Nr. 03Nr. / September 01 / April 2017

Arbeit – das halbe Leben? Debatten über Stress am Arbeitsplatz, Sonntagsarbeit, Pflege und Rente Inhalt Liebe Leserinnen, liebe Leser, „Arbeit ist das die politischen Debatten im Landtag wurden zuletzt überschattet von der Trauer um halbe Leben“ 5 – 12 Axel Bernstein. Der CDU-Parlamentarier war am 24. August tödlich verunglückt. Gute Arbeit, schlechte Arbeit 5 ­Abgeordnete und Mitarbeiter sind noch immer bestürzt über den plötzlichen Tod des Christdemokraten, der nur 43 Jahre alt wurde. Diskussion um Sonntagsarbeit 6 An den Debatten im Juli über die Ladenöffnung am Sonntag und über gestresste Lehrer Gesundheitsmanagement für Lehrer 7 hat Axel Bernstein noch teilgenommen. Diese Themen sind Teil unseres inhaltlichen Umfrage: Abgeordnete und Schwerpunktes – der Ausgestaltung der Arbeitswelt. Wir haben außerdem bei Abgeordneten nachgefragt, wie sich ihr berufliches „Vorleben“ auf ihre jetzige politische ihre erlernten Berufe 8 Tätigkeit auswirkt. Und wir blicken zurück ins Jahr 1956, als die Metallarbeiter im Im Rückblick: Norden für eine soziale Errungenschaft in den Streik traten, die heute selbstverständlich Der Metallarbeiterstreik­ 1956/57 10 scheint: die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Debatten über Renten und Pflege 12 Am 31. Oktober feiern die evangelischen Christen das 500. Jubiläum der Kirchen­ reformation. Wir haben dazu den Luther-Biografen Prof. Heinz Schilling befragt, der im Sommer im Landtag zu Gast war. Der 13-jährige Niklas Bruhn aus Dithmarschen Die Seite für das Ehrenamt 13 hat sich ebenfalls mit dem Reformator beschäftigt. Der Nachwuchs-Historiker hat Personalien 14 einem geplanten Mord an Martin Luther nachgespürt und damit einen ersten Preis beim Landesgeschichtswettbewerb gewonnen. Wir stellen seine Arbeit vor.

Im Zentrum Viel Freude beim Lesen Die Wappen im Landeshaus 16 – 17 und einen schönen Herbst wünscht ­ZÄHLBARES Ihre Redaktion Plenarberichte 18 – 19

Bafög, Fairness im Wahlkampf 18 5,4 Millionen Haus der Geschichte 19 So viele Menschen zwischen 15 und 74 Jahren wollen in Deutschland mehr arbeiten als zurzeit. Das besagt die Arbeitskräfteerhebung des Altenparlament für höhere Renten 20 Statistischen Bundesamtes. Ausschüsse: Endlagersuche, Mehr zum Thema Wahlprüfung, Straßenverwaltung 21 ab Seite 5. Leichte Sprache: Behinderte Menschen ohne Wahl-Recht 22

Die Bundestagswahl im Lande 23

Parlamentarismus 24 – 25

Was ist erlaubt im Plenum? 24 Trauer um Axel Bernstein Neue Abgeordnete über ihre Mit einer Schweigeminute hat der Landtag zu Beginn seiner September-Sitzung ersten Eindrücke 25 des langjährigen Abgeordneten Axel Bernstein gedacht. Der CDU-­Politiker war am 24. August auf seinem Grundstück in Wahlstedt (Kreis Segeberg) tödlich verun- glückt. „Wir haben einen engagierten, humorvollen und über alle Fraktionsgrenzen 500 Jahre Reformation 26 – 28 hinweg hoch geachteten Kollegen verloren“, sagte Landtagspräsident Klaus Schlie. Gespräch mit dem Luther-Biografen Bernstein, der in Neumünster geboren wurde und seit seiner Jugendzeit in Wahl­ Prof. Heinz Schilling 26 stedt wohnte, hinterlässt Ehefrau Melanie und zwei Kinder. Er wurde 43 Jahre alt. Schlie sprach der Familie das Mitgefühl aller Abgeordneten aus. Geschichtswettbewerb: Der Historiker und Kommunikationsberater zog 2005 erstmals in den Landtag ein. Kriminalfall Luther 28 2009 erlangte Bernstein den Doktortitel und wurde, bis 2012, Parlamentarischer Ge-

schäftsführer seiner Fraktion. Ab 2015 agierte er als Landesgeschäftsführer der CDU, Bücherecke, Impressum 29 den Posten gab Bernstein Ende vergangenen Jahres ab. Im Landtag hatte er sich auf die Im Porträt: Bereiche Innen und Recht sowie Medien spezialisiert. Bei der Wahl im Mai hatte Axel Katrin Wagner-Bockey (SPD) 30 Bernstein seinen Wahlkreis Segeberg-Ost erneut klar gewonnen. Landtagspräsident Schlie hob hervor, dass Axel Bernstein zwar akzentuiert und mit Ins Bild gerückt: Entschiedenheit für seine Überzeugung eingetreten sei – „dies aber mit einem ganz Zu Besuch im Landeshaus 31 eigenen, besonders feinen und fairen Stil, dem er auch in jeder noch so hart geführten Termine, Termine, Termine 32 Debatte treu blieb“.

2 DER LANDTAG 03 /2017 AKTUELL

Anette Röttger Haushalt 2018 erst im Februar neu im Landtag Erst im kommenden Februar will die Koalition den Landeshaushalt In der September-Sitzung 2018 beschließen. Finanzministerin Monika Heinold (Grüne) hat dem hat Landtags­präsident Klaus Finanzausschuss einen entsprechenden Zeitplan vorgelegt. Demnach Schlie die Lübecker CDU- sollen bis Anfang Oktober die Haushaltseckwerte neu gefasst und vom Politikerin Anette Röttger Kabinett beschlossen werden. Ende November will die Regierung über als Landtagsabgeordnete ihren Haushaltsentwurf entscheiden. Die Erste Lesung im Landtag ist verpflichtet. Röttger trat die für Mitte Dezember vorgesehen, anschließend beraten die Ausschüsse Nachfolge des verstorbenen und die Fraktionen. Die Zweite Lesung ist dann für die Sitzung vom Axel Bernstein an. Sie ist die 21. bis 23. Februar 2018 angesetzt. nächstfolgende Kandidatin Die Neubildung der Landesregierung und der veränderte Zuschnitt auf der CDU-Landesliste zur der Ressorts erforderten eine Korrektur der bisherigen Planungen, so Wahl am 7. Mai. Die 53-Jährige ist Diplom-Ernährungswissenschaft- Heinold. Normalerweise werden die Haushalte jeweils im Dezem- lerin, verheiratet und hat drei erwachsene Söhne. Seit 2008 gehört sie ber des Vorjahres verabschiedet. Die Opposition kritisierte den Plan: der Lübecker Bürgerschaft an, seit 2012 ist sie CDU-Kreisvorsitzende Damit würden sämtliche Landesverwaltungen zwei Monate lang zur in der Hansestadt. Tatenlosigkeit gezwungen, rügte Lars Harms (SSW).

„Rockeraffäre“ wohl bald im Wortwörtlich Untersuchungsausschuss „Ich finde das Relativieren der Krawalle und die Realitäts­ verweigerung von zahlreichen linken Aktivisten, Publizisten und Die SPD-Fraktion will einen Parlamentarischen Untersuchungs- auch Politikern wirklich unerträglich. Es ist schlichtweg unsinnig, ausschuss (PUA) zur Aufklärung der sogenannten Rockeraffäre be- unhistorisch und gefährlich, wenn behauptet wird, antragen. Das hat der innenpolitische Sprecher Kai Dolgner Anfang dass Gewalt per se nicht links motiviert sein könne.“ August erklärt. Dolgner kündigte den entsprechenden Antrag für (Christopher Vogt, FDP) die Oktober- oder Novembersitzung an und skizzierte acht mög­ liche ­Themenkomplexe. Im Kern geht es um Vorwürfe von Mobbing, „Der Linksextremismus hat, wenn auch nur vorübergehend, ­Aktenmanipulation und der Unterdrückung von Beweismitteln gegen den Staat entmachtet. Der Linksextremismus hat den Krieg erklärt das Landeskriminalamt. Die Behörde soll Ermittlungen erschwert und in offenen Terror ausgeübt.“ ­haben, um einen vermeintlichen V-Mann aus der Rocker-Szene zu (Claus Schaffer, AfD) decken. Die Reaktion auf den SPD-Vorstoß war verhalten. Die anderen „Wenn Leute glauben, sie seinen links, und wenden Gewalt an, dann ­Fraktionen verwiesen auf die bereits laufenden Untersuchungen im sind sie alles Mögliche, aber nicht links, sondern Gewalttäter.“ Innen- und Rechtsausschuss, der Akteneinsicht zu dem sieben Jahre alten Fall beantragt hat. Diese sei noch nicht abgeschlossen, so dass (Ralf Stegner, SPD) ein PUA zu früh komme. Der Landtag muss einen Untersuchungs­ ausschuss einsetzen, wenn ein Fünftel seiner Mitglieder dies verlangt. „Rechtsfreie Räume wie die ‚Rote Flora‘ darf es nicht länger geben. Das wären 15 der 73 Abgeordneten. Die SPD verfügt über 21 Mandate. Wir können nicht weiter tolerieren, dass damit Vorbereitungs- und Rückzugsräume für gewalttätige Extremisten vorhanden sind.“ (Tobias Koch, CDU)

Immunität von Volker Schnurrbusch „Warum wurden über 20.000 Polizistinnen und Polizisten nicht so eingesetzt, dass sie geschätzte 1.500 autonome Gewalttäterinnen aufgehoben und Gewalttäter im Schanzenviertel in Schach gehalten haben?“ (Eka von Kalben, Grüne) Der Landtag hat Ende Juli die Immunität des AfD-Abgeordneten Volker Schnurrbusch teilweise aufgehoben. Dafür stimmten CDU, „Für uns stellt sich die Frage nach der Tauglichkeit des SPD, Grüne, FDP und SSW, die AfD enthielt sich. Die Aufhebung der Austragungsortes. Vorrangig sollte es um die Frage gehen, welcher­ Immunität für den Vollzug eines Durchsuchungsbeschlusses der ­Kieler Ort über die besten Voraussetzungen verfügt. Pragmatismus Staatsanwaltschaft wurde auf die Beschlagnahmung elektronischer vor Prestige, so sollte die zukünftige Maxime zur Auswahl von Geräte beschränkt. Bei den Ermittlungen geht es dem Ver­nehmen nach ­deutschen Austragungsorten lauten.“ um einen mehrere Monate zurückliegenden Facebook-Eintrag, in dem die Antifa mit der nationalsozialistischen SA gleichgesetzt worden sei. (Lars Harms, SSW) Schnurrbusch betonte, er selbst habe den beanstandeten Beitrag nicht verbreitet und legte Mitte August Beschwerde beim Amtsgericht Kiel Aus der Debatte am 19. Juli ein. über die Krawalle beim Hamburger G20-Gipfel

DER LANDTAG 03 /2017 3 AKTUELL

Ostseeparlamentarier Die schleswig-holsteinische Delegation ­bestand aus Landtagsvizepräsident Rasmus für Tourismus und Andresen, der auch die Grünen vertrat, sowie Hartmut Hamerich (CDU), Wolfgang Baasch gegen­ Hasskommentare (SPD), Stephan Holowaty (FDP), Volker Der Ostseeraum soll als Urlaubsregion bes- Schnurrbusch (AfD) und Jette Waldinger- ser vermarktet werden. Deshalb forderte die Thiering (SSW). 2018 werden die finnischen Ostseeparlamentarier-Konferenz (Baltic Sea Åland-Inseln den BSPC-Vorsitz übernehmen.­ Parliamentary Conference, BSPC) bei ­ihrem 26. Jahrestreffen Anfang September in Ham- burg in einer Resolution die Regierungen der Personalwechsel Ostseeregion auf, ein gemeinsames Ostsee- Label zu entwickeln. Mit Blick auf die sinken- bei der FDP de Wahlbeteiligung und Teilhabe an demo­ Nach der Bundestagswahl zeichnen sich kratischen Prozessen in etlichen Ländern­ personelle Veränderungen in der FDP- setzte sich die Versammlung zudem dafür Fraktion ab. Der langjährige Fraktions- ein, über Möglichkeiten einer strafrecht­ chef , der einen Sitz im lichen Verfolgung von Hasskommentaren Berliner Reichstag errungen hat, kündig- und Falschnachrichten zu beraten. In vielen te an, sein Landtagsmandat im Dezember Ländern zögen Menschen sich „auf scheinbar ­niederzulegen. Für ihn wird wahrscheinlich einfache, ausschließlich auf den Nationalstaat der Polizei­beamte Jörg Hansen aus Stockels­ bezogene Lösungen“ zurück, um komplexen dorf (Kreis Ostholstein) nachrücken. Als Herausforderungen zu begegnen, erklärte die Nachfolger im Amt des Fraktionschefs­ schlug Blutspender kamen BSPC-Vorsitzende, die Hamburger Bürger- Kubicki den bisherigen Parlamentarischen schaftspräsidentin Carola Veit. Geschäfts­führer ­Christopher Vogt vor. FDP- ins Landeshaus Seit ihrer Gründung 1991 fördert die Ost- Sozial­minister Heiner Garg will sein Land- 62 Blutspender, davon 17 Erstspender, seeparlamentarierkonferenz die Zusammen- tagsmandat ebenfalls aufgeben und sich auf wurden Mitte September im Landeshaus arbeit nationaler und regionaler Parlamente seinen Ministerposten konzentrieren. Für zur Ader gelassen. Der Landtag und das im Ostseeraum. In ihr sind Abgeordnete aus Garg wird voraussichtlich der Rechtsanwalt Deutsche Rote Kreuz (DRK) rufen seit Deutschland, Russland, Polen, Schweden, Jan-Marcus Rossa aus Dassendorf (Kreis 2005 jedes Jahr auf, bei einer eintägigen Norwegen, Finnland, Dänemark, Island, ­Herzogtum Lauenburg)­ in den Landtag ein- Aktion Blut zu ­spenden. Auch Minister- Estland, Lettland und Litauen vertreten. ziehen. präsident Daniel Günther steuerte einen halben Liter bei (s. Foto). Schirmherr war wieder Parlamentspräsident Klaus Schlie. DRK und Politik rühren die Werbetrom- mel für die Blutspende, denn die Zahl der Spender ist rückläufig. Deutschlandweit wurden im vergangenen Jahr 2,93 Milli- onen Spenden gezählt, 48.500 weniger als im Jahr zuvor. Allein in Schleswig-­ Holstein und Hamburg werden pro Tag etwa 550 Blut­konserven benötigt. Seit kurzem werden homo- und ­bisexuelle Männer nicht mehr pauschal von der Blutspende ausgeschlossen. Die Antidiskriminierungsstelle des Landtages begrüßt grundsätzlich diese neue Richt­ linie der Bundesärztekammer. „Allerdings hat man eine Diskriminierung durch eine andere ersetzt“, kritisierte die Lei- terin der Diskriminierungsstelle Samiah El Samadoni­ Ende August. Von homo- Landtag auf der Norla und bisexuellen Männern werde vor der Der Landtag war Anfang September erneut auf der Landwirtschafts- und Spende eine einjährige Enthaltsamkeit Verbraucher­messe Norla vor Ort. Auf dem Rendsburger Messegelände standen Ab- gefordert, von heterosexuellen Männern geordnete und Mitarbeiter zu Gesprächen bereit. Infobroschüren und eine digitale jedoch nicht. Die Richtlinie berücksichti- Präsentation lieferten Informationen über das Parlament. Ein interaktives Quiz ge in ­keiner Weise Männer, die in festen lockte mit zahlreichen Preisen. Auf der größten Agrarmesse in Norddeutschland Partnerschaften lebten oder die geschütz- präsentierten sich in diesem Jahr rund 600 Aussteller aus ganz Deutschland und ten Sexualverkehr mit anderen Männern dem Ausland. Die Norla lockte erneut rund 70.000 Besucher an. hätten.

4 DER LANDTAG 03 /2017 ARBEIT „Arbeit ist das halbe Leben“

Stimmt dieser Spruch? Zumindest ist die Arbeit für die meisten Menschen sehr wichtig. Entweder, weil sie einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringen. Oder, weil sie dafür nicht das Geld bekommen, das sie für angemessen halten. Oder, weil sie zu wenig oder gar keine Arbeit haben und sich ausgegrenzt fühlen. Die Erwerbsarbeit hat im abgelaufenen Bundestagswahlkampf eine Einerseits wichtige Rolle gespielt, und auch der Landtag hat ... sich in jüngster Zeit mit verschiedenen Aspekten vermeldet der deutsche Arbeitsmarkt seit des Themas befasst. Auf den folgenden Seiten ­einigen Jahren einen Rekord nach dem anderen. 44,3 Millionen Menschen gehen einer Erwerbs- greifen wir einige Gesichtspunkte heraus. tätigkeit nach, so viele wie noch nie. Gleichzeitig sinkt die Arbeitslosenquote beständig. Im August lag sie in Schleswig-Holstein bei 6,1 Prozent. Vor zehn Jahren waren es noch 8,3 Prozent. Ein gro- ßer Teil der Beschäftigten in Deutschland scheint zufrieden: 45 Prozent sind seit mindestens zehn Jahren beim selben Arbeitgeber. Und: Die Gefahr, bei der Arbeit zu verunglücken, ist inzwischen gering. Pro Jahr gibt es statistisch gesehen einen tödlichen Arbeitsunfall pro 100.000 Erwerbs­ tätige. 1995 lag der Wert noch dreimal so hoch.

