verwaltung einem Teich aufstauen lassen. und schloss es langsam aber sicher auch Der den Mühlenteich umfassende baulich in seine Arme: mit dem Bau von Damm lag unglücklicherweise aber teil- Armenhaus (1848), Friedhof (1850), Gas- weise in der Dulsberger Feldmark, einem werk (1858), „Irrenanstalt“ Friedrichsberg Gebiet, welches das „Hospital zum Hei- (1864) und dem Osterbekkanal (1873- ligen Geist“ 1365 erworben hatte, um 1914). seine dortigen Besitzungen — die Dörfer Der sandigen Erhöhung zwischen Barmbek und — abzurunden. Ob Krause- und Probsteier Straße, die dem die alte Ortsbezeichnung „Tollsberg“ nun Dulsberg zu ihrem Namen verholfen hat- „Zollberg“, oder nicht weniger gefährlich te, bereitete Hamburg in den 1880er Jah- „Teufelsberg“ meinte, jedenfalls bedeu- ren ein Ende, indem es den Sand für seine tete sie Ärger zwischen dem Hamburger Bautätigkeiten kurzerhand abbaute. Nach der Eingemeindung des inzwischen spektor der Baudeputation. zu einem Arbeiterwohngebiet mit über Für das heute als Dulsberg verstan- 38.000 Bewohnern herangewachsenen dene Areal war im Norden, an den Oster- Barmbek in das Hamburger Stadtgebiet bekkanal anschließend, ein Bereich für die im Jahr 1894 sollten dann endgültig neue Ansiedlung von Industrie geplant. Dieser Siedlungszeiten beginnen: 1889 erwarb sollte zusätzlich zum Straßennetz auch die Stadt für 4,25 Millionen Goldmark durch eine etwa U-förmig geführte Schie- 225 Hektar Barmbeker Land von den an- nentrasse mit Rangierbahnhof und Lade- sässigen Hufnern, darunter auch Teile des gleis am Kanal erschlossen werden. Im Dulsberggebiets, um es städtebaulich zu Süden sollten bis zur Landesgrenze nach entwickeln. Wandsbek Wohnungen in Blockbauweise Dass der betagte, schon seit 1872 entstehen. als Hamburger Baudirektor amtierende Die Wohnblocks gruppierten sich um Hans Zimmermann (1831-1911) sich um einen zentralen, von geschwungenen Fuß- die Jahrhundertwende aus der aktiven wegen ornamental gegliederten Schmuck- Entwurfstätigkeit zurückzog, dürfte diese platz im Stil des späten 19. Jahrhunderts. Entwicklung aber verzögert haben. Und so Er wäre neben einem kleineren Spielplatz ging der erste Bebauungsplan Barmbeks auf dreieckiger Grundfl äche die einzige und des Dulsberggebiets von 1903 auf die öffentliche Grünanlage des Quartiers ge- Planung Eduard Vermehrens (1847-1918) worden. zurück, damals seit zwei Jahren Oberin- Die Größe der Baublöcke war zudem Hamburger Staatsarchiv, Wandsbek 1921-22_Bild 369 Wandsbek Staatsarchiv, Hamburger

Schrägluftbild 1921/22. Die linke Bildhälfte zeigt Dulsberg mit Resten alter Feldfl uren, der Osterbek im Norden u. kleinteiliger Parzellenlandschaft. Rechts die Lesserstraße u. die Siedlung Wandsbek Gartenstadt

8 BUE 29 1932, S. Schumacher Der geplante Schmuckplatz, von Wegen durchzogen Hamburger „Schlitzbauweise“

ausreichend, um in zweiter oder gar drit- er Straße durchgeführt. Der spätere Bau- ter Reihe Richtung Blockmitte weitere direktor Schumacher äußerte rückblickend Gebäude zu errichten: eine Einladung, um völliges Unverständnis für die verabschie- mit der berüchtigten Schlitzbauweise den dete Planung: Stadtteil stark zu verdichten. Eine gute „Ein Gebiet, das der Einwohnerzahl Belichtung oder ausreichende Belüftung nach etwa der Stadt Ulm gleichkommt, sollte hintenliegender Wohnungen wären damit nur einen einzigen Grünfl eck haben, der un- ausgeschlossen gewesen. begreifl icherweise mitten im Zug einer Aus- Doch die Umsetzung des gesetzes- fallstraße geplant war (...).“ kräftigen Bebauungsplans verzögerte sich und wurde lediglich im äußersten Süd- westen des Dulsbergs bis an die Probstei- BUE

Der Bebauungsplan von Barmbek, 1903 mit Osterbekkanal, U-förmiger Gleisspur und gelb hinterlegtem Wohnareal Uferloser Idealismus?

Initiativ (1917) Hamburger Staatsarchiv, 2-12-720-1-388_23=33 Staatsarchiv, Hamburger

Der Vorschlag zur Änderung des Bebauungsplans durch die Patriotische Gesellschaft vom Mai 1918 bestach durch klare Linienführung, war dem Baudirektor aber zu viel Idealismus

10 Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war der zu klären, „wie weit es sich auf Hambur- Wohnungsbau fast zum Erliegen gekom- gischem Gebiete wirtschaftlich einwandfrei men. Insbesondere der Mangel an Klein- ermöglichen läßt, unter Vermeidung der sog. wohnungen zwang eine wachsende Zahl Mietskasernen, die Kleinwohnung für die von Kleinfamilien, entbehrliche Zimmer an minderbemittelte Bevölkerung in Gestalt des „Schlafburschen“ unterzuvermieten. Einzelhauses oder des kleinen Mietshauses Seit 1908 als Baudirektor im Amt, mit höchstens zwei Obergeschossen (...) her- hatte Fritz Schumacher den geltenden Be- zustellen.“ bauungsplan für Dulsberg „schaudernd“ Schumacher merkte rückblickend an, zur Kenntnis genommen. derartig „uferloser Idealismus“ wäre we- Und auch die „Hamburgische Gesell- gen des Verlusts an Baumasse undurch- schaft zur Beförderung der Künste und führbar gewesen. Der 1918 vom Aus- nützlichen Gewerbe“, kurz „Patriotische schuss eingereichte Alternativentwurf sah Gesellschaft von 1765“, mit ihrem Fokus kleinere Baublöcke und einen bogenförmig auf Baufragen, war auf das Problem Duls- verlaufenden Grünzug vor. Der Austausch berg aufmerksam geworden. zwischen Schumacher und dem Ausschuss Der gesellschaftseigene „Ausschuss war offenbar dennoch eingehend: Nur ei- für das Siedlungswesen“ suchte 1917 nen Monat später präsentierte der Bau- das Gespräch mit Schumacher und der direktor einen eigenen Plan, der dem des Baudeputation (damals das Bauamt), um Ausschusses auffallend ähnelte ... Dührkoop 1905 via Wikimedia commons 1905 via Wikimedia Dührkoop

Die Patriotische Gesellschaft gab Hamburg in entscheidenden Momenten wichtige Impulse. Hier der Vorstand B. Hennicke, Eduard Hallier, G. Herm. Sieveking im Jahr 1905 „Nur einmal, auf dem Dulsberggelände, bot sich die Möglichkeit“

Reformiert (1918) Hamburger Staatsarchiv, 720-1 141-6 = 1_211 Staatsarchiv, Hamburger

Weniger elegant, aber sehr repräsentativ: Der reformierte Bebauungsplan nach Fritz Schumacher

12 Der Reformvorschlag des Baudirektors sich nach Norden weitenden Sportachse, sah — darin dem Vorschlag der Patrio- die den Grünzug senkrecht kreuzend er- tischen Gesellschaft ähnelnd — einen an- gänzte. nähernd das gesamte Baugebiet durch- Schumachers Konzept wirkte damit ziehenden Grünzug vor, um den sich die zwar etwas bemühter, dabei aber sehr re- Häuserblocks wie an einer Korsettstange präsentativ. Ein Hauch von Residenzstadt, aufreihten. Die sich tendenziell von We- die Hamburg nie gewesen war und die sten nach Osten aufweitenden Blöcke ver- bereits seine Planungen für den Hambur- liehen dem Grünzug gleichsam eine Bewe- ger Stadtpark ausgezeichnet hatte, wehte gungsrichtung: eine gestalterische Geste, auch durch Schumachers Vogelschau- die dem Hamburger Stadtwachstum sinn- zeichnung des westlichen Grünzugab- fällig Ausdruck gab. schnitts: Auf ein repräsentatives öffent- Zwar verzichtete Schumachers Vari- liches Gebäude ausgerichtet (das so nie ante auf den großzügig wirkenden Bogen- gebaut wurde), betonten rahmende Alleen schwung aus dem Vorschlag der Patrio- und eine offene Rasenfl äche, auf die ein tischen Gesellschaft und knickte am Ende Sondergarten mit klassischer Vierteilung wenig elegant senkrecht auf die damalige folgte, die herrschaftliche Strenge des Landesgrenze (an der heutigen Straße Eu- Grünzugs. Die eigentlich nicht weniger be- lenkamp) ab; dafür aber versah der Bau- deutsamen Wohnblöcke gerieten dahinter direktor seinen Entwurf mit einer großen, fast zur Staffage des großen Auftritts. Hamburger Staatsarchiv, 720-1 141-6 = 7_64_12 Staatsarchiv, Hamburger

Ein Hauch von Residenzstadt durchweht Schumachers Vogelschau auf den Westabschnitt des zentralen Grünzugs Städtebau im Vergleich Typische Reformplanung?

