Karl Hagedorn Biographie und Werkanalyse des deutsch-amerikanischen Künstlers

Der Philosophischen Fakultät Fachbereich Kunstgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil. vorgelegt von

Antonia Lindner aus Dettelbach

1. Teil: Textband

Als Dissertation genehmigt von der Philosophischen Fakultät/Fachbereich Kunstgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Tag der mündlichen Prüfung: 12.12.2017

Vorsitzende des Promotionsorgans: Prof. Dr. Heike Paul

Gutachter: Prof. Dr. Hans Dickel Gutachterin: Prof. Dr. Heidrun Stein-Kecks

Dank

Mein Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Hans Dickel, der eine Bearbeitung des bislang wissenschaftlich nicht beachteten Werkes des Malers Karl Hagedorn als Desiderat erkannt und von Beginn an gefördert hat. Vor allem die Möglichkeit der Diskussion meines Themas in Professor Dickels Colloquium für Doktorandinnen und Doktoranden, ihnen sei an dieser Stelle ebenfalls für ihr Interesse und ihre Beiträge gedankt, hat mir viele wertvolle Hinweise und Inspirationen vermittelt. Die Betreuung war über die Jahre hinweg stets umfassend, unterstützend, lehrreich, wohlwollend und von großem Interesse getragen. Ebenso gilt mein Dank Frau Professor Dr. Heidrun Stein-Kecks für die sofortige Zusage zur freundlichen Übernahme des Zweitgutachtens.

Mein Dank gilt allen Personen aus dem privaten wie professionellen Umfeld Karl Hagedorns, die sich zu einem Interview bereit erklärt haben und es mir damit ermöglichten, eine Forschungsgrundlage für die vorgelegte Arbeit zu bilden. Sie werden in der Arbeit detailliert vorgestellt. Genauso bedanke ich mich bei allen Mitarbeitern der Museen und Galerien, deren Bestände und Archivgut ich im Rahmen dieser wissenschaftlichen Arbeit einsehen und nutzen durfte. Auch sie werden in der vorgelegten Arbeit benannt.

Mein Dank gilt Frau Stefanie Beck, Herrn Thomas Junghans, Herrn Herbert Maier, Herrn Harry Meyer und Herrn Klaus Zahner für fortwährendes Interesse an meiner Arbeit sowie für immer wieder neue Motivation über all die Jahre der Bearbeitungszeit hinweg.

Ebenso herzlich bedanken möchte ich mich bei meinen Freundinnen und Freunden sowie Arbeitskolleginnen, hier vor allem Frau Sabine Hagenbeck und Frau Martina Nägel, die mich die gesamte Zeit über unterstützt, meine Arbeit mit Interesse verfolgt und mich fortwährend ermuntert und motiviert haben.

Bei Frau Dr. Mirjam Brandt, Herrn Sebastian Bürger, Herrn Sebastian Frank, Frau Sandra Knocke, Herrn Björn Talmann und Frau Dr. Anne Tusch bedanke ich mich sehr herzlich für die Bereitschaft, je ein Kapitel meiner Arbeit zu lesen und mit hoher Präzision in der Korrektur, Ideen und vielen Anregungen zum Gelingen der Arbeit beizutragen.

Mein Dank gilt meinen Eltern Frau Alwine Lindner und Herrn Horst Lindner, die mich von Beginn an in meinem Vorhaben, zu promovieren, bekräftigt haben und mich während der Bearbeitungszeit fortwährend moralisch und motivierend sowie mit Interesse an meiner Arbeit unterstützt haben. Derselbe Dank gilt an dieser Stelle meiner Tante Frau Walburg Ludwig.

Ein besonderer Dank gilt meiner Freundin Frau Dr. Anne Tusch, die nicht nur eines der relevantesten Kapitel meiner Arbeit Korrektur gelesen hat, sondern mich zu jedem Zeitpunkt motiviert und mich in den unterschiedlichsten Phasen der langjährigen Bearbeitungszeit uneingeschränkt ermuntert und zur Weiterarbeit ermutigt hat.

Herrn Klaus D. Bode, meinem langjährigen Chef, möchte ich jedoch nicht nur für die Ermutigung, das Werk Karl Hagedorns wissenschaftlich zu bearbeiten, danken, sondern in erster Linie für die über die gesamte Bearbeitungszeit hinweg erfolgte uneingeschränkte Motivation und Unterstützung in vielerlei Hinsicht; verknüpft mit wertvollen Gesprächen und stetem Interesse an meinem Tun. Mein Dank gilt der Ermöglichung, in der letzten Bearbeitungsphase meine Arbeitszeit verkürzen zu dürfen. Ich bedanke mich für den jederzeit möglichen Zugang zu den sich in der Bode Galerie befindlichen Werken Karl Hagedorns, sowie zur vorliegenden Literatur. Ich bedanke mich für die Möglichkeit, dass ich aktiv an vergangenen und zukünftigen Ausstellungen der Werke Karl Hagedorns sowie an Ausstellungspublikationen mitwirken durfte und weiterhin darf. Des Weiteren bedanke ich mich für die Vermittlung von wertvollen Kontakten und von Wissen rund um das Werk des Künstlers. Im Besondern jedoch bedanke ich mich für die vollumfängliche Unterstützung meiner im Jahr 2012 erfolgten Forschungsreise in die USA und nicht zuletzt für die Bereitstellung von professionellem Bildmaterial für den Bildband (Teil 2) der vorgelegten Arbeit.

Bei Frau Diana Cavallo-Hagedorn möchte ich mich sehr herzlich dafür bedanken, dass sie einer wissenschaftlichen Bearbeitung des künstlerischen Werkes ihres verstorbenen Ehemannes Karl Hagedorn zugestimmt und mich von Beginn an in jeder Hinsicht unterstützt und ermutigt hat, die Bearbeitung durchzuführen. Für ihre Vermittlung vieler wertvoller Kontakte, für die Erlaubnis zur Einsichtnahme in den vorhandenen schriftlichen Nachlass des Künstlers und für das damit verbundene Vertrauen, bedanke ich mich sehr. Nicht zuletzt möchte ich ihr für ihre Bereitschaft danken, mich in Philadelphia zu empfangen, um mich an ihrem Wissen und ihren Erinnerungen teilhaben zu lassen; ohne diese Optionen wäre die Bearbeitung des künstlerischen Nachlasses Karl Hagedorns in dieser Form nicht möglich gewesen.

Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort ...... 8 2. Zur Methodik der vorliegenden Arbeit und zum Stand der Forschung zu Leben und Werk des Künstlers Karl Hagedorn ...... 10 2.1 Zusammenfassung der durchgeführten Methoden und des einbezogenen Forschungsmaterials ...... 10

2.2 Literatur ...... 12

2.3 Texte von und über Karl Hagedorn ...... 15

2.4 Zeitungsartikel ...... 17

2.4.1 Korrespondenzen und weitere Schriftlichkeiten ...... 18

2.4.2 Weitere Drucksachen ...... 18

2.5 Korrespondenzen im schriftlichen Nachlass in Philadelphia ...... 20

2.6 Die Forschungsreise in die USA ...... 21

2.6.1 Die Interviews mit Privatpersonen in den USA ...... 22

2.6.1.1 Das Interview mit der Künstlerwitwe Diana Cavallo-Hagedorn ...... 22

2.6.1.2 Das Interview mit Winfried und Kay Raabe und Sigrid Bachmann... 23

2.6.1.3 Das Interview mit Philipp Larson ...... 24

2.6.1.4 Das Interview mit Richard Galef ...... 24

2.6.2 Besuche und Forschung in Museen und Institutionen ...... 24

2.6.2.1 Der Besuch im Philadelphia Museum of Arts ...... 25

2.6.2.2 Der Besuch am Walker Art Center Minneapolis/St. Paul ...... 25

2.6.2.3 Der Besuch an der Hamline University in St. Paul ...... 26

2.6.2.4 Die Kirche La Mision El Santo Niño Jesús in Minneapolis/St. Paul . 26 2.6.2.5 Die Minnesota Historical Society und das Minneapolis Institute of Arts ...... 26

2.6.2.6 Der Besuch am Brooklyn Museum in New York ...... 27

2.7 Forschungen in Deutschland ...... 28

2.7.1 Die Interviews mit Privatpersonen in Deutschland ...... 28

2.7.1.1 Das Interview mit Nepomuk Zöllner ...... 28

2.7.1.2 Das Interview mit Georg Bernhard ...... 29

2.7.2 Museen und Galerien in Deutschland und in den USA ...... 30 2.7.2.1 Archivrecherche im Neuen Museum in Nürnberg, Staatliches Museum für Kunst und Design ...... 30

2.7.2.2 Die Staatliche Graphische Sammlung in München ...... 31

2.7.2.3 Das Kupferstichkabinett in Berlin ...... 32

2.7.2.4 Galerien in den USA ...... 32

2.7.2.5 Galerien in Deutschland ...... 35

3. Karl Hagedorn – Biographie und Werkanalyse ...... 37 3.1 Karl Hagedorn 1922 bis 2005 - biographische Betrachtung eines Künstlerlebens ...... 37

3.1.1 Erste Lebensstationen ...... 37

3.1.2 Zeichnen an der Front – Hagedorn im Zweiten Weltkrieg ...... 40 3.1.3 Die ersten Jahre der Nachkriegszeit und der erste Wendepunkt: die Flucht in die BRD ...... 41

3.1.4 Ankunft in der BRD und künstlerische Professionalisierung ...... 42

3.1.5 Der zweite Wendepunkt: die Emigration in die USA...... 43

3.1.5.1 Ein Entschluss reift heran – belegt anhand dreier Selbstportraits ...... 43

3.1.5.2 Die Emigration – äußere und innere Faktoren ...... 45 3.1.6 Karl Hagedorns Way of Life – Integration und Etablierung in den USA ...... 47

3.1.7 Frühe Werke – frühe Ausstellungserfolge: die 1960er Jahre ...... 48 3.1.8 Facetten der persönlichen Entwicklung Hagedorns und seines persönlichen Umfeldes ...... 50

3.1.9 Die erste Europareise und der Umzug nach New York ...... 51

3.1.10 Leben in New York und Ausstellungserfolge in Deutschland ...... 54

3.1.11 Ausbau der Galeriekontakte in Deutschland ...... 57

3.1.12 Reisen – Alltag in New York ...... 58

3.1.13 Die letzten Jahre...... 61 3.2 Betrachtung und Analyse des künstlerischen Werkes Karl Hagedorns von 1945 bis 2002 ...... 63

3.2.1 Die künstlerischen Anfänge ...... 64

3.2.2 Die Philadelphia-Gruppe ...... 64

3.2.2.1 Der erste Teil der Philadelphia-Gruppe ...... 69

3.2.2.2 Der zweite Teil der Philadelphia-Gruppe ...... 75

3.2.2.3 Der dritte Teil der Philadelphia-Gruppe ...... 76 3.2.3 Die Jahre 1947 bis 1959 ...... 79

3.2.3.1 Zeichnungen ab 1950 ...... 79

3.2.3.2 Die frühesten, heute erhaltenen Ölgemälde ...... 80

3.2.3.2.1 Impressionistische Einflüsse ...... 81

3.2.3.2.2 Bezüge zu den Werken Paul Cézannes ...... 83

3.2.3.2.3 Malerei nach der ersten Paris-Reise ...... 85

3.2.3.3 Erste Abstraktionstendenzen ab 1954 ...... 88 3.2.4 Die künstlerische Neuausrichtung in den USA – Entwicklung eines späten Hauptwerks ...... 93 3.2.4.1 „The Hand of my Aunt“ als Vorbote für die Motivik des späteren Hauptwerkes ...... 94

3.2.4.1.1 Bildbeschreibung ...... 94 3.2.4.1.2 Die abgetrennte Hand als Symbol der biographieimmanenten Ablösungen und Brüche ...... 95

3.2.4.1.3 Künstlerische Vorbilder für „The Hand of my Aunt“ ...... 97 3.2.4.1.4 Weitere Überlegungen zum Entstehungshintergrund und zu möglichen Inspirationsquellen ...... 99

3.2.4.1.5 „The Hand of my Aunt“ als Ausblick auf das spätere Hauptwerk 101 3.2.4.2 Die Gestaltung eines Rosenfensters für die Kirche La Mision El Santo Niño Jesús in Minneapolis/St. Paul ...... 103

3.2.4.3 Formulierung werkprägender Interessen ...... 107 3.2.4.3.1 „Mannequin Fragment“, „Patio“ und „Duo“– Wegbereiter des Hauptwerks ...... 107

3.2.4.3.2 Fortführung der erotisch konnotierten Motivik ...... 112 3.2.4.3.3 „Iokaste“ als Vorbote an die Annäherung an die Werke Richard Lindners ...... 113 3.2.4.4 Die symbiotische Annäherung an die Frauendarstellung im Werk Richard Lindners – (k)ein Drama in fünf Akten...... 118