Andererseits ... gibt es auch negative Zahlen. 40 Prozent der Er- werbstätigen leiden unter einer zu hohen Arbeits­ intensität. Deutschlandweit haben 2,8 Millionen Beschäftigte über 25 Jahren nur einen befristeten Vertrag – meistens für weniger als ein Jahr. Das sind neun Prozent aller Arbeitnehmer und da- mit ein Drittel mehr als vor 20 Jahren. Fast jede zweite Neueinstellung ist befristet. Bundesweit 8,8 Millionen Beschäftigte stehen regel­mäßig nachts, an Feiertagen oder an Wochenenden auf dem Posten. Schleswig-Holstein schneidet im Bundesvergleich teilweise schlecht ab, etwa beim durchschnittlichen Brutto-Stundenlohn. Der liegt im Lande bei 20,62 Euro, weit unter dem westdeutschen Schnitt.

DER LANDTAG 03 /2017 5 ARBEIT Ladenöffnung: Wird der Sonntag zum Werktag ?

Das Grundgesetz schützt die Sonntagsruhe, aber der Urlauber schätzt den Sonntags­ einkauf. Die Jamaika-Koalition will deswegen gemeinsam mit Wirtschaft, Gewerkschaften und Kirchen prüfen, ob die Öffnungszeiten am siebten Wochentag ausgeweitet werden sollten. SPD und SSW pochten im Juli hingegen auf die seit 2013 gültige Bäderregelung. In der Debatte ging es um die Interessen der Tourismuswirtschaft und des Einzelhandels wie auch der Beschäftigten.

Insbesondere die FDP wolle offenbar „auf Es geht nicht nur Kosten der Arbeitnehmer die bestehende um Badeorte Rechtssicherheit unnötig aufkündigen“, schimpfte Regina Poersch (SPD). Ihre Forde- Neben der Bäderregelung geht es auch rung: Die Bäderverordnung, die Ende 2018 um die vier verkaufsoffenen Sonntage pro ausläuft, soll um weitere fünf Jahre verlängert Jahr, die jede Kommune im Land ausrufen­ werden. Die Jamaika-Partner betonten hin­ kann – also nicht nur Ferienorte. Laut einem gegen, dass es zunächst um eine ergebnis­ ­Gerichtsurteil können diese Shopping- offene Prüfung gehe, denn die Situation in Sonntage allerdings nicht willkürlich ter- der Tourismusbranche und im Einzelhandel miniert werden. Sie müssen an ein örtliches habe sich in den vergangenen Jahren ­massiv Groß­ereignis, etwa ein Volksfest, ange- ge­ändert. Der CDU-Abgeordnete Klaus dockt ­werden. Diese Regelung sei ungenau, ­Jensen von der Urlaubsinsel Pellworm merk- ­monierte Oliver Kumbartzky (FDP). Die te an: „Das Einkaufserlebnis als eines der Koalition wolle für „Vereinfachung und Top-­Urlaubsaktivitäten hat an Bedeutung Rechtssicherheit“ sorgen, denn der Sonntag gewonnen.“ Und Wirtschaftsminister Bernd sei „teilweise der umsatzstärkste Tag“. Buchholz (FDP) unterstrich: „Schleswig- Flemming Meyer (SSW) kritisierte, dass Regina Poersch Holstein ist ein Tourismusland“, und kein Jamaika nur über eine Flexibilisierung reden (SPD): „Arbeit­ Gast stehe gerne vor verschlossenen Türen. wolle, nicht aber über eine Einschränkung nehmer haben ein Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Eka von der Sonntagsöffnung. Dabei sei unklar, ob Recht auf Freizeit Kalben erwartete komplizierte Verhandlun- längere Öffnungszeiten tatsächlich im gan- und Feiertage.“ gen. Nicht nur Urlauber, Arbeitgeber, Arbeit- zen Lande gewünscht werden. „Hat sich die Zudem seien nehmer mit ihren Familien und die Kirchen, Bäderverordnung in Tönning bewährt, aber ­Arbeitsplätze in Gefahr, „wenn kleine Geschäfte sondern auch das Ehrenamt und der Sport in Travemünde nicht?“, fragte er. Hierüber den Wettbewerb gegen die Großen verlieren“. seien betroffen. „Wenn die Interessen so weit lägen bislang keine „systematischen Zahlen“ auseinander gehen, dann kann die Lösung nur vor. in einem Kompromiss liegen“, so von Kalben. Die AfD äußerte sich in der Debatte nicht, Klaus Jensen unterstütze aber bei der Schlussabstimmung (CDU): „Der die Position der Regierungskoalition. Online-Handel entwickelt sich zunehmend zu einer echten Kon­ kurrenz für den Einzelhandel.“ Deswegen sei es nicht sinnvoll, die jetzige Bäderverordnung einfach zu verlängern. Stichwort

Wirtschafts­ Bäderverordnung minister Bernd Die Absprache zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Kirchen sieht vor, dass die Buchholz (FDP): Läden in etwa 100 Urlaubsorten vom 17. Dezember bis 8. Januar sowie vom 15. März bis „Man kann einen 31. Oktober sechs Stunden pro Sonntag öffnen dürfen, und zwar im Zeitrahmen von 11 bis Feiertag nicht nur 19 Uhr. Dies gilt für Supermärkte oder Souvenirläden, die Waren des täglichen Bedarfs an- dann heiligen, bieten. Baumärkte, Autohäuser oder Möbelgeschäfte sind ausgenommen. Das Abkommen wenn die Geschäfte geschlossen sind.“ Weniger läuft im Dezember 2018 aus. Sonntagsöffnung als jetzt sei für ihn „keine Option“.

6 DER LANDTAG 03 /2017 ARBEIT

Viele Lehrer leiden unter Stichwort Stress im Klassenzimmer Lehrer und Gesundheit

Mehrere aktuelle Studien beschreiben die Der Landtag will Schleswig-Holsteins Verwaltungs­aufgaben oder eine bessere Arbeitsbelastung der Lehrer. gestresste Lehrer entlasten. Die ­Koalition ­Ausstattung der Arbeitsplätze. . Laut dem Verband Bildung und Erzie- will zunächst die Pädagogen im ­Lande Das Vorhaben der Koalition stieß im hung betrachtet knapp die Hälfte der ­be­fragen, Experten sollen dann im Grundsatz auch bei den Oppositions­ Lehrer die gestiegene Zahl an internen ­kommenden Jahr ein „Konzept zur Ver­ fraktionen auf Zustimmung. Umstritten war Konferenzen und Besprechungen als besserung des Gesundheitsmanagements“ lediglich, wann das Gesundheitskonzept vor- Stressursache. erstellen. liegen soll. SPD und SSW schlugen vor, das . Das Deutsche Ärzteblatt weist darauf stressige Ende des Schuljahres abzuwarten. hin, dass psychische und psychosoma- Grund für die Sorge: Die Belastung steigt Entsprechend würde es bis 2019 dauern, um tische Erkrankungen bei Lehrkräften seit Jahren. Lehrer müssen mit unterschied- die Bestandsaufnahme zu erstellen. Kai Vogel sehr viel häufiger vorkommen als bei lich begabten Kindern klarkommen, die (SPD) warf dem Jamaika-Bündnis einen anderen Berufsgruppen. Zu den Symp­ ­Digitalisierung managen, die Inklusion ­„unnötigen Schnellschuss“ vor. Die „Belas- tomen gehören Erschöpfung, Müdig- behinderter Schüler stemmen und Jungen tungsveränderungen im Laufe des Schul­ keit und Kopfschmerzen. und Mädchen mit ausländischen Wurzeln jahres“, etwa die Zeugniskonferenzen und . Der Philologenverband streicht heraus, integrieren. Hinzu kommen „administrative Abschlussprüfungen im Frühjahr, blende die dass die Arbeitszeit von Lehrern – Un- Aufgaben“, wie Konferenzen und Elternge- Koalition aus. Das Ergebnis der Lehrer­ terricht, Vorbereitung, Korrekturen, spräche, so Bildungsministerin Karin Prien befragung sei bereits absehbar, meinte Jette Konferenzen und Gespräche – erheb- (CDU). „Jeder fünfte Lehrer denkt an eine ­Waldinger-Thiering (SSW). Die Pädagogen lich über dem Durchschnitt der Lan- Frühpensionierung“, verwies Anita Klahn würden voraussichtlich mehr Personal an den desbeamten liege: um 215 Stunden pro (FDP) auf eine aktuelle Studie. „Das ist mehr Schulen fordern. „Wir hoffen sehr, dass die Jahr. als ein Alarmsignal.“ Tobias Loose (CDU) Landesregierung dann die richtigen Schlüsse . Die Technische Universität München verwies auf den Lärm im Klassenzimmer zieht“, so ­Waldinger-Thiering. hat herausgefunden, dass 40 Prozent und das manchmal gestörte Betriebsklima: Frank Brodehl (AfD) hielt es ebenfalls für der Grundschullehrer dauerhaft er- „Schülerinnen und Schüler, aber auch Leh- „realistischer“, mehr Zeit für das Konzept schöpft sind. 25 Prozent leiden häufig rerinnen und Lehrer sind nicht immer nett.“ einzuplanen. Als Mittel gegen Lehrer-Stress unter Nacken- oder Rückenschmerzen, Als Lösungsansätze­ nannte Ines Strehlau forderte er „einen Verzicht auf permanente 17 Prozent haben Schlafstörungen. (Grüne) mehr Teamarbeit, Entlastung bei Schulreformen und ständig neue Erlasse“. ­

DER LANDTAG 03 /2017 7 ARBEIT

Umfrage Anita Klahn, FDP, Industriemeisterin Druck:

„Meine berufliche Erfahrung „Nach meinem Realschulabschluss habe ich mich ganz bewusst für eine duale Berufsausbildung in der Druckindustrie ist das Fundament meiner entschieden, die mir stabil und zukunfts- sicher erschien, aber auch Perspektiven zu weiteren Qualifikationen ermöglichte. parlamentarischen Arbeit“ Wurden damals Zeitungen, Kataloge und so weiter noch mit viel händischer Arbeit in mittelständischen Unternehmen vor Ort Politiker zu sein, das ist kein Lehrberuf. Abgeordnete bringen erstellt, so sind heute viele Arbeitsschritte Erfahrungen aus ihrem Arbeitsleben mit ins Parlament. durch Technik ersetzt, werden die Druck- erzeugnisse in wenigen Großdruckereien Wir haben bei Parlamentariern aus allen Fraktionen produziert. Aktuell erleben wir, dass die nachgefragt, wie diese Erfahrungen im Landtag helfen, gedruckte Zeitung zunehmend von der digitalen Lesefassung abgelöst wird. Diesen und folgende Antworten bekommen. Wandel erleben wir auch in anderen Berufs- feldern. Fachkräfte werden europa- und auch weltweit in Konkurrenz um gute Arbeits- plätze stehen. Unsere Kinder müssen mit einer guten schulischen Bildung darauf vor- bereitet werden. Jette Waldinger­Thiering, Gleichzeitig veränderte sich das Familien- SSW, Lehrerin: bild. Ich wollte in meinem Beruf arbeiten und gleichzeitig Familie haben. Nicht nur, dass in der männerdominierten Druckindustrie „Als Lehrerin hatte ich in meinem Berufs- kaum Teilzeitarbeitsplätze angeboten wur- alltag mit ganz unterschiedlichen Menschen den, es fehlten auch Kita-Plätze. Als wir diese zu tun: vom Erstklässler bis zum jungen dann bekamen, waren die Elternbeiträge un- Erwachsenen, vielfältigen Kolleginnen und säglich hoch. Aus der Gesamtschau resultiert Kollegen und Eltern – und damit im Grun- mein politisches Engagement: beste Bildung de mit allen Altersgruppen und Menschen für unsere Kinder, damit diese ein selbst- unter schiedlichster Herkunft. Das war eine bestimmtes Leben führen können! Familien- ganz wunderbare Zeit, an die ich oft und und Wirtschaftspolitik gehören einfach gerne zurückdenke. Und gerade die intensive zusammen – es gibt noch viel zu tun!“ Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern vermisse ich bis heute. Denn junge Menschen sind häufig besonders offen und freuen sich auf neue Begegnungen. Vor diesem Hintergrund habe ich mich für meine Tätigkeit als Abgeordnete für die Be- reiche Bildung, Gleichstellung und Europa entschieden. Gleiche Startchancen, der es wichtiger denn je, dass wir über Grenzen barrierefreie Zugang zu Bildung und echte hinweg denken und über Grenzen hinweg Teilhabemöglichkeiten sind die Voraus- zusammenarbeiten. Für unser aller Zukunft setzungen für ein selbstbestimmtes Leben. ist nicht zuletzt die konstruktive und vertrau- Diese Dinge liegen mir besonders am Herzen ensvolle Zusammenarbeit im Ostseeraum und gerade hier bringe ich mein Wissen und unerlässlich. Hierfür und für ein solidarisches meine Erfahrung besonders gerne ein. und friedliches Europa werde ich mich auch Als Mitglied der dänischen Minderheit weiterhin einsetzen.“ bin ich es gewohnt, Brücken zu bauen um Barrieren zu überwinden. Gerade heute ist

8 DER LANDTAG 03 /2017 ARBEIT

Hauke Göttsch, CDU, Sandra Redmann, SPD, Agraringenieur: Buchhändlerin:

„Nach meinem Studium der Agrarwissen- „Meine Erfahrung als Buchhändlerin hilft schaften habe ich im vor- und nachgelagerten mir sehr oft bei meiner Tätigkeit als Parla- Bereich der Landwirtschaft gearbeitet, wo mentarierin, denn in beiden Bereichen gehe ich bis heute tätig bin. Parallel übernahm ich ich mit Menschen um. Als Buchhändlerin ab 1998 kommunalpolitische Mandate und habe ich gelernt, mit Menschen ins Gespräch Ämter in meiner Heimatgemeinde Ehndorf zu kommen und ihnen zuzuhören, sie zu (Kreis Rendsburg-Eckernförde) und bin seit beraten und ihnen Lösungen aufzuzeigen, 2013 Bürgermeister der Gemeinde. zum Beispiel wenn sie ein Buch als Geschenk suchten, aber nicht genau wussten, welche Art von Buch, welcher Autor, welches Thema dem Beschenkten Freude machen würden. Dazu gehört natürlich auch, dass ich mich mit Büchern gut auskennen und wissen muss, wovon ich rede. In der Politik geht es auch darum, mit Men- schen darüber zu sprechen, was sie bewegt und was ich Ihnen als Lösung anbieten kann, natürlich auf der Grundlage meiner Grund- Marret Bohn, Grüne, werte und Überzeugungen. Ich habe schon immer SPD gewählt. Eine meiner Kundin- Ärztin: nen war im Ortsverein Bad Schwartau und fragte mich, ob ich nicht mal in eine Sitzung „Da ich im Landtag die einzige Ärztin bin, kommen möchte. Dies war der Einstieg in die werde ich oft gefragt, auf welchem Weg ich Kommunalpolitik.“ in die Politik gekommen bin und warum ich mich für Gesundheits- und Sozialpolitik engagiere. Meine berufliche Erfahrung ist das Fundament meiner parlamentarischen Arbeit. Ich bin von Hause aus Internistin und habe im Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster mit großer Begeisterung Zwar macht mir die Kommunalpolitik bis auf der Intensivstation gearbeitet. Da liegt zum heutigen Tage sehr viel Spaß, dennoch es für mich auf der Hand, dass ich in meiner entwickelte sich im Laufe der Zeit auch durch Fraktion für Gesundheitspolitik engagiere. die Arbeit in meinem Beruf der Wunsch, Mein Lieblings beispiel: Der Abbau des Sanie- landespolitisch tätig zu werden. Auf Landes- rungsstaus der Krankenhäuser in Schleswig- ebene sind die Gestaltungsspielräume für Holstein. Mit vielen Beispielen aus meiner eine Verbesserung der hiesigen Landwirt- täglichen Arbeit im Krankenhaus konnte schaftspolitik, der ich mich sehr verbunden ich meine Fraktion überzeugen, dies zum fühle, deutlich größer als auf kommunaler Schwerpunkt unseres Sanierungsprogramms Ebene. Seit 2009 gehöre ich dem Landtag als zu machen. Am Ende war der Beschluss sogar Mitglied des Umwelt- und Agrarausschusses einstimmig – darüber habe ich mich riesig an, dem ich zwischen 2012 und 2017 vorstand. gefreut. Ob es um die Arbeitsbelastung im Für mich war von Anbeginn meiner landes- UKSH, um die Situation der Pflege oder in politischen Tätigkeit klar, dass ich meine im der Geburtshilfe geht, ich habe immer die Studium und im Berufsleben angeeigneten Patienten im Blick und ein offenes Ohr für die Kenntnisse und Fähigkeiten in jenem Aus- Beschäftigten. Für meine parlamentarische schuss am effektivsten anwenden kann. Ich Arbeit sind auch meine guten Kontakte als kenne die aktuellen Herausforderungen der ehemalige Betriebsrätin sehr hilfreich.“ Landwirtschaft durch meinen Beruf, dem ich nach wie vor nachgehe, sehr genau und kann daher die Landwirte in meinem Ausschuss wirkungsvoll unterstützen.“

DER LANDTAG 03 /2017 9 IM RÜCKBLICK VOR 61 JAHREN

Was hat die Landespolitik in früheren Zeiten bewegt? In dieser Serie blicken wir ins Archiv und spüren nach, was den Landtag in vergangenen Zeiten beschäftigt hat. Diesmal geht es ins Jahr 1956, als die schleswig-holsteinischen Metallarbeiter in einem viermonatigen Streik für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kämpften.