Wohngebiet auf der Veddel 1932, nach der Planung Schumachers Modellstudie zur westlichen „Jarrestadt“

Ist die Dulsbergsiedlung eine Schumachers Planungen für die exemplarische Stadtplanung Veddel und die „Jarrestadt“ zeigen der 1910er Jahre oder ragt dem Dulsberg verwandte Motive: sie aus ihrer Zeit heraus? Drei- bis fünfgeschossige Bau- blöcke umschließen große Garten- höfe und gruppieren sich um einen zentralen Freiraum, der als zum Teil bogenförmig geführter Grünzug wie eine Symmetrieachse des Ge- biets wirkt. Nun konnte Schumacher bei der „Jarrestadt“ und auf der Veddel bereits auf die Dulsberg-Planungen zurückgreifen. Und doch ragt Duls- berg freiraumplanerisch über diese Beispiele insofern hinaus, als der Grünzug hier dominanter war und zusätzlich mit einer Sportachse Vogelschau auf den Kölner Rayon, 1923

14 verschränkt wurde. Bei der baulichen Entwick- lung des ehemaligen Festungs- gürtels in Köln, für den sich Schu- macher zwischen 1920 und 1923 aus Hamburg beurlauben ließ, scheinen Grünzug und Sportach- se des Dulsbergs noch deutlicher Pate gestanden zu haben, als bei den Hamburger Beispielen. Ende der 1910er Jahre feil- ten auch andere Stadtplaner an der räumlichen Organisation von Kleinwohnungssiedlungen. So etwa Baurat Paul Wolf (1879- Vogelschau auf eine 1957), dessen Entwurf einer Kleinwohnungssiedlung Hannoveraner Kleinwohnungssiedlung 1918 veröffentlicht wurde. mit Schulen, Spielwiesen und Sportflächen in Zur gleichen Zeit wurden in Berlin-Treptow und Berlin-Schöneberg Hannover von Baurat „Innenparks“ des Architekten Hermann Jansen (1869-1945) publi- Paul Wolf um 1918 ziert. Jansen zeigte bogenförmige und wie auf dem Dulsberg in gar- tenarchitektonische Teilräume gegliederte Grünzüge. Als Alternative zu Gartenstädten propagierten 1913 und 1919 Hamburger Garten- Vogelschau zu einem Be- architekten wie Leberecht Migge (1881-1935) und Hermann König bauungsplan für Berlin- (1883-1961) unabhängig voneinander „Innengärten“ zur Durchgrü- Treptow von Hermann Jansen um 1918 nung der Städte. In seinem gartenarchitekto- nisch gegliederten Grünzüg als Rückgrat einer blockweise orga- nisierten Kleinwohnungssiedlung war der reformierte Dulsberg- Bebauungsplan national auf der Höhe der Zeit. Für Hamburg wur- de er richtungsweisend. „im ersten Augenblick wie ein Wunder“

Begonnen! (1919) ollage: J. Schnitter) ollage: J. Hamburger Staatsarchiv, Wandsbek 1926 ( C Wandsbek Staatsarchiv, Hamburger

Der erste Bauabschnitt des Dulsbergs zwischen Straßburger Straße und Osterbekkanal: Noch vor den Gebäuden des zweiten Bauabschnitts schiebt sich der Grünzug nach Osten in die Feldflur, 1926

16 1919-21 wurden die ersten Hochbauten An diese differenzierte Raumkomposition im Nordwesten des Dulsbergs errich- schloss südlich der erste Abschnitt des tet, darunter auch fünf vom Baudirektor zentralen Grünzugs an, auch er in Teil- selbst entworfene Blöcke zwischen den räume für unterschiedliche Nutzungen Straßen Dulsberg-Nord und Alter Teich- gegliedert. weg. Sie zeigten, dass Schumacher seine Trotz „Herabzonung“ (Senkung der städtebaulichen Grundsätze sowohl auf Bauhöhe) auf drei bis fünf Geschosse war das Gesamtgebiet als auch auf Teilräume es gelungen, ebenso viele Menschen mit anzuwenden verstand: Gebäude und Frei- Wohnraum zu versorgen, wie es der alte fl ächen dieser Blöcke waren im Wechsel Bebauungsplan vorgesehen hatte. Dass unterschiedlicher Privatheit und öffent- dabei außerdem Platz für eine großzügige lichkeit konzipiert. Jeder Block umschloss Freiraumversorgung gewonnen wurde, einen schlicht gestalteten Gemeinschafts- kommentierte Schumacher stolz: hof mit symmetrischen Baum- und He- „Das mag im ersten Augenblick wie ein ckenpfl anzungen, Sand- und Rasenfl ächen Wunder erscheinen. Es ist der Beweis dafür, sowie einfachen Sitzplätzen. daß man auf dem Gebiet des Städtebaus Die Fläche zwischen zwei Wohnblö- klar gesteckte Ziele mit rein geistigen Mit- cken hingegen nahmen jeweils zwei Reihen teln erreichen kann, wenn man auf genü- von Einzelgärten ein, die den Mietern auch gend umfangreichen Flächen wirkliche Be- privaten Gartengenuss ermöglichten. wegungsfreiheit hat.“ Hamburger Staatsarchiv, Wandsbek 1921-22, Bild 338 Wandsbek Staatsarchiv, Hamburger 720-1 141-6=7_64_3 Staatsarchiv, Hamburger

Die kleinräumige Feldmark verschwindet Ein Gemeinschaftshof der „Schumacher-Blöcke“, für den geordneten Wohnungsbau, 1921 1920 Gartensozialismus ...... und die Utopie der reformierten Stadt

Das Gartenstadtkonzept auf eine Vorstadtplanung übertragen. Idealplan von Mit der Industrialisierung und einem alle Erwartungen sprengenden Raymond Unwin, 1912 Stadtwachstum nahm die schon seit Jahrhunderten beklagte Na- turferne der Städte gegen Ende des 19. Jahrhunderts beängstigende Züge an. 1892 klagte der Mediziner und Hygieniker Robert Koch Idealplan einer (1843-1910) angesichts der ungesunden Wohnungen und „Pest- Kleinhaussiedlung, Hermann König, 1919 höhlen“ des Hamburger Gängeviertels, hier könne man vergessen, in Europa zu sein. Kein Wunder, dass utopische Stadt- konzepte Konjunktur hatten. Inspiriert vom britischen Stadtplaner Ebenezer Howard (1850-1928) entstand um 1900 die deutsche Gartenstadtbewe- gung. In autarken Siedlungen wollte diese mithilfe von Eigenheimen sowie privaten und öffentlichen Grünanlagen Gesundheit, Ernährung und sozialen Zusammenhalt fördern. Gartenstäd- te wie in Dresden-Hellerau, aber auch in Hamburg-Langenhorn, Wandsbek- Gartenstadt und die Steenkampsied- lung zeugen noch heute davon.