3.2.4.4.1 Exposition: „Blue Hat“ ...... 119

3.2.4.4.2 Steigerung: „Running Girl“ ...... 123

3.2.4.4.3 Klimax: „Woman in Black“ ...... 127 3.2.4.4.4 Retardierende Momente: Überlegungen zu Symbiose und beginnender Ablösung vom Vorbild ...... 130

3.2.4.4.5 (Ab-)lösung: „The Gambler“ und „Visitation“ ...... 133

3.2.4.5 Hagedorns Wege in die Abstraktion – zwei Bildbeispiele ...... 141 3.2.4.5.1 Eine neue Formensprache: „12 A.M. d.s.t“ ...... 142

3.2.4.5.2 Fortentwicklung von Form und Inhalt: „Circuit“ ...... 149 3.2.5 Die Kreisform als Substitut für die menschliche Figur in Hagedorns Werk ...... 152

3.2.5.1 Die Bedeutung der Kreisform innerhalb der Kunst ...... 154 3.2.5.1.1 Die Kreisform in der Architektur und die Entwicklung des Ornamentalen ...... 154

3.2.5.1.2 Die Kreisform in der Malerei...... 156

3.2.5.2 Die Entwicklung der Kreisform in Hagedorns Malerei ...... 163

3.2.5.2.1 Vorläufer der Kreisform in Hagedorns Werken ...... 163

3.2.5.2.2 Die Entwicklung der Kreisformen innerhalb des Hauptwerkes .... 164

3.2.5.3 Die formenreich gefüllte Kreisform ...... 172

3.2.5.3.1 Messgeräteform ...... 172

3.2.5.3.2 Die komplexe Kreisform ...... 175

3.2.5.4 Die formenarme und die formentleerte Kreisform ...... 182 3.2.5.4.1 Die konzentrischen Kreise, die Zielscheibe und das Prisma als formenarme Kreisformen – exemplarische Darstellung anhand der Arbeit „Alba“ ...... 183

3.2.5.4.2 Die formentleerte Kreisform ...... 192

3.2.5.4.3 Die formentleerte Kreisform als Scheibe...... 198

3.2.5.4.4 Die formentleerte Kreisform als Kugel ...... 203 3.2.6 Weitere bildstrukturierende Elemente der Hagedorn’schen symbolischen Abstraktion ...... 216

3.2.6.1 Die Konstruktionslinie ...... 217

3.2.6.2 Pipetten, Nadeln und Stacheln ...... 218

3.2.6.3 Die S-Form ...... 219

3.2.6.4 Das Röhrchenkonstrukt ...... 220

3.2.6.5 Die Pilzform ...... 222

3.2.6.6 Der C-Bogen ...... 223

3.2.6.7 Buchstaben, Zahlen, Wörter, eingeschriebene Bildtitel ...... 224 3.2.6.8 „Psychogram“ als Prospekt der bildstrukturierenden Elemente Hagedorns ...... 225 3.2.7 Entwicklungslinien im Spätwerk – Sport und Musik als Motivinspirationen ...... 228 3.2.7.1 Sport als Bildthematik in Hagedorns späten Werken ...... 230 3.2.7.2 Reduktion der Bildstrukturen und Musik als Impulsgeber für Hagedorns späte Werke ...... 238 4. Der Versuch einer kunsthistorischen Verortung der Werke Karl Hagedorns ...... 247

4.1 Kunsthistorische und zeithistorische Betrachtungen ...... 247

4.2 Medizin und Kunst ...... 249

4.3 Technik und Kunst ...... 253

4.4 Rekurs, Aktualität und Vision als Determinanten des Gesamtwerks ..... 255

Anhang 1 – Interviewmitschriften ...... 258

Anhang 2 – Literaturverzeichnis...... 278

Anhang 3 – Quellenverzeichnis ...... 291

1. Vorwort

Kunstgeschichte ist eine fortlaufend zu schreibende Historie jeglichen bildnerischen Schaffens, welche in ihrer Hauptentwicklungslinie von prägenden Protagonisten und von Avantgardisten determiniert ist. Kunst, als eine der ältesten und bis heute ungebrochen vorhandenen schöpferischen Äußerungen des Menschen, verläuft parallel wie eine Konkordanz zu jeglicher gesellschaftlichen oder historischen Entwicklung, ihre vornehmste Aufgabe ist es, diese Entwicklungen zu erfassen, im Vorfeld zu verspüren und schließlich der Gesellschaft, in welcher sie entsteht, einen Spiegel vorzuhalten. Nicht die Künstler agieren als Akteure, sie sitzen vielmehr in den Rängen des Lebens und sehen vor sich auf der Bühne eine Gesellschaft bei ihrer, jegliche Eigentümlichkeiten umfassenden, Aktion, Reaktion und Interaktion. Aus dieser anspruchsvollen wie mannigfaltigen Aufgabenstellung an die Kunst heraus, sind die genannten Protagonisten zwar die Triebkraft, welche die Fließgeschwindigkeit des stetigen Flusses der Kunstgeschichte bilden, zu einem breiten, lebensspendenden Strom wird dieser jedoch erst durch die zahlreichen weiteren künstlerischen Positionen, welche sich in jeder Epoche in, vor, neben und nach den jeweils vorherrschenden Stilen oder Avantgarden befinden. Das künstlerische Werk Karl Hagedorns ist ein solcher Stein in dem nie zu vollendenden Mosaik der Kunstgeschichte. 1922 in Deutschland geboren, hatte er den Zweiten Weltkrieg überlebt und konnte sich spät seiner eigentlichen Berufung, Künstler zu werden, widmen. Nach Jahren der Orientierung sowie nach einer ersten Begegnung mit den Werken der klassischen europäischen Moderne in Paris hatte er zu einer eigenständigen formalen Idee gefunden, in die er seine Themen und Interessen künstlerisch zum Ausdruck zu bringen gedachte. Spätestens seit seiner Emigration in die USA entwickelte er diese Intentionen bedingungslos fort. Karl Hagedorn wollte eine positive künstlerische Aussage über die Verbindung von Technik und Mensch treffen. Ob Hagedorn den erkenntnistheoretischen Ansatz von René Descartes kannte, demnach dieser sich eine Maschine nach gänzlich organisch-

