© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Nova Mediaevalia Quellen und Studien zum europäischen Mittelalter

Band 15

Herausgegeben von Nikolaus Henkel und Jürgen Sarnowsky

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Sebastian Kubon

Die Außenpolitik des Deutschen Ordens unterHochmeister Konrad vonJungingen (1393–1407)

V&Runipress

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Gedruckt mit Unterstþtzung des Fçrderungsfonds Wissenschaft der VG WORT.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2198-6231 ISBN 978-3-8470-0537-7

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de

 2016, V&R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Schilling (o.J.) des Deutschen Ordens von Hochmeister Konrad von (1393–1407); Avers.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Inhalt

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis ...... 9

Vorwort...... 11

1Einleitung ...... 13 1.1 Das Ordensland Preußen um 1400 und die Außenpolitik Konrads . 13 1.2 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas ...... 22 1.2.1 Vorüberlegung:Die Stellung des Hochmeisters in der Ordenskorporation ...... 22 1.2.2 Der zeitliche Rahmen ...... 24 1.2.3 Methodisch-theoretische Anknüpfungspunkte und Begriffsdefinitionen ...... 24 1.2.3.1 Hochmeisterbiographie vs. Moderne Politikgeschichte ...... 24 1.2.3.2 Diplomatiegeschichte vs. Geschichte der Außenpolitik 29 1.2.3.3 Begriffsdefinition:»Außenpolitik« im Mittelalter ... 30 1.2.3.4 Theoretische Konzepte zur Analyse mittelalterlicher Außenpolitik ...... 34 1.2.4 Inhaltlich-geographischeBeschränkungen...... 35 1.3 Fragestellung und Vorgehen ...... 37 1.4 Quellenlageund quellenkritische Bemerkungen...... 40 1.5 Herkunftund KarriereKonrads vonJungingen ...... 48

2Samaiten:Zielgerichteter Erwerb mit diplomatischen Mitteln?.... 53 2.1 Grundlinien der Beziehungen des Deutschen Ordens zu Polen und Litauen ...... 53 2.2 »Erisapfel« Samaiten ...... 58 2.2.1 Problematik, Vorgehen und der Umgang mit den Quellen .. 58 2.2.2 Die Vorgeschichte der Samaitenfragebis 1393 ...... 61 2.2.3 Die Samaitenfrageunter Hochmeister Konrad vonJungingen 66

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 6 Inhalt

2.2.3.1 Die Samaitenfrage vomBeginndes Amtsantritts Konrads bis zur Vorgeschichte des Friedens von Sallinwerder ...... 66 2.2.3.2 Die Vorgeschichte des Friedens vonSallinwerder ... 68 2.2.3.2.1Der Friedensprozess (Juni 1395 bis zum Vorabend des 12. Oktober 1398) ...... 68 2.2.3.2.2 Die Strukturen des Friedensprozesses .... 100 2.2.3.3 Der Frieden vonSallinwerder ...... 107 2.2.3.4 Die Zwischenvertragszeit:Der Orden und Samaiten zwischen Sallinwerder und Racianz ...... 123 2.2.3.4.1 Die Unterwerfung Samaitens (12. Oktober 1398 –Anfang 1401) ...... 124 2.2.3.4.2 Der AbfallSamaitens (Anfang 1401–12.Juli 1403) ...... 132 2.2.3.5 Der Frieden vonRacianz/Racia˛z˙ek ...... 144 2.2.3.5.1 Der Friedensprozess (12. Juli 1403–25.April 1404) ...... 148 2.2.3.5.2 Die Strukturen des Friedensprozesses .... 155 2.2.3.5.3 Die verbrieften Ergebnisse des Friedens von Racianz ...... 158 2.2.3.5.4 Prioritäten und Gewichtung der Artikeldes Vertragswerks ...... 164 2.2.3.5.5 Der Frieden vonRacianz –ein Beleg fürdie Expansionspolitik des Deutschen Ordens?. . 170 2.2.3.6 VomFrieden vonRacianz bis zum TodKonrads von Jungingen ...... 174 2.2.3.6.1 Die Zeit bis zu den Ergänzungsverträgen von ThornimJahr 1405 ...... 174 2.2.3.6.2 Die Zeit vor dem TodKonrads von Jungingen ...... 181 2.3 Zusammenfassung der Ergebnisse ...... 187

3Die und kleinere Erwerbungen ...... 193 3.1 Der Erwerb der Neumark:Die Schaffung einer Landbrückenach Westen?...... 193 3.1.1 Vorgeschichte:Die Neumark und der Deutsche Orden vor 1393 ...... 197 3.1.2 Der Erwerb der Neumark im Jahr 1402 ...... 197 3.1.3 Der Erwerb vonDramburg ...... 199 3.1.4 Der Erwerbungsprozess der Neumark ...... 201

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Inhalt 7

3.1.5 Epilog I: Die Neumark im Besitz des Deutschen Ordens bis zum Todvon Hochmeister Konrad vonJungingen ...... 210 3.1.6 Epilog II:Die Konflikte um kleinere Gebieteinund am Rande der Neumark –ein Versuch der zielgerichteten Arrondierung der Neumark?...... 214 3.1.6.1 Küstrinund Tankow ...... 215 3.1.6.1.1 Küstrin...... 215 3.1.6.1.2 Tankow ...... 217 3.1.6.2 Hochzeit,Zantoch und Driesen ...... 221 3.1.6.2.1 Hochzeit ...... 221 3.1.6.2.2 Zantoch...... 223 3.1.6.2.3 Driesen ...... 228 3.1.7 Zusammenfassung der Ergebnisse ...... 244 3.2 Exkurs:Die kleineren Erwerbungen an den Grenzen des Ordenslandes Preußen:Arrondierung durch systematische Erpfändung?...... 248 3.2.1 Das Dobriner Land und Slotterie...... 249 3.2.2 Masowische Territorien:Wizna, Zawkrze und Płon´sk .... 251

4Die Eroberung vonGotland –ein Brückenkopfinder Ostsee?..... 257 4.1 Vorgeschichte ...... 258 4.2 Forschungsstand und Fragestellung ...... 259 4.3 Vorbemerkung zur Quellengrundlage ...... 262 4.4 Konrad vonJungingen und die Gotlandfrage...... 264 4.4.1 Die Expedition nach 1398 ...... 264 4.4.2 Die Pfandnahme Gotlands vonHerzog Albrecht...... 271 4.4.3 Die Verhandlungen überdänische Ansprüche aufGotland zwischen 1399 und 1403 ...... 277 4.4.4 Verlust und Rückeroberung der Insel in den Jahren 1403/1404 ...... 297 4.4.5 Die erneute Besetzung der Inseldurch den Orden 1404 und die zwei Waffenstillstände ...... 304 4.4.6 Der Gotlandkonflikt bis zum Tagvon Flensburg ...... 306 4.4.7 Der Flensburger Tagund seine Ergebnisse:Die Wende im Konflikt um Gotland ...... 308 4.5 Zusammenfassung der Ergebnisse ...... 318

5Fazit und Ausblick ...... 325

Quellen- und Literaturverzeichnis ...... 335 Ungedruckte Quellen ...... 335

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 8 Inhalt

Gedruckte Quellen und Regesten ...... 337 Sekundärliteratur...... 341

Register ...... 359

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis

AI Acta Imperii APG Archivum Pan´stwowe wGdan´sku (Staatsarchiv Danzig) APT Archivum Pan´stwowe wToruniu (Staatsarchiv Thorn) ASP Acten der Ständetage Preussens BGP Berichte der Generalprokuratoren des Deutschen Ordens an der Kurie CA Corpus actorum et decretorum magni Constantiensis concilii CDBrCodex diplomaticus Brandenburgensis CDL Codex diplomaticus Lithuaniae CDP Codex Diplomaticus Prussicus CDPol Codex diplomaticus regni Poloniae CEV Codex epistolaris Vitoldi DiplDan Diplomatarium Danicum DOZA Urkunden des Deutschordens-Zentralarchivs in Wien GGO Geschichte des Geschlechts v. d. Osten GStA PK Geheimes Staatsarchiv PreußischerKulturbesitz, Berlin HA Hauptabteilung HR Hanserecesse IMT Iura Masoviae terrestria JH Regesta historico-diplomatica Ordinis S. Mariae Theutonicorum (Joachim/Hubatsch) KDKMKodeks dyplomatycznyKsie˛stwa Mazowieckiego KDL Katalog dokumentówilistówkrzyz˙ackichArchiwumPan´stwowego w Toruniu KDWP Kodeks dyplomatycznyWielkopolski Lites Lites ac res gestae inter Polonos Ordinemque Cruciferorum LivUB Liv-, Esth- und Curländisches Urkundenbuch MTB Marienburger Tresslerbuch OBAOrdensbriefarchiv OF Ordensfoliant PrUB Preußisches Urkundenbuch RBDORegesten zu den Briefregistern des Deutschen Ordens RGNRepertorium der im Kgln. Staatsarchive zu Königsberg i. Pr.befind- lichen Urkunden zur Geschichte der Neumark

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 10 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis

RHN Regesta Historiae Neomarchicae RLURussisch-Livländische Urkunden SD Svenskt Diplomatarium SDOP Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert SSRP Scriptores rerum Prussicarum ST Sverges Traktater Thorner Annalen FranciscaniThorunensisAnnales Prussici UBWedel Urkundenbuch zur Geschichte des Schloßgesessenen Geschlechtes der Grafen und Herren vonWedel VirtPrUB VirtuellePreußische Urkundenbuch (www)

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorwort

Die hier vorgelegteStudie ist die kaum veränderte Dissertation, die im Jahr 2015 vom Fachbereich Geschichte der UniversitätHamburg angenommen wurde. Es ist nichtnur üblich, sondernauch höchst angemessen, zu Beginn eines solchen Buches den Menschen zu danken, die den Autor und sein Werk beider Abfas- sung begleitet haben. Eine geisteswissenschaftliche Arbeit entstehtinweiten Teilen zwar ganz konkret alleine am Schreibtisch;eine Art splendid isolation hat es –glücklicherweise!–nichtgegeben und gibt es meiner Erfahrung nach dabei auch nicht. Dafürist der Beistand vonaußen in jeglicher Form doch eine zu fundamentale Bedingung fürdas Gelingen einer Qualifikationsschrift. Sollte ich im Folgenden also jemandennichtgenannthaben, dem namentliche Erwähnung gebührt, so bedauere ich das ausdrücklich und bitte um Entschuldigung. Ein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater,Herrn Prof. Dr.Jürgen Sarnowsky.Ergewährte mir beider Arbeit an dieser Studie alle Freiheiten. Dabei hatte er beiFragen und Herausforderungen immer ein offenes Ohr und half mit seinem Rat. Zudem wurde die Arbeit durch die Anstellung als Wissenschaftli- cher Mitarbeiter in seinem DFG-Projekt »Erschließung und virtuelle Rekon- struktion der älteren Register der Kanzlei des Deutschen Ordens« erst ermög- licht. Die Erkenntnisse und Fähigkeiten, die ich beider Bearbeitung und Mit- herausgabeder beiden Bände Regesten zu den Briefregisterndes Deutschen Ordens (I) und II (RBDOund RBDOII, Göttingen 2012 und 2014) gewonnen bzw.erlangthabe, kamen dem eigenen Projekt wiederum zugute. HerrnSar- nowsky sowieHerrn Prof. Dr.Nikolaus Henkel verdankeich zudem die Auf- nahme des Bandes in die Reihe Nova Mediaevalia. Meinem Zweitgutachter im Promotionsverfahren, HerrnProf. Dr.Jochen Burgtorf,California State Uni- versity,Fullerton,dankeich ganz herzlichfürdie Anfertigung des Gutachtens sowieseine beständige Unterstützung,die stets überrein fachliche Fragen hinausging.Ich weiß die dabei aufgrund der Entfernung zwischen Hamburg und Kalifornien entstandenen, nichtganz unerheblichen Kostenund Mühen, die er ohne zu zögernauf sich genommen hat,sehr zu schätzen!