18 Hamburger Gartenarchitekten wie Leberecht Migge oder Her- mann König propagierten in den 1910er Jahren sogar einen „Gartensozialismus“, der gegen „verderbliche Einflüsse“ der Ver- Kinder im Sonnenbad der städterung eine Rückbindung Gartenstadt Hellerau bei zur heimischen Scholle durch privaten Gartenbau forderte. Dresden um 1912 Auch Fritz Schumacher nahm an, dass die Umwelt den Menschen erziehe und lobte in diesem Zusammenhang ausdrücklich Schreber- gärten, zweifelte jedoch daran, „dass der Garten (...) ohne weiteres sein Amt als Kulturerzieher zu erfüllen vermag“. Ebenso sehr aber meinte er der „Massenanhäufung der Menschen in hohen Stockwerkshäusern“ entgegenwirken zu müssen, die fortschrittliche Städtebauer wie Le Corbusier (1887-1965) empfahlen. Dem Hamburger Baudirektor war wohl in besonderem Maße die Kunst der Balance zwischen extremen Ideen eigen; und so suchte er ganz praxisorientiert vor allem die schädlichen Auswirkungen der Hinterhauswohnungen zu bekämpfen. Dennoch zeigt sich auch bei ihm noch ein utopischer Zug in seiner Sicht der Stadt als Organis- mus, den die Planer zu verstehen und zu lenken hätten.

Städtebauliche Zukunfts- visionen aus dem Film „Metropolis“, 1926 Dabei war für die jüngere Generation nach 1918 an ein bloßes Weiterbauen in alter Manier kaum zu denken: Nach der alle künstlerischen Disziplinen erfassenden Zäsur des Weltkriegs war vielen Städtebauern, Hochbau-

Die alte Stadt hat ihre Vertrautheit verloren: und Gartenarchitekten aller wil- Szene aus „Das Cabinet des Dr. Caligari“ helminischer Gestus verdächtig von Robert Wiene, geworden, und sie suchten nach 1920 neuen Formensprachen. Schuma- cher merkte 1935 dazu an: „Es ist wohl vielen Künstlern so gegangen, dass sie sich aus unbe- wussten Gründen nach dem Kriege Fritz künstlerisch anders ausdrückten [als] Schumacher Städtebauliche Vision vorher. (…) eines Künstlers und Baumeisters: Ich merkte mit einer Art innerem Holzschnitt „Stadtland- Staunen, dass ich eine neue Sprache schaft mit Brücke“ von Emil Maetzel, 1915 beherrschte (...)“

Dies zielte möglicher- weise auf Flachdächer, von denen Schuma- cher erst nach dem Krieg ausgiebige Ver- wendung machte; es meinte vielleicht noch stärker das räumlich-plastische

Blockbebauungsdarstellung des Dulsbergs nach Schumacher 20 Vogelschau von Innen- und Dachgärten innerhalb eines geschlossenen Lageplan des Baublocks, nach Hermann König, 1919: vorigen Baublocks, Eine expressionistische Komposition, die erst im Lageplan deutlich wird Hermann König, 1919

Durcharbeiten städtebaulicher Ideen: Mithilfe von verform- baren Modellen überprüfte und überarbeitete er seine Ideen und gelangte so zu ein- prägsamen Figuren wie der des Dulsbergs. Sicher fand er dabei An- Der damalige Bauinspektor und regung von kongenialen Pla- spätere Oberbaurat nungspartnern wie dem Enfant Emil Maetzel auf dem Künstlerfest terrible der hamburgischen „Götzenpauke“, 1921 Kunstszene Emil Maetzel (1877-1955): Gründungs- mitglied des Künstlervereins Hamburgische Secession, der Emil Maetzel bei Bildhauerarbeiten selbst expressionistische Bil- in seinem Atelier in der und Plastiken schuf. Viel- leicht sind die grafisch oft holzschnittartig anmutenden Blockstrukturen Schuma- cherscher Planungen auch ein Ergebnis der Zusammen- arbeit mit seinem Oberbau- rat Maetzel.

Expressionistische Schriftkunst: „Der gelben Posaune der 7. gewidmet“ „eigenthümliche, in sich abgeschlossene neue Stadt“

Vollendet (1925-1933) Hamburger Staatsarchiv, L0000509 Staatsarchiv, Hamburger

Perfekte Gartenarchitektur zwischen Planschbecken u. Nordschleswiger Straße, Mitte 1930er Jahre

22 Innerhalb der im Bebauungsplan fest- tätigkeit überlassen wurden, legte man den gelegten städtebaulichen Figur so- hier vorgeschlagenen Bauvorhaben, wenn sie wie weiteren Rahmenbedingungen wie in ihrer Art wirtschaftlich und hygienisch zu Blockgrößen und Materialität sollte eine sein schienen, keine Fessel an, sondern be- abwechslungsreiche Bebauung entstehen. trachtete dieses Gelände bewußt als Expe- Dies stellten zum einen unterschiedliche rimentiergebiet für alle möglichen baulichen Flächenzuschnitte sicher, die von sich aus Systeme. Auf Kosten der Einheitlichkeit der eine individuelle Behandlung verlangten. Wirkung ist der ‚Dulsberg‘ dadurch zu einer Zum anderen wurde die Bebauung des interessanten Ausstellung verschiedenster Dulsbergs fast vollständig privaten Bau- Formen geworden, nach denen man den trägern überlassen, die verschiedene und Kleinwohnungsbau auf gegebener Fläche so namhafte Architekturbüros wie Klop- organisieren kann.“ haus, Schoch und zu Putlitz, die Brüder Für das im äußersten Nordosten gele- Gerson sowie Karl Schneider gewannen. gene Gebiet ließ Schumacher 1928 durch In diesem Prozess individueller bau- einen Hochbauwettbewerb unterschied- licher Auseinandersetzungen mit den fest- liche Lösungen prüfen. Fast alle Entwürfe gesetzten Gegebenheiten sah sich Schu- arbeiteten mit einer Zeilenbebauung, die macher als „dirigierender Architekt“: in Nord-Süd-Ausrichtung Belichtung und „Als später die weiteren Abschnitte Luftzirkulation besonders gut sicherstel- dieses Dulsberg-Geländes der privaten Bau- len konnte. Schumacher 1932, Abb. 17 1932, Abb. Schumacher

Darstellung der Geschossigkeit und der verantwortlichen Architekten auf dem Dulsberg, 1932 BUE, 1758_5_Dulsberg_1 BUE, 3299_3_Barmbek_Dulsberg_1 Der Sandspielplatz am Planschbecken um 1930 Die kleeblattförmigen „Erzählersenken“ um 1930

Die Ausgestaltung des zentralen Grün- gliederten Bebauungsstruktur auf dem zugs oblag dem Direktor des 1914 ein- Dulsberg, schuf doch auch diese eine Ein- gerichteten Hamburger Gartenbauamts heit in der Vielfalt. So entstand eine Kette Otto Linne (1869-1937). Dieser hing ei- von Spiel- und Ruheräumen, die abwech- ner als „Reformgartenkunst“ bezeichneten selnd Kindern, Senioren (Alte-Leute-Gär- Gestaltungsrichtung an, die vorwiegend ten) oder aber der gesamten Siedlungs- mit geometrischen Formen, streng ge- gemeinschaft dienen sollten. gliederten Teilräumen und fl achen Gelän- Aus der Not des anstehenden Sand- deterrassierungen arbeitete. bodens machte der Gartendirektor eine Linnes gärtnerische Einzelräume har- Tugend und fasste diesen zur Freude der monierten perfekt mit der blockweise ge- Kinder in einer großen Sandspielfl äche. BUE, 1758_7_Dulsberg_1

Der Sandspielplatz am Planschbecken, mit Blick auf die ab 1927 errichteten Laubenganghäuser

24 BA Nord, 425-5-139-1 (colorierung J. Schnitter) J. 425-5-139-1 (colorierung Nord, BA

Lageplan des zentralen Grünzugs als Abfolge geometrischer Teilräume, Otto Linne 1932 Encke 1929, S.15 (Repro: Deutsche Deutsche (Repro: 1929, S.15 Encke e.V. Gartenbaubibliothek

Längsschnitt durch das Planschbecken im Dulsberg, 1929

Unangefochtenes Highlight der Anlagen bankreihen dienten Eltern und vom war das zentral gelegene Planschbecken: Schwimmen erschöpften Kindern zum Vom Flachwasserbereich an den Stirn- Ausruhen. seiten gelangte man über extrem fl ach ge- Den gestalterischen Bezug zur um- neigte Betonrampen in den Badebereich. gebenden Hochbauarchitektur stellten Mit einer maximalen Wassertiefe von die massiven Klinkerpodeste am Becken- einem Meter war das Planschbecken sehr rand her, die den Mutigsten als Sprung- kinderfreundlich gestaltet, verlangte aber block dienten. Und auch die Kombination doch die Aufmerksamkeit der Älteren für einer Reihe von Säulenpappeln mit einer die kleinen Badegäste. davorliegenden Heckenpfl anzung bildete Teilweise überdachte und als Wind- eine Einfassung, deren Höhenstaffelung schutz mit Rückwänden versehene Sitz- mit der „herabgezonten“ Bebauung kor- BUE, 1758_8_Dulsberg_1