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menschlichem Vorbild vorstellte,1 dazu liegen keine Belege vor, aber Hagedorn war auf der Suche nach einer symbiotischen Darstellung dieser beiden Pole, welche seit der Industriellen Revolution, umfassend spätestens seit der um 1912 einsetzenden Avantgarde, aber vereinzelt bereits seit der Antike, die bildende Kunst durchwalten, aber bislang entweder als diametral zueinander oder verherrlichend dargestellt worden sind. Hagedorn erreichte in seinen Werken eine positive Zusammenführung organischer und technischer Bildelemente, geprägt durch eine zeitparallel voranschreitende Technisierung nicht nur des industriellen, sondern vor allem auch des privaten Lebens. Durch sein umfassendes Interesse an technischen Entwicklungen aber auch medizinischen Abläufen und Funktionsweisen des menschlichen Körpers gelangen Hagedorn Bildkonstruktionen, welche den Eindruck einer technischen Zeichnung oder einer schematischen, stilisierten Abbildung in einem Lehrbuch evozieren. Frei von dem Anspruch auf wissenschaftliche Korrektheit entstanden so Werke, die der geneigte Betrachter als mechanisierten Organismus oder als biomorphe Maschine rezipieren kann. Karl Hagedorns Arbeiten haben bereits zu Lebzeiten Eingang in museale Sammlungen gefunden, in den USA und in Europa konnte er gleichermaßen stetige kommerzielle aber auch Ausstellungserfolge erzielen. Sein Werk trägt bei zu einer positiven, wenn auch in weiten Teilen unkritischen Sicht auf die Determinierung des menschlichen Alltags, es amplifiziert die Rezeptionsgeschichte seiner klar zu erkennenden künstlerischen Vorbilder, zudem ist ihm eine fortschrittsorientierte, zukunftsgewandte Sichtweise inhärent, welche sich darin manifestiert, dass sich die Verbindung von Technik und Mensch bis heute um ein Vielfaches potenziert hatte, sowohl auf dem Feld der Medizin, als auch auf dem Feld der Technologien. Die vorliegende Bearbeitung des Werkes Karl Hagedorns soll diese Intentionen, seine Werkentwicklung und seine Rezeption von Werken der klassischen Moderne dokumentieren und diese künstlerische Position dem mannigfaltigen Mosaik der Kunstgeschichte hinzufügen. Da es sich um eine Erstbearbeitung des Gesamtwerkes handelt, wurde auch die Biographie des Künstlers aufgearbeitet.

1 Vgl. René Descartes: Über den Menschen. Beschreibung des menschlichen Körpers. Hrsg. von Karl Eduard Rothschuh (=René Descartes: Trait’e de l’homme, 1632). Heidelberg 1969, S. 43. – Vgl. Peter Funken: Die Maschine im 19. und 20. Jahrhundert. Die Darstellung von technischen und maschinellen Prinzipien in der bildenden Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts – mit einem Exkurs zur Verwendung der Technikmetapher in der Literatur seit der Romantik. Aachen 1983, S. 23. 9

2. Zur Methodik der vorliegenden Arbeit und zum Stand der Forschung zu Leben und Werk des Künstlers Karl Hagedorn

Dieses Kapitel gibt einen umfassenden Überblick über die dieser Arbeit zugrunde gelegten Methoden. Den geführten Interviews wird eine besondere Gewichtung zukommen. Auch die schmale, aber dennoch für die Erstellung der vorgelegten Arbeit wertvolle Literaturlage soll ebenfalls an dieser Stelle besprochen werden.

2.1 Zusammenfassung der durchgeführten Methoden und des einbezogenen Forschungsmaterials

In den folgenden Unterkapiteln wird die zum Zeitpunkt des Verfassens aktuelle und bestehende Forschungslage detailliert dargestellt. Diese Forschungslage setzt sich zusammen aus Publikationen und Druckerzeugnissen, die anlässlich diverser Ausstellungen mit Werken Karl Hagedorns erschienen sind. Eine wissenschaftliche Erstbearbeitung ist bei einer dünnen bis nicht vorhandenen Forschungslage auf weitere Quellen angewiesen. Um diese transparent zu gestalten, werden hier die Teile Methodik und Forschungslage gemeinsam vorgestellt. Eine der wichtigsten Vorgehensweisen zur Erlangung wichtiger Informationsgrundlagen, war die Einbeziehung und Durchführung von Interviews gemäß den Grundlagen der qualitativen Interviewforschung.2 Die Interviews wurden mit Wegbegleitern und Zeitgenossen des Künstlers durchgeführt. Somit speisen sich ein Großteil der biographischen Betrachtung und auch Teile der Werkanalyse aus den Ergebnissen dieser Interviews. Die methodische Arbeitsweise der Interviewplanung und deren Durchführung bedarf Vorbereitung, Kontaktpflege und Weiterempfehlungen von bereits interviewten Gesprächspartnern. In der Aufbereitung dieser Gespräche ist es fundamental, das Gehörte in Relation mit den Aussagen anderer Interviewpartner zu setzen, es quellenkritisch zu betrachten und zu analysieren. Etwaige Befangenheiten sollten durch eine objektive Auswertung eliminiert werden. In der Vorbereitung auf die jeweiligen Interviews wurden Leitfadeninterviews vorbereitet. Bewusst wurde dann im laufenden Gespräch das Leitfadeninterview mit den Merkmalen des narrativen Interviews vermengt, denn die diesem

2 Vgl. Jan Kruse: Einführung in die qualitative Interviewforschung. Freiburg 2011. – Vgl. Jan Kruse: Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz. Weinheim, Basel 2015, S. 150- 153. 10