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 12 Vorwort

Den Hamburger Kollegen, ehemaligen und jetzigen, die teils überJahre hinweg fachlichen und menschlichen Beistand geleistet haben und leisten, sei mein herzlichster Dank ausgesprochen. Namentlich zu nennen sind:Nico Nolden, Joachim Laczny, Christina Link, Thorsten Logge, Annika Souhr-Kö- nighaus, Cordelia Heß und Cordula Franzke. FraukeSchmitz danke ich fürihre Lektüre und die inhaltlichen Rückmeldungen ganz besonders!Auch den Mit- arbeiterndes Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, Berlin, insbe- sondereHerrn Dr.Dieter Heckmann, sei fürdie Hilfe vor allem beider Be- schaffung vonArchivalien gedankt. Nichtzuletzt muss hervorgehobenwerden, dass der Förderungsfonds Wissenschaftder VG Wort die Drucklegung dieser Arbeit durch eine Bewilligung meines Antrages auf Übernahme der Druck- kosten erst ermöglichte. Ichdankeauch der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung fürGeisteswissenschaften, die fürdiese Arbeit einen Druckkostenzu- schuss bewilligthat, den ich aufgrund der Vollförderungdurch die VG Wort aber nichtinAnspruch nehmenkonnte. Dem Verlag sei fürdie Registererstellung gedankt. Abschließend gebührtmein innigster Dank neben meinen Freundenvor allem meiner Familie, d.h. meiner Ehefrauund meiner vorganz Kurzem ge- borenen Tochter,meinen Eltern, meinem Großvater und meiner Schwiegerfa- milie, vondenen mich jeder in seiner Artwährend der doch teils füralle Be- teiligten entbehrungsreichen Zeit immer unterstützt hat.Ohne sie hätte die Arbeit weder fertiggestellt noch überhaupt erst begonnen werden können. Dabei haben zudem meine Frau, Caroline Kubongeb.Ebner,M.A.,und meine Mutter, Barbara Kubon, mich maßgeblich beider mühevollen Arbeit des Korrekturle- sens unterstützt. Die restlichen Fehler gehenaberselbstverständlich aus- schließlich aufmein Konto. Meiner Familie und insbesondere Caroline sei diese Arbeit gewidmet.

Hamburg, im April2016 Sebastian Kubon

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 1Einleitung

1.1 Das Ordensland Preußen um 1400 und die Außenpolitik Konrads

»Blüthenzeit« –mit diesem Prädikatwurde die beinahe 14 Jahrewährende Re- gierungszeit Hochmeister Konrads vonJungingen (30. November 1393 bis 30. März 1407) schon vonJohannes Voigtinder ersten Hälfte des 19. Jahrhun- derts belegt.1 Nichtselten waren es die Geschehnisse in den auswärtigen Be- ziehungen des Ordenslandes Preußen, die dieser Auffassung als Ausgangspunkt oder Beleg dienten.2 So wurde dem beinahe in der Mitte vonKonrads Regie- rungszeit liegenden Jahr 1398 vonErich Weise eine programmatische Bedeu- tung beigemessen:

»Damals wurde die Eroberung Szamaitens vertraglich festgelegt, die Erwerbung Got- lands bahntesich an und balddarauf folgte die Angliederung der Neumark. Wenn man also mit dem Jahre 1398 beginnt, so gehtman vondem Zeitpunkt der größten Machtentfaltungdes Ordensaus, der räumlich weitesten Ausdehnung seines Herr- schaftsgebietes.«3

Beispielhaftzeigtsich in diesem Zitat die mal mehr,mal weniger direkt geäu- ßerte opinio communis, wenn es um die Beschreibung und Bewertung der

1Voigt,Geschichte, 6, S. VI. Auch in neuerer Zeit findet sich diese Auffassung regelmäßig:vgl. Biskup/Labuda,Geschichte, S. 368, und die biographischen Skizzen vonKonrad (s.u.). Einwände dagegen wurden allenfalls indirekt vorgetragen:vgl.Forstreuter,Deutschland, S. 12–13. –Aus platzökonomischen Gründen werden in den Anmerkungen ausschließlich Kurztitel angegeben. Die vollständigen Literaturangabenfinden sich im Quellen- und Lite- raturverzeichnis. –Eventuelle Abweichungen in den Quellenzitaten vom angegebenen Druck erklären sich in der Regel daraus, dass diese beistarken Entstellungen nach einer Kollatio- nierung mit der Ausfertigung entsprechendverbessertwurden. 2Gelegentlich wurden Konrads Verdienste im Bereich der Innenpolitik höher eingeschätzt. Dieser Aspekt mussjedochananderer Stelle untersuchtwerden. 3Weise,Diplomatik, S. 219. Konsequenterweise stehtdann auch der in diesem Jahr ge- schlossene Vertrag vonSallinwerderamBeginn seiner Edition mit dem Titel »Die Staats- verträge des Deutschen Ordens in Preußen im 15. Jahrhundert« (SDOP).

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 14 Einleitung

Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Konrad vonJungingen geht: Es gilt hier dann –idealtypischzusammengefasst –die Gleichung,dass die größte territoriale Expansion Preußens um 1400, die unschwer zu erkennen ist, auch den Höhepunkt der Machtstellung der Ordensherrschaftbedeute, worin sich eben unter anderem oder vielleichtdocheher vorallem die »Blütezeit«des Deutschen Ordens im Ostseeraum spiegele.4 Im Rahmen dieser Auffassung bzw.inderen Anschluss wird dabei als Hochmeisterdargestellt, der sich aktiv um die Ausdehnung gekümmerthabe; seine Handlungsweise in diese Richtung wurde meistens wie selbstverständlich als konsequent zielgerichtet gesehen5 –wobei Reinhard Wenskus die Auffassung voneinem systematischen Erwerb auch aufkleinere Gebiete an der Grenze zu Polen und Masowien mittels Kauf und Pfandnahme ausgeweitet hat6 –oder doch zumindest als »sehr überlegt«7.William Urban spitzte die Ansichtzu, indem er Konrad »a decisiveleader of far-reaching plans and far-reaching vision«8 nannte. Sylvain Gouguenheim hat, allerdings ohne Konrad vonJungingen speziell zu nennen, noch vorKurzem die territoriale Expansion als eine Achse der Ordenspolitik bezeichnetund als Beispiele dafür neben Pommerellen (1309), auch Gotland (1398) und die Neumark (1402) an-

4Soz.B.Nowak,Verhältnisse, S. 35;Benninghoven,Gotlandfeldzüge, S. 477;Lückerath, Konrad, S. 96, der hier vonder »größten (…) Ausbreitung der Einflußsphäre« spricht, was beide Aspekte der Gleichung umfasst. Diese wird zwar nichtimmer so pointiertausformuliert wiehier,dochdeutet sich häufiger an, dass beider Beschreibung der dem Ausmaß nach größten territorialen Expansionauch meistens an die höchste Machtstellung gedachtwird. vgl. Caro,Polens, S. 266;SDOP, S. 1; Wulfmeier,Konrad, S. 46;Nowak,Waffenstillstände, S. 394;vgl.auch Sarnowsky,Orden,S.92. Toomaspoeg,Histoire, S. 114, hebt die Eroberung vonGotland als eines der Symbole der Machtdes Deutschen Ordenshervor;indie gleiche Richtung zielend Hubatsch,Ritterorden, S. 35;indirekt so auch Forstreuter,Deutschland, S. 12–13. Sehr gut wird diese größte territoriale Expansiondurch die KarteinBiskup/Czaja, Pan´stwo,S.107, visualisiert. Die Vergrößerung des Ordenslandes um 1400 wurde auf 32.100 km2 berechnet; ebd.,S.109. Solch eindrucksvolle Zahlen und Bilder legen dann die Annahme einer größten Machtstellung natürlicherweise nahe. 5Vgl.Lückerath,Konrad, S. 100–101;Eisele,Herren, S. 44 und S. 46. Górski siehtKonrads Handeln vielfach vongeostrategischen Erwägungen bestimmt;Górski,Ordine, S. 144–148, bes.S.147. 6Wenskus,Ordensland, S. 375, wobei abernichtalle Erwerbungen in der Zeit Konrads ein- geleitet wurden, jedochnochbis in seine Zeit hinein Bestand hatten.Explizit genanntwerden u.a. Dobrin, Zawkrze und Wizna, allerdings mit wenig korrekten Zeitangaben. 7Jähnig,Konrad (1998;unverändertin2.Aufl.2014), S. 104. Wulfmeier,Konrad, S. 46, bezeichnet KonradimZusammenhang der Erlangung der größten Machtstellung durch die Eroberung vonGotland als einen geschickten Diplomaten, was darauf schließen lässt, dass auch hier an eine Zielgerichtetheit gedachtwird. 8Urban,Knights, S. 190. Caro,Polens, S. 153, hält Konrad füreinen vonden »weitgreifenden nordisch-maritimen Aufgaben des Ordens« überzeugten Mann;ohne weitere Belege wird Konrad also auch hier eine politische Konzeption unterstellt, wieesauch Housley,Later Crusades, S. 356, getan hat, der Konrad in diesem Zusammenhang »ambitious policies« be- scheinigt.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Das Ordensland Preußen um 1400 und die Außenpolitik Konrads 15 geführt, worin er Machtwillen und den Beweis füreine reale Strategie erkennen will.9 Überhaupt siehterden Krieg als zentrales Elementfürdie Beziehungen zu den Nachbarnan10 und ebenso die territoriale Expansion.11 Mankann daher die oben aufgestellteGleichung dahingehend erweitern, dass die größte territoriale Expansion, die zur höchsten Machtstellung geführthabe, in der Regel als planmäßig vom Orden unter Konrad vonJungingen erdachtund als konzep- tionell zielgerichtet herbeigeführtangenommen wurde.12 Diese Annahme wurde dabei nichthinterfragt.13 Es ist nämlich mindestens bemerkenswert,dass es gerade Konrad vonJun- gingen gewesen sein soll, der die ausgreifendste Expansion der Ordensherr- schaftbetrieben habensollte. Er wurde in der Forschung insgesamt ausge- sprochen positiv bewertet, wobei ihm neben Frömmigkeit, Gerechtigkeit und Mildtätigkeit insbesondere Friedensliebe14 als hervorstechende Charakterei- genschaftunterstellt wurde.15

9Gouguenheim,Chevaliers, S. 456;soauch Christiansen,Northern Crusades, S. 166, und besonders prägnantNöbel,Problem, S. 692. 10 Gouguenheim,Chevaliers, S. 487 und S. 626–627. 11 Ebd.,S.431. 12 S. vor allem Biskup/Labuda,Geschichte, S. 297–299: Hier wird die territoriale Expansion durchgängig mit Begriffenbeschrieben, die diese als Ergebnis einer umfassenden Strategie darstellt,welche ›generalstabsmäßig‹ geplant und umgesetzt worden sei;soauch ebd., S. 383–384, S. 393 und S. 537–538 (Konrad vonJungingen tauchtdabeijedoch nurdreimal im Register auf). Ähnlich verhält es sich beiBiskup,Wojny, S. 38–42, und jüngst in den entsprechenden Abschnitten in Biskup/Czaja,Pan´stwo (vonJanusz Tandecki), S. 105 und S. 122. 13 Einzig Petrauskas,Frieden, S. 28, hat summarischund leider ohne Belege die These ge- äußert, dass man mit weitreichendenpolitischen Entwürfen beiden politischen Akteuren der Zeit um 1400 nichtrechnen konnte, sondernvielmehrmit konkreten politischen Ent- scheidungen fürdas Tagesgeschäft.Jüngst hat Mentzel-Reuters, vride,S.91–93, ange- zweifelt, dass geostrategische Konzepte fürKonrad überhaupt vorstellbar waren. 14 Voigt,Geschichte, 6, S. 4–7 und S. 381. Beieinem solchen Urteil ist es im Wesentlichen geblieben: vgl. Caro,Polens, S. 144 und S. 153;Eisele,Herren, S. 48. Manwar sich höchstens nichtdarüberimKlaren, ob diese Eigenschaften als günstig füreinen Hoch- meister anzusehen sind;vgl.Baczko,Geschichte, S. 294–296;Caro,Polens, S. 246. Ein solches Bild –auch mit der möglichen negativen Bewertung dieser Eigenschaften –entstand vor allem, wenn man sich vorwiegend aufdie nichtzeitgenössische Historiographie stützte, wofürnochTumler,Orden,S.357, ein eindrückliches Beispiel bietet, obwohl auch er diesen Aussagen offenbar nichtohne Vorbehaltfolgen wollte und die Chroniken mehr referiertund ihre Aussagen nichtgänzlich übernimmt. Dabei ist eine gewisse Hilflosigkeit zu spüren. Die neueren biographischen Skizzen beschränken sich meistens darauf, zu konstatieren,dass Konrad in einem solchen Rufstand;vgl.Jähnig,Konrad (1998/2014), S. 104, und Jähnig, Konrad (1980),S.518. Die zeitgenössischenerzählenden Quellen bieten kaum Bewertungen vonKonradsPersönlichkeit. BeiWigand vonMarburgund den Thorner Annalen findet sich keine explizite Würdigung, beiJohann vonPosilge, SSRP 3, S. 285, heißtesjedoch über Konrad als abschließende Würdigung beiseinem Todkurz: der gar eyn guter herre und setig und gotfurchtigwas an alle sime leben. Die pointierteren Schilderungen und Bewertungen stammen ausnichtzeitgenössischen Quellen;vgl.die Aufstellung beiLückerath,Konrad,