Blick auf das Planschbecken aus Nordosten, ca. 1930er Jahre

26 BUE, 1758_6_Dulsberg_1

Tief genug für einen Hechtsprung? Das Planschbecken, ca. 1930er Jahre

respondierte. presse nicht nur die städtebauliche Lei- Unverkennbar ist der hohe bauliche, stung auf dem Dulsberg. Sie veröffentlich- aber vor allem pfl egerische Aufwand die- te außerdem Fotografi en und technische ser Anlage, die mit Zu- und Überläufen Querschnittszeichnungen des Planschbe- ausgestattet war und regelmäßiger Rei- ckens als mustergültige Lösung moderner nigung bedurfte. Eine besondere Wert- Freiraumgestaltung mit Modellcharakter. schätzung der Siedlung und ihrer Bewoh- So lobte das ‚8-Uhr-Abendblatt‘ im März ner kam darin zum Ausdruck, so als wollte 1930: man zeigen, wie eine Kleinwohnungssied- „Die Wohngegend am Dulsberg präsen- lung idealerweise gestaltet sein könne, um tiert sich heute, verglichen mit den Arbeiter- ein gesundes Miteinander zu fördern. wohngegenden im alten Barmbek oder in der Und tatsächlich würdigte die Fach- Hamburger Innenstadt, als ein wahrhaftes BUE, 1758_6_Dulsberg_2

Sonnen- und Windschutz für erschöpfte Schwimmer am Planschbecken, ca. 1930er Jahre BUE, 1756_4_Dulsberg_1

Die ehemalige „Kampfbahn“ zwischen Grünzug und der Straße „Alter Teichweg“, ...

Paradies. Licht und Luft in Überfülle bieten Gärten“ und den „Erzählersenken“ aus. die Gewähr, daß dort ein gesunder Men- Letztere waren durch Blumenschmuck schenschlag heranwachsen wird, dem die oder kreisrunde Rasenbänke hervorgeho- ganze Atmosphäre des Hinterhauses fremd ben und geeignet, sich auch dem stilleren sein wird.“ Naturgenuss hinzugeben, miteinander ins Offensichtlich schwang ein umfas- Gespräch zu kommen oder sogar kleine sender volkspädagogischer Anspruch in Theateraufführungen zu inszenieren. der Anlage des Grünzugs mit: Er drückte Auch Schumachers ausgeprägtes Fai- sich deutlich im Nebeneinander von Spiel- ble für das Theater sowie für eine „Erzie- wiesen, Planschbecken und Sportplätzen hung durch Umwelt“ mag hier eine Rolle sowie den beschaulichen „Alte-Leute- gespielt haben. BUE, 1756_11_Dulsberg Grünzug zerbombt Grünzug BUE, 1756_11_Dulsberg

Auch Raum für‘s Legere: kreisförmig angelegte „Erzählersenken“ im Grünzug, 1920er/30er Jahre

28 BUE, 1756_6_Dulsberg_3

... erhalten als Sportfeld der Schule Alter Teichweg, ca. 1950er Jahre

Typisch für die Reformgartenkunst dieser Diese dürfte auf das Vorbild der Schuma- Zeit waren die fl achen Podeste und Stufen cherschen Plastillinmodelle zurückgehen. wie in den Erzählersenken, die in ähnlicher Im Jahr 1933 fehlte am Ausbau des Form in den bogenförmigen Tribünen der Grünzugs nur ein Abschnitt im äußersten Sportplätze wiederholt wurden. Nordosten. Wohl aufgrund der politisch Die planerische Auseinandersetzung motivierten Pensionierungen von Linne mit der räumlichen Wechselwirkung zwi- und Schumacher in diesem Jahr wurde er schen Hochbau und Gartenarchitektur nicht mehr realisiert. ging so weit, dass eine Modellstudie für das Planschbecken und den angrenzenden „Alte-Leute-Garten“ angefertigt wurde. Kuick-Frenz, 2000, S. 357 2000, S. Kuick-Frenz, e.V. Friedhof Ohlsdorfer Förderkreis Archiv

Modellstudie für das Planschbecken Der Hamburger Gartendirektor Otto Linne und die östlich anschließenden Gartenräume „eine einzige, trostlose Trümmerlandschaft“

Zerstört (1943) BUE, Dulsberg

Ausgebrannte Häuser und Dachstühle auf dem Dulsberg, ca. 1944. Der Baumbestand des Grünzugs

30 war weitgehend unversehrt, lediglich Wiesenflächen waren in Gemüsebeete umgewandelt worden BUE, 1758_2_1950_Dulsberg

Das Planschbecken um 1950: leer und beschädigt, Bäume und Sitzaufl agen fehlen ...

Im Zweiten Weltkrieg wurde Barmbek nach Kriegsende durch Ausgebombte, durch Bomben schwer getroffen. Schon Heimkehrer und Vertriebene groß. 1942 zerstörte eine Luftmine den südlich Viele Menschen mussten daher in an den Grünzug grenzenden Naumann- Notunterkünfte ziehen, wie die etwa 40 block. In der Nacht des 29. Juli 1943 wur- Quadratmeter großen „Nissenhütten“: mit den Tausende von Wohnungen des Duls- einem halbrunden Wellblechdach über- berg-Gebiets vernichtet, viele als Folge spannte Wohnbaracken. Dreißig von ihnen von Flächenbränden. wurden auf der ehemaligen Spielwiese an Zwar hatte sich die Einwohnerzahl der Vogesenstraße aufgestellt. Und da seit Kriegsbeginn 1939 von etwa 27.000 diese Hütten keine Isolierung besaßen, fi el auf unter 4.500 im Oktober 1943 um 83% die Temperatur im Innern auf bis zu mi- verringert, doch war die Wohnungsnot nus 13 Grad. So wie vielerorts in Hamburg BUE, 1758_3_1950_Dulsberg

... die Kinder streifen lieber mit Rollern oder Fahrrädern durch die Gegend, um 1950

32 BUE, 1756_9_Dulsberg_1

Die Trümmeraufbereitungsanlage im Grünzug, 1950

wurde daher auf dem Dulsberg im kal- verschwanden nach und nach die Bäume. In ten Winter 1946/47 alles Brennbare als der Weichselmünder Straße (...) organisierten Heizmaterial verwendet: Der sogar nach die Bewohner einen nächtlichen Wachdienst, der Bombennacht von 1943 noch fast um die Kastanien im Innenhof zu schützen.“ lückenlos vorhandene Baumbestand des Ehemalige Wiesenfl ächen nutzten die Grünzugs war um 1950 daher ebenso ver- Bewohner nun zum Gemüseanbau, so dass schwunden wie hölzerne Überdachungen auch die Binnenstrukturen des Grünzugs und Sitzbänke. Ein Zeitzeuge berichtete: bald überformt waren. „In diesem Winter wurde verfeuert, was Zur Wiedergewinnung von Baumate- nur brennbar war. Es gab Familien, die sogar rial wurde im Grünzug eine Trümmerauf- ihre wenigen Möbel verheizten. (...) Auch in bereitungsanlage in Betrieb genommen. den Straßen und im Grünzug am Dulsberg Die einstige Pracht war Geschichte. BUE, 1756_8_Dulsberg Grünzug zerbombt zerbombt Grünzug BUE, 1756_8_Dulsberg

Zur Gemüseproduktion okkupierte Flächen des Grünzugs werden teilweise durch Drahtzäune gesichert, zerstörte Dachstühle im Hintergrund werden wiedererrichtet, um 1950 „Kinderparadies Dulsberg“

Neugeschaffen (1953-2000) BUE, 1758_16_1957_Dulsb_Rban_22

„Die Kinder kommen mit den Rollern schneidig heruntergefahren und gehen mit Eleganz in die Kurve.“ (Werner Töpfer, 1954)