zugrundeliegende Erzählaufforderung lässt dem Interviewpartner die Möglichkeit, erinnerte Begebenheiten frei zu schildern. Die durchgeführten Interviews stellten direktes Wissen und erinnertes Quellenmaterial für die vorliegende Arbeit bereit und sie bilden auch eine Basis für die Bearbeitung des Lebens und des Werkes des Künstlers Hagedorn. Es ist an dieser Stelle zu bemerken, dass die Interviewpartner eine digitale Tonaufzeichnung abgelehnt hatten. Die Aussagen wurden in handschriftlichen Mitschriften und Stichpunkten notiert. Zu den mündlichen Aussagen, also erinnertem Material von wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Personen, müssen weitere Quellen hinzugezogen werden, um die Aussagen quellenkritisch betrachten zu können und um, sofern dies möglich ist, die Aussagen zu verifizieren. In den nachfolgenden Kapiteln der Biographie und der Analyse werden die genutzten Informationen durch entsprechende Quellenverweise korrekt vermerkt.3 Eine weitere wichtige Methodik war die Sichtung und Auswertung des schriftlichen Nachlasses des Künstlers. Dieser befindet sich im Besitz der Witwe des Künstlers an beider letzten Wohnort in Philadelphia. Dieser schriftliche Nachlass, die Ergebnisse aus der Sichtung und die Möglichkeiten der Verwendung für die vorliegende Arbeit werden ebenfalls in einem eigenen Unterkapitel evident gemacht. Der sogenannte schriftliche Nachlass ist ein ungeordneter Bestand verschiedener, zumeist in Mappen abgelegter Dokumente, die in unregelmäßiger Abfolge aus Schriftverkehr, aus Zeitungsausschnitten, aus Notizen, Ephemera wie Ausstellungsprospekten, Einladungskarten, Plakaten aber auch aus Kommissionslisten für Galerien, aus Krankenakten und Versicherungsunterlagen bestehen. Der Schriftverkehr ist nicht umfassend, jedoch beinhaltet er Kopien oder Abschriften derjenigen Briefe, die Hagedorn geschrieben und an die jeweiligen Empfänger gesendet hatte. Ein bemerkenswerter Fund, denn diese Briefe lagern im Regelfall bei den Empfängern. Ein für die wissenschaftliche Erschließung des Werkes sehr hilfreiches Vorgehen waren die Besuche in den Museen und Institutionen, die Arbeiten des Künstlers zu ihren Sammlungsbeständen zählen. Während der Forschungsreise durch die

3 Sofern eine Aussage oder Feststellung aus einem der durchgeführten Interviews resultiert, wird diese im Fußnotentext mit „Freundliche Mitteilung von ‚Person X an die Verfasserin.“ kenntlich gemacht.

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USA im Jahr 2012 wurden die entsprechenden Häuser aufgesucht und neben Gesprächen mit dem wissenschaftlichen Personal konnten die Bestände gesichtet beziehungsweise Archivarbeit durchgeführt werden. Genauso fand diese Sichtung und Archivarbeit in Deutschland statt. Für die Ausarbeitung der Werkanalyse schließlich bildete die Sichtung der nachgelassenen Arbeiten des Künstlers die Basis. Der Nachlass, der zu drei unterschiedlich großen Teilen in der Nürnberger Bode Galerie, im Neuen Museum in Nürnberg und im Besitz der Witwe in Philadelphia lagert, war der Verfasserin zugänglich. Dazu wurden im Laufe der Bearbeitungsphase der vorliegenden Arbeit auch Einzelwerke in Privatbesitz ausfindig gemacht.

2.2 Literatur

Bei den vorliegenden Publikationen handelt es sich um Ausstellungskataloge, die einen monographischen Ansatz in der Hinsicht haben, dass es sich um Einzelausstellungen handelte. Das ambitionierteste monographisch inspirierte Werk ist der an ein Werkverzeichnis angelehnte Katalog ‚Europäische Wurzeln – Amerikanische Blüten‘, welcher im Jahr 1998 in der Edition Bode erschienen ist.4 Es fasst in dem kleinen Werkverzeichnisteil einen repräsentativen Kernbestand der zum Zeitpunkt des Erscheinens im künstlerischen Nachlass und auf dem Kunstmarkt verfügbaren Ölgemälde und Mischtechniken auf Papier zusammen. Der zweisprachige Katalog in Deutsch und Englisch ist versehen mit einem Register zu den abgebildeten Werken, einer tabellarischen Biographie sowie einer Übersicht der Ausstellungen und der Kunstsammlungen, in denen sich Hagedorns Arbeiten befinden. Neben zwei vom Künstler selbst gewählten Zitaten von Paul Klee5 und Georges Braque6 wird das Werkverzeichnis eingeleitet durch drei Textbeiträge von Wegbegleitern, die einen großen Anteil an seiner Etablierung als Maler vor allem auf dem deutschsprachigen Kunstmarkt hatten. Dabei handelt es sich um die Kunsthistoriker Stefan Graupner, Curt Heigl und Wolfgang Horn. Stefan Graupner, zu dieser Zeit Kurator an der Nürnberger Kunsthalle, wendet

4 Klaus D. Bode (Hg.): Karl Hagedorn. Europäische Wurzeln – Amerikanische Blüten. Mit Texten von Stefan Graupner und Wolfgang Horn und mit einem Interview zwischen Curt Heigl und Karl Hagedorn. Nürnberg 1998. 5 Zitatausschnitt Paul Klee: „…das Unsichtbare sichtbar zu machen…“, in: Ebd., vorderes Vorsatzblatt. 6 Zitatausschnitt Georges Braque: „Das Bild ist komplett, wenn die Idee eliminiert ist.“, in: Ebd., hinteres Vorsatzblatt. 12

sich in Briefform an Hagedorn und fasst Gedanken zu dessen künstlerischen und biographischen Werdegang zusammen. Er bezieht sich in seinem Text auf die Kunst Hagedorns, die zwischen europäischer Tradition und amerikanischem Fortschritt angesiedelt ist und schreibt über die Verknüpfung der Bildinhalte, die Hagedorn im Laufe seiner Werkentwicklung benannt hatte und die für seine Formensprache relevant geworden sind. Auf diese persönliche Betrachtung folgt ein Interview zwischen Hagedorn und dem ehemaligen Direktor der Kunsthalle Nürnberg, Curt Heigl, der 1981 die erste museale Ausstellung mit Werken Hagedorns in Deutschland ermöglicht hatte. Die Ankäufe, die unter Heigls Leitung stattgefunden haben, sind mit der Gründung des Neuen Museums in Nürnberg in dessen Besitz übergegangen. In dem Interview befragt Curt Heigl den Künstler nach dessen Studienjahren an der Akademie der Bildenden Künste in München (1953-1958) und nach der parallelen Tätigkeit als Mitarbeiter in einer Werkstatt für - und Wandmalerei in Augsburg. Das Gespräch setzt sich fort über die Erfahrung des jungen Immigranten Hagedorn direkt nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten und der ersten Begegnung mit der US-amerikanischen Kunstszene. Darauf folgt zunächst die Hinterfragung der künstlerischen Vorbilder, schließlich stellt Heigl die Frage, ob Hagedorn einer bestimmten künstlerischen Schule oder Vereinigung angehört. Das Gespräch schließt mit Fragen nach der Werkentwicklung und nach den Inhalten, mit denen sich Hagedorn in seinem Werk auseinandersetzte. Der Textteil des Kataloges endet mit einem kurzen Abriss über die Thematik „Mensch und Maschine“ und deren Bedeutung im Werk Hagedorns, verfasst von Wolfgang Horn, ebenfalls ehemaliger Kurator an der Nürnberger Kunsthalle. Dieser Werkkatalog ist zum einen relevant, da er wichtige Arbeiten vereint und eine Zusammenschau dieser Werke zum Zeitpunkt seines Erscheinens gibt. Zum anderen sind die darin enthaltenen Texte wichtige Sichten auf die hauptsächlichen Belange, die Hagedorn in seinem Werk zum Ausdruck bringen wollte. Als besonders wertvoll ist das Interview zu erachten, da es nicht nur den Künstler selbst zu Wort kommen und ihn über wichtige Thematiken sprechen lässt, sondern in erster Linie eine der wenigen bewahrten mündlichen Äußerungen Hagedorns