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 16 Einleitung

Doch hat eine Überprüfung oder Diskussionaller dieser teils direkt zusam- menhängenden, teils eher nebeneinanderstehenden Vorstellungen,die aufjeden Fall nichtals kohärentbezeichnetwerden können, bislang nichtstattgefunden. Eine Biographie liegtfürKonrad vonJungingen im Gegensatz zu anderen Hochmeisternnichtvor.16 Überhaupt wurde seine Person in der Forschung vernachlässigt.17 Das spiegelt sich schon in dem Umstand, dass seine Regie- rungszeit in Überblicksdarstellungen intensivereErwähnung findenkonnte, ohne dass dabei Konrad vonJungingen selbst namentlich genanntwurde.18

S. 93, vonderenNutzung man aberAbstand nehmen sollte, da die späteren Ereignisse keinen geringen Einfluss aufdie Darstellunggenommen haben, was sich nichtzuletzt in der re- gelmäßigen Gegenüberstellungvon Konrad und seinem Nachfolger und Bruder spiegelt. Eine Untersuchung der Entwicklung des Bildes vonKonrad vonJun- gingen bleibt weiterhin ein Desiderat,hilftbei der Frage nach der Außenpolitik Konrads jedoch nichtweiter,sodass aufeine weitere Ausarbeitung hier verzichtet werden kann. Das kolportierte Bild der vormodernen Chronistik vorschnell als Abbild vonKonradsPersön- lichkeit zu nehmen und als Interpretationsrahmen fürseine Politik zu nutzen, ist metho- disch unzulässig,daeszueinem Zirkelschluss führenkann. 15 Dieses Spannungsverhältnis ist nichtzuletzt bei Eisele,Herren, passim,greifbar.Besonders auffällig ist beiGórski,Ordine, eine Dichotomie zwischen dem positivenBild Konrads (»uomo di carattere pacifico«, ebd.,S.145) und der negativen Darstellung der als zielge- richtet aufgefassten Expansionspolitik während dessen Hochmeisterschaft zu erkennen, wobeiKonrads Name in diesem Zusammenhang dann nur selten noch genanntwird;vgl. ebd.,S.145–148. Offenbar hat hier eine Abkopplung vonpositiv bewerteter Person und negativ aufgefasster Politik stattgefunden. Diese hier gut sichtbare, zumeist aberunter- schwellige Dichotomie erklärt vielleicht, warum die Zeit Konrads zwar in allen Darstellungen einen prominenten Raum einnimmt, Konrads Name dabeiabernur selten genanntwird, da man angesichts eines friedliebenden Hochmeisters, der eine expansive Politik durchsetzt, in Erklärungsnöte gekommenwäre;vgl.vor allem Boockmann,Orden,und Biskup/Labuda, Geschichte, sowieferner die anderen unten genannten Überblicksdarstellungen. BeiTum- ler,Orden,S.357, wurdenbeide Aspekte nebeneinander gestellt, ohne jedochdie Dicho- tomie aufzulösen. Krollmann,Geschichte, S. 85, verweist hingegen als Einziger explizit auf dieses Spannungsverhältnis. 16 Der Anspruch, eine Biographie zu schreiben, wurdeinsehr unterschiedlichem Ausmaße erhoben und eingelöst:Lückerath,Rusdorf; Nöbel,Küchmeister;Nieß,Trier; Muraw- ski,Tannenberg;Helms,Braunschweig. 17 Obwohl seine Regierungszeit als Blütezeit oder Höhepunkt der Ordensgeschichte einge- schätzt wurde,wurde Konradvon Jungingen selbst auch häufiger erstaunlicherweisenicht unter die großen Hochmeistergerechnet. So fehlt er bei Maschke,Ordensstaat,und bei Gouguenheim,Chevaliers, S. 325–330. Zwar reihtSchumacher,Geschichte, S. 49, Konrad unter die großen Hochmeister ein, widmet ihm aber keine zusammenhängende Darstellung. Lückerath,Konrad, S. 92, erwägt als Gründe fürdie Vernachlässigung Konrads den »langen Schatten«der herausragenden Hochmeisterpersönlichkeiten des 14. Jahrhunderts und eine unterschwelligeKontaminierung des Namens Jungingen durch seinen Bruder. 18 So zum Beispiel in dem klassischen Überblickswerk vonBoockmann,Orden. In jüngster Zeit sind zahlreiche Gesamtdarstellungen und Handbücher erschienen:Sarnowsky,Orden; Militzer,Geschichte;Gouguenheim,Chevaliers;Biskup/Czaja,Pan´stwo;Toomaspoeg, Histoire. An älteren, weiterhin nützlichen Überblicksdarstellungen seien genannt: Kroll- mann,Geschichte;Tumler,Orden;Biskup/Labuda,Geschichte;Boockmann,Ostpreu- ßen;Lohmeyer,Westpreussen;Górski,Ordine.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Das Ordensland Preußen um 1400 und die Außenpolitik Konrads 17

Mehrerer Aufrufe zur intensiven Beschäftigung mit diesem Hochmeisterzum Trotz19 wurden in der jüngsten Zeit höchstens kürzerebiographische Abrisse vorgelegt.20 Man bleibt daher aufden sechsten Band der monumentalen Geschichte Preußens vonJohannes Voigtaus dem Jahre 1834 angewiesen,21 in dem die Zeit und die Person Hochmeister Konrads vonJungingen letztmalig monographisch gewürdigtwurde. Dieses Werk, das den Anfang der modernen Geschichtsfor- schung des Ordenslandes Preußen bezeichnet, ist aufgrund seines Detailreich- tums und der Masse an genutzten Quellen weiterhin eine Fundgrubeersten Ranges, doch kann es heutigen Ansprüchen nichtmehr genügen.22 Fürdie Außenpolitik des Deutschen Ordens im Allgemeinen und die Konrads im Spe- ziellen gilt Ähnliches:Zwar haben schon Klaus Neitmann und jüngst Adam Szweda die Diplomatie des Ordens zum Gegenstand ihrer Arbeiten gemacht, doch konzentrierten sie sich vorrangig aufdie formalen Aspekte der auswärti- gen Beziehungen, d.h. aufihre Organisationund Techniken.23 Ansonsten lässt sich feststellen, dass die inhaltlicheDimension der Außenpolitik des Ordens unter Konrad vonJungingen bislang entweder nursehr global in Überblicks- darstellungen resümiertoder detaillierter allein füreinzelne Bereiche, dann aber jeweils isoliert, in den Fokus gerückt wurde.24 Der Zusammenhang der ver- schiedenen Felder der Außenpolitik, d.h. also ihr Gesamtgefüge und die ggf. dahinter liegenden Konzeptionen spielten darin dann naturgemäß keine Rolle. Es muss daher konstatiertwerden, dass eine übergreifendesystematisch-ana- lytische Untersuchung zur Außenpolitik Konrads vonJungingen bisher fehlt. Da die auswärtigen Beziehungen des Deutschen Ordens um 1400 trotz oder vielleichtgerade wegen des Mangelseiner übergreifenden Studie vielfach zum Kulminationspunkt füreine äußerst positiveBewertung dieser Zeit genommen wurden, ist es schon allein ausdiesem Grund notwendig,die Außenpolitik Konrads vonJungingen in den Blick zu nehmen. Nebendieser Bedeutung per se

19 Lückerath,Konrad;Jähnig,Deutschordensstaat,S.54, Anm. 19. 20 An kürzerenbiographischen Skizzen herrschtkein Mangel:Jähnig,Konrad (1998/2014); Jähnig,Konrad (2009);Jähnig,Konrad(1980);Lückerath,Konrad;Krollmann,Von Jungingen;Lohmeyer,Jungingen;Bumiller,Konrad;Wulfmeier,Konrad;Eisele, Herren;Schreiber,Amtsdaten;populärwissenschaftlich und einzig fürdas Bild von Konrad vonJungingen vonInteresse:Bärtle,Konrad; Bink,Krieg. 21 Voigt,Geschichte, 6. 22 Zu Johannes Voigtals Historiker s. Maschke,Voigt. 23 Szweda,Organizacja;Neitmann,Staatsverträge ›beschränkte‹ sich dazu aufdie Staats- verträge des Deutschen Ordens. Ein aktualisiertes Konzentrat dieser Überlegungen mit der Ankündigung einer neueren Monographie zu den Friedensverträgen zwischen dem Deut- schen Orden und Litauen findet sich in Neitmann,Vom »ewigen Frieden«, insbesondere S. 201, Anm. 1. AusgewählteProbleme der Diplomatie im oben angesprochenenSinne zwischen 1409 und 1411 beiSzweda,Polen. 24 Die Literatur wird zu Beginn der entsprechenden Kapitel gegeben.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 18 Einleitung gibt es aber auch noch zwei chronologisch überdie Amtszeit Konrads hinaus- reichendeAspekte, die eine Beschäftigung mit seiner Zeit und insbesondere seiner Außenpolitik provozieren und lohnend erscheinen lassen. a) Muss man, wieebenhinreichend gezeigt, eine äußerst günstige Bewertung der Hochmeisterschaftund Persönlichkeit Konrads erkennen, kommtman nicht umhin, einen bemerkenswerten Kontrast im gängigen Bild der Gesamtein- schätzung und Periodisierung der Geschichte Preußens zu konstatieren:Auf der hellen Seite findet sich dannzunächst die »Blütezeit« unter Konrad vonJun- gingen, die sich starkvon der dunklen Seite des Bildes abhebt, die die Vorstel- lung des durch die 1410 erlittene Niederlage des Deutschordensheeres bei Tannenberg eingeleitetenunaufhaltsamen Niedergangs des Deutschen Ordens zum Motivhat.25 Auffällig ist die extreme Stärkedes Kontrasts, die beider Gegenüberstellung dieser Bewertungen vonzweidirekt benachbarten Zeitab- schnittender Geschichte Preußens entsteht:26 Demnach liegen also der Höhe- punkt der Machtstellung –wennman wieErich Weise das Jahr 1398 als Climax annimmt –und der Ausgangspunkt des Niedergangs in Gestaltder Niederlage beiTannenberg 1410 nurca. zwölf Jahre auseinander.Nichtselten wurde dazu eine Auffassungvertreten, die die Niederlage vorallem an der Person und in der Persönlichkeit Ulrichs vonJungingen festmacht, der in diesem Erklärungs- muster durch seine »Hitzköpfigkeit« die Machtposition des Ordens leichtfertig aufs Spiel gesetzt und verloren habe. Überhaupt wurde Ulrich vonJungingen mitsamt seiner Politik überwiegend negativ bewertet.27 Man muss alsoauch in der Gegenüberstellung der beiden Hochmeister Konrad und Ulrich vonJun- gingen einen überaus starken Kontrast feststellen, der in einer derartausge- prägten Form kaum der historischen Wirklichkeit entsprechen dürfte.28 Zwei Gesichtspunkte dieses sich ausden verschiedenenVorstellungen zu- sammensetzenden Gesamtbilds sind fürdas weitere Vorgehen vonBedeutung. Zum einen scheintdie Einschätzung der Zeit und insbesondereder Persön- lichkeit Konrads vonJungingen vielfach weniger aussich selbst heraus, sondern nichtzuletzt in Abgrenzung zur nachfolgenden Zeit und zur Politik und Per- sönlichkeit seines Nachfolgers betrieben worden zu sein.29 Offenbar hat der

25 Diese Auffassung ist nichtmehr undiskutiert, muss aber im Wesentlichen als herrschende Meinung bezeichnet werden; vgl. Ekdahl,Schlacht, S. 1, sowievor kurzem ders., Tan- nenberg, S. 895. 26 Vgl. als ein Beispiel unter vielen SDOP, S. 2. 27 Zur Bewertung Ulrichsvon Jungingen s. als ersten Zugriff:Gouguenheim,Ulrich, S. 944, und Ekdahl,Ulrich, S. 114 (dortauch die weiterführende Literatur). 28 Danebenhat Jähnig,Konrad (1998/2014), S. 104, darauf hingewiesen, dass das positiveBild Konradsvon Jungingen auch in Abgrenzungzur negativen Kontrastfolie Konrads von WallenrodeimAnschluss an die Visionen Dorotheas vonMontauentstanden ist, um deren Heiligsprechung sich Konrad vonJungingen bemüht hat. 29 Vgl. Baczko,Geschichte, S. 295–296, S. 299,und Caro,Polens, S. 266–267, der daneben