34 Die Beseitigung der Trümmer bewältigte förmigkeit geometrischer Baum- und Hamburg viel schneller, als man erwartet Heckenpfl anzungen erinnerten an das hatte. Dies lag nicht zuletzt daran, dass mittlerweile verhasste NS-Regime. Die große Geländesenken wie zum Beispiel die neue Generation sollte sich ungehinder- Wallgräben mit Trümmerschutt verfüllt ter bewegen, freier spielen und begegnen wurden. können. Und so war ein Bezug des neuen In Dulsberg nutzte man einen Teil des Grünzugs zur baulichen Umgebung, die Osterbekkanals, der durch die Verfüllung sich äußerlich mit dem Wiederaufbau der verkürzt wurde. Die gewonnenen Flächen alten Gebäude kaum verändert hatte, nicht wurden zu Beginn der 1950er Jahre be- mehr gewünscht. Im Gegenteil schottete grünt und zur öffentlichen Grünanlage sich die Grünanlage gegen die lineare Vor- „Augustenburger Ufer“ mit Spazierwegen kriegsbebauung durch freiwachsende Ge- und einem Spielplatz ausgebaut. hölze ab, um einer offenen Gesellschaft im Seit 1951 plante die neugeschaf- Inneren umso freier Raum zu bieten. fene Gartenbauabteilung des Bezirksamts Die neue Offenheit ging mit einer Er- Hamburg-Nord unter ihrem Leiter Werner weiterung des Grünzugs nach Nordosten Töpfer auch die Sanierung des zentralen einher: Endlich wurde er bis an die Stra- Grünzugs. Ihr Konzept unterschied sich ße Eulenkamp herangeführt. Nachdem von Linnes Planung allerdings fundamen- Wandsbek 1938 mit dem Groß-Hamburg- tal: Statt einer Reihung abgeschlossener, Gesetz Teil des hamburgischen Staats- geometrischer Teilräume sollte künftig gebiets geworden war, bestand nun der ein mittig verlaufendes Wiesental mit Bedarf nach einer Vernetzung mit der dor- rahmenden landschaftlichen Gehölzpfl an- tigen Kleingartenkolonie. zungen den Grünzug prägen. Zusätzlich entstand dort um 1960 ein Die Neuinterpretation des Grünzugs großes Sommerbad: Auf den Entwurfs- als multifunktionale Spiel- und Bewe- plänen des Gartenamts vom Beginn der gungsfl äche lag stilistisch ganz im Trend 1950er Jahre wirkte es wie eine beträcht- der Nachkriegsmoderne: Der alte große liche Erweiterung des Grünzugs. Sandspielplatz wurde zum Beispiel zu ei- Das Konzept der offenen Grün- ner fl ächenmäßig viel kleineren Ellipse um- räume wirkte auch in die neu ent- geformt und landschaftlich eingebunden. stehenden Wohnquartiere hinein: Aber auch inhaltlich war eine Abkehr Die neue Bebauung zwischen Nord- von der Vorkriegszeit gewollt: Denn Sym- schleswiger Straße und Diedenhofer metrie, starre Grenzen und die Gleich- Straße entstand ohne Gebäude-Quer- Hamburger Staatsarchiv, Wandsbek 1963, Bildnummern 326, 327, 329, 335, 337, 339 (collage: J. Schnitter) J. 326, 327, 329, 335, 337, 339 (collage: 1963, Bildnummern Wandsbek Staatsarchiv, Hamburger

Der völlig neugestaltete und von Nissenhütten befreite Grünzug. Im Norden die nach Teilverfüllung

36 des Osterbekkanals neugewonnene Parkanlage „Augustenburger Ufer“, 1963 BUE, 1758_12_Dulsberg

Das wiedereröffnete Planschbecken, um 1956, von Rasenfl ächen umgeben riegel, als suche sie den Anschluss zum Auch Hamburg-Nord machte da keine nördlich angrenzenden Grünzug. Ausnahme. Acht Jahre nach Kriegsende 1953 war ein Gartenjahr für Ham- gelang es, den Dulsberger Grünzug in völ- burg: Die Hansestadt richtete ihre erste lig neuem Gewand wiederzueröffnen! internationale Gartenschau nach dem Ein Blick in die Anlagen hinein zeigt, Krieg aus. Die bezirklichen Gartenbau- dass die Bewohner das neue Konzept be- abteilungen waren deshalb bemüht, auch geistert annahmen: Nach seiner Sanierung außerhalb der Ausstellungsfl ächen in den war das Planschbecken im Hochsommer Wallanlagen und an der Alster das Bild des wieder ein Magnet für Kinder und Eltern. wiedererstandenen und grünen Hamburgs Die ehemals das Wasser strandähnlich zu präsentieren. umgebende große Sandfl äche war zu einer BUE, 1758_14_Dulsberg_1

Der Westabschnitt des Grünzugs mit plattengerahmtem Planschbecken und abgesperrten Querwegen, um 1953

38 BUE, 1758_13_1956_Dulsberg

Kinder und Eltern nehmen 1956 ein Sonnenbad auf der Planschbeckenwiese

Spiel- und Liegewiese umgewandelt wor- gen und bisweilen etwas abknickten oder den. Der Beckenrand war mit einer zeit- verzweigten, als seien sie ganz natürlich typischen Kombination aus Asphalt und durch Benutzung entstanden und nicht Betonplatten umgeben: Der Wunsch nach am Schreibtisch konstruiert worden. Modernität und einer unverbrauchten For- Natürlich war auch diese Freiraum- mensprache wird daran mehr als deutlich. planung künstlich, wollte es aber nicht zei- Die Kinder nahmen‘s gelassen und freuten gen. Und damit nicht ungeregelte, echte sich einfach an Wasser und Sonne. Trampelpfade entstünden, waren die Wege Eine Reihe von Fußwegen querte die zunächst noch mit Zäunen eingefasst, die Wiesenfl ächen wie breite Feldwege, die abgebaut wurden, sobald die Grasnarbe sich leicht quer durch das Gelände zo- ausreichend trittfest war. BUE, 1758_15_Dulsberg_1

Die Wege queren den einem Wiesental nachempfundenen Grünzug, als seien sie ungeplant entstanden, um 1953 BUE, 1758_16_1957_Dulsb_Rban_12

Auf der Rollerbahn fl ießt der Verkehr 1957 vorbildlich unter den wachsamen Blicken eines Aufsehers

Von Strauchpfl anzungen umgeben war auf Aufgangstreppe und einem neuen Dach dem Platz der ehemaligen Trümmeraufbe- versehen, diente es nun als Rutschenturm: reitungsanlage ein hochmoderner Spiel- Aus seiner Stirnseite führten eine kurze platz entstanden, auf dem die Reste der und eine lange Rutsche heraus. alten Anlage so gut wie möglich in die Der hintere Teil des Gebäudes neue integriert wurden: Da fast die gan- war als Wächterraum ausgebaut wor- ze Fläche befestigt wurde, konnten die den. Denn auch ein Wächter war not- Fundamente der alten Schuppen im Bo- wendig auf diesem Platz, der spiele- den verblieben. Das ehemalige Trümmer- rische Verkehrserziehung leisten sollte: silo war nicht einmal abgerissen worden; auf Hamburgs erster Rollerbahn! durch relativ einfache Umbauten mit einer BUE, 1758_16_1957_Dulsb_Rban_21

Das Betonskelett der Trümmeraufbereitungsanlage ist zum Rutschenturm umgebaut, 1957

40 BUE, 1758_16_1957_Dulsb_Rbahn_9 S. 1964, o. Töpfer So ein Spielplatz braucht keinen Schnickschnack Ordnung muss sein! W. Töpfer, 1964

Gartenamtsleiter Töpfer erläuterte diese Platzhöhe. Die Kinder kommen mit den Rol- Anlage 1954 mit erkennbarem Stolz: lern schneidig heruntergefahren und gehen „Die Rollerbahn (...) ist in Form einer ein- mit Eleganz in die Kurve. gedrückten ‚8‘ angelegt. Es laufen — wie auf Von nah und fern kommen sie mit der Autobahn — 2 je 1 m breite Fahrbahnen ihren Rollern zu diesem neuartigen Spiel- aus Betonplatten (...) nebeneinander. platz (...).“ Jede Fahrbahn ist 225 m lang. Am Kreuzungspunkt wurde ein Abfahrtshügel angeschüttet, der untertunnelt ist, um einen kreuzungslosen Verkehr zu gewährleisten. Dieser Abfahrtshügel liegt bis 2,50 m über BA HH-Nord, 425-1-79-3 HH-Nord, BA

Ausfl ugsziel für Rollerpiloten, mit „Indianerlager“ (links), Sandkiste (Mitte), Karussell (rechts oben) und Rutschbahn (rechts unten) Foto: Hamburger Sport- Hamburger Foto: e.V. Sportbund jugend im Hamburger im Sportjugend Hamburger Foto: e.V. Sportbund Hamburger

In den 1970er Jahren noch häufi g: Spielverbot! Sommerfest „Alles in Bewegung“, 1995