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überliefert. Es ist neben einem weiteren, schriftlich aufgearbeiteten Interview7 das einzige transkribierte, erhaltene Interview mit Hagedorn. Im Januar und Februar des Jahres 1979 zeigte die New Yorker Galerie Gimpel and Weitzenhoffer die Ausstellung „Karl Hagedorn – Paintings, Watercolours and Drawings – Recent Paintings“. Parallel zu dieser Schau wurden auch im Goethe House New York Arbeiten Hagedorns unter dem Ausstellungstitel „Works from 1959 to 1978“ gezeigt. Anlässlich der parallelen Ausstellungen erschien ein Begleitheft mit dem Titel „Hagedorn“,8 welches im Innenteil auf beide Schauen hinweist. Der Katalog umfasst in den Ausstellungen gezeigte Arbeiten in schwarz-weißen sowie in farbigen Abbildungen. Eine tabellarische Biographie sowie Übersichten über Einzel- und Gruppenausstellungen Hagedorns und eine Zusammenstellung der öffentlichen und privaten Kunstsammlungen, welche Arbeiten von Hagedorn besitzen, schließen den Katalogteil ab. Begleitet wird der Katalog von einem kurzen einleitenden Text von Whitley Strieber, ein US- amerikanischer Autor, der sich weitgehend in den Genres Horror und Science- Fiction bewegte.9 1981 fand die erste museale Ausstellung mit Hagedorns Werken in Deutschland statt. Durch den Einsatz des Kurators Wolfgang Horn und des Museumsdirektors Curt Heigl wurden knapp einhundert Arbeiten für drei Monate in der Nürnberger Kunsthalle gezeigt. Die Ausstellung mit dem Titel „Mensch und Maschine. Bilder und Zeichnungen 1959-1980“ wurde begleitet von einem Katalog10 mit umfangreichem Bildmaterial in farbigen und schwarz-weißen Abbildungen. Begleitend zur Künstlerbiografie zeigt der Katalog ein Portraitfoto Hagedorns sowie eine Fotografie, die einen Blick in dessen damaliges New Yorker Atelier zeigt. Dem schließen sich Übersichten über öffentliche Sammlungen, Einzel- und Gruppenausstellungen an, zuletzt folgt der Verzeichnisteil zu den abgebildeten Werken. Diesem Ausstellungskatalog geht ein von Horn und Heigl gemeinsam verfasstes Vorwort voran, gefolgt von dem bereits vorgestellten Gespräch

7 “Questions and Answers”. Interviewniederschrift. Interviewpartner: Diana Cavallo-Hagedorn und Karl Hagedorn. Philadelphia 2002. 8 Gimpel and Weitzenhoffer Gallery (Hg.): Karl Hagedorn. Paintings, Watercolors and Drawings. Text by Whitley Strieber. Kat. Ausst. New York 1978. 9 Will Bueche: Whitley Strieber. Biography, in: IMBd. In: URL: http://www.imdb.com/name/nm0834460/bio?ref_=nm_ov_bio_sm (Stand: 16.10.2016). 10 Kunsthalle Nürnberg (Hg.): Karl Hagedorn, Mensch und Maschine, Bilder und Zeichnungen 1959-1980. Kat. Ausst. Nürnberg 1981. 14

zwischen Curt Heigl und Karl Hagedorn, welches später in eben genannter Monographie „Europäische Wurzeln – Amerikanische Blüten“ publiziert wurde. Somit existieren zu Karl Hagedorns Werk lediglich drei monographische Titel, wobei es sich zudem in erster Linie um Ausstellungsliteratur handelt.

2.3 Texte von und über Karl Hagedorn

Ergänzend zu der vorangehend vorgestellten Literatur existieren Texte über die Person Karl Hagedorn und über dessen künstlerische Arbeit. Dabei handelt es sich sowohl um Texte über sein Werk, als auch um von ihm selbst mitverfasste Texte. Diese Texte, die als wichtige Quellen für die Erstellung dieser Arbeit dienten, werden im Folgenden knapp vorgestellt, sowie auf die Erscheinungskontexte aufmerksam gemacht. Der Text „The Road to Abstraction: Progressing from Image to Symbol”11 wurde von Karl Hagedorn und seiner Ehefrau Diana Cavallo gemeinsam verfasst und erschien 1991 in der dritten Ausgabe des 24. Jahrgangs der Zeitschrift „Leonardo“. Dies ist ein Magazin, welches ab 1967 von Marjorie und Frank Malina12 in Frankreich gegründet wurde und auch heute noch erscheint. Der benannte Artikel von und über Hagedorn erschien unter der Rubrik „Artist’s Note“, umfasst vier Seiten des Magazins sowie einen kurzen Abstract. Begleitet wird der Artikel von vier Abbildungen von Werken Hagedorns, zudem fand eine fünfte Arbeit Platz auf der Titelseite der Ausgabe. In dem Aufsatz beschreiben Hagedorn und Cavallo den künstlerischen Weg von seinen figürlichen Anfängen hin zur abstrakten Malerei. Dort fällt erstmals der Begriff der „Symbolischen Abstraktion“, mit dem Hagedorn seine Malerei fortan zu benennen pflegte.13 Die Verknüpfung seiner Interessen am äußeren und vor allem am inneren Erscheinungsbild des Menschen, sowie an den Gesetzmäßigkeiten der Technik wird in diesem Aufsatz breit dargestellt. Zum einen für die Steigerung des Bekanntheitsgrades der Kunst Hagedorns und zum anderen als eine Reminiszenz