Alle Räder stehen still: Streikposten vor dem Werkstor Ein Relikt aus dem Jahr 1897 sorgte knapp der Kieler Howaldt-Werft 1956: 60 Jahre später für einen der längsten Streiks in der deutschen Geschichte. Ende des 19. Jahrhunderts beschloss der Reichstag ein Metallarbeiter Gesetz, das Angestellten im Krankheitsfall hatte die Industriegewerkschaft Metall die die volle Lohnfortzahlung für sechs Wochen­ Lohnfortzahlung im September 1956 zum garantierte. Arbeiter blieben jedoch von „Dreh- und Angelpunkt gewerkschaftlicher an der Küste ­dieser sozialpolitischen Errungenschaft aus- Politik der nächsten Zeit“ erklärt. geschlossen, und sie blieben es nicht nur Die Metallarbeiter in Schleswig-Holstein im Kaiserreich, sondern auch während der waren die ersten, die diese Forderung durch- im ­Weimarer Republik, der Nazi-Zeit und der setzen wollten. Nachdem Verhandlungen ersten Jahre der Bundesrepublik. mit den Arbeitgebern gescheitert waren, ­traten am Mittwoch, den 24. Oktober 1956, zu Kein Geld an den Beginn der Frühschicht 32.000 Beschäftigte Rekord-Streik ersten drei Tagen aus 25 Betrieben in Kiel, Lübeck, , Das hatte gravierende Auswirkungen. Elmshorn und Lauenburg in den Ausstand. Wurde ein Arbeiter krank, musste er zunächst Schwerpunkt war der Schiffbau, allein in Kiel drei „Karenztage“ überstehen, in denen­ er gar beteiligten sich 11.000 Arbeiter der Howaldt- keinen Lohn bekam. Anschließend gab es ein Werft. „Haus- und Krankengeld“, das nur etwa die „Gefährdung der Hälfte des Arbeitslohns betrug. Männer waren­ Wirtschaftskraft“ in den 1950er-Jahren in der Regel Allein­ verdiener, und ein Fabrikarbeiter brachte im Der Landtag beriet am 14. November über Schnitt 350 D-Mark nach Hause. Fiel er über die angespannte Lage. Der Streik wirkte sich längere Zeit aus, nagte die gesamte­ Familie inzwischen auf das gesamte Wirtschaftsleben am Hungertuch. Und die Zeiten ­waren hart in im Norden aus, und eine Lösung war auch den Fabriken und auf den Werften. Im stren- nach drei Wochen nicht absehbar. Minister- gen Winter 1955/56 zog eine Erkältungswelle präsident Kai-Uwe von Hassel (CDU), der durchs Land. Während des Jahres 1955 hatte mehrere erfolglose Vermittlungsversuche fast jeder vierte Werftarbeiter an Nord- und unternommen hatte, warnte vor den „gefähr- Ostsee einen Unfall. Vor diesem Hintergrund lichen Folgen für unsere mit großen Opfern

10 DER LANDTAG 03 /2017 IM RÜCKBLICK der gesamten Bevölkerung aufgebaute junge Walter Damm von der oppositionellen „Man soll nicht dramatisieren, was an einzel- schleswig-holsteinische Wirtschaft und die SPD warf Konservativen und Liberalen hin- nen Stellen einmal passiert“, entgegnete der mit erheblichen Mühen erreichte Verbes- gegen vor, kein Verständnis für die Lebens- Sozialdemokrat Damm. serung des sozialen Lebensstandards“. Der wirklichkeit „an der Drehbank oder vor dem Auf den verwaisten Werften, wo nur noch Streik führe zu Produktionsausfällen, und Hochofen“ zu haben: „Man muss einmal Angestellte und Lehrlinge zum Dienst an­ die Werften hätten „fast keine Neuaufträge“ an der Stelle des Arbeiters gestanden haben traten, herrschte weitgehender Stillstand. Die mehr. Auch in Zulieferbetrieben drohten Ent- und muss spüren, wie eine Krankheit auf Lübecker Flender-Werft sagte den Stapellauf lassungen und Kurzarbeit. Ein Neben­effekt, ­einen zukommt und man nicht in der Lage­ eines Neubaus ab. Die Taufpatin, die Frau so der Regierungschef: „Allein im Raum Kiel ist, rechtzeitig zum Arzt zu gehen, weil die ­eines indischen Ministers, reiste ab, ohne ist der Verbrauch an elektrischer Energie seit ­Kinder dann nicht mehr versorgt wären und die Sektflasche geschleudert zu haben. Die Beginn der Streiks um 25 bis 40 Prozent zu- weil die Miete nicht mehr bezahlt werden Werktätigen mussten mit etwa 70 D-Mark rückgegangen“. Hans Kersig (FDP) erinnerte könnte.“ Damm setzte, wie der gesamte Streikgeld pro Woche auskommen. Um sie an die bevorstehenden Feiertage und die dro- Landtag, auf eine baldige Schlichtung: „Ich und ihre Angehörigen bei Laune zu halten, henden Einbußen im Einzelhandel: „Denken glaube, dass es, sobald die Partner an einem organisierte die IG Metall Kinovorstellungen,­ wir doch einmal an die Auswirkungen, die Tisch sitzen, keine 24 Stunden dauern wird, ­Revue-Abende und „Hausfrauennach­ dieser Streik jetzt zum Weihnachtsfest hat, bis der Streik zu Ende ist.“ mittage“. Ganz so freudlos wie befürchtet wenn die Hausfrauen von ihren Männern wurden die Feiertage dann doch nicht: Zu Feindschaft und oder von ihren Söhnen Geld erbitten, um Weihnachten trafen Päckchen und Geld­ Weihnachtspakete ­Geschenke zu kaufen, mit denen sie den An- spenden von solidarischen Mitbürgern aus gehörigen Freude machen wollen. Das wird Da irrte er sich. Die Fronten blieben ver- ganz Deutschland im Norden ein. in diesem Jahr schwerlich möglich sein.“ härtet, teilweise herrschte offene Feind- Am Ende stand ein schaft. Der Streik weitete sich aus, am Ende „Verständnis Teilerfolg waren 35.000 Menschen in 38 Betrieben be- für die Arbeiter“ teiligt. Die Wirtschaftsverbände schalteten Unterdessen liefen Schlichtungsver- Der damals 28 Jahre alte ­CDU-Abgeordnete Zeitungs­anzeigen, in denen sie an Arbeits­ handlungen. Ein erster Vorschlag stand am Gerhard Stoltenberg, später lang­jähriger willige appellierten: „Zeigt Zivilcourage! ­Sil­vestertag 1956 zur Abstimmung – und Ministerpräsident, hielt den Streik ausge- Lasst Euch durch den Terror der Gewerk- fiel mit einem Nein-Votum von 97 Pro- rechnet im Armenhaus Schleswig-Holstein schaft nicht einschüchtern!“ Die konservative zent bei den Arbeitern glatt durch. Auch ein für fehl am Platze: „Warum verlangt „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ befürchte- ­zweites und ein drittes Kompromisspapier man bei uns mit der schweren Waffe des te eine „verstärkte Tendenz zum Krankfeiern fanden keine Mehrheit. Erst Urabstimmung Streiks, was in den blühenden ­Industrien und zur illegalen Arbeitszeitverkürzung“, ­Nummer vier am 14. Februar 1957 führte zum ­Nordrhein-Westfalens, was im reichen sollte die Lohnfortzahlung kommen. Ende des Streiks – nach 114 Tagen. Hamburg nicht vereinbart wurde?“ Zudem, Andererseits wurden arbeitsbereite Kolle- Die Metallarbeiter hatten einen Teilerfolg so Stoltenberg, habe es doch bereits einen gen als „Streikbrecher“ unter Druck gesetzt. erzielt. War ein Beschäftigter mehr als eine großen Schritt nach vorne für die Industrie- Die Flensburger Streikleitung versandte Woche krank, so wurden ihm 1,5 „Karenz­ arbeiter gegeben: das „Bremer Abkommen“ ­Briefe, in denen es hieß: „Judas verkaufte tage“ erstattet. Bei zwei Wochen Krank- zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften seinen Herrn für 30 Silberlinge. Wofür ver- schreibung wurden alle drei „Karenztage“ aus dem September 1956, das die Wochen­ kaufst Du Deine Kollegen?“ CDU-Mann bezahlt. Und: Das Krankengeld stieg auf 90 arbeitszeit von 48 auf 45 Stunden reduzierte – Stoltenberg beklagte in der Landtagsdebatte Prozent des Nettolohns. bei einem gleichzeitigen Lohn-Plus von acht die „Schmähungen von Arbeitswilligen“, die Allerdings: Diese Einigung wurde nur Prozent. teils auch in körperliche Angriffe ausarteten. per Tarifvertrag festgeschrieben. Die für die Arbeiter so folgenschwere gesetzliche ­Ungleichbehandlung aus dem Jahr 1897 galt zunächst weiter. Aber auch hier sei eine ­Lösung in Sicht, waren die Landtagsabgeord- neten im November 1956 überzeugt. Schließ- lich berate­ der bereits über dieses Thema, müsse jedoch zuerst eine andere sozialpolitische­ Weichenstellung bewältigen:­ die ­umlagefinanzierte Rente. „Und man soll- te den Bundestagsabgeordneten bei dem Umfang dieser Arbeit nicht mehr zumuten“, ­betonte der FDP-Parlamentarier Kersig. Doch auch nach der wegweisenden Renten­reform dauerte es noch Jahre, bis die vollständige Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten im Bürgerlichen Gesetz- buch stand. Sie trat erst zum 1. Januar 1970 in Kraft. Unterschiedliche Meinungen zum Streik: der Landtag 1956 Karsten Blaas

DER LANDTAG 03 /2017 11 ARBEIT

Gesucht I: Gesucht II: Mehr Personal in der Pflege Rezepte für die sichere Rente Stichwort „Pflegenotstand“: In jüngster Zeit machten Am Ende jahrzehntelanger Arbeit steht für viele Menschen ­Meldungen die Runde, wonach an einigen Krankenhäusern ­eine spärliche Rente. Wie kann die Politik gegensteuern? im Lande Operationen abgesagt und ganze Stationen Im Landtag lagen im September verschiedene Konzepte ­ geschlossen werden mussten – wegen Personalmangel. gegen Altersarmut auf dem Tisch: etwa die Garantie-Rente, Vor diesem Hintergrund hat der Landtag im September die ­private Vorsorge oder die Finanzierung des Rentensystems einmütig vom Bund strengere Standards gefordert. über Steuern. Birte Pauls (SPD) regte eine gesetzliche Regelung dazu an, wie Die SPD fordert, ein Rentenniveau von mindestens 48 Prozent des viele Patienten eine Pflegekraft höchstens betreuen darf. Erst wenn letzten Nettoeinkommens festzuzurren und gleichzeitig den Beitrags- ­genügend Personal auf der Station sei und der Dienstplan verlässlich satz von heute 18,7 Prozent bei 22 Prozent zu deckeln. Fraktionschef sei, „dann bleiben die Pflegekräfte auch wieder in diesem eigentlich Ralf Stegner warb für eine „Solidarrente“, die „sich deutlich von der wunderbaren Beruf.“ Grundsicherung abhebt“. Und: Das Rentenalter soll nicht über 67 Der Bund habe bereits reagiert, betonte Katja Rathje-Hoffmann Jahre hinaus erhöht werden. „Wir müssen jetzt handeln, damit das (CDU). Sie verwies auf das Pflegestellen-Förderprogramm in Höhe Rentenniveau 2030 nicht bei 43 Prozent liegt“, so Stegner. Eine „Min- von 660 Millionen Euro für die Jahre 2016 bis 2018 und den Pflege- destrente“ wäre auch für Flemming Meyer (SSW) ein richtiger Schritt. zuschlag von jährlich 500 Millionen Euro für mehr Personal. Zudem Der „große Wurf“ sei allerdings ein Systemwechsel zu einer steuer­ seien strikte Personaluntergrenzen erforderlich, „weil einige Kliniken finanzierten Rente nach dänischem Vorbild. in der Vergangenheit sehr gespart haben“, so Rathje-Hoffmann. Aller- CDU, Grüne und FDP betonten, dass „jeder Schritt zur Vollbeschäf- dings, mahnte Dennys Bornhöft (FDP), könne man nicht „mit einem tigung auch ein Schritt zur besseren Finanzierung der Renten ist“. Eine Federstrich eine Vielzahl neuer ausgebildeter Pflegekräfte“ anwerben. Anhebung des Rentenalters „streben wir nicht an“, heißt es in dem Er forderte die Kliniken auf, Tariflöhne zu zahlen, um den Job attrak- gemeinsamen Antrag. „Daneben werden aber auch private Vorsorge tiver zu gestalten. und betriebliche Alterssicherungselemente von Bedeutung sein“, un- Frank Brodehl (AfD) monierte ebenfalls die schlechte Bezahlung in terstrich Werner Kalinka (CDU). Das sah auch Dennys Bornhöft (FDP) der Branche: „Eine Krankenschwester beziehungsweise -pflegerstun- so: „Wer sich hinstellt und sagt, die gesetzliche Rentenversicherung de kann nur deshalb so viel weniger kosten als eine Monteurstunde, allein wird für ein gesichertes Einkommen im Alter sorgen, versündigt weil unter teils menschenunwürdigem Zeitdruck gearbeitet wird.“ sich an der jungen Generation.“ Wichtig sei es zudem, Menschen mit Und Flemming Meyer (SSW) forderte mehr Landesgeld für die Kran- niedriger Rente „in Zukunft nicht mehr zum Sozialamt zu schicken“, kenhäuser. Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) kritisierte die sagte Sozialminister Heiner Garg (FDP). bundesweit unterschiedlichen Fallpauschalen für die Kliniken, die im Ein Grund für geringe Rentenansprüche, so Frank Brodehl (AfD): Norden besonders niedrig ausfielen. Er kündigte für 2018 eine Million „Die prekären Arbeitsverhältnisse im Niedriglohnsektor steigen und Euro zusätzlich für Schulplätze in der Altenpflege an. steigen.“ Um gegenzusteuern forderte er eine „gesetzlich festgeschrie- Marret Bohn (Grüne) wies darauf hin, dass es in wenigen Jahren be- bene Obergrenze an Zeitarbeitsverträgen in allen Betrieben“. Die reits 125.000 Pflegebedürftige im Lande geben werde. Derzeit sind es Grünen-Abgeordnete Marret Bohn wies darauf hin, dass Altersarmut 89.000. Die Folge: Fachkräftemangel. Im Jahr 2035 könnte es deutsch- insbesondere Frauen treffe. In Schleswig-Holstein hätten Männer eine landweit insgesamt 270.000 Pflegekräfte zu wenig geben, so Bohn. Durchschnittsrente von 1098 Euro, Frauen jedoch nur von 603 Euro. Niedrigrenten seien „Sprengstoff für unsere Gesellschaft“.

12 DER LANDTAG 03 /2017 EHRENAMT

Meldungen für das Ehrenamt Viele Beschlüsse, die der Landtag fasst, haben direkte Auswirkungen auf Kommunalpolitik,­ Vereins­ arbeit und Bürger­initiativen.

Auf dieser Seite finden ehrenamtlich­ engagierte ­Bürger diese Themen im Überblick.