In den 1970er und 1980er Jahren verblieb schaft beklagt. Der besonders hohe An- der Grünzug in den Grundzügen der Nach- teil an Sozialwohnungen führte bis Ende kriegsgestaltung weitgehend unverändert. der 1980er Jahre vor allem Haushalte Die Bewohnerschaft dagegen wandelte mit nur geringem Einkommen und einge- sich deutlich: Seit den 1960er Jahren ver- schränkten Möglichkeiten der Freizeitge- ließen viele Besserverdienende die wie- staltung in den Stadtteil. Für diese hätten deraufgebauten Wohnungen und zogen in die örtlichen Grünräume an Bedeutung andere Stadtteile. Da die vergleichsweise gewinnen müssen. kleinen Wohnungen für Familien wenig at- Doch ab den 1980er Jahren wurden traktiv waren, wurde bereits in den 1970er Klagen laut, viele Kinder und Jugendliche Jahren eine Überalterung der Bewohner- empfänden Hamburgs öffentliche Spiel- Spalink-Sievers, 2000, S.13 Spalink-Sievers,

Ein Fokus der Landschaftsplaner liegt in den 1990er Jahren wesentlich auf der Freiraumvernetzung

42 Stadtteilbüro Dulsberg Stadtteilbüro Backstein 1997, S.6 Backstein

Einladung zu einer Partie Schach im östl. Grünzug Der alte „Wetterpilz“ am ehemaligen Planschbecken

plätze als stereotyp und langweilig und gestalten und mit anderen Angeboten im würden diese selten aufsuchen. Mit her- Stadtteil (Schulhöfe, Sportplätze, Wohn- kömmlichen Freiraumkonzepten schien höfe u.a.) zu „Spielwegen“ zu vernetzen. das Problem auch für den Dulsberg nicht Vor allem jüngere Landschafts- mehr lösbar. architekten begriffen Freiraumplanung Das 1992 von der Hamburger Um- inzwischen auch als Prozess, der im Aus- weltbehörde entwickelte Konzept „Spiel- tausch zwischen städtischer Verwaltung, raum Stadt“ versuchte daher, vorhandene freien Planern und Anwohnern nicht nur Spielplätze mit alternativen Ansätzen (Na- Grünräume gestaltet, sondern auch das turspielplatz, Mädchenspielplatz, Wasser- Bewusstsein für ihre Bedeutung schärft. spielplatz etc.) bedarfsgerechter umzu- Das zwischen 1996 und 1999 vorge- Stadtteilbüro-Dulsberg

Schluss mit Standardlösungen: Mit hohem Dach und unregelmäßig verteilten Sitzblöcken ist der alte Unterstand am ehemaligen Planschbecken zum „Jugendtreff“ ausgewachsen, 2000 Stadtteilbüro Dulsberg. Aus: Hansen/Sön- Aus: Dulsberg. Stadtteilbüro 37 gen 2000, S.

Eine der namensgebenden Sitzanlagen der 1997 eröffneten „MädchenArena“ legte zweiteilige „Freifl ächenentwicklungs- Besondere Aufmerksamkeit erfuhr 1997 konzept Dulsberg“ sah daher vor allem die eine mädchenfreundliche Freiraumgestal- Vernetzung des Grünzugs mit öffentlichen tung der nördlich an den Grünzug an- und privaten Freifl ächen zur Aufwertung schließenden „Schule Alter Teichweg“: die des Dulsbergs vor. In einer Abkehr von fl ä- „MädchenArena“. Nach Beteiligung von chendeckenden Umgestaltungskonzepten Schülerinnen an der Planung — erstmals „am grünen Tisch“ sollten im Dialog mit in Hamburg! — errichtete die beauftrag- den Nutzern pragmatische, oft punktuelle te Landschaftsarchitektin zwei Rasen- Maßnahmen wie die öffnung eines Sport- hügel mit halbkreisförmigen Sitzarenen, platzes für Nichtmitglieder gefunden wer- ein Beachvolleyballfeld sowie weitere den. Aktionsfl ächen. Projekt Bewegungsräume, 1997, S. 21 1997, S. Bewegungsräume, Projekt 174 2001, S. Spalink-Sievers

Ideenskizze für die „MädchenArena“, 1996 Neu errichteter Schulgarten der Gesamtschule Alter Teichweg, 2001

44 Johanna Sievers Dulsberg Stadtteilbüro

Temporäre Wiederbefüllung des Planschbeckens, 1997 Der Stadtteil feiert auf dem Spielplatz Rollerbahn, 2003

Ebenfalls unter starker Beteiligung von mündete 1997 in eine Quartiersversamm- Kindern erfolgte im Jahr 2000 der Umbau lung, anlässlich der das trockengefallene der Rollerbahn als Mitmach-Baustelle, bei Planschbecken durch das Stadtteilbüro der ein aufwendiger Spielmatschbereich Dulsberg eine temporäre Befüllung erfuhr. mit großen, von den Kindern bearbeiteten Eine Wiederinbetriebnahme erwies sich als Steinblöcken entstand. technisch und fi nanziell nicht umsetzbar. Die kontroverse Diskussion um die Als Lösung, die in der gefühlten Mitte des Zukunft des ehemaligen Planschbeckens Grünzuges möglichst viel des ursprüng- ist ein gutes Beispiel dafür, mit welchem lichen Erscheinungsbilds bewahrt, wurde Einsatz das Quartier Einfl uss auf die Ent- die Fläche 1999 zu einem Streethockey- wicklung seiner Freianlagen nahm. Sie und Basketballfeld umgestaltet. Stadtteilbüro-Dulsberg. Aus: Hansen/Söngen 2000, S. 18 2000, S. Hansen/Söngen Aus: Stadtteilbüro-Dulsberg.

Ergebnis vorausschauender Planung und einer Vielzahl von Überarbeitungen und Anpassungen — der weite Blick über das ehemalige Planschbecken in den Grünzug, Ende der 1990er Der Dulsberger an sich

Ein Stadtteil findet sich Norddeutscher Rundfunk, Hamburg (www.ndr.de/903/sommertour/Dulsberg-sieht-rot,dulsbergwette114.html, Abruf vom 23.01.2018) Abruf vom (www.ndr.de/903/sommertour/Dulsberg-sieht-rot,dulsbergwette114.html, Hamburg Rundfunk, Norddeutscher

Sams oder Dulsberger Kilroy? „Backsteinwand“-Detail im Rahmen der NDR-Sommertour in Dulsberg, 2017