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Das Ordensland Preußen um 1400 und die Außenpolitik Konrads 19 direkte Vergleich zwischen beiden Hochmeistern–ein solcher lag nahe, waren beide darüberhinaus auch noch Brüder – überraschenderweise nichtdazuge- führt, dass man beiden Protagonisten in ihren Zeitumständen jeweils gerecht wurde. Vielmehr stand am Ende ein jeweils in die Extreme tendierendes Bild von Konrad und vonUlrich vonJungingen. Eine Analyse, beider Konrad und seine Außenpolitik allein fürsich und eben nichtinAbgrenzung zu Ulrich vonJun- gingen betrachtet wird, bietetdaher die Chance, der Schwarz-Weiß-Malerei zu entgehen und ein angemesseneresBild zu zeichnen. Zum anderen wird der Blick durch solch scharfe Kontrasteauf die zugrunde liegenden Strukturen gelenkt. Es kann an dieser Stelle, an der Konrad von Jungingen im Mittelpunkt stehen soll, zwar nichterörtertwerden, inwiefernnun nurknapp drei Jahre nach dem Tode Konrads ein völliger Umschwung voneiner »Blütezeit« zu einem unaufhaltsamen Niedergang stattgefunden hat bzw.haben kann. Die Reduzierung der historischen Erklärung aufein einzelnesEreignis oder rein die Persönlichkeit einer Herrscherfigur dürfte man jedoch als nicht mehr der modernen Forschung angemessen betrachten können.30 Das wurde auch schon in Einzelfällen knapp angemerkt, wenn darauf hingewiesen wurde, dass die tieferen Ursachen für1410 und dessen Folgen bereits in der Zeit Kon- rads vonJungingen zu findenseien. Kurt Forstreuter skizzierte diese Auffassung in aller Kürze:

»Die tieferen Ursachen fürdas Unheil von1410 liegen also nichtinden Fehlern der kurzen Regierung Ulrichs vonJungingen (1407–1410),sondern bereits in der Amtszeit seines Bruders Konrad (1393–1407), der zwar mit Geschick und Glück dem Deutschen Orden großeErfolge und dem Ordensstaat die größte Ausdehnung errang,aberdamit ungeheure Angriffsflächen und Belastungen schuf, die aufdie Dauer nichtzutragen waren.«31 Die punktuelle Bewertung der größten territorialen Expansion um 1400 als ein Beweis fürdie größte Machstellung und damit der Blütezeit wird damit infrage gestellt und der Blick aufdie strukturellen Konsequenzen,die sich ausder Ausdehnung fürdie Ordensherrschaftergaben, gerichtet. Diese These muss jedoch als Mindermeinung angesehen werden,32 die zudem nur knapp entwor- fen, aber nie weiter als eben dargelegt ausgeführtwurde.33 Eine detaillierte Re-

auch Konrad vonWallenrodeals kriegerisches und tatkräftiges Gegenbild zu Konradvon Jungingen aufstellt; ebd.,S.246–247. 30 Das hat hinsichtlich der Schlachtbei Tannenberg unlängst Jähnig,Deutschordensstaat, S. 47, angedeutet. 31 Forstreuter,Deutschland, S. 12–13. 32 NurHousley,Later Crusades, S. 355–356, hat in eine ähnliche Richtung abgezielt, indem er die Belastungen konkretisiertund insbesondereauf die immensen Kosten der territorialen militärischen Erfolge und ihreFolgen hingewiesen hat,die so den Boden fürdie Probleme der Nachfolger bereitet hätten. 33 Zwar hat auch schonBaczko,Geschichte, S. 281 und S. 285, im Jahre 1793 Konrad von

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 20 Einleitung konstruktionder Außenpolitik Konrads ist daher hinsichtlich der sich in ihr offenbarenden oder durch sie geschaffenen Strukturen sowohl fürdie ange- messene Bewertung der Zeit Konrads selbst als auch als Vorarbeit fürdie Un- tersuchung der Ursachen der NiederlageimJahr1410, das weiterhin ein erklä- rungsbedürftiges Zentraldatum der Geschichte des Ordenslandes Preußen bleibt,34 vongroßer Bedeutung. b) Schließlich fällt auch beieiner chronologisch rückwärtig gerichteten übergreifenden Betrachtung der Geschichte des Ordenslandes Preußen ein ir- ritierendes Spannungsverhältnisauf. Die Ära des Hochmeisters Winrich von Kniprode (1352–1382) wird mindestensebenso regelmäßig als »Blütezeit« oder »goldenes Zeitalter« bezeichnet und stehtdarin in Konkurrenz zur Epoche Konrads.35 Stehen diese Einschätzungen zwar in der Regel –wenn denn über- haupt –unverbunden nebeneinander,drängtsich beider weiteren Perspektive doch unweigerlich die Frage auf, wiediese Auffassungen in Beziehung gesetzt werden können. Beieiner –jedoch schon biologisch fragwürdigen –Nutzung der Blütenmetapher müsste dannz.B.in»Hochblüte« und »Spätblüte« o. ä. unterschieden werden. Ganz abgesehen vonden theoretischen Einwänden bliebe der konkrete Erkenntniswertjedoch gering.36

Jungingen die Verantwortung fürden Krieg mit Polen und die Niederlage bei Tannenberg zugeschrieben, doch sah er,imGegensatz zu Kurt Forstreuter,keine vondiesem verant- worteten Strukturprobleme.Auch hier findet sich eine Reduktionder Erklärung aufdie Persönlichkeit eines Protagonisten,wenn BaczkoKonrad vorwirft, aufgrund seiner Fried- fertigkeit einmalige Gelegenheiten, Polen und Litauen niederzuwerfen, ungenutzt gelassen zu haben, wodurch es letztlich erst zu Tannenberg gekommensei. AufS.294 heißtesebd. zusammenfassend:»Hätte ein einsichtsvoller kriegerischer Hochmeister an der Spitze des damals so mächtigen Ordens, dem es weder an Geld, noch an irgendeinem Bedürfnisse zum Kriege fehlte, diese nachtheiligen Verhältnisse Vitolds und Jagellosgenutzt:dann hätte sicher eine Schlachtbey Tannenberg,mit allen ihren traurigen Folgen, niemals Statt gehabt.« In einem nachgiebigen Verhalten Konrads gegenüber Polen erkannteereinen wesentlichen Grund fürdie spätere Niederlage,dadurch diese der Frieden nichtbefestigt, sondernder Krieg herbeigezogenworden sei; ebd.,S.295. Auch diese Erklärung kann ausden oben genannten Gründen nichtbefriedigen. Es kommt hinzu, dass sie Konrads Handlungsweise eher am Maßstab und am Vorgehen der Politik ihrer eigenen Zeit messen dürfte und damit nichtder Zeit um 1400 gerecht wird. 34 Boockmann,Ostpreußen, S. 184;vgl.Czacharowski,Tannenberg,bes. S. 59, der einige Anregungen zur Klärung dieser Frage gegeben hat,die aber letztlich nicht überzeugen können. 35 Seit dem 15. Jahrhundertgilt seine Regierungszeit als Blütezeit;Conrad,Winrich, S. 84;s. Jähnig,Deutschordensstaat, S. 46 und S. 60;Gouguenheim,Chevaliers, S. 325;Sar- nowsky,Winrich, S. 1283; ders.,Winrich, S. 974; ders.,Orden,S.50–51, lässt das goldene Zeitalter 1386 mit der polnisch-litauischen Unionenden. Winrich vonKniprode wurde im GegensatzzuKonrad vonMaschke,Ordensstaat,unter die großen Hochmeister gerechnet. Eine ausführliche Studie fehltjedochauch hier. 36 Hinsichtlich des Begriffs »Blütezeit« hat Militzer,Geschichte, S. 95, jüngst zu Rechtnoch einmal in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Übertragungbiologischer Perspektiven aufhistorische Vorgänge fälschlicherweise voraussetzt, dass eine Korporation

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Das Ordensland Preußen um 1400 und die Außenpolitik Konrads 21

Ähnlichesgilt auch fürden weiterhin an das Konzept der »Blütezeit« an- knüpfenden, in seinem Ergebnis aber etwas anders gelagerten Vorschlag der Einordnung,inwelchem die gesamteZeit der sechs Hochmeiservon Werner von Orseln, überLuther vonBraunschweig,Dietrich vonAltenburg,Ludolf König, Heinrich Dusemer zu Winrich vonKniprode (1342–1382) als Blütezeit be- trachtet wird.37 Die dortzufindende Feststellung BernhartJähnigs, dass sich für die innereEntwicklung Preußens vonWinrich vonKniprodebis zu Ulrich von Jungingen (1407–1410) kein Einschnitt erkennen lasse, der als Ende einer »Blütezeit« bezeichnet werden könne,38 zeigt, dass diese Überlegungen insge- samt eher vorläufigen Charakter haben.39 Aufgrund der nur beiläufigen Er- wähnung Konrads als eines »sicher auch großen Hochmeisters«40 in einer An- merkung können auch ausdiesem Ansatz keine weiterführenden Erkenntnisse fürdie Einordnung dieser Epochen gezogen werden. Insgesamt ist bemer- kenswert, dass die Feststellung der verschiedenen sich strictusensuausschlie- ßenden »Blütezeiten« bislang nichtzueiner Diskussion geführthat. Es wäre denkbar,dass der schon theoretisch schwierige Begriff»Blütezeit« dabei in seiner praktischen Anwendung in diesem Falle offenbar eine angemessene Einordnung bzw.ihre Diskussionzumindest nichtbegünstigt, sondernvielleicht sogar vielmehr behinderthat. Offenbar war die Blütenmetapher mehr als ab- schließende Erklärung denn als erste Einordnung schnell zur Hand, sodass daraufhin dieNotwendigkeiteiner inhaltlichen Prüfungmit einem systema- tischen Vergleich übersehen werden konnte. Allerdingsmuss vorallem ein Mangel an Spezialuntersuchungenzuden meisten der in Betrachtzuziehenden Hochmeister und ihrer Zeit konstatiertwerden, die als Vorbedingung füreinen übergreifenden Vergleich unverzichtbar sind. Insgesamtkann der Stand der Überlegungen nichtbefriedigen. Weder wur- den die Außenpolitik Preußens um 1400 oder Konrad vonJungingen als

wieder Deutsche Orden einem biologischen Prozessunterliege. Sind die Erkenntnismög- lichkeiten ausder Anwendungdes Begriffs »Blütezeit« also schonaus theoretischen Gründen zu bezweifeln, da das Bild schief ist, zeigensich in diesem Fall auch die konkreten Probleme beispielhaft, die das Operieren mitdieser Metapherbei derEinordnung derunter- schiedlichenZeiträume zur Folgehat. 37 Vgl. Jähnig,Deutschordensstaat,S.46: »Zeitraumder Blüte«, S. 60:»Blütezeit«. 38 Ebd., S. 47. 39 Abschließend wird dann doch wieder Winrichs Zeit als der eigentliche Höhepunkt her- ausgestellt(ebd., S. 61) mit der kurz darauf folgenden Einschränkung, dass es schwer zu entscheiden sei, ob er mehr Verdienste als seine Vorgänger habe; ebd.S.62. Nichtzuletzt diese mäandernde Einschätzung sowiedie Diskussiondes Beginns und des Endes dieser Blütezeit, die einige ausgewählte mögliche Argumente fürdie Abgrenzung abwägt und letztlich auspragmatischen Gründen die Jahre 1324 und 1382 nichtals »echte Grenzjahre«, sondernals »Orientierungspunkte fürdie historische Untersuchung« wählt (vgl. ebd.,S. 46– 48;Zitate aufS.48), zeigt, dass hier eher der Ausgangspunkt weiterer Überlegungenzu finden ist. 40 Ebd., S. 54, Anm. 19.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 22 Einleitung

Hochmeister bislang monographisch behandelt noch haben die vielen und zum Teil widersprüchlichen Vorstellungen und Bewertungen zu seiner Person und Außenpolitik anderweitig eine verstärkte Diskussion erfahren. Ist ihreUnter- suchung aufgrund des Forschungsstandes also schon allein daher als Desiderat aufzufassen, erwächst ihr eine übergeordnete Bedeutung als Vorarbeit füreine konsistente Einordnung dieser Zeit in die Gesamtgeschichte des Ordenslandes Preußen.

1.2 Vorüberlegungund Eingrenzung des Themas

Daher soll im Folgenden die Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hoch- meister Konrad vonJungingen im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Im gewählten Thema deuten sich einige Eingrenzungenhinsichtlich des Untersu- chungszeitraums, der Methodik und des Inhalts schon an, die notwendig sind, bevor die konkreten Fragestellungen formuliertwerden können. So muss zu- nächst nach der Stellung des Hochmeisters in der Ordenskorporation gefragt werden.