Ausbaubeiträge: Seit 2012 müssen Volker Schnurrbusch bemängelte, dass Gesetze, anders als Bundestag und Landtag. ­Kommunen Haus- und Wohnungsbesitzer ­Anlieger oft noch nach Jahren zur Kasse ge- Deswegen dürfe es dort auch keinen „der­ zur Kasse bitten, wenn die Straßen­ vor ihrer beten würden. Viele Kommunen hätten gar artig tiefgreifenden Eingriff in das Wahl- Tür ausgebaut werden. keine Satzungen, und wenn, dann würden recht“ wie eine Eintrittshürde für Parteien Das soll sich mit einem Gesetzentwurf der sie oft nicht oder intransparent umgesetzt. geben. Jamaika-Koalition ändern. CDU, Grüne und Der Innen-­ und Rechtsausschuss berät die Kay Richert (FDP) warf der SPD eine FDP wollen es den Städten und Gemeinden Gesetzentwürfe­ weiter. ­„Arroganz der Größe“ vor und verteidigte künftig wieder selbst überlassen, ob sie von die Vielfältigkeit der kommunalen Volks- Anwohnern Beiträge für den Straßenaus- Sperrklausel bei Kommunalwahlen: vertretungen: „Demokratie darf anstren- bau erheben oder nicht. Die Beträge seien Auch bei der Kommunalwahl am 6. Mai 2018 gend sein.“ Jörg Nobis (AfD) argwöhnte, eines „der meist beklagten Themen in den wird es voraussichtlich keine Sperrklausel die SPD strebe offenbar eine „bewusste Kommunen“, sagte Innenminister Hans- für kleine Parteien geben. Zwar will die SPD Beschneidung der Minderheitenrechte“ in Joachim Grote (CDU) in der September-­ eine Hürde von 2,5 Prozent errichten und den Kommunalvertretungen an. Und Lars Sitzung. Für manche Bürger ­seien die Bei- so eine „Zersplitterung“ der Stadträte und Harms (SSW) warnte davor, „die parla- träge ein existenzielles Pro­blem. Mit dem Kreistage verhindern. Eine Mehrheit ist aber mentarische Demokratie auf kommunaler Gesetzentwurf von CDU, Grünen und FDP nicht in Sicht. Das liegt am Gegenwind von Ebene aufzuweichen“ und appellierte an werde nichts verboten. Aber: „Es sollte an- Grünen, FDP, AfD und SSW – und an der die Sozial­demokraten: „Mehr Demokratie hand der örtlichen, individuellen­ Verhält- Koalitionstreue der CDU. wagen!“ nisse entschieden werden.“ Es gebe mehrere Die Union hatte im Wahlkampf sogar Eine 2,5-Prozent-Hürde würde sich Alternativen, beispielsweise eine Erhöhung eine Vier-Prozent-Hürde gefordert, gab voraus­sichtlich nur in größeren Orten und der Grundsteuer oder Ratenzahlung. sich in der Juli-Sitzung aber ablehnend, mit den vier kreisfreien Städten Kiel, Lübeck, Der FDP-Abgeordnete Stephan Holowaty Rücksicht auf die Jamaika-Partner Grüne Flensburg und Neumünster sowie in den elf sprach von „einem der größten Ärgernisse“. und FDP. Sie habe „durchaus Sympathie“ Landkreisen auswirken. Die Beiträge seien eine „ständige Quelle für den SPD-Plan, so die Abgeordnete Petra für Unfrieden“. Nach Ansicht der CDU- Nicolaisen. Aber: „Wir halten uns an den Gemeinderäte: Einstimmig hat der Innenpolitikerin ist die Koalitionsvertrag.“ ­Landtag im Juli die Zahl der Gemeinde- Entscheidung vor Ort am besten zu treffen: Thomas Rother (SPD) warb dennoch bei vertreter in Boostedt (Kreis Segeberg) und „Das Zauberwort heißt kommunale Selbst- der Union um Zustimmung und lud für die Seeth (Kreis Nordfriesland) korrigiert. Dort verwaltung.“ Beratungen im Innen- und Rechtsausschuss war die Einwohnerzahl zwischenzeitlich Kritik kam von der SPD. „Mit einer Ab- zu einer „große Koalition der Vernunft“ stark gestiegen, wegen der Unterbrin- schaffung hat dieser Gesetzentwurf gar ein. Es müsse darum gehen, die „teilweise gung von Flüchtlingen. Beide Orte ­hatten nichts zu tun“, sagte die Innenpolitikerin Arbeits­unfähigkeit“ der Gremien zu behe- des­wegen zum Stichtag 31. Dezember Beate Raudies. Tatsächlich verschiebe die ben, wo stabile Mehrheiten immer schwerer 2015 ­einen Grenzwert überschritten und Koalition die Verantwortung nur in die zu vereinbaren seien und eine längerfristi- ­müssten ihre Gemeindevertretungen um kommunalen Verwaltungen. Schwer taten ge, verlässliche Haushaltswirtschaft kaum zwei be­ziehungsweise vier Sitze aufstocken.­ sich die Grünen, die das derzeitige Gesetz noch möglich sei. Da die SPD nicht nur das Die Zahl der Asylbewerber ist inzwischen 2012 mitbeschlossen hatten. „Das war kein Gemeinde- und Kreiswahlgesetz, sondern allerdings wieder gesunken. Die Orte liegen leichter Gang für uns“, sagte die Abgeord- auch die Landesverfassung ändern will, nun wieder unter dem Grenzwert. Ent- nete Ines Strehlau: „Unsere Sorge war und ­wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Land- sprechend wurde auf Initiative von CDU, ist weiterhin: Es darf nicht zu einem Wett­ tag erforderlich.­ Grünen und FDP das Gemeinde- und bewerb unter den Kommunen kommen.“ Burkhard Peters (Grüne) sperrte sich Kreiswahlgesetz für die beiden Sonderfälle Auch der oppositionelle SSW hält den ­gegen eine Mindestklausel und verwies auf geändert. Für Boostedt und Seeth gilt nun Gesetzentwurf grundsätzlich für richtig. ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts der Stichtag 30. September 2015 – vor dem Die AfD legte einen eigenen Gesetzent- aus dem Jahr 2008, das er als Jurist selbst Zuzug der Flüchtlinge. Damit entspricht die wurf vor, der den Ermessensspielraum erfochten hatte. Kernpunkt: Kreistage wäh- Größe des neuen Gemeinderats der tatsäch- der ­Gemeinden betont. Der Abgeordnete len keine Regierung und beschließen keine lichen Einwohnerzahl.

DER LANDTAG 03 /2017 13 PERSONALIEN

Doris von Sayn-Wittgenstein, AfD- Kristin Alheit, von 2012 bis Juni 2017 Landtagsabgeordnete, ist neue Landesvorsit- Sozialministerin, wird neue Geschäftsführe- zende ihrer Partei. Sie setzte sich Mitte Juli auf rin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes einem Parteitag in Henstedt-Ulzburg (Kreis Hamburg. Sie übernehme das Amt des ge- Segeberg) gegen den bisherigen Landesvorsit- schäftsführenden Vorstands am 1. Oktober zenden und Fraktionsvorsitzenden im Land- von Joachim Speicher, der den Verband aus tag, Jörg Nobis, durch. Sayn-Wittgenstein familiären Gründen verlasse, teilte die Or- bekam nach Angaben eines Parteisprechers ganisation Mitte September mit. Vor ihrem im sogenannten Akzeptanzwahlverfahren 68 Ministeramt war die Sozialdemokratin unter Prozent der Stimmen. Nobis erhielt demnach anderem Bürgermeisterin von Pinneberg. 50 Prozent. Bei diesem Wahlverfahren kön- nen Wähler für mehrere Kandidaten votieren.

Flemming Meyer steht für weitere zwei Jahre an der Spitze des SSW. Beim Landes- Klaus Buß, ehemaliger Innenminister parteitag Mitte September in Husum wurde und SPD-Landtagsabgeordneter, ist Sonder­ Meyer ohne Gegenstimme bei einer Enthal- beauftragter der Landesregierung im Zu­ tung im Amt bestätigt. Der Landtagsabgeord- sammenhang mit den Ermittlungen zur nete aus Handewitt ist seit 2005 Vorsitzender Rockerkriminalität. Innenminister Hans- der Partei der dänischen Minderheit. Joachim Grote (CDU) berief ihn Ende Juli auf diesen Posten. Hintergrund ist eine Affäre Anette Langner, SPD-Landtagsabgeord- um mögliche Aktenmanipulation und unter- nete von 2005 bis 2012 und anschließend drückte Beweismittel bei Ermittlungen gegen Staatssekretärin im Sozialministerium, Rocker im Jahr 2010. Außerdem ermittelt die ­gehört ab Anfang Oktober dem Vorstand des Jutta Schümann, ehemalige SPD- Staatsanwaltschaft Lübeck wegen des Ver- Deutschen Roten Kreuzes (DRK) Schleswig Landtagsabgeordnete, ist neue Vorsitzende dachts der Überwachung von Journalisten der Holstein an. Das gab der DRK-Landesverband des NDR-Landesrundfunkrates Schleswig-­ „Kieler Nachrichten“ durch die Landes­polizei. Ende Juli bekannt. Langner ist zuständig für Holstein. Das teilte der NDR Anfang Juli Buß saß von 2001 bis 2005 im Landtag,­ von die Bereiche Soziales, Personal und Bildung. mit. Die Neumünsteranerin, von 2000 bis 2000 bis 2005 war er Innenminister. Sie übernimmt den Posten des ehemaligen 2009 im Parlament, wurde für eine fünf- Landtagspräsidenten Torsten Geerdts, der jährige Amtsperiode gewählt. Der Landes- Britta Ernst, von 2014 bis Juni 2017 nach der Wahl im Mai als Staatsekretär ins rundfunkrat überwacht die Einhaltung der ­Bildungsministerin, ist seit Ende September Innenministerium gewechselt ist. Programmanforderungen für die Landes- in der Landesregierung von Brandenburg für programme in Radio und TV und berät den Bildung, Jugend und Sport zuständig. Die Landesfunkhausdirektor.­ SPD-Politikerin ist Nachfolgerin von Günter Baaske, der sein Ministeramt aus privaten Gründen niedergelegt hat. Runde Geburtstage Karenzzeiten: Einstimmig hat der Land- tag im Juli der Einrichtung des ­„Gremiums Egon Schübeler aus Rügge bei Kappeln, von 1967 bis 1987 für die CDU im Landtag, nach Paragraf 8a des Landesminister­gesetzes“ Landtagsvizepräsident von 1975 bis 1987, hat am 4. September seinen 90. Geburtstag zugestimmt. Dessen Aufgabe ist es, gegen- gefeiert.­ über der Landesregierung eine Empfeh- Friedrich-Carl Wodarz aus Bad Oldesloe, von 1996 bis 2005 für die SPD im Landtag, lung auszusprechen, ob und wie lange ein hat am 1. September seinen 75. Geburtstag gefeiert. Minister eine Karenzzeit einhalten muss, wenn er aus dem Amt scheidet und einen Frauke Walhorn aus Oelixdorf bei Itzehoe, von 1987 bis 2000 für die SPD im Landtag, Posten in der Wirtschaft annehmen will. hat am 6. September ihren 75. Geburtstag gefeiert. Das Gremium tagt nicht öffentlich, be- steht aus einem Mitglied pro Fraktion und Volker Lemke aus Lübeck, von 1983 bis 1987 für die CDU im Landtag, hat am 27. Sep- ist zur Verschwiegenheit verpflichtet. Als tember seinen 75. Geburtstag gefeiert. Mitglieder bestimmte das Parlament Tobias Anke Spoorendonk aus Busdorf bei Schleswig, von 1996 bis 2012 für den SSW im Koch (CDU), Ralf Stegner (SPD), Eka von Landtag, von 2012 bis 2017 Justizministerin, hat am 21. September ihren 70. Geburtstag Kalben (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP), gefeiert. Jörg Nobis (AfD) und Lars Harms (SSW).

Ulrich Schley aus Kölln-Reisiek bei Elmshorn, von 1988 bis 1996 für die CDU im ­Landtag, hat am 28. September seinen 70. Geburtstag gefeiert. Herzlichen Glückwunsch!

14 DER LANDTAG 03 /2017 PERSONALIEN

Medienrat: Der Landtag hat im Juli die schleswig-holsteinischen Mitglieder im ­Medienrat der Medienanstalt Hamburg/ Schleswig-Holstein (MA HSH) gewählt. Es sind der ehemalige Landtagspräsident Mar- tin Kayenburg (CDU) aus Itzehoe, Lothar Hay (ehemaliger SPD-Fraktionschef und ­Innenminister) aus Hattstedt sowie Heike Thode-Scheel (Quarnbek), Claudia Jacob (Berlin), Jürgen Koppelin (Bad Bramstedt)­ und Susanne Günther (Kiel). Die Wahl er- folgte mit breiter Mehrheit, lediglich die AfD stimmte dagegen. Die MA HSH erteilt Zulassungen für private Hörfunk- und Fern- sehprogramme und überprüft die Einhaltung der medienrechtlichen Bestimmungen in den von ihr lizenzierten Programmen und in ­Telemedien, vor allem im Internet. Ihr besonderes Augenmerk gilt dem Jugend­ medienschutz.

Richterwahlausschuss: Wie zu Be- ginn jeder Wahlperiode hat der Landtag Morten Pawletta (li.) hat Am 1. September seine dreijährige Ausbildung zum Fach­ den Richter­wahlausschuss neu besetzt. Der angestellten für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Bibliothek, in der Ausschuss entscheidet gemeinsam mit dem ­Landtagsverwaltung angetreten. Der 20-jährige Kieler ist bereits der fünfte Azubi in diesem Justizministerium über die Besetzung von Bereich, seit der Landtag im Jahr 2006 seine Ausbildungsinitiative gestartet hat. Landtags­ Richterposten in Schleswig-Holstein. Als direktor Utz Schliesky überreichte den Ausbildungsvertrag. ­gewählte Mitglieder des Landtages gehören Schliesky hat Anfang September­ für drei Jahre die ehrenamtliche Leitung des Förder- dem Gremium Claus Christian Claussen, vereins Schleswig-Holsteinisches Freilichtmuseum in Molfsee bei Kiel übernommen. Der ­Lukas Kilian, Tobias Koch (alle CDU), Özlem Posten war vakant, nachdem der vorherige Amtsinhaber Roland Reime im März ver­storben Ünsal, Stefan Weber (beide SPD), Burkhard war. Peters (Grüne), Wolfgang Kubicki (FDP) und Doris von Sayn-Wittgenstein (AfD) an. Wenn über eine Anstellung, Beförderung Nordischer Rat: Jette Waldinger-­Thiering Tobias Koch (CDU), Ralf Stegner (SPD), oder Versetzung in der Arbeits- oder der (SSW) und Kay Richert (FDP) ­werden den Burkhard Peters (Grüne), Wolfgang Kubicki ­Sozialgerichtsbarkeit zu entscheiden ist, ge- Landtag als beobachtende Mitglieder beim (FDP), Doris von Sayn-Wittgenstein (AfD) hören auch Katja Rathje-Hoffmann (CDU), Nordischen Rat vertreten. Der Nordische Rat und Lars Harms (SSW) an. Kerstin Metzner und Birte Pauls (beide SPD) ist ein Forum der nordischen Parlamente, dem sowie Ines Strehlau (Grüne) zum Wahl­ Dänemark, Island, Schweden,­ Norwegen und Stiftung Schloss Eutin: Der Landtag hat ausschuss. Finnland angehören.­ Einen Beobachtersta- im September Tim Brockmann (CDU) als tus haben Estland, Lettland und Litauen. Das Parlamentsvertreter in den Stiftungsrat der Kulturstiftung: Der Landtag hat Anita Präsidium des Rates hatte im September 2016 Stiftung Eutin gewählt. Die Abgeordneten Klahn (FDP) und Martin Habersaat (SPD) zu beschlossen, Schleswig-Holstein aufgrund folgten damit einem fraktionsübergreifenden Mitgliedern des Stiftungsrates der Kultur­ seiner engen Kontakte in den Norden einzu- Kandidatenvorschlag. stiftung Schleswig-Holstein bestimmt. Das binden. Plenum folgte einem Wahlvorschlag von Büchereiverein: Anette Röttger (CDU) CDU, SPD, Grünen und FDP. Die Kultur­ G13-Kommission: Das bereits im Juni und Beate Raudies (SPD) gehören dem stiftung engagiert sich seit ihrer Gründung gewählte Parlamentarische Kontrollgremi- neun­köpfigen Vorstand des Bücherei­vereins 1984 für Kunst und Kultur im Lande. um für den Verfassungsschutz ist nun auch Schleswig-Holstein an, der sich hauptsächlich­ für alle Eingriffe der Behörden zuständig, die um die Fahrbüchereien im Lande kümmert. Artikel 13 des Grundgesetzes betreffen. Die- ser Artikel garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Die Regierung muss die Ab- geordneten umfassend über die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde unterrichten. Die Mitglieder sind zur Geheimhaltung verpflich- tet. Das Gremium tritt mindestens ­einmal im Vierteljahr zusammen. Ihm ­gehören

DER LANDTAG 03 /2017 15 Erste Reihe: Bayern, Rheinland-Pfalz, Berlin, Hessen, Baden-Württemberg Zweite Reihe: Hamburg, Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Saarland, Nordrhein-Westfalen, Bremen Dritte Reihe: Provinz Sachsen, Anhalt, Ostpreußen, Danzig, Grenzmark Posen-Westpreußen, Sachsen Vierte Reihe: Brandenburg, Mecklenburg, Thüringen, Oberschlesien, Niederschlesien, Pommern

16 DER LANDTAG 03 /2017 Die Wappen im Landeshaus

Im Treppenaufgang zum ersten Stock des Landeshauses befinden sich 23 in Gips gearbeitete Wappen deutscher Länder und Regionen. Das etwa vier mal fünf Meter große Kunstwerk hat der Bildhauer und Grafiker Alwin Blaue 1957 angebracht. Die beiden oberen Reihen stellen die elf Länder der Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung dar. Die erste Reihe umfasst, anders als die weiteren Reihen, nur fünf statt sechs Wappen. Diese fünf sind jeweils mit einer Krone geschmückt. Das Wappen Berlins steht in der Mitte und ist – als alte Reichshauptstadt – durch eine besonders große Krone hervorgehoben. Auch die süddeutschen Länder Bayern, Rheinland-Pfalz, Hessen und Baden-Württemberg tragen „Kronenschmuck“. Schleswig-Holstein bildet mit den weiteren Nordländern, NRW sowie dem Anfang 1957 hinzugekommenen Saarland die zweite Reihe – ohne Kronen, trotz teilweise ebenfalls fürstlicher Vergangenheit. Die zwölf Wappen der unteren beiden Reihen bezeichnen deutsche Ostgebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur DDR, zu Polen und zur Sowjetunion kamen. Hierzu gehören sieben ehemalige Provinzen Preußens: Brandenburg, Pommern, Ostpreußen, Oberschlesien, Niederschlesien, Grenzmark Posen-Westpreußen sowie die preußische Provinz Sachsen, die in etwa dem heutigen Land Sachsen-Anhalt entsprach. Das Land Sachsen, der heutige Freistaat, sowie drei weitere Länder sind ebenfalls vertreten: Mecklenburg, Thüringen (hier mit nur sieben statt der heute üblichen acht Sterne und ohne den erst 1990 eingeführten rot-weiß gestreiften Löwen) sowie Anhalt, das bis 1945 aus mehreren kleinen, von Preußen umschlossenen Territorien bestand, die heute ebenfalls zum Land Sachsen-Anhalt gehören. Komplettiert wird das Relief mit dem Wappen Danzigs, das zwischen 1919 und 1939 „Freie Stadt“ unter Mandat des Völkerbundes war. Das Wappen-Arrangement entspricht dem Geist der Zeit und unterstreicht den damals in weiten Teilen von Bevölkerung und Politik geteilten Anspruch auf die verlorengegangenen Ostgebiete. Nach dem Krieg bestand die Bevölkerung Schleswig-Holsteins zu etwa einem Drittel aus Ost-Flüchtlingen. Im Landtag war die Vertriebenenpartei Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) zur Entstehungszeit des Reliefs mit zehn Abgeordneten vertreten, zwei BHE-Minister gehörten der Landesregierung an.