11 Diana Cavallo/Karl Hagedorn: Artist’s Note. The Road to Abstraction: Progressing from Image to Symbol, in: Leonardo. Journal of the international society for the arts, sciences and technology. 24/3 (1991), S. 280-284. 12 Das Ehepaar Marjorie und Frank Malina war in Kunst und Wissenschaft sehr engagiert. Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin und: Marjorie Duckworth Malina, in: Leonardo online. In: URL: http://www.leonardo.info/isast/marjoriestory.html (Stand: 16.10.2016). 13 Vgl. “Questions and Answers”, 5. Frage, S. 2. 15

an sein bisheriges Schaffen ist ein großer Artikel in dem renommierten Journal als durchaus relevant zu betrachten. Der Text „The Story of my Life“ ist ein autobiographischer Rückblick auf das eigene Leben. Hagedorn hatte diese Erinnerungen einige Monate vor seinem Tod auf Anraten seiner Ehefrau zusammengefasst;14 sie hatte die letztendliche schriftliche Überarbeitung vorgenommen. Der Rückblick ist eine ebenfalls wichtige Quelle hinsichtlich der Lebensstationen Hagedorns und hinsichtlich der Herausbildung seiner künstlerischen Interessen. Hinzukommt, dass es sich neben den bereits genannten Interviews um einen weiteren Originalton handelt, sofern man die Überarbeitung durch die Witwe berücksichtigt. Zudem kann der Text auch hinsichtlich einer quellenkritischen Betrachtung der durchgeführten Interviews nutzen. Zwar handelt es sich bei beidem um erinnertes Wissen, jedoch kann die Erinnerung des Künstlers an sein eigenes Leben, als relevanter eingestuft werden, als die Erinnerung außenstehender Personen. Karl Hagedorn beschreibt in „The Story of my Life“ sehr intensiv den Gang seines Lebens, von Kindheitserinnerungen bis zu kürzlich zurückliegenden Aktivitäten. Gepaart werden diese Lebenserinnerungen mit wichtigen Stationen in seinem künstlerischen Leben, sowohl hinsichtlich der Ausbildung oder des späteren Ausstellungserfolges, als auch in Anbetracht seiner künstlerischen Vorbilder. Bei „Questions and Answers“ handelt es sich um ein Interview zwischen Hagedorn und seiner Ehefrau, welches zu dem Zweck erarbeitet wurde, Aussagen Hagedorns über seine Malerei festzuhalten. Es sollte auch als schriftliches Begleitmaterial zu der Ausstellung im Kunstverein Wernigerode im Jahr 2002 dienen. Ein positiver Aspekt ist, dass mit diesem Interview die schmale Bandbreite an niedergeschriebenen Aussagen Hagedorns erweitert wird. Genauso ist aber auch differenziert anzumerken, dass es sich dabei um ein Interview zwischen Eheleuten handelt, es muss also in Betracht gezogen werden, dass die Antworten auf die Fragen gut durchdacht und wohlformuliert werden konnten, zumindest in einem höheren Maße als in einem im direkten Dialog geführten Interview. Außerdem beinhaltete das Interview keine kritischen Fragen, was zwar nicht den Wertgehalt der im Interview getroffenen Aussagen schmälert, es verwehrte sich aber im Vornherein die Möglichkeit investigativer Fragen.

14 Karl Hagedorn hatte “The Story of my Life” 2004 als autobiographischen Lebensrückblick verfasst. Der Text wurde nicht veröffentlicht. 16

In „Questions and Answers“ äußert sich der Künstler zu Fragen nach seiner Inspiration bei der Zusammenstellung der Ausstellung, zu welchem Lebenszeitpunkt ihm bewusst geworden war, Künstler zu werden, von welchen künstlerischen und anderen Einflüssen er sein Werk determiniert sieht und wie er denn selbst sein künstlerisches Arbeiten beschreibt. Der quellenkritischen Sichtweise ist objektiv entgegenzusetzten, dass solche Aussagen eine gewisse Basis bilden, zumindest bei einem künstlerischen Werk, welches bislang nicht monographisch behandelt wurde. Tiefergehende Fragen, eine Auseinandersetzung über einen speziellen Teil des Werkes oder beurteilende Fragestellungen sind erst auf einer gewissen breiteren Kenntnis einer künstlerischen Position möglich oder gar nötig. Zur Bestattung Karl Hagedorns im Jahr 2005 wurde an die Trauergäste das Blatt „Karl Hagedorn 1922-2005“ ausgegeben, welches neben Zitaten von Leigh Hunt15 und Anne Michaels16 sowie einem Gedicht von C.K. Williams17 auch zwei Zitate von Karl Hagedorn enthält. Er äußert sich in diesen Zitaten zum einen zu der Bedeutung von Farbe für sein malerisches Werk und zum anderen betont er, bewusst keiner Künstlergruppe angehört zu haben, und dass er diese Einteilung in gewisser Weise für obsolet hält.18

2.4 Zeitungsartikel

Wichtige Informationsgrundlagen lieferten bewahrte Zeitungsartikel, in denen Ausstellungen besprochen werden oder der Künstler selbst portraitiert wird. Weitere Drucksachen, wie Begleitblätter zu Ausstellungen, aber auch Reden zu Ausstellungseröffnungen oder Kurzbiographien, die von Galerien herausgegeben wurden, erweitern den Überblick über die Ausstellungstätigkeit des Künstlers und diese wird zusätzlich dokumentiert durch aufbewahrte Ausstellungslisten oder Zeitungsannoncen. Aufbewahrungsorte dieser Arten von Schriftlichkeit sind der Nachlass in Philadelphia, das Archiv des Neuen Museums in Nürnberg sowie das

15 Leigh Hunt, Schriftsteller, England, 1784-1859. Das Zitat ist eine Aussage des Schriftstellers an die mit ihm befreundete, englische Schriftstellerin Mary Shelley (1797-1851) hinsichtlich des Todes eines seiner Söhne. 16 Anne Michaels, kanadische Schriftstellerin, geboren 1958. Es handelt sich hierbei um ein Zitat aus; Dies.: The Weight of Oranges. Toronto 1985. 17 C. K. Williams, US-amerikanischer Dichter, geboren 1936. Es handelt sich um das Gedicht „Elegy for an Artist“ welches 2001 in New York erschienen ist. 18 Karl Hagedorns Aussagen aus „Karl Hagedorn 1922-2005“, im Nachlass des Künstlers.