1.2.1 Vorüberlegung:Die Stellung des Hochmeisters in der Ordenskorporation

Wenn hier die Außenpolitik Konrads vonJungingen in den Mittelpunkt gestellt werden soll, fällt im Gegensatz dazu auf, dass in den meisten Studien zur Politik des Deutschen Ordens vonden Menschen, die die Entscheidungen getroffen haben, abstrahiertwird. Die Hochmeister werden selten explizit als Träger der Politik dargestellt. Dies ist besonders offensichtlich beiKonrad vonJungingen, der zuweilen beider Untersuchung seiner Amtszeit nichteinmal namentlich genanntwird,41 wohingegen der Orden an sich meist als handelndes Subjekt verstanden wird. Das mag damit zusammenhängen, dass die Hochmeisterzwar häufig weniger als handelnde Persönlichkeiten in Erscheinung getreten sind, wohl aber die Handlungen und Entwicklungen in einer im Einzelnen schwer bestimmbaren Weise gestaltet haben, wieBernhart Jähnig fürdie Zeit Werners vonOrseln bis Winrichs vonKniprode betont hat.42 Peter GerritThielen hat jedoch darauf hingewiesen, dass sich mit der Wende des 14. Jahrhunderts die Meister ausder Anonymitätzulösen begannen.43 Die breite Quellenlagefür

41 Vgl. Boockmann,Orden. 42 Vgl. Jähnig,Deutschordensstaat,S.60; vgl. auch Thielen,Verwaltung,S.31–32. 43 Ebd., S. 32–33.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas 23

Konrad vonJungingen belegtdies eindrücklich. Es stellt sich angesichts dieser Befunde die Frage, inwieweit man überhaupt voneiner Außenpolitik Konrads vonJungingen sprechen kann?Oder muss nichtdochangesichts des Korpora- tionscharakters richtigerweise vonder Außenpolitik des Deutschen Ordens gesprochen werden? De iure war der Deutsche Orden der Souveränvon Preußen.44 Der Hoch- meister hatte nach den Statuten45 beialltäglichen Angelegenheiten zwar freie Entscheidungsmöglichkeiten, war jedoch beiwichtigen Entscheidungen an den Rat der Mitgebietiger und beibesonders gravierenden Problemen an die Zu- stimmungdes Ordenskapitels gebunden, wovon er sich auch nie freimachen konnte.46 Der Hochmeister sollte das Ordensoberhaupt sein und Kraftseiner Amtsautoritätmit dem Rat der Ordensbrüder handeln. Er stand an der Spitze der Ämterhierarchie, war aber kein unumschränkter und absoluter Herrscher, sondern angehalten, Rateinzuholen –inder Regel beiden Großgebietigern– und zu befolgen. »Der Hochmeister führte die Geschäftedes Ordens und re- präsentierte ihn, blieb aber trotz aller Kompetenzen in die Korporation einge- bunden und ein Teil vonihr.«47 Auch de facto lassen sich schon aufden ersten Blick in der diplomatischen Praxis Belegefüreine solche Stellung des Hoch- meisters finden. Insbesondere in der hochmeisterlichen Korrespondenz er- scheintKonrad vonJungingen als Entscheider,wobei auch nichtselten vonder Teilhabeder Gebietiger an der Entscheidungsfindung die Rede ist. Gouguen- heim hat die wohl zu pointierte These aufgestellt,dass sich die Entwicklung im Laufe der Zeiten(mit einem Höhepunkt unter Winrich vonKniprode) in Richtung »pouvoir personel« verschobenhabeund der Hochmeisterletztlich mit einem Monarchen verglichen werden könne.48 Es scheintdaher weder aufgrund der normativen Stellung des Hochmeisters noch de facto ein Problemzusein, zunächst die Formulierungen »Außenpolitik des Deutschen Ordens« und »Außenpolitik Konrads vonJungingen« synonym zu gebrauchen –zumindest solange nicht, wiesich keine Anhaltspunkte auf- drängen füreinen Dissens zwischen Hochmeister und Gebietiger bzw.der Or- densbrüder.Eswird jedoch im Folgenden darauf zu achten sein, ob sich die in den Normen vorgesehene Stellung des Hochmeisters auch so in der Praxis wi- derspiegelt bzw.woggf.Abweichungen zu sehen sind. Es ist jedoch nichtun- wahrscheinlich, dass hier die Quellenlagedie Grenze der Erkenntnis bestimmt, dürften doch viele solcher Beratungen der Sphäre der Mündlichkeit zuzuordnen sein, ohne dass sich allzu häufig eine schriftliche Reflektion davonerhalten hat.

44 Gouguenheim, Ordensstaat,S.662. 45 Das folgende nach Militzer,Akkon, S. 136–137 und S. 143. 46 Gouguenheim, Ordensstaat,S.662. 47 Militzer,Akkon, S. 144. 48 Gouguenheim, Ordensstaat,S.662.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 24 Einleitung

So ist zu vermuten, dass manmit der im Titel gebrauchten Formulierung vonder Außenpolitik des Deutschen Ordens unter Hochmeister Konrad vonJungingen zumindest der erkennbaren Praxis am nächsten kommen dürfte.

1.2.2 Der zeitliche Rahmen

Zeitlich beschränken sich die folgenden außenpolitischen Analysen aufdie Regierungsjahre Konrads als Hochmeister (30. November 1393 bis zum 30. März 1407), einer immerhin knapp 14 Jahrelang währenden und an Quellen reichen Zeit. Lebenund Karrierevor seiner Wahl können in einem Exkurs knapp zusammengefasst werden (s.u.);den entsprechenden sachthematischen Kapi- teln wird jeweils ein kurzer historischer Rückblick vorangestellt. Mit dem Tod Konrads, um dessen Außenpolitik es sich hier ausschließlich drehen soll, enden naturgegeben jeweils die eingehenden Betrachtungen;eserfolgteinzig ein knapper historischer Ausblick.49

1.2.3 Methodisch-theoretische Anknüpfungspunkte und Begriffsdefinitionen

1.2.3.1 Hochmeisterbiographie vs. ModernePolitikgeschichte Methodisch ist vonvorneherein kein Anschluss an die klassischen »Hoch- meisterbiographien« bzw.deren Anspruch beabsichtigt.Das liegtanverschie- denen, hier nurknapp skizzierten Gründen, die nichtzuletzt mit den Problemen dieser Gattung zusammenhängen, wiesie sich zu einem Teil auch in den bisher vorgelegten Studien offenbart haben. Je nach Fall ist der biographische Zugriff in sehr unterschiedlichem Maßeangekündigtbzw.dann auch wirklichumgesetzt worden. So handelteessich beispielsweisebei den Arbeiten vonWilhelm Nöbel und Carl August Lückerath50 doch –dem eigenen Anspruch entgegen –letztlich vor allem um eine Darstellung der Geschichte des Deutschen Ordens unter den entsprechenden Hochmeistern.51

49 In der Zeit direkt nach dem Tode eines Hochmeisters vermieden es die Hochmeisterstatt- halterund die anderen Gebietiger zudem auch, durch irgendwelche Entscheidungen dem neuen Hochmeister vorzugreifen. Auch die Lösung drängenderer (außenpolitischer) Fragen wurde dann bis zur Wahl vertagt. Eindrücklich belegtdas die Korrespondenzwährend der Vakanzen nach dem TodKonradsZöllner vonRotenstein und Konrads vonWallenrode;vgl. RBDO. 50 Nöbel,Küchmeister;Lückerath,Rusdorf. 51 Darauf wurde schonzuRechtvon Helms,Braunschweig, S. 1, hingewiesen. Eine vertiefte theoretische Diskussion überAnspruch und Wirklichkeit sowieMöglichkeiten und vor allem Grenzen vonsog.Hochmeisterbiographien stehtjedochnoch aus.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas 25

Beieiner regelrechten Biographie müsste jedoch vor allem die Erfassung der Persönlichkeit und der menschlichen IndividualitätimMittelpunkt der Bemü- hungen stehen,52 mit der nichtzuletzt dann auch die Handlungen der Protago- nisten erklärt werden sollten. Gerade in diesem konkreten Fall wird die Per- sönlichkeit Konrads jedoch wenig vonzeitgenössischenQuellen thematisiert53 –ein Schicksal, das er mit den meisten mittelalterlichen Menschen teilt –,54 sondern bestenfalls reflektiert. Die später ex eventu geschriebenen Quellen kann man hingegen kaum guten Gewissens als Schlüssel zur Erklärung der politischen Handlungen nutzen, will man die Gefahr eines Zirkelschlusses vermeiden –sieht man einmal generell vonder vielfach fragwürdigen Zuverlässigkeit der späteren Quellen ab.Die Persönlichkeit Konrads müsste daher aufgrund der Quellenlage genauumgekehrterst ausseinen konkreten Handlungen abgeleitet werden,55 sodass in jedem Fall eine Rekonstruktion seiner politischen Handlungen und der sich darin spiegelnden Absichten vor dem Versuch einer Biographie stehen müssen. Darüberhinaus müsste beieiner Biographie auch die Innenpolitik eine wesentliche Rolle spielen, was aufgrund seiner langen Regierungszeit und dem vor allem auch fürdiesen Bereich vorliegendenQuellenreichtum in angemes- sener Tiefe nichtzusätzlich zu bewältigen wäre. U. a. auch ausdiesen Gründen soll an dieser Stelle die Analyse der Außenpolitik des DeutschenOrdens unter Konrad vonJungingen ins Auge gefasst und nichtder beim jetzigen Stand der Forschung ohnehin nichteinlösbareAnspruch einer biographisch angelegten Darstellung erhoben werden. Es ist jedoch zu erwarten, dass sich nach der Analyse der Außenpolitik am Ende erste Thesen in Hinblick aufdie Persön- lichkeit Konrads formulieren ließen, die dann als Ausgangspunkt füreine bio- graphische Abhandlung dienen könnten. Davonmuss aber hier Abstand ge- nommen werden. Die Analyse schließtsich vielmehr allgemein-methodisch an eine Politikge- schichte56 »in moderner Sicht«57 an und orientiertsich im Speziellen an den in

52 Zu den Problemen und Möglichkeiten der Erfassung menschlicherIndividualität (früh-)mittelalterlicher Menschen s. die Fallstudie vonTellenbach,Charakter,zuHeinrich IV.und insbesonderedie allgemeinen, theoretischen Überlegungen, die ebd., S. 345–346, angestellt werden. 53 Das gilt nichtnur fürKonrad vonJungingen, was Gouguenheim,Chevaliers, S. 330, betont hat:»Àla diffØrence des souverainseuropØens, l’individualitØ de ces grands maîtres, leur vie intØrieure, ne sont pas livrØes par les sources.« 54 Vgl. Tellenbach,Charakter, S. 346, in Hinblickauf das Frühmittelalter. 55 Vgl. insbesondereTellenbach in anderem Zusammenhang, aberunter gleichen Vorausset- zungen, ebd., S. 345 und S. 363–364. 56 Zur knappen Einführung in die Politikgeschichte als Konzeption der Geschichtswissenschaft dienlich sind Borowsky/Nicolaysen,Politische Geschichte, sowieferner Schlögl,Poli- tik- und Verfassungsgeschichte;Wirsching,Internationale Beziehungen, und Frevert, Neue Politikgeschichte (2002) (hier auch eine Vorstellung der neuesten Modernisierungs- ansätze der Politikgeschichte), überdie die ältereLiteratur erschlossen werdenkann. Die

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 26 Einleitung jüngerer Zeit entstandenenStudien zu verschiedensten Beispielen mittelalter- licher Außenpolitik (s.u.). Das bedeutet zunächst, dass hier selbstverständlich nichtdie bis zum 2. Weltkrieg in Deutschland dominierende Vorstellung zu- grunde gelegtwird, dass politische Geschichte die »eigentliche Geschichte«58 sei. Vielmehrwird sie als eine seit 1945 –zumindest explizit –eher weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende Perspektive oder Konzeption betrach- tet,59 die hier jedoch als die zur Analyse der im Forschungsstand exponierten Spannungsverhältnisse und Dichotomien erfolgversprechendste gewählt wurde.