Der Künstler Alwin Blaue (geboren 1896 in Hamburg, gestorben 1958 in Kiel) absolvierte in Hamburg eine Lehre als Holzbildhauer und studierte dort an der Kunstgewerbe­ schule sowie an der Kunstakademie Berlin. Er war in den 1920er Jahren bei Villeroy & Boch in Lübeck im Bereich Baukeramik und bei der Kieler Kunst-Keramik AG tätig. Ab 1930 arbeitete er als freier Künstler in Kiel und, zwischen 1940 und 1949, in Lütjensee (Kreis Stor- marn). Dorthin war er wegen der Verfolgung durch Kieler Nationalsozialisten umgezogen. Zu den weiteren Werken Alwin Blaues in Schleswig-Holstein zählen das Seesoldaten- Ehrenmal in Kiel-Düsternbrook (1931), die Fassade des Nissen-Hauses in Husum (1936) und das Fries „Bürger bauen eine neue Stadt“ im Kieler Rathaus (1956).

DER LANDTAG 03 /2017 17 PLENUM „Bafög muss besser werden“ In Deutschland gibt es immer mehr ­Studenten – aber immer weniger beziehen Bafög. Ein möglicher Grund: Viele junge Menschen haben Angst, sich zu verschulden, denn das „Bundesausbildungs­förderungsgeld“ muss zur Hälfte zurück­gezahlt werden. Das Bafög müsse attraktiver werden, fordert deswegen der SSW.

Ansonsten, so der Abgeordnete Lars Harms, drohe sich die Meinung durchzu­ setzen: „Ein Hochschulstudium ist nichts für mich, ich jobbe mich weiter durchs ­Leben.“ Der Große Hörsaal der Kieler Uni: Bafög-Bezieher sind hier eine Minderheit. Seine Forderungen: Bafög-Höchstsatz (der- zeit 735 Euro) für alle. Der Wohlstand im Elternhaus dürfe keine Rolle mehr spielen, Heiner Dunckel (SPD), ehemals Hoch- Stichwort schließlich seien Studenten eigenständige schulprofessor in Flensburg, machte noch Stichwort: Erwachsene. Und: Die Studenten sollen das offene Fragen aus: Sind die 735 Euro Höchst- Bafög nicht mehr zurücküberweisen ­müssen, satz wirklich „bedarfsdeckend“? Und wäre Unbeliebtes Bafög genauso wie im Nachbarland Dänemark. es nicht unfair, wenn auch Kinder von „Ein- Laut Statistischem Bundesamt be­zogen Das Geld sei da, betonte Harms in der Juli- kommensmillionären“ den Bafög-Höchst- 2016 rund 823.000 Personen Bafög – Sitzung. Schließlich diskutiere man in Berlin satz bekämen? 47.000 weniger als im Jahr zuvor. Es war über Steuererleichterungen im Umfang von Die AfD beteiligte sich nicht an der ­Debatte bereits das vierte Minus-Jahr in Folge. In 15 Milliarden Euro. und votierte in der Schlussabstimmung so- Schleswig-Holstein sank die Zahl um 3,6 Beim Jamaika-Bündnis traf der SSW- wohl gegen die SSW- als auch die Koalitions- Prozent auf 27.400. Bekamen 1991 noch Vorstoß teilweise auf Zustimmung. „Wir linie. 33 Prozent der Studenten das Fördergeld, werden uns auf Bundesebene für ein eltern­ so sind es heute nur 18 Prozent. unabhängiges Bafög einsetzen“, heißt es auch im Koalitionsvertrag von CDU, Grünen und FDP. Das Einkommen der Eltern dürfe nicht ausschlaggebend sein, ob ein Studium ange- treten werde, unterstrich Lasse Petersdotter Übergriffe im Wahlkampf : (Grüne). Es sei eine „destruktive Ungerech- tigkeit“, dass derzeit nur 23 Prozent der Stu- Landtag will keine „Erfassungsstelle“ denten aus ­Nichtakademikerfamilien ­kämen. Bildungsministerin Karin Prien (CDU) kün- Mit großer Mehrheit hat der Landtag­ gegeben, die Parteiveranstaltungen in ihren digte eine entsprechende Bundesratsinitiati- den AfD-Vorstoß abgelehnt, beim ­Landes- Räumen erlaubt hätten. Die ­Erfassungsstelle ve an, mahnte aber: „Wir müssen uns starke wahlleiter eine ­Erfassungsstelle für Übergriffe solle ein „authentisches und schlüssiges Lage­ Verbündete suchen, sonst werden wir keinen gegen Politiker, ihre Büros oder Wahlplakate bild“ dieser Vorfälle zeichnen und in einem­ Erfolg haben.“ einzurichten. jährlichen Bericht veröffentlichen. Für eine Gratis-Förderung konnte sich der Für die Verfolgung von Straftaten gebe es Die AfD wolle offenbar „bestehende staat- Unionsabgeordnete Tim Brockmann jedoch bereits eine zuständige Stelle und das sei die liche Strukturen als ineffektiv und schwach nicht begeistern. „Das Bafög als Schenkung Polizei, betonten Abgeordnete aller anderen denunzieren“ und die eigene „Opfer­haltung“ zu betrachten, ist ein falsches Signal, weil es Fraktionen in der Juli-Sitzung. ausleben, argwöhnte Burkhard ­Peters jeglichen Ansatz zunichtemacht, schneller zu Claus Schaffer (AfD) beklagte, dass „tausen- ­(Grüne). Gegendemonstrationen müsse studieren.“ Auch Dennys Bornhöft (FDP) sah de Plakate zerstört und entwendet, Infostände­ man jedoch ertragen. Und strafbare Über- keine „gesamtgesellschaftliche Akzeptanz“ umgeworfen“ und „ganze Druckaufträge mit griffe würden bereits jetzt in der jährlichen für eine Umsonst-Lösung: „Diese Leistungen zigtausenden Flyern“ vernichtet worden Kriminal­statistik der Polizei veröffentlicht. werden schließlich von allen Steuerzahlern seien. Zudem habe es „Einschüchterungen aufgebracht“. und sogar Morddrohungen“ gegen Gastwirte

18 DER LANDTAG 03 /2017 PLENUM

Die Jamaika-Partner fordern zunächst bis „nicht mehr jeder Schleswig-Holsteiner weiß Erneuter Mitte 2018 ein „Umsetzungskonzept“ des noch, wie Schleswig und Holstein zusam- Bildungsministeriums. Dabei soll auch unter- mengekommen sind“. sucht werden, ob das neue Geschichtshaus an Martin Habersaat (SPD) erinnerte daran, Vorstoß für ein bereits bestehendes Museum angegliedert dass sich der Landtag bereits 2001 geschlossen werden könnte. Ein weiterer Knackpunkt: für ein „Haus der Geschichte“ ausgesprochen die Kosten. Denn bisherige Museumspläne habe – ohne dass seitdem viel passiert sei. ein „Haus der scheiterten stets an den klammen Landes­ Statt eines zentralen Standpunktes brachte er finanzen. „Landesausstellungen an unterschiedlichen Geschichte“ „Noch nie waren die Bedingungen so Orten“ ins Spiel. „Wechselnde Standorte statt günstig wie jetzt“, blickte Jette Waldinger- illusorischer Ideen“ lautete auch das Motto Im Jahr 2021 wird das Bundesland Thiering (SSW) auf die derzeit entspanntere­ von Marlies Fritzen (Grüne). Die Haushalts- Schleswig-Holstein 75 Jahre alt. Als Haushaltslage. Die Überschüsse seien in lage habe sich trotz positiver Entwicklung Geburtstagsgeschenk will der SSW dem einem solchen Projekt „sinnvoll angelegt“. „nicht so wesentlich verändert“, und auch Norden ein „Haus der Landesgeschichte“ Alle anderen Bundesländer hätten bereits andere kulturelle Einrichtungen wie Theater bescheren. Koalition sowie SPD und eine derartige Einrichtung, so Waldinger- und Museen müssten mit engen finanziellen AfD sind grundsätzlich mit im Boot, Thiering. Anette Röttger (CDU) verwies auf Spielräumen klarkommen. warnen aber vor Eile und präsentierten im das Lübecker Hansemuseum, das „die Stadt Anita Klahn (FDP) schlug vor, das neue September unterschiedliche Ideen bereichert“ habe und viele Touristen anlocke. ­Projekt an das Landesmuseum Schloss für Konzept und Standort. Für die Identität des nördlichsten Bundes- ­Gottorf in Schleswig anzudocken, das ohne- landes sei ein solches Museum wichtig, denn hin gerade „inhaltlich und baulich neu aus­ gerichtet“ werde. Zur Finanzierung könne das Land auch an das „bürgerliche Engagement“ appellieren, so Klahn, ähnlich wie beim ­Berliner Stadtschloss, wo die neue Fassade „allein aus Spendenmitteln“ bezahlt worden sei. Dass der Norden noch kein eigenes his- torisches Museum habe, sei ein „Versäum- nis, das es aufzuholen gilt“, merkte Volker Schnurrbusch (AfD) an. Es gehe darum, die regionale Identität und die „Verbundenheit mit der Heimat“ zu stärken. Bildungsministerin Karin Prien (CDU) hält das Museum „gerade in Zeiten von ­Geschichtsverdrehung“ für notwendig, da- mit junge Menschen „immun werden gegen radikale Verführer“. Auch sie warnte vor „Schnellschüssen“. In ihrem Ministerium werde bereits an einem Konzept gearbeitet, „das für Generationen tragen kann“. Die Abgeordneten beraten das Thema im Bildungsausschuss weiter.

Zwei mögliche Vorbilder und Partner für ein „Haus der Landesgeschichte“: das Landesmuseum Schloss Gottorf (oben) und das Europäische Hansemuseum in Lübeck

DER LANDTAG 03 /2017 19 ALTENPARLAMENT Senioren fordern Kampf gegen Altersarmut

Wenige Tage vor der Bundestags- wahl hat das schleswig-holsteinische ­Altenparlament Nachbesserungen am ­Rentensystem gefordert, um Alters­ armut vorzubeugen.

So sollen die Löhne kräftig steigen, und Besserverdiener sollen mehr als bisher in den Rententopf einzahlen. Die derzeitige Ober- grenze soll nach Willen der 80 Senioren ent- Außerdem regt das Altenparlament Einmal im Jahr tagen die Altenparlamentarier fallen. Auch freiwillige Extra-Zahlungen aufs Patienten­quittungen über erbrachte me- im Plenarsaal. eigene Rentenkonto sollen künftig möglich dizinische Leistungen an. Die Kranken­ sein – als Ersatz für die umstrittene Riester- versicherung soll sie den Versicherten alle Rente. Und: Die gesetzliche Rente soll auch drei Monate zuschicken. Das soll für mehr Die mehr als 70 Vorschläge gehen nun an für Beamte und Freiberufler offenstehen, um Transparenz im Gesundheitswesen sorgen. die Fraktionen des Landtages, die Landesre- mehr Geld ins System zu holen. Ziel müsse Ärzte und Krankenhäuser sollen zudem ihre­ gierung sowie die schleswig-holsteinischen ein Rentensatz von 55 Prozent des letzten Patientenakten auf Nachfrage offenlegen Abgeordneten in Bundestag und Europa­ Netto-Einkommens sein, fordern die Ver- müssen. Die Beschriftung auf Lebensmittel- parlament. Deren Stellungnahmen bilden treter von Gewerkschaften, Sozialverbänden, und Medikamentenpackungen soll besser dann die Grundlage einer Abschlussdebatte, Parteien und Seniorenräten. lesbar sein, und Senioren sollen in Bus und die für den kommenden März geplant ist. Bahn grundsätzlich nur den halben Fahrpreis Das Altenparlament tagte in diesem Jahr zum zahlen. 29.­ Mal.

Kriminalität sinkt – Auffällig: Insbesondere unter jüngeren wegen gewaltfreier Erziehung Menschen lasse die Gewaltneigung nach. Man könne die heutige Jugend durchaus als Gastvortrag von Prof. Christian Pfeiffer „beste aller Zeiten“ bezeichnen, so Pfeiffer. Viele Menschen meinen, dass die Kriminalität­ in Deutschland seit Jahren steige. Sie sei nicht nur friedlicher als vorherige Ge- Aber das sei ein Irrtum, so Prof. Christian Pfeiffer. Tatsächlich komme es zu immer­ nerationen, sondern rauche und trinke auch weniger schweren Verbrechen. Und dafür gebe es konkrete Gründe, betonte weniger, begehe seltener Selbstmord und der ehemalige niedersächsische Justizminister in seinem Gastvortrag vor dem breche seltener­ die Schule ab. Das liege an ­Alten­parlament: Bildung und gewaltfreie Erziehung. einem „Wandel in der Erziehungskultur“,­ stellte der 73-Jährige fest. Das elterliche „Je mehr Zeit die Menschen vor dem Fern- ­Prügeln sei ­verpönt und inzwischen auch ge- seher verbringen, desto mehr verkennen sie setzlich verboten. „Je weniger Gewalt Kinder die Wirklichkeit“, mahnte der ehemalige erleben, desto weniger üben sie später selbst ­Leiter des Kriminologischen Forschungs­ Gewalt aus.“ instituts in Hannover. Er kritisierte insbe- Männliche Intensivtäter stammten häufig sondere die Privatsender, die das Verbrechen aus muslimisch oder osteuropäisch geprägten ins Zentrum ihrer Programme stellten und Elternhäusern, merkte Pfeiffer an. Ein Grund dadurch Ängste schürten. In Wirklichkeit sei die „importierte Macho-Kultur“. Dieses zeigen die Kriminalstatistiken für die vergan- Phänomen sei hochaktuell, denn die ­meisten genen 20 Jahren fast durchgehend rückläufi- Flüchtlinge, die in den letzten Jahren ins ge Zahlen, und zwar „je schwerer die Taten, Land gekommen sind, kämen aus „Kulturen desto stärker der Rückgang“. So sei die Zahl mit männlicher Dominanz“. Hier gelte es, der Morde in Deutschland seit 1993 von mehr mit Sprachkursen und schulischer Bildung als 700 auf weniger als 300 pro Jahr gesunken. Lebens­perspektiven zu eröffnen, auch für die- ­Ähnliches gelte für Raub, schwere Körper­ jenigen, die wieder in ihre Heimat zurückkeh- verletzung und Sexualdelikte. ren. „Bildung ist pure Kriminalprävention“,­ unterstrich Pfeiffer.

20 DER LANDTAG 03 /2017 AUSSCHÜSSE

Es soll das Für und Wider aufzeigen. Innen- und Rechtsausschuss vorstellte. Ins- Bundesstraßen ­Ab­wägungskriterien seien etwa Personal, gesamt sei es eine „komplikationslose, un- Kosten und der künftige Einfluss des Landes. aufgeregte Wahl“ gewesen, so von Riegen. unter Berliner ­Hierüber will der Ausschuss im November Es gebe keinen Anlass, die Rechtmäßigkeit eine mündliche Anhörung abhalten. der Wahl und die Sitzverteilung im Land- Aufsicht ? Hintergrund der Diskussion ist die Neu­ tag anzuzweifeln. Der Ausschuss und der regelung der Bund-Länder-Finanzen vom ­Wissenschaftliche Dienst erarbeiten nun Bis Ende dieses Jahres soll feststehen, ob die Oktober 2016. Dabei wurde im Grundgesetz ­eine Stellungnahme zu den Einsprüchen. Der Bundesstraßen in Schleswig-Holstein künf- verankert, dass Planung, Bau und Verwaltung Landtag entscheidet dann abschließend. tig zentral von Berlin aus verwaltet werden. von Autobahnen ab 2021 komplett in die Die Beschwerden richteten sich zum Bei- Das sagte Verkehrsminister Bernd Buchholz Hand des Bundes übergehen sollen. Im Ge- spiel gegen die Fünf-Prozent-Klausel, gegen (FDP) Anfang September im Wirtschafts­ genzug erhalten die Länder mehr Geld aus das Wahlrecht für Menschen mit gesetz­ ausschuss. Berlin. Eine noch zu gründende Bundes-­ lichem Betreuer und gegen eine angebliche Eine schnelle Entscheidung liege im Infrastrukturgesellschaft soll sich um die Beeinflussung von Wählern durch Behörden ­In­teresse der rund 1.400 ­Bediensteten des ­Autobahnen kümmern und, falls ein Land das in Heide, Kiel und Schleswig. Auch die Ver- ­Landesbetriebs Straßenbau und Verkehr wünscht, auch um die Bundesstraßen. wendung von Leichter Sprache in der Wahl- (LBV-SH). Der LBV-SH ist derzeit für die benachrichtigung wurde kritisiert, ebenso 1.545 Kilo­meter Bundesstraßen im Lande wie der Umstand, dass die Minderheiten- ­zuständig. Die Koalition prüft, ob diese Auf- sprachen Dänisch und Friesisch nicht in der gabe an den Bund über­tragen werden soll- Zehn Einwände Benachrichtigung berücksichtigt wurden. te. Die SPD ­fordert dagegen den Verbleib Vier Einwände wurden als berechtigt ein- beim Land, aufgrund­ der besseren regionalen gegen das gestuft. Absender waren jeweils Briefwähler, Kenntnisse. die ihren Wahlbrief im Wahllokal abgeben „Unsicherheit ist das Schlimmste“, sagte Wahlergebnis wollten, die aber vom Wahlvorstand zu- der Verkehrsminister mit Blick auf die rückgewiesen wurden. Dies stelle zwar einen ­Beschäftigten. Schleswig-Holstein muss bis Beim Landeswahlleiter sind insgesamt „Wahlfehler“ dar – die Wahlhelfer hätten die zum 31. Dezember 2018 entscheiden, ob eine zehn Einwände gegen die Gültigkeit der Umschläge annehmen­ müssen. Dieses Ver- bundeseigene Infrastrukturgesellschaft künf- Landtagswahl vom 7. Mai eingegangen. Ein säumnis habe aber letztlich keinen Einfluss tig für die Fernstraßen zuständig sein soll. gravierender Verstoß gegen das Wahlgesetz auf die Zusammensetzung des Landtages, so Buchholz will deutlich schneller sein: Derzeit sei aber nicht zu erkennen, betonte Wahl­ Wahlleiter von ­Riegen. Er kündigte an, sein erarbeite eine vom Ministerium beauftragte leiter Tilo von Riegen, der die Ergebnisse Merkblatt für die Wahlvorstände an diesem­ Unternehmensberatung ein Gutachten. ­seiner Vorprüfung Anfang September im Punkt zu präzisieren.