46 Wie tapfer die Dulsberger auch die Kriegs- Das Stadtteilbüro war Teil des ersten zerstörungen ertrugen; wie tatkräftig sie Hamburger Stadtteilentwicklungsprogramms am Wiederaufbau mitwirkten und manches und sollte Entwicklungsprozesse im Quar- Provisorium wohl jahrelang aushielten; tier mitgestalten. Dies beinhaltete die wie ambitioniert und gekonnt die Grün- Begleitung von Meinungsbildungsprozes- planer auch in der frühen Nachkriegszeit sen und Mitwirkungsstrukturen, die Ein- zu Werke gingen: Sie alle konnten nicht bindung von Schulen, Kirchen, sozialen verhindern, dass der Stadtteil ab den 60er Einrichtungen, Sportvereinen sowie Woh- Jahren langsam in eine Schiefl age geriet. nungsunternehmen und lokalem Gewerbe. Es waren wohl weniger aufsehener- Verbunden mit städtischen Förderpro- regende Geschehen wie das der „Duls- grammen und einer Vielzahl freiraumpla- berg-Bande“: jene 38 Jugendliche, die mit nerischer Impulse haben die entstandenen schweren Einbrüchen in nur drei Monaten Beteiligungsstrukturen bis heute zu spür- 180 Straftaten auf sich luden, bevor die baren Verbesserungen geführt. Polizei ihrem Treiben im September 1961 Zu dem positiven Imagewandel und ein Ende setzte. Schwerer wog sicher, wie einem neuen Selbstbewusstsein der Be- sich die Sozialstruktur Dulsbergs ab den wohnerschaft mag auch das Wissen bei- 1960er Jahren wandelte und Dulsberg zu getragen haben, in einem Stadtteil zu einem der fi nanziell schwächsten Stadt- wohnen, der seit einem Jahrhundert eine teile Hamburgs wurde. Pilgerstätte von Städtebauern und Archi- So galt Dulsberg bis in die 1990er tekturhistorikern ist. Dass zu den Quali- Jahre hinein in der Stadtöffentlichkeit als täten dieses Stadtraums an vorderer Stelle Problemquartier, in dem Arbeitslosigkeit auch die heutige Grünstruktur des Quar- und Armut verbunden mit Alkoholmiss- tiers in der Gestaltung der 1950er Jahre brauch und Drogenkonsum offensichtlich gehört, ist eine relativ junge Erkenntnis, sind. die noch wachsen wird. Heute kann davon keine Rede mehr Modernisierungen von Wohnungen und sein: Eine schrittweise Umkehrung der von Stadträumen wie am Straßburger Platz Abwärtsentwicklung setzte 1993 mit der und in der Straßburger Straße bewirken Installation des „Dulsberger Stadtteil- sicher ein Übriges, dem Stadtteil 2018 ein büros“ ein. frisches Flair zu verleihen. Wer Dulsberg heute besucht, wird ein Doch daneben spürt man bisweilen auch hohes Maß an zivilgesellschaftlichem En- etwas von einem augenzwinkernden Stolz gagement und eine Vielzahl sozialer Ein- der Dulsberger, die ihre Stadtteilzeit- richtungen vorfi nden: In keinem anderen schrift „Backstein“ nennen, ihren Kunst- Quartier in Hamburg-Nord gibt es im und Kulturverein „dulsArt“, einen miet- Verhältnis zur Einwohnerzahl so viele Ver- und bespielbaren container „Dulsbox“ eine, Kitas und pädagogische Angebote. und literarische Aktivitäten die „Dulsber- Eine äußerst aktive „Geschichtsgruppe ger Herbstlese“. Was anderswo ein Kiosk Dulsberg e.V.“ hält zudem mit sorgfältigen wäre, ist hier eine „Tabak-Börse“. Recherchen und qualitätsvollen Veröffent- Wahrscheinlich wissen sie es längst, lichungen das kollektive Gedächtnis der die Dulsberger, dass sie in einem der span- Siedlung wach. nendsten, dichtesten und zugleich grün- Ja, ein bisschen hat sich wohl auch er- sten Quartiere Hamburgs leben - aber sie halten von dem Bild des besorgten Klein- binden es eben nicht gleich jedem auf die bürgers, der die Obrigkeiten mit Skepsis Nase ... betrachtet und sich gezwungen sieht, vieles selbst — oder besser in nachbar- schaftlicher Gemeinschaft — in die Hand zu nehmen. Norddeutscher Rundfunk Norddeutscher

Besorgte Kleinbürger im Vielfarblook: exemplarische Dulsberger? Pressefoto aus: „Der König von Dulsberg“, Film von Petra Haffter, 1994

48 Bis hierher und weiter

Es war die Erfüllung eines städtebaulichen Traums: Räumlich ge- schickt organisierte Wohnblöcke konnten in Dulsberg ab 1921 das drängende Wohnungsproblem für kleinere Familien exemplarisch lö- sen, ohne zu hohen Mietkosten oder extremer Baudichte zu führen. Im Gegenteil gelang es sogar, einen Großteil der öffentlichen Freiflä- chen als großen zusammenhängenden Grünzug zu organisieren, der ästhetisch, sozial und volkspädagogisch wirksam sein sollte. War es ein besonderer Glücksfall? Oder Fritz Schuma- chers Vermögen, die richtigen Unterstützer und Mitarbeiter für seine Vorhaben zu gewinnen? Jedenfalls griffen Städtebau, Architektur und Gartenkunst auf dem Dulsberg so harmonisch ineinander, dass eine bis heute unangefochtene räumliche Figur entstand. Wie robust dieses Raumkonzept war, zeigte sich, als Dulsberg nach den Zerstörungen im Zweiten Welt- krieg so wiederaufgebaut wurde, dass die Baumassen bis heu- te kaum verändert scheinen. Der Gartenarchitektur des Grünzugs war solche Dau- er nicht beschieden, und dies nicht allein wegen der weitrei- chenden Gehölzverluste der ersten Nachkriegswinter. Denn die von Gartendirektor Otto Linne im Stil der Reformgartenkunst kongenial fortgeschriebene städtebauliche Raumkonzeption unterzog Gartenamtsleiter Werner Töpfer bis 1953 einer ra- dikalen Umwandlung im Stil der Nachkriegsmoderne. Diese ebenfalls hochwertige Konzeption als weitläufiges Wiesental mit eingestreuten Funktionsplätzen hat sich bis heute weitgehend erhalten. Auch Töpfers Bestreben, vor- handene Grünverbindungen zu erweitern, wie etwa durch Echte Dulsbergerinnen die Schaffung der Grünanlage „Augustenburger Ufer“, bleibt beim Sonnenbad aktuell. So würde eine Erweiterung dieser Grünanlage entlang des im Laubengang, um 1947 Osterbekkanals die großen Freiraumqualitäten des Stadtteils noch erheblich vergrößern können. Aber auch weniger spektakuläre Maßnahmen wie die Anpassung des denkmalgeschützten Freiraums an aktuelle Nutzungserforder- nisse der Bewohnerschaft werden zukünftig dafür Sorge tragen müs- sen, die weit über Hamburgs Grenzen hinaus anerkannten Qualitäten des Dulsberger Grüns für die nächsten Generationen zu sichern ... Zeittafel 1898 Die Stadt Hamburg erwirbt 1957 Eröffnung des Sommerbads Dulsberg Dulsberg

1903 Erster Bebauungsplan 1970er: Anlage der „Grillecke“ im Grünzug 1906 Eröffnung des Bahnhofs Friedrichsberg 1980er: Bau des Rosengartens im Grünzug 1910 Inbetriebnahme der Müllverbren- nungsanlage am Osterbekkanal 1992 Stadtteilentwicklungsprogramm Dulsberg 1918 Alternativentwurf zum Bebau- ungsplan durch die Hamburger 1993 Eröffnung des Stadtteilbüros „Patriotische Gesellschaft“ Dulsberg

Reformierter Bebauungsplan 1995 Umfassende Gebäudesanie- von Baudirektor Schumacher rungen im Rahmen sozialer Stadtteilentwicklung 1919 Baustart im Westabschnitt 1996 Freiflächenentwicklungskonzept 1928 Architekturwettbewerb für den Dulsberg Nord nordöstlichen Dulsberg 1997 Eröffnung der „MädchenArena“ 1943 Weitreichende Zerstörungen in der Gesamtschule Alter Teich- durch Brandbomben weg

1945 Gemüseanbau, Aufstellung von 1999 Rückbau des Planschbeckens Nissenhütten und einer Trüm- zum Multifunktionsplatz meraufbereitungsanlage Freiflächenentwicklungskonzept 1946 Verfüllung von Teilen des Oster- Dulsberg Süd bekkanals mit Trümmerschutt 2000 Umgestaltungskonzept für den 1953 Neueröffnung des überarbei- Grünzug teten zentralen Grünzugs 2000 Sanierung der Rollerbahn mit 1955 Konzeption der Parkanlage neuer Breakdance-Arena und

Stephan Rothe (www.dulsberg.de) Rothe Stephan „Augustenburger Ufer“ neuem Matschspielbereich als Mitmach-Baustelle