tiefreichende theoretische Diskussionumdie Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen von traditioneller und moderner Politikgeschichte kann hier weder nachgezeichnet noch gar fortgeführtwerden;als konziser Zwischenstand zur Diskussion über moderne Politikge- schichte vs. Gesellschaftsgeschichte bzw.Hillgruber(und Hildebrand) vs. Wehler s. Conze, »Moderne Politikgeschichte«; neuereReflexionen zum Thema in den Sammelbänden von Kraus/Nicklas,Geschichte (hier insbesondere dies., Einleitung, wo eine vermittelnde Position vorgetragen wird);Frevert,Neue Politikgeschichte (2005);Loth/Osterhammel, Internationale Geschichte;zum Stand der französischen Diskussions.Berg,Einleitung, S. 13;Soutou,Schule. Es kann daher im Folgenden nurumeine knappeVerortung des eigenen Ausgangspunktes gehen. Das gilt umso mehr,dadie theoretischen Überlegungen dieser Diskussioninder Regel aufGrundlage und hinsichtlich vonFragestellungen ausder neuzeitlichen Geschichte angestelltwurden. Der Bereichder mittelalterlichen Geschichte mit seiner doch sehr unterschiedlichen Ausgangslage hat in den Erwägungen in der Regel kaum eine Rolle gespielt. Im Rahmen der Geschichte vonden internationalen Beziehungen wurde er häufiger aufgrund des Fehlens vonNationen im Mittelalter sogar explizit ausgeschlossen; vgl. Wirsching,Internationale Beziehungen, S. 112. Dieses Vorgehen befriedigtallerdings nicht, da es zwar keine modernen Nationen gegeben hat und somit im Wortsinne auch keine internationalen Beziehungen, man jedoch nichtumhin kann, ›interherrschaftliche‹ Bezie- hungen o. ä.zuerkennen.(vonThiessen/Windler,Einleitung,S.5,sprechensich fürden neutralen Begriff »Außenbeziehungen« in Bezug aufvornationalstaatliche Zeiten aus.) Im Überblickswerk vonKnutsen,History, S. 11–12, zu den internationalen Beziehungen ist hingegen auch das Mittelalter abgedeckt und bietet bedenkenswerte Anknüpfungspunkte fürweitere Überlegungen. Insbesondere die konsequente Unterscheidung zwischen »his- toric tradition« und »analytical tradition«der internationalen Beziehungen, worunter die praktische Durchführung bzw.die theoretischen Konzeptionierungen verstanden werden, dürfte zur Vermeidung vonMissverständnissen nützlich sein –insbesondere beider Analyse vonZeiten ohne moderne Staatlichkeit und Souveränität. Auch Ganshof hat die ebenex- ponierte, wohl eher wortdefinitorische denn die historischen Ausprägungen betreffende Problematik dann auch nichtdavon abgehalten, das bislang einzige Überblickswerk zu diesem Thema unter dem Titel Le Moyen ffge als ersten Band einer Reihe zur »Histoiredes relationsinternationales« vorzulegen, die vonRenouvinherausgegeben wurde. FürFrank- reich s. Autrand/Contamine,Naissance. Die wegweisenden theoretischen Darlegungen zu den »relations internationales« vonRenouvin/Duroselle,Introduction, bzw.Duroselle, Empire, beziehen sich jedochauch wieder (fast) ausschließlich aufdie Moderne und müssten einmal aufdie Bedingungen und Ausprägungen des Mittelalters übertragen werden, um mehr als nurallgemeine Orientierung bieten zu können. Das gilt auch fürDiNolfo,Lezione. 57 So die Formulierung des umstrittenen und viel diskutierten, jedochden Ansatz gut darle- genden Aufsatzes vonHillgruber,Politische Geschichte. Zu Hillgrubers Ansatz vgl. auch die historische Einordnung vonSchörn-Schütte,Politikforschung, S. 36 und S. 39–42. 58 So Borowsky/Nicolaysen,Politische Geschichte, S. 527–528. 59 Diesen Befund stützt auch Frevert,Neue Politikgeschichte:Konzepte, S. 7, (wohl vorallem

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas 27

Sie muss dabei an die klassische Herangehensweise anknüpfen, die politi- schen Prozesse aufder Ebene »staatlicher Organe (…) und (…) die Zielvor- stellungen und Entscheidungen leitender Staatsmänner«60 zu konzentrieren, da dies aufgrund der Verfasstheit der Deutschordensherrschaft, der überkomme- nen Hauptquellengrundlage in Form der hochmeisterlichenKorrespondenzund eben nichtzuletzt der gewählten Fragestellungen auch kaum anders möglich und sinnvoll ist. Es ist dabei jedoch selbstverständlich vonbesonderem Interesse, inwiefernbestimmte Gesellschaftsgruppen61 direkten oder indirekten Einfluss aufdie Außenpolitik des Deutschen Ordens nehmen konnten und genommen haben. Insbesondereandie Expedition nach Gotland und den Einfluss der preußischen Stände aufgrund ihrer ökonomischen Interessen sei hier gedacht. Dass Konrad vonJungingen und die Gebietiger zu autonomemHandeln im Wortsinn befähigtwaren, wieeine traditionelle Politikgeschichte annehmen würde,62 muss nichtzuletzt ausdiesem Grunde in seiner Absolutheit einge- schränkt werden. Es wird vielmehr immer notwendig sein, zu prüfen, welche Einschränkungen des Handelns als entscheidungsbeeinflussend zu betrachten sind,63 um die erfolgten Handlungen angemessen erklärenzukönnen. Schließlich führtdas Fragen nach den »strukturellen Voraussetzungen fürdas Handeln vonProtagonisten […] überdie engerenAnliegenpolitischer Ereig- nisgeschichte hinaus«, wieMartinKintzinger richtigbetonthat.64 Ein weiterer Aspekt ist die Untersuchung der Wahrnehmung der handelnden Akteure und ihr Einfluss aufdie Außenpolitik. Insbesonderedie Wahrnehmung von(fremden)Religionen und Religionspraxen spielt in diesem Fall eine Rolle. Maß und Grad dieses Einflusses der Wahrnehmungauf die politische Ent- scheidungsfindung müssen daher bestimmt werden. Zusammengefasst gehtesalso um die Rekonstruktion des außenpolitischen Entscheidungshandelns65 des Ordens unter Konrad vonJungingen unter Ein-

im Hinblick aufStudien, die sich aufdie Neuzeit konzentrierten) mit der Bemerkung aus dem Jahr 2005:»Politikgeschichte ist wieder im Kommen.« 60 Borowsky/Nicolaysen,Politische Geschichte, S. 527;die Problematik des Staatsbegriffs fürdie mittelalterliche Geschichte, der hier daher auch vermiedenwird, ist hinlänglich bekanntund brauchtandieser Stelle nichtweiter diskutiert werden. Es zeigt sich jedochsehr deutlich an dem Zitat, wiesehr die theoretischen Überlegungen sich aufneuzeitliche Bei- spiele und Begrifflichkeiten beziehen. 61 So auch Hillgruber,Politische Geschichte, S. 534. 62 Borowsky/Nicolaysen,Politische Geschichte, S. 534. 63 In anderer Formulierung hat auch Hillgruber,Politische Geschichte, S. 533–534, darauf hingewiesen. 64 Kintzinger,Westbindungen, S. 23. 65 Hillgruber,Politische Geschichte, S. 533, betont »das Momentder Entscheidungen« ge- genüberdem Prozesscharakter der Geschichte;auch Kraus/Nicklas,Einleitung, S. 1, haben in der Einleitung zu ihrem Sammelband überalteund neue Wege in der Geschichte der Politik jüngst zu Rechtwieder ein Verständnisvon Politik, das aufEntscheidungen

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 28 Einleitung beziehung des Konzeptsder »forces profondes«66 und die Möglichkeiten und Grenzen politischer Macht67.Obgleich dabei mit Andreas Hillgruber der Au- ßenpolitik eine »relative Autonomie«68 zugewiesenwird, soll –und das muss betontwerden –damit kein »Primat der Außenpolitik«69 postuliertwerden. Die Analyse der Außenpolitik ist nurdas heuristische Mittel, um die Fragestellungen dieser Studie zu beantworten. Im Speziellen sind es dann eben die schon oben erwähnten jüngeren Fall- studien zu Fragen der Außenpolitik im Mittelalter,die fürdas Folgende als Orientierungspunkte gedienthaben,70 so vor allem die Arbeiten vonDieter Berg, die einerseitsdie praktischen Möglichkeiten demonstrieren71 und andererseits vor allem auch belastbare theoretische Grundlagen72 bereitstellen fürdiesen seit einigen Jahrzehnten fürdie mittelalterliche Geschichte in den Hintergrund ge-

rekurriert,inden Mittelpunkt ihres Interesses gestellt(ebd.,Anm. 2, findet sich auch die Literatur zu den Untersuchungen, beidenen das Grundverständnis vonPolitik aufSym- bolbezüge abstellt). 66 Dazu zählen nach Renouvin und Duroselle u.a. geographische Grundgegebenheitenund kollektiveMentalitäten;vgl.Renouvin/Duroselle,Introduction, und Duroselle,Em- pire;s.auch die konzise Zusammenfassungvon Wirsching,Internationale Beziehungen, hier besonders S. 122 und S. 123. 67 Vgl. Thamer,Politische Geschichte, S. 52–53. Kraus/Nicklas,Einleitung, S. 1, habenzu Rechtgefordert, die ThematikMachtund Herrschaft wieder als zentrale Herausforderung vonGeschichtswissenschaft zu betrachten. 68 Hillgruber,Politische Geschichte, S. 537. 69 Vgl. Borowsky/Nicolaysen,Politische Geschichte, S. 528, zu den Implikationen dieser Formulierung sowiev.a.Czempiel,Primat. Insgesamt ist diese Formelvielschichtiginihrer Bedeutung, sodass vor ihrer Verwendung überdas bloßeSchlagworthinaus geklärt werden müsste, was eigentlich darunter verstanden wird. 70 S. v. a. die Monographien vonReitemeier,Außenpolitik;Kintzinger,Westbindungen; Ehm,Burgund;Georgi,Friedrich Barbarossa;Lang,Cosimo;Van Eickels,Konsens; Merz,Fürst;Paulus,Machtfelder,und die FallstudieninAufsatzforminden Sammel- bänden vonMoraw,»Bündnissysteme«; Berg/Kintzinger/Monnet,Auswärtige Politik, und Dünnebeil/Ottner/Kunde,Handeln, sowieWefers,Versuch, und Auge,Hand- lungsspielräumen (hier findet sich eine konzentrierteAnwendungder fürdie Analyse von Außenpolitik so wichtigen Kategorie ›Handlungsspielräume‹). Einen systematischen und theoriegestützten Zugriff aufdie Außenpolitik des Reichs im 15. Jahrhundertbietet neuer- dings Wefers,Primat. Obwohl man in den letzten Jahreneine steigende Produktion er- kennen kann, ist die Gesamtzahl vonUntersuchungen, die Fragestellungen bzgl.mittelal- terlicher Außenpolitik in den Mittelpunkt stellen, noch recht überschaubar.Auch Berg, Nachbarn, S. XI und S. 48–49, verweist trotz allem zu Rechtauf die vielen Lücken und Desiderateinallen Bereichen der Forschung zur Außenpolitik im Mittelalter,seien es Überlegungen und Konzeptionen theoretischer Artoder seien es praktische Fallstudien. 71 S. Berg,England; Berg,Imperium. 72 FürGegenstandund Forschungsgeschichte maßgeblich sind Berg,Nachbarn, sowieder Sammelband vonBerg/Kintzinger/Monnet,Auswärtige Politik, und hier besonders die Einführungen vonBerg,Einleitung, und Kintzinger,Politik, sowieWefers,Theorie;s. auch Ottner,Einleitung, und Kintzinger,Diplomatie; vgl. ferner Moraw,»Bündnissys- teme«.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas 29 tretenen Ansatz.73 Zu den theoretischen Grundlagen gehörenvor allem einige Definitionen vonBegriffen, die im Folgenden eine Rolle spielen. Die meisten dieser Begriffe wurden bislang nichteinheitlich genutzt, sodass hier dannjeweils eine Arbeitsdefinition vorgeschlagen wird, um Missverständnissezuvermei- den.74

1.2.3.2 Diplomatiegeschichte vs. Geschichte der Außenpolitik Es muss zunächst genauzwischen Diplomatiegeschichte75 und Geschichte der Außenpolitik unterschieden werden.76 Idealtypisch angenommen behandelt diese die konkreten inhaltlichenAspekte vonAußenpolitik, die Ziele und Motive der Akteure sowiedie Entscheidungsprozesse, während jene die formale oder technischeSeite der Außenpolitik bzw.die Form oder das Mittel77 der Umset- zung des Inhalts beschreibt,78 z.B. mittels einer Untersuchung des Gesandt- schaftswesens.79 Beieiner solchen Unterscheidung ist dann auch die Kriegsge-

73 Vgl. Berg,Nachbarn, S. 47;Berg,Einleitung, S. 11;Reitemeier,Außenpolitik, S. 16; Wefers,Versuch, S. 291;Moraw,Rahmenbedingungen,S.31. Walther,Einleitung,S.9, sprichtvon einem Paradigmenwechsel nach 1945, der sich in einem Primat der Innenpolitik beider Auswahl der Forschungsgegenstände bemerkbar gemachthabe. 74 Als Ausgangspunktfürtheoretische und definitorische Überlegungenzuden Grund- und Kernbegriffen dieses Untersuchungsfeldes ist auch Stourzh,Außenpolitik, unverzichtbar, dessen Unterscheidungen aber nichtimmerganz konsistentoder zuweilen auch tautologisch sind (s.u.). 75 Diplomatiegeschichtliche Untersuchungen finden sich aufgelistet und/oder kommentiertbei Reitemeier,Außenpolitik, S. 15 und S. 17–20 (hier auch eine hervorragendeEinführung in den Forschungsstand);Berg, Nachbarn,S.48–49 und S. 55–57; ders., Einleitung, S. 12; Ehm,Burgund, S. 17;Guenée,Occident, s. hier den Literaturteil mit den Supplementen unter den verschiedenen Schlagworten;vgl.neuerdings auch Péquignot,diplomaties. 76 Ein solcher Unterschied wurdeimForschungsstand zur Geschichte des Deutschordens- landes Preußen schonangesprochen, indem die Studien vonNeitmann,Staatsverträge, und Szweda,Organizacja, als sich eher aufTechniken der Außenpolitik konzentrierend einge- ordnet wurden.Vielfach wurdendie Konzepte jedochnichttrennscharf verwendet;vgl. Autrand,affaires, S. 23. Das dürfteaufgrund ihrer gegebenen Schnittmenge zwar der historischen Realitätentgegenkommen, fürdie Untersuchung dieser Fragestellung ist jedoch eine analytische Trennung hilfreich. Eine inhaltlich übereinstimmende (oder doch zumin- dest in die gleiche Richtung zielende), jedochterminologischandersgelagerte Unterschei- dung beiReitemeier,Außenpolitik, S. 15. 77 Nach ebd., S. 24, kannDiplomatieauch als »Methode« der Gestaltung der politischen Be- ziehungen der Fürstenbzw.nach Berg,England, S. 4, als Instrumentarium politischer Kommunikation verstanden werden. Externbrink,Politik, S. 19, beschränkt die »Diplo- matiegeschichte« aufdie »Träger der Interaktion zwischen den Akteuren«. 78 Zur Geschichte der Außenpolitik kann dann auch die Analyse der Entscheidung überdie Wahl der Mittel zur Durchsetzung der Ziele gehören,d.h.konkret, ob außenpolitische Ziele in diplomatischer oder militärischer Form umgesetzt werden sollen. 79 Beide Untersuchungsperspektiven können an ein und dieselbe historische Begebenheit angelegtwerden. So ist es möglich, beiVerhandlungen zwischen dem Hochmeister und dem

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 30 Einleitung schichte als eine Untersuchung der Form vonder Durchsetzungpolitischer Ziele zu sehen.80 In der Tatsollen die zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen und Konflikte in der Zeit Konrads vonJungingen auch weniger aufihregenaue Form und ihren konkreten Ablauf hin untersuchtwerden, sondernvielmehr auf die dahinterliegenden Motive und Absichten. Inhalt und Form bedingen sich jedoch natürlich und dürfen wechselseitignichtgänzlich ausdem Blick geraten, doch ist eine Schwerpunktsetzung im Sinne der Erkenntnisinteressen zumeist unumgänglich.