Derzeit keine Pläne für Atommüll-Endlager im Lande

Nach aktuellem Stand deutet nichts darauf hin, dass ein Endlager für Atommüll in Schleswig-Holstein entstehen könnte. Darauf hat Energiewendeminister Robert Habeck (Grüne) Mitte September im Umwelt- und Agrarausschuss hingewiesen. Die SPD hatte das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Habeck begegnete damit Befürchtungen im Norden des Landes. Aufgrund von Dokumenten aus den 1970er-Jahren gibt es Spekula­ tionen, dass ein solches Lager im Kreis Schleswig-Flensburg geplant sei. Diese Unterlagen seien veraltet, so Habeck: „Es gibt keinen Anlass zur Besorgnis.“ Der Minister verwies auf den bundesweiten Fahrplan bei der End­lagersuche. Bis 2031 soll eine Kommission einen geeigneten Standort finden, der dann bis 2050 erschlossen werden soll. Bis die ­Suchkommission ihr Ergebnis verkünde, sei ganz Deutschland ­„eine ­weiße Landkarte“, betonte Habeck. Damit sei auch Schleswig-­ Holstein ­theoretisch betroffen. Ob es im Lande geeignete geologische ­Be­dingungen gebe, könne er nicht sagen.

Gesucht: ein Endlager für Atommüll, zum Beispiel aus Brunsbüttel

DER LANDTAG 03 /2017 21 LEICHTE SPRACHE

Der Land-Tag in Leichter Sprache

Alle Menschen sollen verstehen, was im Land-Tag ­gesagt wird. Hier stehen Texte in Leichter Sprache. Denn: Viele Menschen haben Probleme mit dem Lernen, dem Lesen und dem Verstehen. Viele Menschen können auch nicht so gut Deutsch. Die Macher dieser Seite versuchen nach den Regeln für Leichte Sprache zu schreiben.

Viele behinderte ­Menschen dürfen nicht den Bundes-Tag wählen

In Deutschland gibt es ein Gesetz, Das Wahlgesetz schließt behinderte Man darf diese Menschen nicht aus­ das behinderte Menschen von Wahlen Menschen aus, die einen Betreuer grenzen, nur weil sie nicht so gut mit ausschließt. Angeblich, weil sie nicht ­­ ­haben. Dieser Betreuer kümmert sich ­anderen Menschen sprechen können, ver­stehen, was sie tun. Deswegen ­durften zum ­Beispiel um das Konto von dem ­findet Verena Bentele. Denn auch sie etwa 80.000 Erwachsene nicht den behinderten Menschen. ­können sich eine Meinung bilden. ­Bundes-Tag mitwählen. Und entscheiden, wer ihre Interessen am Betroffen sind zum Beispiel Menschen besten vertritt im Bundes-Tag. Verena Bentele ist Behinderten- mit Down-Syndrom oder anderen Beauftragte der Bundes-Regierung. ­geistigen Behinderungen. Oder mit einer Außerdem gibt es viele Möglichkeiten Sie fordert: Alle Menschen mit schweren Demenz-Krankheit. Ein Richter hier zu helfen, sagt Verena Bentele. Behinderung müssen an allen Wahlen sagt, ob die Betreuung nötig ist. Etwa die Leichte Sprache oder Bilder zum teilnehmen. Und das so schnell wie Erklären. Diese Menschen sind in Deutschland möglich.­ von der Wahl zum Bundes-Tag und von Acht behinderte Menschen haben beim der Europa-Wahl ausgeschlossen. Und Bundes-Verfassungs-Gericht dagegen auch von den meisten ­Landtags-Wahlen. geklagt, dass sie nicht wählen dürfen. Nur in Schleswig-Holstein und in Das ist das wichtigste Gericht in ­Nordrhein-Westfalen ist das anders. Deutschland. Nun warten sie darauf Bei den Wahlen im Mai durften sie zum was die Richter entscheiden. ersten Mal wählen.

Es ist falsch, dass diese Menschen mit Betreuung nicht den Bundes-Tag wählen dürfen, sagt Verena Bentele. Denn sie Erklärung: ­dürfen zum Beispiel ja auch ein Auto Der Bundes-Tag ist eine Gruppe von kaufen. Politikern. Es sind ungefähr 700 Leute aus ganz Deutschland. Sie werden alle vier Jahre neu gewählt. Sie entscheiden Verena Bentele ist Behinderten-Beauftragte über Gesetze. Und wofür der Staat Geld der Bundes-Regierung. ausgibt.

22 DER LANDTAG 03 /2017 BUNDESTAGSWAHL

34,0 % Bundestagswahl: Das Landesergebnis Schwarz und Rot von Schleswig-Holstein verlieren auch im 23,3 % Norden

Die Bundestagswahl am 24. ­September 12,6 % sorgte auch im Lande für ­politische 12,0 % ­Umwälzungen. CDU und SPD 8,2 % ­verzeichneten Einbußen, die kleineren 7,3 % Parteien legten zu. Allerdings gab es ­Unterschiede zum Bundestrend. 2,5 %

Die Schleswig-Holstein-CDU wurde mit CDU SPD FDP Grüne AfD Linke Andere 34,0 Prozent erneut stärkste Partei, die Ver- luste waren mit 5,2 Prozent geringer als die Union war zum ersten Mal seit 1965 in Lübeck ­Zuspruch als im Bundesdurchschnitt (AfD: der Union auf Bundesebene (mehr als acht erfolgreich. Lediglich in Kiel konnten sich die 12,6 Prozent, Linke: 9,2). Prozentpunkte weniger). Die Nord-SPD Sozialdemokraten behaupten. Die Wahlbeteiligung war auch im Lande verzeichnete ihr seit Gründung der Bundes­ Die Nord-FDP konnte mit 12,6 Prozent ihr höher als bei der Bundestagswahl 2013. Es republik schlechtestes Ergebnis mit 23,3 Pro- Bundesergebnis (10,7 Prozent) übertreffen. gaben 76,5 Prozent der Wahlberechtigten ­ihre zent. Das waren 8,2 Prozentpunkte weniger Die Grünen kamen in Schleswig-Holstein auf Stimme ab. Das waren 0,3 Prozentpunkte als 2013, ein höherer Verlust als deutschland- 12,0 Prozent (2013: 9,4 Prozent). Sie lagen da- mehr als im Bundesschnitt. Vor vier Jahren weit. Bisher schlechtestes Ergebnis waren mit klar über dem Bundesergebnis (8,9 Pro- lag die Beteiligung im Lande bei 73,1 Prozent. 26,5 Prozent im Jahr 1953. CDU-Kandidaten zent). Die AfD mit 8,2 Prozent und die Linken eroberten zehn der elf Wahlkreise, und die mit 7,3 Prozent hatten erheblich weniger

26 Nordlichter Vom Landtag in den Bundestag für Berlin

Die schleswig-holsteinischen Abgeordneten im Bundestag

CDU: Petra Nicolaisen, ­, Mark Helfrich, , , , , Ingo ­Gaedechens, Michael von Abercron, Astrid Damerow, Petra Nicolaisen, Gero Storjohann, , CDU, im Landtag CDU, im Landtag CDU, im Landtag CDU, im Landtag SPD: von 2009 bis 2012 von 2009 bis 2017 seit 2009 von 1994 bis 2002 , , Sönke Rix, , , Gabriele Hiller-Ohm FDP: Wolfgang Kubicki, , Christine Aschenberg-Dugnus Grüne: , ­, AfD: , Axel Gehrcke Linke: Luise Amtsberg, Wolfgang Kubicki, Ernst Dieter Rossmann, Johann Wadephul, Cornelia Möhring, Lorenz Gösta Beutin Grüne, im Landtag FDP, im Landtag SPD, im Landtag CDU, im Landtag von 2009 bis 2012 seit 1992 von 1987 bis 1998 von 2000 bis 2009

DER LANDTAG 03 /2017 23 PARLAMENTARISMUS Der Parlaments-Knigge: Was ist erlaubt?

Beim politischen Wettstreit im Plenarsaal gibt es Regeln, die festlegen, was man darf. Oder was man auf keinen Fall tun oder sagen sollte. Einige Beispiele:

Zwischenrufe: Eine Landtagssitzung ist kein Vortrag, wo die Zuhörer gebannt den Ausführungen des Redners lauschen. Die ­Debatte soll die unterschiedlichen politischen Positionen verdeutli- chen, und dazu gehört es, dass der Redner mit Widerspruch aus dem gegnerischen Lager rechnen muss. Insofern ist der Zwischenruf in Deutschland Teil der parlamentarischen Tradition – anders als etwa in den skandinavischen Ländern, wo es verpönt ist, den Redner zu stören. Ein Zwischenruf darf allerdings nicht beleidigend sein. Und er sollte kurz und prägnant bleiben. „Parallelreden“ sind nicht erwünscht. ­Hinzu kommt: Nur Abgeordnete dürfen laute Kommentare abgeben. Die Mitglieder der Landesregierung müssen stumm bleiben.

Applaus: Das Gleiche gilt für den Beifall. Abgeordnete dürfen klatschen, Minister nicht.

Ordnungsrufe: Wenn ein Parlamentarier „die Ordnung ver- letzt“, wie es in der Geschäftsordnung heißt, dann kann der Landtags- präsident ihm einen Ordnungsruf erteilen. Es ist nicht genau definiert, was als Ordnungsverletzung anzusehen ist. Das Recht eines Parla- mentariers auf freie Rede gibt ihm einen breiten Spielraum. Aber wer ­seine Mitmenschen beleidigt, bedroht oder in ihrer Ehre verletzt, muss damit rechnen, dass das Präsidium eingreift. In den hochpolitischen Umstrittene Aktionen: 70er- und 80er-Jahren kam es im Plenarsaal häufiger zu Ordnungs- Die Piraten bringen 2016 einen Plüsch-Strauß mit, verstößen. In den vergangenen Jahren ist ihre Zahl stark gesunken. die Grünen werben 2005 per T-Shirt für ein Rauchverbot. ­Ordnungsrufe gab es beispielsweise für Aussagen wie „Lümmel“, „Nachtwächter“, „Flegel“, „Heuchler“, „Wirrkopf“ oder „Feigling“, für den Vorwurf der Lüge oder für den Satz „Sie haben den geistigen oder klassische Damenkostüme üblich, so sind heute auch Sakko, Minirock noch nicht ausgezogen“. Hemd oder Sommerkleid an der Tagesordnung. Die Hausordnung des Landtages verbietet Gästen eine „unangemessene Bekleidung“, etwa Ausschluss: Erzielt der Ordnungsruf als „gelbe Karte“ keine mit politischer oder gewaltverherrlichender Aufschrift. Journalisten Wirkung, kann der Landtagspräsident einem Redner das Wort ent- und Kameraleute, die sich während der Sitzung im Saal aufhalten, ziehen oder sogar einem Abgeordneten einen „Platzverweis“ erteilen. ­sollen „eine dem Parlament angemessene gepflegte Kleidung“ tragen. Der Parlamentarier muss dann für den Rest des Tages der Debatte fern- bleiben. Dies war zuletzt im November 1994 der Fall, als ein Abgeord- Anwesenheit: Abgeordnete haben laut Geschäftsordnung neter der rechtsextremen „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ den „die Pflicht, an den Sitzungen des Landtages teilzunehmen“ und Plenarsaal mit einem Bauchladen betrat und Päckchen verteilte. Dies müssen sich morgens in eine Liste eintragen. Wer fehlt, etwa wegen war als Protest gegen die Drogenpolitik der damaligen Landesregie- Krankheit, muss dies dem Präsidenten mitteilen. Die Mitglieder der rung gedacht. Landes­regierung „haben zu den Sitzungen des Landtages Zutritt“, wie es heißt. Ist ein Minister aus wichtigen Gründen verhindert, so muss Aktionen: Abgeordnete haben mehrfach die Plenarsitzung für er dies rechtzeitig dem Ältestenrat mitteilen. Ansonsten kann ihn das öffentlichkeitswirksame Auftritte genutzt. Im Februar 2016 legten die Parlament herbeizitieren. Dies geschah beispielsweise im September Piraten ein Vogel-Strauß-Plüschtier auf die Tische der SPD, um deren­ 2016, als die Staatskanzlei es versäumt hatte, einen auswärtigen Termin­ angebliche realitätsfremde „Vogel-Strauß-Politik“ zu kritisieren. ­ von Ministerpräsident Torsten Albig anzukündigen. Die Opposition Dafür gab es einen Ordnungsruf. Im Dezember 2005 erschien die forderte die Anwesenheit des Regierungschefs, und Albig musste ins komplette Grünen-Fraktion mit T-Shirts, die eine durchgestrichene Landeshaus eilen. Zigarette zeigten. Die Demonstration für ein umfassendes Rauch­ verbot beschäftigte später den Ältestenrat. Zuschauer: Die Abgeordneten sollen grundsätzlich frei von ­äußeren Beeinflussungen debattieren und abstimmen können. Des- Kleidung: Eine Kleidungvorschrift für Abgeordnete gibt es wegen sind Beifall, Missbilligung, Zwischenfragen oder das Zeigen nicht. Waren in vergangenen Jahrzehnten noch Anzug mit Schlips von Transparenten auf der Zuschauertribüne nicht gestattet.

24 DER LANDTAG 03 /2017 Kay Richert (FDP): „Nachdem direkt nach „Es macht der Wahl die Koalitionsverhandlungen statt- gefunden haben und dann die Regierungs­ Tobias Loose (CDU) bildung folgte, nebenher bereits Sitzungen Spaß, mit meines Innenausschusses stattfanden und sich nun noch die diversen Arbeitskreise anderen konstituiert haben: Ich weiß noch nicht so genau, wie mein zukünftiger Alltag aussehen wird. Aber natürlich habe ich das ­ungeheure Rednern zu Glück, dass ich meine Leidenschaft zum Beruf ­machen durfte. Das ist wohl die ent­ streiten“ scheidendste Veränderung für mich.“ Doris von Sayn-Wittgenstein (AfD): Özlem Ünzal (SPD) Fünf „Neulinge“ ziehen Zwischenbilanz „Für mich als Rechtsanwältin hat sich mein Arbeitsalltag von den Arbeitsabläufen her Knapp vier Monate sind vergangen, seit nicht wesentlich verändert, das merke ich be- sich der Landtag nach der Wahl neu sonders bei meiner Arbeit als Vorsitzende des zusammengefunden hat. Wie haben Petitionsausschusses.“ Neu-Parlamentarier ihre ersten Wochen im Landeshaus und ihren Wechsel in die Berufspolitik erlebt? Landtagsvolontärin Gibt es Dinge, die Sie Yvonne Windel hat nachgefragt. überrascht haben?