Einrichtung der Hundewiese

2008 Eröffnung des neuen Freibads

2009 Aufnahme in das Rahmenpro- gram Integrierte Stadtentwick- lung, Programm Städtebaulicher Denkmalschutz

2018 Feierlichkeiten zu „Der Dulsberg: 100 Jahre Fritz Schumacher Stadtplanung“

50 Archive & Sammlungen: Anhang Archiv Förderkreis Ohlsdorfer Friedhof e.V.; BA HH-Nord: Bezirksamt Hamburg-Nord, Management des öffentlichen Raums, Planarchiv; BUE: Behörde für Umwelt und Energie, Referat Gartendenkmalpflege; Denkmalschutzamt: Behörde für Kultur und Medien, Denkmalschutzamt; Geschichtsgruppe Dulsberg e.V.; StAHH: Hamburger Staatsarchiv; Sammlung Tobeler, Hamburg, vertreten durch das KUNSTHAUS KIRSCHBLUETHE, Laaslich (Prignitz), www.kunsthaus-kirschbluethe.de Literatur und Quellen Backstein : Dulsberger Stadtteilzeitung / hg. vom Stadtteilbüro Dulsberg. Nr. 2 (1997); Nr. 23, (2008); Nr. 32, (2017) Baumgarten, Heiner, Konzeption „Spielraum Stadt“ für Hamburg. In: stadt+grün, Jg. 46 (1997) Heft 5, S. 299-304 Behr, Karin von, Emil Maetzel : Baumeister, Maler, Sezessionist ; Ein Künstlerleben der 20er Jahre in Hamburg. Neumünster 2013 Burckhardt, Helge (Geschichtsgruppe Dulsberg), Handeln und Erleben : Wiederaufbaujahre im Spiegel der Stadtteilzeitung „Der Dulsberger“. Hamburg 2013 Dührkoop, Rudolf, Hamburgische Männer und Frauen am Anfang des XX. Jahrhunderts. Hamburg 1905 Ein Künstlerpaar der Moderne : Emil Maetzel & Dorothea Maetzel-Johannsen / Hg. Sebastian Möllers, Luisa Pauline Fink, Andreas Schäfer; Ausstellung u. Katalog: Rüdiger Joppien, Luisa Pauline Fink, Tim Tobeler. Petersberg 2017 Encke, Fritz, Die öffentlichen Grünanlagen in Hamburg. In: Die Gartenkunst Jg. 42 (1929), Heft 1, S. 1-18 Gutsche, Susanne (Geschichtsgruppe Dulsberg), Dulsberg aus der Luft 1922 - 1942 : mit einigen Eckdaten zur Entwicklung des einstigen Barmbeker Grenzlandes Dulsberg seit 1365. Hamburg 2005 Hansen, Angela / Dieter Söngen, Soziale Stadtteilentwicklung in Dulsberg 1995 bis 2002 : Bericht über die Ergebnisse der Förderung aus dem hamburgischen Stadtteilentwicklungsprogramm. Hg. Freie und Hansestadt Hamburg, Bezirksamt Hamburg-Nord. Hamburg 2000 Heicke, Karl, Erfolge der deutschen Gartenstadtbewegung. In: Die Gartenkunst, Jg. 14 (1912), S. 349-354 Hipp, Hermann, Wohnstadt Hamburg : Mietshäuser zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. Neuausgabe mit aktuellen Beitr. Berlin 2009 Koenig, Hermann, Gartensozialismus. Hamburg 1919 Kube, Hermann, Gartenkultur und die Spielplatzfrage. In: Die Gartenkunst, Jg. 31 (1918), Heft 1, S. 3-24 Kuick-Frenz, Elke von, Anwalt des sozialen Grüns : die funktionale und gestalterische Entwicklung öffentlicher Grün- und Freiflächen am Beispiel der Planungen Otto Linnes. Hamburg 2000 MädchenArena : Öffentliche Bewegungsräume für Mädchen in der Stadt – Kurzfassung. Hg. Umweltbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg / Hamburger Forum Spielräume e.V.; Hamburg o.J. (ca. 2000) Martini, Oskar, Erinnerungen an Rotarier Fritz Schumacher : Zu seinem 90. Geburtstag : Vortrag von Altpräsident Oskar Martini am 4. November 1959 im Rotary Club Hamburg (www.heisenbergfamily.org/Family-tree/Schumacher-tree/F- Sch-xtra/Martini-90.htm, Abruf vom 21.01.2018) Projekt Bewegungsräume : am Beispiel Pilotstadtteil Dulsberg. Hg. Hamburger Sportjugend im HSB. Hamburg 1997 Schumacher, Fritz, Das Werden einer Wohnstadt : Bilder vom neuen Hamburg. Hamburg 1932 Schumacher, Fritz / Wilhelm Arntz, Köln : Entwicklungsfragen einer Großstadt. Köln 1932 So entstand der Dulsberg. Sonderausgabe von „Der Dulsberger“: Stadtteilzeitung / SPD Dulsberg. Hg. Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Distrikt Dulsberg. Hamburg, ohne Jahr Spalink-Sievers, Johanna, Auch die Großen wollen spielen : Umgestaltung eines Oberstufen-Schulhofes in Hamburg- Dulsberg. In: stadt+grün, Jg. 50 (2001), Heft 3, S. 169-174 Spalink-Sievers, Johanna, Freiflächen-Entwicklungskonzept Dulsberg. In: stadt+grün, Jg. 46 (1997), Heft 5, S. 305-310 Spalink-Sievers, Johanna, Freiflächenentwicklungskonzept Dulsberg-Nord : Arbeitsbericht. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag der Freien und Hansestadt Hamburg, 1996 Spalink-Sievers, Johanna, Freiflächenentwicklungskonzept Dulsberg-Süd : Arbeitsbericht. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag der Freien und Hansestadt Hamburg, 1999 Spalink-Sievers, Johanna, Umgestaltungskonzept für den zentralen Grünzug in Hamburg-Dulsberg (Entwurf), unver- öffentlicht, Hannover 2000 SPD-Fraktion der Hamburgischen Bürgerschaft, Konzept „Soziale Brennpunkte“ : Ergebnisse der Beratungen in der Haushaltsklausurtagung am 24./25. April 1992 (dulsberg.de/sites/www.dulsberg.de/files/2017/.../Soziale- Brennpunkte-Programm.pdf, Abruf vom 14.01.2018) Töpfer, Werner, Aus Trümmeraufbereitungsanlage wird eine Rollerbahn. In: Garten und Landschaft, Jg. 64 (1954), S. 17, S. 24 Töpfer, Werner, Der Hamburger Stadtpark in Gegenwart und Zukunft. In: Der Winterhuder Bürger : Mitteilungsblatt des Winterhuder Bürgervereins von 1872 e.V., (1964), Heft 6, o. S. Unwin, Sir Raymond / Paul Waterhouse, Old towns and new needs; also, The town extension plan: being the Warburton lectures for 1912. Manchester 1912 Wiene, Robert, Das Cabinet des Dr. Caligari. (Film) Deutschland 1920 Bildnachweis seitenweise-Zählung von links oben im Uhrzeigersinn: 1: BUE, 1758_10_Dulsberg_4 (Colorierung J. Schnitter); 2/3: BUE, 1758_16_1957_Dulsbg_Rban_18; 14-1: Denkmalschutzamt (Repro aus Hipp 2009, Abb. 320); 14-2: Schumacher 1932, Bildteil S.13 (Repro Hamburger Architekturarchiv). 14-3: Schumacher/Arntz 1932, S.120; 15-1: Repro aus Kube 1918, Abb.4; 15-2: Repro aus Kube 1918, Abb.11; 18-1: Unwin 1912, Abb.5 (Repro: wikimedia commons); 18-2: Koenig 1919, Abb.10; 19-1: Heicke 1912, S.349; 19-2 & 19-3: Quelle: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, Wiesbaden; 20-1: Sammlung Tobeler; 20-2: www.heisenbergfamily.org; 20-3: StAHH 720-1 141-6-1_211; 20-4: Sammlung Tobeler, Fotograf Michael Hensel; 21-1 & 21-2: Koenig 1919, Abb.14 & Abb.13; 21-3: Sammlung Tobeler; 21-4: Sammlung Maetzel/Maetzel- Johannsen (aus: Behr, 1913, S.51); 21-5: Sammlung Maetzel/Maetzel-Johannsen (Repro: Sammlung Tobeler); 47: Barmbeker Geschichtswerkstatt; 49: Geschichtsgruppe Dulsberg e.V.; 52: Geschichtswerkstatt Barmbek; Sonstige: Angaben bei den Abbildungen. Alle Abbildungen sind Ausschnitte und farbliche Bearbeitungen der Originale. Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Bildrechte ermittelt werden. Bei berechtigten Ansprüchen wird um Mitteilung an den Hg. gebeten. Dank für freundlich gewährte Hilfe bei der Bildbeschaffung sowie für zahlreiche Anregungen, Ermunterungen und Hinweise: Jens Beck, Karin von Behr, Jan Buchholz, Jasmin Castro-Frenzel, Jürgen Fiedler, Geschichtsgruppe Dulsberg e.V., Ulrich Hein-Wussow, Heino Grunert, Reinhard Otto, Roger Popp, Daniela Schmitt, Johanna Sievers, Dieter Söngen, Silke Tobeler Impressum Herausgeber: Bezirksamt Hamburg-Nord, Fachbereich Stadtgrün, V.i.S.d.P.: Harald Rösler, Bezirksamtsleiter Hamburg-Nord Text, Layout und Bildbearbeitung: Joachim Schnitter, Gartendenkmalpflege • Freiraumplanung Redaktion: Mathias Buller; Druck: Druckerei Weidmann, Hamburg; 5.000 Exemplare; Hamburg 2018 um 1953

Bezirksamt Nord I Fachbereich Stadtgrün