1.2.3.3 Begriffsdefinition:»Außenpolitik« im Mittelalter Der Begriff »Außenpolitik« und die stilistische Variation »auswärtige Politik« werden dabei im Folgenden vondem umfassender verstandenen Terminus »auswärtige Beziehungen« unterschieden.81 Letzterer umfasst in diesem Ver- ständnis auch Kontakte nach außen, die vorwiegend wirtschaftlicher oder kul- tureller Natursind. »Außenpolitik« hat dagegenzudem eine Konnotation von Zielgerichtetheit82 und in der Hauptsache auch einen Ausgangspunkt von herrschaftlicher Seite (sei es der Hochmeister bzw.König oder auch ein Großer des Reiches, der Herrschaftausübt), während »auswärtige Beziehungen« zwi- schen zwei Landesherrschaften auch ungeplantvon verschiedensten Einzelak- teuren oder sozialen Gruppen hergestellt werden können und eher »bestehen« oder »sich entwickeln« denn »betrieben werden« können. Beispielsweisewürde man die Betrachtung der Kontakte zwischen preußischen Englandfahrern und englischen Kaufleutenbzw.dem König vonEngland eher unter den Terminus »auswärtige Beziehungen« Preußens subsumieren als unter »Außenpolitik«. Eine idealtypische Definition ist damit jedoch nichtaufgestellt, sondernviel-

König vonPolen aufder einen Seite die sich darin spiegelnden Ziele, Absichten und Ent- scheidungen zu rekonstruierenoder aufder anderen Seite die Artund Weise der Ver- handlungen, indem man z.B. nach dem Ort, den Gesandten und dem Ablauf fragt. Mit diesem Vorgehen hätte man eher die Diplomatie und mithin die Form des Betreibens der Außenpolitik in den Blick genommen, während man mit jenem Vorgehen die inhaltlichen Problemstellungen der Außenpolitik fokussiert. 80 Keine weitere Beachtung können an dieser Stelle die Arbeiten zur Geopolitik vonSeiten der »IR theory« finden. Zwar wird hier in letzter Zeit auch vermehrtauf mittelalterliche Gege- benheiten rekurriert–sei es in übergreifender Form, sei es in Form voncase studies –mit gedankenanregenden Ergebnissen, doch ist zumeist eine sehr starkeQuellenferne zu kon- statieren. Eine genauere Diskussiondieser Perspektivemüsste dringend an anderer Stelle vorgenommen werden. Genanntseien hier daher nur zwei einführende Studien:Latham, Geopolitics, und Teschke,Relations. 81 So auch Stourzh,Außenpolitik, S. 10, jedochohne Begründung,warum der zweite Ter- minus umfassender zu verstehen ist. 82 Vgl. vanEickels,Konsens, S. 35.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas 31 mehr eine Arbeitsdefinition fürdie folgende Studie und ein Angebot fürweitere Bemühungen um die Begriffsarbeit.83 Damit kommen wirzum Zentralbegriff »Außenpolitik«,andem ausprag- matischen Gründen festgehalten wird, trotz der Gefahr,anachronistische Vor- stellungen nichtgänzlich ausschließen zu können. Die Existenz von»Außen- politik« im Europades hohen und späten Mittelaltersjedoch gänzlich zu be- streiten, wieesbisweilen geschehen ist, v. a. unter dem zwar an sich nicht falschen Hinweis, dass es kein System selbstständiger, souveräner Staaten ge- geben habe und auch keine »internationale Ordnung«, kann kein gangbarer Weg sein.84 Nurweil eine moderne Begrifflichkeit nichtohne Weiteres aufdie Um- stände früherer Jahrhunderte übertragen werden kann, dürfen historische Wirklichkeiten und reale Vorgänge nichtignoriertoder gar negiertwerden.85 Hier gälte es dannvielmehr,aneiner fürfrühere Zeiten angemessenen Be- grifflichkeit zu arbeiten, oder sich –solangedas nichtinder angemessenen Breite und Tiefe geschehen kann –mit einer vorläufigen Arbeitsdefinition zu behelfen, die die Gefahr anachronistischer Vorstellungen in engen Schranken hält und den Begriff »Außenpolitik« fürdie mittelalterliche Geschichte nutzbar macht. Dieter Berg hat zu Rechtdaraufhingewiesen, dass unter einem Verzicht aufdie Vorstellung, Außenpolitik sei erst mit dem Entstehen souveräner, gleichberechtigter Staaten möglich geworden, und unter der Annahme der Existenz von»Herrschaftsräumen mit eigener politischer Ordnung«86 man »jedepolitische Aktion eines Herrschers, die überdie Grenzen des eigenen Machtbe- reichs hinausweist und höchst unterschiedliche Ziele –wie Sicherung der Expansion des eigenen Herrschaftsraumes, die Förderung sozio-ökonomischer Ziele, die Reali- sierung herrschaftsideologischer Konzeptionen oder ähnliches–unterVerwendung

83 Kintzinger,Westbindungen, S. 19–20, siehthingegen andereUnterschiede zwischen den verschiedenenBegriffen als wesentlich an;hier auch umfängliche Literaturangaben. 84 Vgl. die Nachzeichnung dieser Argumentationsfigur bzw.Problematik beiBerg,Nachbarn, S. XI, S. 1(hier auch weitere angeführte Begründungen, warum es keine Außenpolitik ge- geben hätte)und S. 47–48;Berg,Einleitung, S. 1; Berg,England, S. 1–17 (hier wird auch die Argumentation dargestellt, warum es aufgrund der Universalitätdes Kaisertums keine auswärtige Politik hätte gegebenhabensollen;vgl.dazu Kienast,Anfänge);Stourzh, Außenpolitik, S. 10;Walther,Einleitung,S.9.Als pointiertester Exponentdieser These sei nur Strayer,Grundlagen, S. 24–25, genannt, der spezifische Institutionen zur Regelung äußerer Angelegenheitenvermisste und generell vonder »Bedeutungslosigkeit« vonAu- ßenpolitik in einem Europa»ohne Staaten und ohne feste Grenzen« meinte sprechen zu wollen. 85 So auch Kintzinger,Politik, S. 16. 86 Berg,Nachbarn, S. 1. Es ist ratsamund, wieman sieht, auch möglich, aufden Begriff »Staat« mit seinen anachronistischen Konnotationen zu verzichten. Das gilt speziell fürdie Or- densgeschichtsschreibung und dem zumeist mit viel Ideologie aufgeladenen Begriff »Or- densstaat«; vgl. dazu umfassend Wippermann,Ordensstaat.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 32 Einleitung

einesgeeigneten Instrumentariums politischer Kommunikation verfolgte, als Akt außenpolitischen Handelns«87 bezeichnenkönne.88 Dabei hatten die jeweiligen Herrscher jedoch nichtdas alleinige Handlungsmonopol beiaußenpolitischen Aktionen.89 Arnd Reitemeierhat schon aufeinige definitorische Schwierigkeiten der im Allgemeinen doch zu Rechtanerkannten Formulierung vonBerg hingewiesen.90 Dabei wurde auch an einer Stelle das zentrale Problem vonBergs Definition tangiertund die Formulierung»der tatsächliche Herrschaftsbereich« als Ersatz fürden vonBerg nichtnäher bestimmten Terminus »Machtbereich« ins Spiel gebracht.91 Doch leider war auch diese eigentlich in die richtige Richtung zie- lende Ersetzung nichttheoretischunter Zuhilfenahme der Standarddefinitionen Max Webers hergeleitet worden, sondern wurde anhand praktischer Beispiel- situationen der Geschichte des Reiches bzw.Englands und Frankreichs eher alltagssprachlich gewonnen. Im Zusammenhang mit diesen Beispielen ist dann zuweilen äußerst fraglich, ob hier die ausder Praxis geschaffene Begrifflichkeit immer konsequentund stringentangewandtwurde.92 Solche Probleme und Interpretationsschwierigkeiten könnten vermieden

87 Berg,England, S. 4; vgl. auch Kintzinger,Westbindungen, S. 21–22. Berg hat darauf hingewiesen, dass sich schonabdem 12. Jahrhundertinverschiedenen Reichen Europas zumindest beiden Herrschenden ein politisches Bewusstsein für»innen« und »außen« entwickelt habe;Berg,Nachbarn, S. 2und S. 48. 88 Stourzh,Außenpolitik, S. 10, zu den Bedingungen vonAußenpolitik:»Wirkönnen also – unter gebührenderBerücksichtigung der historischen Bedingtheiten des modernen Staatsbegriffs –sagen, daß man vonauswärtigen Beziehungen politischer NaturoderAu- ßenpolitik dann sprechen kann, wenn es eine Mehrzahl politischer Einheiten,Herrschafts- verbände oder Staaten gibt,die voneinander mehr oder weniger unabhängig sind, die aber auch nichtvöllig isoliertvoneinander existieren.«[Kursivsetzung im Original gesperrtge- druckt.] Auch MartinKintzinger hat betont,dass zumindest fürdas westeuropäische Mit- telalter –auch Berg konzentrierte sich vorwiegend aufden westeuropäischen Raum;Berg, Nachbarn, S. XI –mit gutem Grund von»Außenpolitik«, »auswärtiger Politik« und »inter- nationalen Beziehungen« gesprochen werden kann; Kintzinger,Politik, S. 17. Das Fol- gende dürfte als Beweis dienen können, dass das auch fürdas östliche Mitteleuropagilt. 89 So richtigBerg,England, S. 4. 90 Vgl. Reitemeier,Außenpolitik, S. 22–24. 91 Ebd., S. 22. 92 Vgl. insbesondere ebd., S. 23. Das dürfte an der theoretischen Unschärfe der Formulierung »tatsächliche Herrschaftsbereich« liegen. Problematisch ist dabeischondie verwirrende Hinzufügung des Wortes »tatsächliche«. Es bleibt unklar,was darunter zu verstehen ist. Wenn Reitemeier damit meint, was Weberdarunter verstehenwürde, nämlich das Gebiet, in denen ein sozialer Akteur »tatsächlich« Befehlsgehorsam findet, dann wäre das Epitheton tautologisch. Sollte er damit meinen, dass der Willen »tatsächlich« durchgesetzt wird,wäre eigentlich Macht gemeint. Auch der Satzanfang »Zum Machtbereich der Herrscher gehörte auch die Schirmherrschaft…« muss als Indiz dafürgewertet werden, dass eine eindeutige gedanklicheTrennschärfezwischen beiden Begriffennichtvorgenommen wordenist; ebd., S. 24.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas 33 werden, wennman dagegen»Machtbereich« beiBerg durch den alleinstehenden Begriff »Herrschaftsbereich« im Sinne der Definitionen vonWeber ersetzt. »Macht« bedeutet danach bekanntermaßen »jede Chance, innerhalb einer so- zialen Beziehung den eigenen Willen auch gegenWiderstrebendurchzusetzen, gleichviel worauf diese Chanceberuht«, wohingegen Herrschaftals »die Chance, füreinen Befehlbestimmten Inhalts beiangebbaren Personen Gehorsam zu finden« definiertwird.93 Dabei wird als wesentliches Merkmal fürHerrschaftder Befehlsgehorsam betont,während der Machtbegriff als »amorph« bezeichnet wird,der aufalle denkbaren Situationen der Willensdurchsetzung bezogen werden könne;»Herrschaft« wird vonWeber ausdiesen Gründen daher als ein »präziserer« Begriff als Machtbezeichnet.94 Angesichts dieser Begriffsfestlegungen dürfte es daher sinnvoller sein, den Anfang vonBergs Definition wiefolgtumzuformulieren und »jede politische Aktion eines Herrschers, die überdie Grenzen des eigenen Herrschaftsbereichs hinausweist« als Außenpolitik zu bezeichnen. Der Herrschaftsbereich des Or- dens, d.h. also die Länder,indenen er Gehorsam aufseinen Befehl findet, ist zumindest de iurerelativgut zu erfassen. In Bezug aufdie Zeit um 1400 sind das die Kernländer des Ordenslandes Preußen, aber auch z.B. Gotland, ab 1402 die Neumark und zumindestzeitweilig auch Samaiten.Wenn nun der Orden mit Polen und Litauen überSamaiten in Verhandlungen tritt, dann ist dasals Akt außenpolitischen Handelns zu beschreiben, da Polen und Litauen eindeutig nichtzum Herrschaftsbereich des Ordens gehörten, da es weder denkbar noch faktisch geschehen ist, dass der Orden Gehorsam aufeinen Befehl erhält bzw. erhalten hat. Dahingegen hat z.B. Litauen, insbesonderewährend der Litauen- reisen, zeitweilig zum Machtbereich des Ordens gehört.Hier sind dann aber eben keine festen Herrschaftsstrukturen mit Befehlsgehorsam zu erkennen, sondern einzelne Situationen,indenen der Orden seinen Willen gegen –meist nichtunerhebliches –Widerstrebendurchgesetzt hat. Der Machtbereich des Ordenslandes Preußen muss daher viel weiter gefasst und situationsabhängig beschrieben werden.ImAllgemeinen könnte man fürdie angegebene Zeit den Ostseeraum als solchen bezeichnen. Offensichtlich ist es daher nichtsinnvoll, politische Aktionen überden »Machtbereich« eines Herrschers hinaus als Au- ßenpolitik zu definieren–zumal sich dieser Bereich eben auch nuringegebenen Situationen konkret formiert. Modifiziertman daher,wie eben ausgeführt, Bergs Ausgangsdefinition von»Außenpolitik« mittels der Ersetzung von»Machtbe- reich« durch »Herrschaftsbereich« erhält seine ansonsten stimmige und fürdie Praxis gut geeignete Festlegung ein tragfähiges theoretisches Fundament, auf dessen Basis man auch den umstrittenen Begriff »Außenpolitik« aufdie mit-