?Tobias Loose: „Besonders überrascht hat mich, wie analog viele Abläufe im Land- Aminata Touré (Grüne) tag sind. Als Abgeordneter erhält man jede ­Woche unheimlich viel Papier. Das kenne ich Wie hat die neue Aufgabe aus meinen bisherigen Tätigkeiten nicht und als Abgeordnete/r bin mir sehr sicher, dass in den kommenden Ihren Alltag verändert? Jahren auch im Landtag die Digitalisierung ? weiter voranschreiten wird. Positiv überrascht Tobias Loose (CDU): „Das kann ich noch war ich über das meistens freundliche Mit­ gar nicht wirklich sagen. Im Moment bin ich einander der Abgeordneten über Fraktions­ noch in der Eingewöhnungsphase, und bis grenzen hinaus. Gerade die Zusammenarbeit Ende Oktober arbeite ich noch halbtags in mit den Abgeordnetenkollegen von Bündnis Kay Richert (FDP) meinem vorherigen Job als Einkaufsleiter bei 90/Die Grünen in der Regierungskoalition der Lufthansa Technik in Hamburg, um einen hatte ich mir schwieriger vorgestellt.“ geregelten Übergang für meine Nachfolge Özlem Ünsal: „Der Politikbetrieb hält sicher­zustellen. Mit Sicherheit freue ich mich ­eine Vielzahl von Überraschungen parat. Die aber darauf, dass ich als Kieler Abgeordneter Bereitschaft vieler Kollegen, trotz politischer in Zukunft nicht mehr so weit zur Arbeit Differenzen die konstruktive Zusammenar- pendeln­ muss.“ beit zu suchen, wenn die Regeln demokra- Özlem Ünsal (SPD): „Ich freue mich sehr tischer Kultur gewahrt werden, bewerte ich über das hohe Interesse der Bürgerinnen und positiv. Besonders bedanken möchte ich mich Bürger an meiner neuen politischen Arbeit auch bei den Mitarbeitenden der Landtags- auf Landesebene. An meinem Bekanntheits- verwaltung für die Offenheit und Hilfsbereit- grad und der Termindichte hat sich nicht schaft, die uns Abgeordneten das ­Ankommen allzu viel verändert. Denn meine bisherige in den ersten Tagen sehr erleichtert hat.“ Tätigkeit als Referentin im Landesdienst und Aminata Touré: „Überraschungen gab es

Kommunalpolitikerin in Kiel war neben einer noch nicht wirklich, aber die werden in den Doris von Sayn - Wittgenstein (AfD) hohen Arbeitstaktung auch von einer starken nächsten fünf Jahren sicher kommen.“ Vernetzung mit der Zivilgesellschaft und viel Kay Richert: „Im Großen und Ganzen ist den Rednern anderer Parteien um Ansätze Bürgernähe geprägt.“ der politische Betrieb mir nicht neu, da ich und ­Lösungen zu streiten.“ Aminata Touré (Grüne): „Komplett. seit mehreren Jahren als Flensburger Ratsherr Doris von Sayn-Wittgenstein: „Wir Ich bin derzeit noch dabei, mich einzu­finden, aktiv bin. Natürlich gibt es da Unterschiede, haben als Abgeordnete der AfD einen sehr Abläufe kennenzulernen, mich mit Vereinen­ aber die Grundstruktur ist ähnlich. Respekt harten und unfairen Wahlkampf hinter uns. und Verbänden zu treffen, neue Mit­ hatte ich vor den Landtagsdebatten, die ja Deshalb empfinde ich den Alltag und den arbeiterinnen einzustellen für die Wahlkreis- doch etwas schärfer geführt werden als auf Umgang, den sowohl die Abgeordneten aber arbeit und vieles mehr. Zusammen­gefasst: kommunaler Ebene – aber überraschender- insbesondere auch die Mitarbeiter des Land- Ein­finden in die neue Rolle.“ weise macht es richtig Spaß, ‚in der Bütt‘ mit tages pflegen, als sehr angenehm.“

DER LANDTAG 03 /2017 25 REFORMATION „Martin Luther ist uns ­heute fern und fremd“

Prof. Heinz Schilling ist einer der ­führenden Experten zur Geschichte der Frühen Neuzeit. Anlässlich des 500. Reformationsjubiläums luden ihn Rund 400 Gäste kamen zur Lesung mit Prof. Heinz Schilling in den Plenarsaal. Landtag und Nordkirche­ Mitte Juli zur Herr Prof. Schilling, warum feiern und fremd. Es führt kein Weg daran vorbei, Lesung ins Landeshaus. Zuvor traf er wir eigentlich den 31. Oktober 1517 als sich zunächst einmal mit dieser fremden Zeit sich zum Gespräch mit der Landtags­ ­Reformationstag? Es wären doch auch zu befassen, um Luther für die Gegenwart zeitschrift. andere Termine denkbar … und die Zukunft zu begreifen. Ja, darüber wird diskutiert. Einige ­Historiker verweisen darauf, dass die großen Wo liegen die Unterschiede zur reformatorischen Schriften 1520 erschienen heutigen­ Zeit? sind, so dass die kirchliche Wende eigent- Ein entscheidender Punkt ist, dass ­Religion lich in diesem Jahr liegt. Was die politischen eine so dermaßen präsente Rolle in Staat und Konsequenzen anbelangt, ist der Reichstag zu Kultur, selbst in der Wirtschaft und insbeson- Worms im April 1521 wichtig, als Luther sich dere in der Lebenswelt der Menschen spielte, weigerte, seine Thesen zu widerrufen und als dass wir uns das heute kaum noch vorstellen die Glaubensspaltung innerhalb des Reiches können. Und die Religion ist von anderer offensichtlich wurde. Hier trat Luther auf Qualität. Es ist eine auf das Jenseits ausge- der größtmöglichen öffentlichen Bühne auf. richtete Religiosität, und jeder setzt seine ­Verglichen mit der heutigen Zeit war das so, religiöse Wahrheit absolut. So kam es zu den als ob er vor der UNO gesprochen hätte. furchtbarsten Konflikten. Auch das ist für uns heutzutage wichtig: Wir müssen uns bewusst Ist der 31. Oktober also nicht das ­ machen, was für eine Feindseligkeit, was für richtige Datum? ein Fundamentalismus aus der Reformation­ Doch, ich breche dennoch eine Lanze für entstanden sind. den 31. Oktober 1517, und zwar aus zwei Gründen. Erstens wurde dieses Datum schon Fundamentalismus ist auch im 16. Jahrhundert gefeiert, und es hat sich in zurzeit ein Thema. den vergangenen 500 Jahren eingeprägt. Von Wenn wir verstehen, was Religion zu Luther selbst ist das Zitat überliefert, dass er Luthers Zeiten bedeutet hat, dann können an einem 31. Oktober „ein Glas auf diese Tat wir auch in der Gegenwart die uns ebenfalls erheben“ wollte. Und zweitens: Mit dem ­fremde Welt des Islam begreifen. Was dort 31. Oktober stürzt der erste Dominostein, und heute an Konflikten zu beobachten ist, das Prof. Heinz Schilling, 1942 geboren, hat zur die Entwicklung kommt in Gang. haben wir vor 400 Jahren im Dreißigjährigen Geschichte des Mittelalters und der Frühen Krieg schon durchlebt. Toleranz ist auch dem Neuzeit in Bielefeld, Gießen, Osnabrück und In Luthers Zeit galten Hölle und Teufel Westen nicht in die Wiege gelegt worden. bis zu seiner Emeritierung 2010 an der Berliner als Realität, er selbst durchlebte Seelen- Humboldt-Universität geforscht und gelehrt. qualen auf dem Weg zu seiner neuen Was empfehlen Sie? Der in Köln aufgewachsene Historiker ist Autor religiösen Überzeugung. Das können Zunächst einmal müssen auch säkula­ der Biographie „Martin Luther. Rebell in einer moderne, westlich geprägte Menschen risierte Menschen wieder verstehen, welche Zeit des Umbruchs“. Im Landeshaus stellte er kaum nachvollziehen … fundamentale Kraft die Religion hat. Gerade sein aktuelles Werk „1517 - Weltgeschichte eines Wir müssen als erstes begreifen: Luther ist weil wir wissen, was Religion hier zu Beginn Jahres“ vor. nicht der uns Nahe, sondern er ist uns fern des 16. Jahrhunderts bedeutet hat, kann man

26 DER LANDTAG 03 /2017 REFORMATION nachvollziehen, welches Gewicht sie auch Konkret sprechen die Studenten Aber es war ihm offenbar nicht möglich, ins heute noch in anderen Kulturkreisen hat. vom „Menschenfeind Luther“ und Gespräch zu kommen, weil er bei seiner abso- Man sollte nicht arrogant sagen: Ach, das ist ja ­werfen ihm die Diskriminierung von luten Wahrheit blieb. Das wären Punkte, die die Welt von gestern. Frauen vor. man aufgreifen könnte für ein Forschungs- Das ist lächerlich. Gemeint ist hier wohl: programm an dieser Universität. Was würde Luther von der Ökumene Diskriminierung von dem Typ Frau, den wir halten, die ja auch eine Wieder­ in unserer Zeit als Leitbild haben, nämlich Luther hat in seinen Schriften ein annäherung an den Katholizismus feministisch und selbstständig. Die hat er Gleichheitsideal vertreten. Andererseits mit sich bringt? nicht diskriminiert, weil es die in seiner Welt gibt es deutliche Aussagen gegen die Ich bin nicht sicher, ob Luther heute auf der überhaupt nicht gab. Luther hatte ein anderes aufständischen Bauern und Plädoyers Linie der Evangelischen Kirche Deutschlands, Frauenbild als das heutige, aber es war von für die bestehende Ordnung. Wo stand der EKD, läge. Ich sehe eher eine Annäherung größter Achtung geprägt. Luther politisch? der Katholiken an den Luther des 16. Jahrhun- Den wird man nicht in Ihrem Landtag ver- derts, mit seinem Verständnis von Religion. orten können, links, rechts oder in der Mitte. Die katholische Kirche befasst sich intensiver „Die Katholiken War Luther ein Demokrat? Nein! Wer war mit dem religiösen Kern seiner Lehre. Bei den befassen sich zurzeit in jener Zeit schon Demokrat? Keiner! Es Jubiläumsprojekten der EKD habe ich den ­intensiver mit Luther“ ist eine Fehlinterpretation, Luther für die Eindruck, dass sie an der Oberfläche bleiben. ­Demokratie verantwortlich zu machen. Und Das finde ich schade. es ist ebenso falsch, ihn als Begründer des Ein weiterer Vorwurf: Luther habe das ­Obrigkeitsstaates zu betrachten. Verantwort- Der „Studierendenrat“ der Martin-­ „Ziel der Auslöschung des Judentums“ lich ist er aber durchaus dafür, dass wir heute Luther-Universität Halle-Wittenberg verfolgt. brav unsere Steuern zahlen. Seine­ Obrigkeit fordert, die Hochschule Diese Frage ist wesentlich komplexer. Dass ist der ­souveräne Staat, der das Gewalt­ umzubenennen … er Judenfeind war und dass wir darüber heute­ monopol ausübt und damit den ­inneren Das zeigt, wie geschichtsfern die gegen­ erschrocken sind, das ist natürlich richtig. Ob Frieden sichert­ sowie die sozialen und wärtige Kultur ist, und das gilt gerade auch man deswegen den Namen aufgeben soll- ­Bildungsbelange der „Untertanen“, modern für sich selbst als progressiv empfindende te? Ich selbst halte es für fruchtbarer, eine ­gesprochen „der ­Bürger“, sicherstellt. ­Studenten. Man kann generell streiten, ob ­historische Analyse zu machen. Luther lebte man Universitäten nach Menschen be­nennen in einer Zeit des theologischen Aufbruchs, Interview: Karsten Blaas sollte. Aber wenn eine Universität den nicht nur im Christentum, sondern auch im ­Namen Luther übernimmt, dann bedeutet Judentum. Welche Möglichkeiten hätte es das ja nicht, dass sie rundum alle Positionen damals gegeben, wenn jüdische und christ- dieses Mannes mitträgt. Wo gibt es schon liche Theologen aufeinander zugegangen einen Menschen, bei dem man nichts findet, ­wären und miteinander diskutiert hätten? was man kritisieren könnte? Auch Luther hatte Besuch von Rabbinern.

Am Tag der Lesung mit Prof. Schilling lief das Nord­ kirchenschiff in der Kieler Förde ein und machte für zwei Tage vor dem Landeshaus fest. Die Dreimastbark „Artemis“ hat im abgelaufenen Sommer im Auftrag der Nordkirche insgesamt 14 Häfen entlang der Ost- und Nordseeküste sowie der Elbe angesteuert. An Bord luden Seeleute und Kirchen­ mitarbeiter zu Feiern, Gottes­ diensten und Konzerten.

DER LANDTAG 03 /2017 27 REFORMATION

Heider Schüler dominieren den Geschichtswettbewerb Schüler des Werner-Heisenberg- Gymnasiums aus Heide haben Mitte Juli die meisten Landessiege beim Ge- schichtswettbewerb des Bundespräsi- denten abgeräumt. Drei Arbeiten der Gymnasiasten aus Dithmarschen zähl- ten zu den besten in Schleswig-Hol- stein. Insgesamt 94 Aufsätze, Hörspie- le und Filme wurden zum diesjährigen Thema „Gott und die Welt. Religion macht Geschichte“ eingereicht. Die Jury prämierte 14 Landessieger. 14 wei- Die Sieger vom Heisenberg-Gymnasium mit ihrem Geschichtslehrer Volker Gaul (v. li.): tere Arbeiten erhielten einen Förder- Lea Stotz (10. Klasse, Thema: „Pastor Treplin und Hardemarschen im Kirchenkampf“), preis. Die Preisverleihung des Landes- Anna Medrow (8. Klasse, Thema: „Freimaurerei zur Zeit des Dritten Reiches in Heide“) und wettbewerbs, der alle zwei Jahre von Niklas Bruhn (7. Klasse, Thema: „Die Hemmingstedter Lutherglocke – Wahrheit oder Mythos“). der Körber-Stiftung ausgerichtet wird, Mehr zu Niklas' Arbeit unten auf dieser Seite. fand traditionell im Landtag statt.

Planten Dithmarscher ein Attentat auf Luther? ­Dithmarschen aufgehalten hat. Auch die Reise nach Wittenberg wird in den Quellen Niklas Bruhn (13) untersuchte einen Kriminalfall­ aus dem 16. Jahrhundert beschrieben. Dort soll Craisbach zum Protes- In Dithmarschen ist folgende Legende Was davon ist Mythos, was ist Wahrheit? tantismus übergetreten sein. Er sei fünf Jahre überliefert: Um das Jahr 1529 herum sind ei- Niklas Bruhn aus Hemmingstedt hat nachge- geblieben und habe bei Luther persönlich nige katholische Großbauern aus der Region forscht. Auf zwölf Seiten hat der Siebtklässler studiert. Er habe sogar eine Zeit lang in des- empört über den Kirchenreformator Martin aufgeschrieben, was er in Bibliotheken und sen Haus gelebt, nachdem er dem Reforma- Luther. Sie stiften Johannes Craisbach, einen Archiven zu diesem Kriminalfall gefunden tor seine Mordabsichten gebeichtet und um Geistlichen aus Westfalen, an, nach Witten- hat. Er hat alte Chroniken und die Texte Verzeihung gebeten habe. Die Geschichte berg zu reisen und Luther zur Rückkehr zum von Lokalhistorikern ausgewertet. Für seine sei mehrfach detailliert überliefert und damit alten Glauben zu bewegen. Falls das nicht ­Arbeit ist Niklas nun zum Landessieger beim durchaus glaubhaft, sagt Niklas. Zwar finden gelingt, soll Craisbach den geistigen Führer Geschichtswettbewerb des Bundespräsiden- sich in Luthers­ eigenen Texten keine Hinwei- des Protestantismus vergiften. Der Attentäter ten gekürt worden. Die Jury lobte das „außer­ se auf den bekehrten Attentäter Craisbach. macht sich auf den Weg, ist dann aber von gewöhnliche Geschichtsverständnis“ des Aber dass es verschiedene Mordpläne gegen Luther so beeindruckt, dass er den Mordplan 13-jährigen Nachwuchsforschers. den Reformator gab, ist belegt. aufgibt. Das Geld, das er für den Anschlag Nach Niklas' Einschätzung spricht einiges Weniger wahrscheinlich ist hingegen der bereits erhalten hat, will Craisbach den Dith- dafür, dass es den Mordplan tatsächlich ge- zweite Teil des Mythos, stellt Niklas fest: marschern zurückgeben. Doch die wollen mit geben hat. Drei kirchengeschichtliche Texte Craisbach, der ab 1548 als Pastor in Dithmar- dem kriminellen Vorhaben nun nichts mehr aus dem 18. Jahrhundert erwähnen einen schen wirkte, soll das Blutgeld dafür verwen- zu tun haben. Der Mörderlohn wird schließ- Johannes Craisbach, der um 1529 im katho- det haben, in Husum eine neue Glocke für die lich in eine Glocke der Hemmingstedter lischen Kloster Bodeck in Westfalen leb- Kirche in Hemmingstedt gießen zu lassen, Kirche­ investiert. te. Eine Quelle will sogar wissen, dass sich heißt es. Und das mehr als 60 Jahre nach sei- Craisbach vor seinem Eintritt ins Kloster in nem Aufenthalt in Wittenberg, kurz vor sei- nem Tod 1598, im Alter von 95 Jahren. Nicht Die Marienkirche in Hemmingstedt. plausibel, findet Niklas. Wer bewahrt schon Die dortige „Lutherglocke“ erinnert so viel Geld Jahrzehnte lang auf? Und außer- an eine Dithmarscher Legende und dem: Die Chroniken besagen, dass Craisbach einen spektakulären Kriminalfall. in Wittenberg von den Münzen lebte, die er für den Mordanschlag erhalten hatte. Da dürf- te wohl nicht viel für eine neue Glocke übrig geblieben sein. Dennoch gibt es im Turm der Hemming­ stedter Marienkirche noch heute eine „Luther­glocke“. Die Legende um den Mordplan und die angeblich vom Blutgeld ­ge­gossene Kirchenglocke­ sind in diesem Namen verewigt. „Aufgrund meiner vielen ­Recherchen höre ich die Glocke unter einem völlig neuen Aspekt“, sagt Niklas, der in der Nähe des Kirchturms wohnt.

28 DER LANDTAG 03 /2017 BÜCHER

50 Jahre

BÜCHERECKE Wissenschaftlicher Dienst Der Wissenschaftliche Dienst des Landtages, der die Parlamentarier juristisch berät, hat am 1. September sein Die Landtagsbibliothek ist eine Service­Einrichtung für Abgeordnete und für 50. Jubiläum gefeiert. Vom Verfassungs-, Die Bibliothek Mitarbeiter aus Fraktionen und Verwaltung. Aber sie steht auch der Öffent­ Staats- und Kommunalrecht über Hoch- lichkeit zur Verfügung. Interessierte Bürger sind im zweiten Stock des Landes­ schulrecht bis hin zum Umweltrecht des Landtages hauses herzlich willkommen. Dort stehen 25.000 Bände aus den Gebieten können Fraktionen, Abgeordnete oder Recht, Politik, Verwaltung, Sozialwissen schaften, Geschichte und Landes kunde. lädt ein Als Appetithappen stellen die Mitarbeiterinnen der Bibliothek in dieser Serie Ausschüsse die Expertise der Parlaments- Werke vor, die in den Räumen der Bibliothek eingesehen werden können. juristen einholen. Rund 70 schriftliche Interessiert? Die Bibliothek ist von Montag bis Freitag zwischen 8:30 Uhr und Gutachten verfassen die sieben Mit- 12:00 Uhr sowie zwischen 13:00 und 16:00 Uhr geöffnet. Bitte bringen Sie Ihren Personalausweis mit. Weitere Informationen gibt es unter den Telefonnum­ arbeiter pro Jahr, hinzu kommt eine Viel- mern 0431/988­1110 und 0431/988­1111. zahl mündlicher Beratungen. Daneben Bei der Büchersuche hilft der Online­Katalog auf der Website des Landtages: begleiten sie die Plenarsitzungen und www.sh­landtag.de, „Service“, Rubrik „Landtagsbibliothek“. betreuen Verfahren vor dem Landes- verfassungsgericht. „Die Mitglieder des Gespräche über den Staat. Hrsg. von Prof. Dr. Utz Schliesky. Wissenschaftlichen Dienstes sind eine Gespräche mit Dr. Robert Habeck, Prof. Dr. Peter M. Huber, wichtige und oft grundlegende Stütze Prof. Dr. Norbert Lammert, Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, für die parlamentarische Arbeit“, sagte Prof. Dr. Andreas Vosskuhle. München: Beck 2017. 275 S. Landtagspräsident Klaus Schlie. Bei ihrer Die von Landtagsdirektor Utz Schliesky dokumentierten und auf Beratung sind die Juristen keiner dienst- einem einheitlichen Fragenkatalog basierenden Gespräche mit lichen Weisung unterworfen und zur her ausragenden Persönlichkeiten des Staatslebens widmen sich zen- Verschwiegenheit verpflichtet. tralen Themen, zu denen der moderne Staat Stellung beziehen muss: Flüchtlingskrise und Integration, gesellschaftlicher Zusammen- Impressum halt, Krise und Zukunft der Europäischen Union, Digitalisierung Herausgeber: Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen und einiges mehr. Entstanden sind so sechs Bilder vom Staat, sechs Landtages Blicke auf den Staat, in dem wir leben. Redaktion: Referat für Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungs- management, Düsternbrooker Weg 70, 24105 Kiel Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt. Tobias Rischer (V.i.S.d.P.) Von Prof. Dr. Timothy Garton Ash. Tel. 0431/988-1120, [email protected] Karsten Blaas (Redakteur) München: Hanser 2016. 687 S. Tel. 0431/988-1125, [email protected] Die schnelle Verbreitung von Nachrichten durch das Internet hat Janine Wergin (stellv. Redakteurin) Tel. 0431/988-1122, [email protected] viele positive Aspekte, provoziert aber auch kulturelle, religiöse und Fotos: politische Konflikte. Der britische Historiker Timothy Garton Ash Regina Baltschun, Thomas Eisenkrätzer, Michael August, Karsten Blaas, Janine Wergin, Detlef Ziep, hat sich mit dieser Problematik auseinandergesetzt und Prinzipien Vivien Albers, Yvonne Windel, Tamo Schwarz, Holger Stöhrmann, Archiv des Landtages, dpa- entwickelt, die das Recht auf Redefreiheit genauso wie die Würde Bildfunk, Stadtarchiv Kiel - 2.3 Magnussen-Sig3293, Andersdenkender sichern sollen. Ein Standardwerk über die Frage, SPD, W.Diederich - grafikfoto.de, Lutherische Verlagsgesellschaft, Carl-Hanser Verlag, Beck-Verlag, wie wir in Zukunft vernünftig unsere Standpunkte austauschen CAU Kiel, Waler (Fotolia), Antonioguillem (Fotolia), Gino Santa Maria (Fotolia), jpgon (Fotolia), wollen. wavebreakmediaMicro (Fotolia), mstein (Fotolia), dermerkur (Fotolia), Sammlung Theatermuseum Kiel, SPD-Landesverband Konzept: Neue Anfänge? Der Umgang der evangelischen Kirche mit Stamp Media im Medienhaus Kiel, Ringstraße 19, 24114 Kiel, www.medienhaus-kiel.de; der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Titelseite: Amatik, Boninstraße 63, 24114 Kiel Die Landeskirchen in Nordelbien. Band I: 1945-1965. Gestaltung, Layout: Agentur LOADSMAN / I. Schumacher, Arp- Von Dr. Stephan Linck. Schnitger-Weg 38, 24229 Strande, www.loadsman.de Kiel: Lutherische Verlagsgesellschaft 2013. 352 S. Herstellung, Druck: Druckgesellschaft Joost & Saxen, Die protestantische Kirche unterstützte in ihrer Mehrheit nicht nur Eckernförder Str. 239, 24119 Kronshagen, die Nationalsozialisten, sie bereitete auch dem völkischen Anti- www.druckgesellschaftmbh.de Bezug der Landtagszeitschrift: semitismus den Weg. Die im Auftrag der Kirche geschriebene Studie (Abonnement und Versand kostenfrei) des Kieler Historikers Stephan Linck befasst sich mit der Frage, Landtag Schleswig-Holstein, Ref. f. Öffentlichkeits- arbeit und Veranstaltungs management, L1410, wie die vier ehemaligen Landeskirchen Schleswig-Holsteins und Postfach 7121, 24171 Kiel, Telefon 0431/988-1163, Hamburgs nach 1945 mit ihrer eigenen Schuld und Mittäterschaft Fax 0431/988-1119, [email protected] Die Zeitung wird auf umweltschonend hergestelltem, umgingen. Der jüngst erschienene zweite Band der Untersuchung chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: thematisiert die Wandlungen der vergangenheitspolitischen Kon- 29. September 2017 troversen der 1960er- und 1970er Jahre. Der Landtag im Internet: www.sh-landtag.de

DER LANDTAG 03 /2017 29 IM PORTRÄT

Bürgerbeauftragte beklagt Mängel Ein weiteres wichtiges Thema sei der Bereich Kita gewesen, berich- tet die Bürgerbeauftragte. Familien hätten sich über zu hohe Gebühren bei Sozialbehörden beklagt, wie auch über die Schwierigkeit, einen bedarfsgerechten Kita- oder Krippenplatz zu finden. Das galt insbesondere für Krippenplätze Streit über Schulbegleitung und Kita-Gebühren, Probleme mit für U3-Kinder. „In vielen Fällen stand deswegen der Rechtsanspruch Hartz IV, Ärger mit Krankenkassen: Über solche Fälle berichtet auf einen Kita- oder Krippenplatz lediglich auf dem Papier“, so El ­Schleswig-Holsteins Bürgerbeauftragte für soziale Angelegenheiten, Samadoni.­ Samiah El Samadoni, in ihrem Tätigkeitsbericht für das Jahr 2016. ­Mitte September übergab sie das 110 Seiten starke Werk an Landtags- präsident Klaus Schlie (s. Foto). Insgesamt 3.323 Petitionen erreichten die Beauftragte. Ein besonderes trauriges Kapitel sei der Streit um die Kosten für die Schulbegleitung­ behinderter Kinder, beklagt El Samadoni. 103 Fälle habe es gegeben, wo sich die Kreise vor der Kostenübernahme gedrückt hätten. Probleme­ mit Hartz IV waren mit 876 Eingaben der größte Bereich. Sprung- haft gestiegen sind die Petitionen rund um die gesetzliche Kranken­ versicherung (von 353 auf 450). Besorgniserregend sei, dass immer mehr Menschen lediglich eine medizinische Notversorgung erhielten, wegen Beitragsrückständen in der Krankenversicherung. Die Mitglied- schaft in der gesetzlichen Krankenversicherung müsse gestärkt und der Zugang erleichtert werden, fordert die Bürgerbeauftragte.

Abgeordnete persönlich

Kathrin Wagner-Bockey, SPD Was war Ihr allererster Job? geb. am 14. Februar 1968 „In meinem ersten Job außerhalb unseres familiären Haushalts in Buchholz/Nordheide war ich Reinigungskraft in einem Käseherstellungs- und Verkaufs- evangelisch, verheiratet, zwei Kinder betrieb. Ich habe auch mal als Kellnerin gejobbt.“ Kriminalhauptkommissarin Was macht Sie wütend? Welches Erlebnis hat Sie dazu gebracht, „Rassismus und Diskriminierung machen mich wütend. in die Politik zu gehen? Rechtspopulistische, platte Schuldzuweisungen und Kriminalisie- „Ich bin mit dem kommunalpolitischen Engagement meines rungsversuche in Bezug auf einzelne Gruppen finde ich unerträg- Vaters groß geworden, der sich über 40 Jahre in den Bereichen lich. Menschen ihre Würde als Individuum abzusprechen, ist nicht ­Gemeinde-, Samtgemeindevertretung und Kreistag an verantwort- akzeptabel.“ licher Stelle engagiert hat. Von meinem Elternhaus wurde mir der Was muss besser werden in Schleswig-Holstein? Wert von Demokratie und Verantwortungsbewusstsein, aber auch „Für Schleswig-Holstein wünsche ich mir generell ein besseres, politische Gestaltungsfreude mitgegeben. Einen einzelnen kon­ dichteres ÖPNV-Netz bei niedrigen Fahrpreisen. Die Lebensver- kreten Anlass für mein Engagement gab es nicht.“ hältnisse im ländlichen Raum und die in den Städten dürfen sich nicht zu sehr unterscheiden. Weder beim ÖPNV noch bei den Nah­ Was wollten Sie als Kind werden? versorgungsmöglichkeiten und der ärztlichen Hilfe dürfen ganze „Ich wollte schon als Kind Polizistin werden. Diesen Beruf habe Regionen abgehängt werden. Auch heute noch gilt es, sich für eine­ ich ergriffen und 28 Jahre gerne ausgeübt. An dem Polizeiberuf hat bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf einzusetzen. Wir mich immer sehr gereizt, mit Menschen zu tun zu haben und einen müssen die Arbeitsbedingungen für Frauen und Männer so weiter­ Blick hinter die ‚Lebenskulissen‘ werfen zu können. Das hilft mir entwickeln, dass sie noch besser auf familiäre Verpflichtungen abge- heute bei meiner Abgeordnetentätigkeit. Ich glaube, ich habe eine stimmt sind. Dazu gehört für mich auch die Möglichkeit, möglichst gute Vorstellung davon, wie unterschiedlich Lebensverhältnisse viele Ausbildungsgänge in Teilzeit absolvieren zu können. Bildung sind und was es bedeutet, wenn Menschen aufgrund äußerer Ver- sollte ­kostenfrei sein und deshalb setze ich mich auch weiterhin hältnisse weniger Chancen im Leben haben.“ dafür ein, dass das auch für den Kita-Besuch gilt. Dass Frauen und Was war in der Schule Ihr Lieblingsfach? Männern der gleiche Lohn für gleiche Arbeit zusteht, ist leider noch „Meine Lieblingsfächer waren Deutsch und Geschichte.“ immer keine Selbstverständlichkeit. Hier gibt es noch viel zu tun.“

30 DER LANDTAG 03 /2017 BESUCHER

Junge Saxofon-Talente der Lübecker Musikschule begeisterten Ende Juli rund 70 Gäste im Schleswig-Holstein-Saal. Chiara Paulsen, Ansgar Pohl, Lasse Schrank und Marita Piltschik (v. li.) spielten Werke zwischen Folklore, Jazz und Rock. Unter dem Motto „die halbe Stunde der ­Besten“ präsentiert der Landesmusikrat regelmäßig heimische Musiktalente im Landeshaus. Die deutsche Botschafterin im Vatikan, ­Annette Schavan, war Anfang Juli in Kiel und besuchte auch das Landeshaus. Im Foyer trug sich die ehemalige Bundesbildungsministerin ins Gästebuch ein. Nach 19 Jahren hat sich Henrik Becker-Christensen, dänischer Generalkonsul in Flensburg, aus seinem Amt verabschiedet. Landtags­ Zu Besuch präsident Klaus Schlie hat den Historiker Anfang ­August im Landeshaus im Landes­ haus­ empfangen. Becker-Christensen (li.) war seit 1998 Generalkonsul, seit 2000 ist er zudem Professor an der Syddansk Universitet Schüler und Lehrer aus dem chinesischen in Sonderburg. Xingchang waren im Juli gemeinsam mit ihren Gastgebern vom Beruflichen Gymnasium Eutin zu Besuch im Landtag. Parlamentspräsident Klaus Schlie begrüßte die Gäste.

Der ukrainische Botschafter Andrij ­Melnik (li.) war Mitte August zu Gast bei der FDP-­Fraktion, anschließend begrüßte ihn Landtags­vizepräsident Oliver Kumbartzky. Thema der Gespräche war die Krim-Krise.

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Nr. 3/2017 C 2086 Falls Empfänger-Anschrift nicht mehr zu­ treffend, bitte diesen Abschnitt abtrennen und korrigiert zurücksenden an: Schleswig-Holsteinischer Landtag, Referat für Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungsmanagement, L1410, Postfach 7121, 24171 Kiel Termine, Termine, Termine . . .

Die Bürgerbeauftragte Ausstellung zur vor Ort Kieler Theatergeschichte Die Bürgerbeauftragte für soziale Angele- Bilder, Plakate und Requisiten aus rund 100 Jahren genheiten, Samiah El Samadoni, ist auch ­Theatergeschichte gibt es im November im Landtag zu im Herbst wieder im Lande unterwegs, ­sehen. Unter dem Motto „Halte fest was Dir von allem um Bürger vor Ort zu beraten. übrig blieb“ präsentiert der „Verein zum Wiederaufbau Donnerstag, 5. Oktober: Lübeck ­eines Theatermuseums in Kiel“ Teile seiner Sammlung. Dienstag, 17. Oktober: Heide Der Verein betreut die Reste des 1924 gegründeten Kieler Donnerstag, 2. November: Lübeck ­Theatermuseums, das im Zweiten Weltkrieg schwere Ver- Dienstag, 21. November: Heide luste erlitt. Seitdem werden die Exponate an verschiedenen Donnerstag, 7. Dezember: Lübeck Orten aufbewahrt. Der Verein setzt sich dafür ein, sie wieder Dienstag, 19. Dezember: Heide dauerhaft und gemeinsam der Öffentlichkeit vorzuführen. Termine in Lübeck bei der Deutschen Die Ausstellung, die der Landtag mit der Investitions- Rentenversicherung Nord, Ziegelstr. 150, bank Schleswig-Holstein ausrichtet, ist vom 2. bis zum 10:00 bis 17:00 Uhr. 27. November täglich von 10:00 bis 18:00 Uhr geöffnet. ­Eine Termine in Heide im Rathaus, Postel- Anmeldung ist nicht erforderlich, bitte bringen Sie Ihren weg 1, 11:00 bis 15:00 Uhr. Personalausweis­ mit. Ein Bild aus der Sammlung Zu den Terminen ist eine Anmeldung Vertiefte Einblicke bietet eine Begleitveranstaltung am des Theatermuseums: ­erforderlich. Telefon: 0431/988-1240. Montag, den 13. November, um 19:00 Uhr. Näheres unter Der junge Gustaf Gründgens Hinzu kommen die regelmäßigen www.sh-landtag.de. Hierfür wird bis zum 8. November um ­gehörte 1921/22 zum Ensemble des Kieler Stadttheaters. „Dienstleistungsabende“ in Kiel, Karo- Anmeldung gebeten. E-Mail: [email protected] linenweg 1: jeden Mittwoch von 15:00 bis 18:30 Uhr. Doppelter Geburtstag: Gedenken am Volkstrauertag 200 Jahre Storm und Mommsen

Der Landtag, die Landesregierung, die Stadt Neben Theodor Storm hat in diesem Jahr ein weiterer Kiel sowie der Volksbund Kriegsopferfürsorge­ großer Schleswig-Holsteiner seinen 200. Geburtstag: Theodor laden am Volkstrauertag zur ­zentralen Ge- ­Mommsen, in Garding geborener Althistoriker und 1902 erster denkstunde für die Opfer von Krieg und deutscher Literatur-Nobelpreisträger. Mommsen verband mit Gewaltherrschaft. Die Veranstaltung unter Storm nicht nur das Geburtsjahr und die nordfriesische Heimat. der Überschrift „Krieg und Menschenrechte“ Beide studierten auch zusammen in Kiel und gaben 1843, ge- beginnt am Sonntag, den 19. November, um Theodor Mommsen, meinsam mit Mommsens Bruder Tycho, einen Gedichtband 11:30 Uhr im Plenarsaal. undatierte Fotografie heraus: das „Liederbuch dreier Freunde“. Nach der Begrüßung durch den Volks- Eine Ausstellung des Husumer Storm-Hauses unter dem Titel „Was macht der Poet:­ bund-Landesvorsitzenden Ekkehard Klug Theodor Mommsen und Theodor Storm 1817 – 2017“ ist ab dem 30. November, dem ­ hält der Vorsitzende des Bundes Deut- 200. Geburtstag des Historikers, im Landeshaus zu sehen. Außerdem ist eine Auftaktveran- scher Nordschleswiger,­ Hinrich Jürgensen,­ staltung für Montag, den 20. November, um 19:00 Uhr geplant. die Gedenkrede. Landtagspräsident Klaus Näheres unter www.sh-landtag.de. Theodor Mommsen war Professor für Römisches Schlie spricht das Totengedenken. Das Recht und Römische Geschichte, unter anderem in Zürich und Berlin. Zudem gehörte er Blechbläser­quintett des Marinemusik- dem preußischen Abgeordnetenhaus und dem Reichstag an. Den Nobelpreis erhielt er für korps Kiel gestaltet die musikalische­ seine mehrbändige „Römische Ge­schichte“. Umrahmung.­ Interessierte werden­ gebeten,­ Die Ausstellung ist vom 30. November bis zum 31. Dezember täglich von 10:00 bis 18:00 sich bis zum 2. ­November beim Volksbund­ Uhr im Landtag zu sehen. Der Eintritt ist kostenlos, Gäste sollten ihren Personalausweis anzumelden. Tel.: 0431/9066190 oder dabei haben. [email protected] Zur Auftaktveranstaltung ist eine Anmeldung erforderlich: [email protected]

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