93 Weber,Wirtschaft, I, §16. 94 Ebd.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 34 Einleitung telalterliche Geschichte anwenden kann, ohne allzu sehr anachronistische Vor- stellungen zu provozieren, sondernvielmehr vielleichtsogar durch die ge- danklich trennscharfeFassung vonMacht- und Herrschaftsbereich mittelal- terlichen Rahmenbedingungen vonAußenpolitik eher noch entgegenzukom- men. Nebendieser theoretischen Annahme der Existenz vonAußenpolitik im Mittelalter durch Berg,betontdieser auch explizit hinsichtlich des Ordenslandes Preußen zu Rechtdas Vorhandensein einer »eigenständigen Außenpolitik«.95 Das ist deswegen bemerkenswert, da sich die meisten Abhandlungen –insbe- sonderedie theoretisch-methodischen –auf das Reich konzentrierten.96 Es ist jedoch rechtoffensichtlich, dass im Fall der Außenpolitik des Deutschen Ordens doch deutliche Differenzen zu der des Reiches konstatiertwerden müssen. Zuletzt hat auch Gouguenheim aufdie strukturelle Wichtigkeit der Außenpolitik fürden Deutschen Orden hingewiesen:

»L’importance de la politique Øtrang›re ne cessa de s’accroître:parceque l’Ordre crØait une principautØ là oœ il n’y avait que des tribus prut›nes, parce qu’il Øtait international par sonessence et par ses activitØs, parce qu’il lui Øtait impossible de rester à l’Øcart des luttes politiques qui secouaientlarØgion et enfin parce que sa mission propre lui ouvrait des espaces à conquØrir.«97

1.2.3.4 Theoretische Konzepte zurAnalyse mittelalterlicher Außenpolitik Zum Ende dieses Abschnitts, in dem die methodischen Anknüpfungspunkte dargelegtsowie die Grundbegriffe kurzdefiniertwurden, muss abschließend auf ein dringendes Desiderat der Forschung zur mittelalterlichen Außenpolitik hingewiesen werden, ohne dass an dieser Stelle jedoch konkrete Lösungsvor- schläge unterbreitet werden könnten. Dieter Berg hat zu Rechtdas Fehlen theoretischer Konzepte fürdie Analyse außenpolitischer Handlungsentwürfe mittelalterlicherHerrscher beklagt.98 NurSabine Wefers wandte in einer jün- geren Fallstudie den »systemtheoretischen Ansatz« aufdie mittelalterlichen Gegebenheitenan, während Wolfgang Georgisehr knapp aufeinen »Macht- Realpolitik-Ansatz«, »Aktion-Reaktion-Ansatz« und »Ziel-Mittel-Ansatz« ver- weist.99 Generell wird maninder Annahme nichtvöllig fehlgehen, dass beiden meisten anderen Studien in der Regel weniger ein Rekurs aufpolitikwissen- schaftliche Ansätze zu erkennen ist, sondern vielmehrdie Nutzung eines le-

95 Berg,Nachbarn, S. 96;indie gleiche Richtung zielt auch Moraw,Rahmenbedingungen, S. 42. 96 Vgl. beispielsweise Wefers,Handlungsträger,und Heinig,Konjunkturen. 97 Gouguenheim,Chevaliers, S. 431. 98 Berg,Nachbarn, S. 49. 99 Zusammenfassung nach ebd.; s. Wefers,Versuch;Georgi,Friedrich Barbarossa, S. 1–2.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 Vorüberlegung und Eingrenzung des Themas 35 bensweltlich fundierten Rational-Choice-Ansatzes100 nach Maßgabedes ge- sunden Menschenverstands unter Beachtung der speziellen Rahmenbedingun- gen der jeweiligenhistorischen Umstände –dies allerdings nurimplizit und unausgewiesen.101 Hier kann jedoch nichtder Ortsein, grundlegende Ver- säumnisse der theoretischen Diskussion nachzuholen.102 In Anknüpfung an die dargelegten theoretischen und definitorischen Ausgangspunkte und ihrer De- fizite stellt auch die hier vorgelegte Arbeit eben weniger einen theoretisch-sys- tematischen Beitrag zum Themenbereich »Außenpolitik im Mittelalter«dar, sondern ist vielmehr als ein FallbeispielzuGrenzen und Möglichkeiten einer modernen Politikgeschichte in Hinblick aufdie Außenpolitik des Deutschen Ordens zu verstehen.

1.2.4 Inhaltlich-geographische Beschränkungen

Es soll jedoch keine enzyklopädische Abhandlung der Außenpolitik des Deut- schen Ordens vorgelegt werden. Es kommthier vielmehr darauf an, im Sinne der problemorientierten Fragestellung die Aspekte der Außenpolitik Konrads von Jungingen systematischund fragegeleitet zu analysieren, die im Rahmen der opinio communis bislang als Beleg fürdie territoriale Expansion und die an- genommene größte Machtstellung des Ordens unter Konrad vonJungingen angeführtwurden. Damit soll zum ersten Mal die Außenpolitik des Deutschen Ordens systematisch-analytisch übergreifend untersuchtwerden, während bislang eine überwiegend chronologische (und damit zuweilen sogar eher de- skriptive) oder eine sich aufeinzelne geographische Aspekte beschränkende Vorgehensweise dominierthat. Ausdiesem Ansatz ergibt sich eine inhaltlich-

100 Als erster Zugang s. Diekmann/Voss,Rational-Choice-Theorie. 101 Vgl.auch die Beobachtung vonAllison/Zelikow,Essence, S. 27. Ob das daran liegt, dass die Grundannahmen der klassischen Entscheidungstheorie bereits vonThukydides aus- gehen (ebd.), denen dann durch direkteund indirekte historiographische Vermittlung gefolgt wurde, kannnichtausgeschlossen werden. Vielleichtbietet der Ansatz jedochauch einfach ausdem alltäglichem Erleben generierteAnknüpfungspunkte, die einen eher in- tuitiven Zugang zu erlauben scheinen. 102 Es wäre notwendig,einmal Grenzen und Möglichkeiten vonRational-Choice-Ansätzen für die Erklärungvon historischen Begebenheiten –inder sozialwissenschaftlichenDiskussion steheninder Regel als Beispiele moderne Situationen im Mittelpunkt –nichtnur theore- tisch intensivzudiskutieren, sonderndiese auch an praktischen Beispielen auszuloten und dabeidie Annahmen und Folgerungen vor allem explizit auszuweisen. Insbesondere an- hand von›case studies‹ der mittelalterlichen Geschichte dürftenaufgrund ihrer doch sehr unterschiedlichenRahmenbedingungen Chancen und Gefahren gut aufzuzeigen sein. Gleichzeitig würde ein häufig unausgewiesenes Vorgehen eine theoretisch-reflektierte Fundierung erfahren. Jüngst hat Pohl,Fliehen, einen solchen Versuch mit interessanten Ergebnissen unternommen.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377 36 Einleitung geographische Eingrenzung,innerhalb derer erst wieder ein zunächst chrono- logisches Vorgehen zum Tragen kommt. Die neuen Herrschaftsgebiete,die als Beleg fürdie territoriale Expansion angeführtwurden, bilden daher die Gravitationszentren der folgenden Analyse. Konkret bedeutet das, dass nichtdie außenpolitischen Beziehungen zu Däne- mark in ihrer Gesamtheit untersuchtwerden, sondern die Gotland betreffende politische Kommunikation in den Mittelpunkt rückt. Die Neumark und die sich um den Erwerb dieses Gebietes zentrierenden außenpolitischenBeziehungen sind ein weiteres Gravitationszentrum. Daran anhängend werden in einem Ex- kurs die kleineren Erwerbungen des Ordens um 1400, namentlich das Dobriner Land, Slotterie, Wizna, Zawkrze, Płon´sk, kurzangesprochen. Diese Gebiete wurden in den meisten Darstellungen vielfach übergangen und in ihrer Be- deutung fürdie Expansionsthese fast nie in den Blick genommen, sodass die schon angeführte dezidierte, jedoch nichtendØtail herausgearbeitete Auffas- sung vonWenskus, dass es sichauch hierbei um eine systematische territoriale Expansion durch Erpfändung handelt, bislang ungeprüft stehen blieb,wobei Gouguenheim erst jüngst eine eben solche Auffassung vertreten hat.103 Wichtigfürdiese Untersuchung ist nichtzuletzt die Außenpolitik gegenüber Polen und Litauen bzw.König Władysław-Jagiełłound Großfürst hinsichtlich Samaitens. Wenn man nunvon der Außenpolitik gegenüberPolen und Litauen stattPolen-Litauen schreibt, dann schließtman sich in einem ge- wissen Maßeder Perspektivedes Ordens an, der stets versuchthat, zwischen der Politik gegenüberPolen und Litauen zu trennen. Dabei wurde in der Politik gegenüberKönig Władysław-Jagiełłound Großfürst Vytautas differenziert, wobei es naturgemäß einen Unterschied machte, ob Vytautas gerade aufder Ordensseite stand oder –durchaus v. a. auch im religiösen Sinne –abgefallen war.104 Ohne damit in irgendeiner Weise die Perspektivedes Ordens als »richtig« oder »angemessen« werten zu wollen, bietetessich dennoch an, dieser or- denseigenenEinteilung zu folgen, da hier eben die Außenpolitik des Ordens im Mittelpunkt stehtund diese anhand der eben nuneinmalgemachten Unter- scheidungen geführtund damit wirkmächtigworden ist. Damit hat man aufder einen Seite dann die »alltäglichen« diplomatischen Beziehungen zwischen dem Orden und König Władysław-Jagiełłosowie vor allem Vytautas, wofern er zu dieser Zeit Christ war bzw.eine (Wieder-)Annä- herung stattfand,die sich in den vielfachen schriftlichen und mündlichenVer- handlungen, den flankierenden Briefen und den großen Vertragswerken von Sallinwerder (1398) und Racianz (1404) niedergeschlagen hat. Die beiden er-

103 Wenskus,Ordensland, S. 375;Gouguenheim,Chevaliers, passim, v. a. S. 305. 104 Die Trennungsliniewurde vondem Orden dortgezogen, wo er Christen und wo er Heiden bzw.schlimmer noch relapsii wahrnahm oder wahrnehmen wollte.

© 2016, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: 9783847105374 – ISBN E-Book: 9783847005377