17

Künstlerarchiv der Bode Galerie in Nürnberg. Der schriftliche Nachlass in Philadelphia befindet sich im Besitz der Witwe und konnte während der Forschungsreise im Jahr 2012 eingesehen und dokumentiert werden. Die Inhalte dieser Sammlung an Unterlagen werden in 2.4.2 dargestellt, ein ausführlicher Bericht zur Forschungsreise findet sich in 2.6. Die Recherche im Archiv des Neuen Museums in Nürnberg findet Erläuterung in 2.7.2.1.

2.4.1 Korrespondenzen und weitere Schriftlichkeiten

Im Oktober 2010 konnte im Buch- und Kunstkabinett Prospekt in München eine Mappe eingesehen werden, welche Briefverkehr, Unterlagen organisatorischer Natur und Presseartikel beinhaltet und aus den Nachlassbeständen Hagedorns Münchner Galerievertretung, Galerie Heseler, stammt.19. Es befinden sich in erster Linie Kopien von Briefen darin, die Hagedorn an die Galerie Heseler in den Jahren zwischen 1978-1991 geschrieben hatte. Des Weiteren beinhaltet die Mappe einen Schriftverkehr zwischen der Galerie Heseler, Karl Hagedorn und der Firma J. Strobel & Söhne, welche Nähmaschinen in München herstellte und Hagedorn um ein Auftragswerk bat.20 In der Mappe befinden sich darüber hinaus eine Sammlung kopierter Zeitungsartikel mit Besprechungen von Ausstellungen bei Heseler, in der Augsburger Galerie Rehklau, sowie über die Ausstellung in der Nürnberger Kunsthalle 1981. Abschriften von Ausstellungsbesprechungen in US-amerikanischen Tageszeitungen und Journalen, darunter The New York Times und Art News Magazine aus den Jahren 1964 bis 1980 befinden sich ebenso in diesem Konvolut als auch eine Kurzbiographie mit Ausstellungsliste sowie zwei Kommissionsbestandslisten von Werken Hagedorns in der Galerie Heseler, beide aus 1991.

2.4.2 Weitere Drucksachen

Im schriftlichen Nachlass des Künstlers befinden sich Ausstellungslisten, Übersichten und Ankündigungen aus Hagedorns Ausstellungstätigkeit in Minneapolis/St. Paul, welche vor allem seine frühen Erfolge belegen. Darin gesammelt sind etwa eine Ankündigung zu den Ausstellungen im St. Paul Art

19 Die Korrespondenzmappe lagert bei Prospekt, Buch- und Kunstkabinett, Dr. Hans-Jürgen Hereth, Rheinstraße 27, 80803 München. (Stand: 10.2010). 20 Es handelt sich hierbei um die Inhaber der Fabrik für Spezialnäh- und Bekleidungsmaschinen, J. Strobel & Söhne GmbH & CO in München, die bis in die neunziger Jahre in München, Heimeranplatz ihre Sammlung an Bügeleisen und Nähmaschinen ausgestellt hatten. 18

Center, 1966, ein Beleg seiner Teilnahme an der „5th Minnesota Artist’s Biennial“, 1967, Werbung für die “Arts on Paper Show“ in der Weatherspoon Gallery der University of North Carolina, 1968 und zur Ausstellung „Drawings. 10 Minnesota Artists“ im Walker Art Center, 1971. Begleitet werden diese Ausstellungsbeteiligungen durch Zeitungsartikel im Minneapolis Tribune und im The Minneapolis Star. Das Magazin The Twin Citian veröffentlichte 1966 ein Künstlerportrait Hagedorns21 und bereits 1964 bewirbt das Twin Citian Magazine22 den „midwest art mart“ mit einer Abbildung eines Werkes von Hagedorn.23 Auch in New York konnte Karl Hagedorn auf seine Kunst aufmerksam machen und somit liegen neben Ausstellungsankündigungen seiner Galerien Gimpel and Weitzenhoffer sowie Jack Gallery auch eine Pressemitteilung des Generalkonsulates der BRD in New York24 vor, in dessen Räumen 1989 eine Ausstellung mit Werken Hagedorns stattgefunden hatte. Sowohl 1974 als auch 1976 bespricht der renommierte Kunstkritiker John Russel Ausstellungen mit Hagedorn in The New York Times.25 Zu Ausstellungen in Deutschland befinden sich hingegen nur wenige Zeitungsartikel in diesem Nachlasskonvolut, darunter eine Besprechung einer Ausstellung in der Augsburger Galerie Rehklau in einer Ausgabe der Süddeutschen Zeitung von 197826 sowie ebenfalls eine Ausstellungsbesprechung in derselben Galerie in der „Augsburger Allgemeinen“ aus dem Jahr 1984.27 Die Abendzeitung berichtet im Jahr 1998 von einer Ausstellung in der Bode Galerie in Nürnberg28 und die Mitteldeutsche Zeitung29 thematisiert 2002 die Ausstellung im Kunstverein Wernigerode.30 Eine Soloshow in der Garrubbo Bazan Gallery in

21 Sara Middleton: Profile: Saint Paul Artist Karl Hagedorn. In: The Twin Citian. A monthly magazine (1966). Juni 1966, S. 67. 22 Werbeanzeige für den „mid west art mart“ mit der Abbildung des Gemäldes „Cum Tempore“ von Karl Hagedorn. In: Twincitian Magazine (1964). September 1964, S. B. 23 Alle Kopien oder Originale dieser Ausstellungsunterlagen und Zeitungsartikel befinden sich im Nachlass in Philadelphia, wo sie von der Verfasserin während eines Forschungsaufenthaltes im August 2012 eingesehen werden konnten. 24 Pressemitteilung zu einer Ausstellung mit Werken Karl Hagedorns. Consulate General of the Federal Republic of Germany New York (Mai 1989). 25 John Russel: Karl Hagedorn’s Wry Paintings at Gimpel. In: The New York Times (1974). 06.06.1974. — John Russel: Karl Hagedorn. In: The New York Times (1976). 07.02.1976. 26 Mut zur Farbe. In: Süddeutsche Zeitung (1978). April 1978. 27 Hagedorns Farbwege. In: Augsburger Allgemeine Zeitung 158 (1984). 11.07.1984, S. 31. 28 Ute Maucher: Im Menschen ist alles drin. In: Abendzeitung Nürnberg (1998). 12.11.1998. 29 Michael Blochwitz: Harzer Wurzeln trieben amerikanische Blüten. In: Mitteldeutsche Zeitung (2002). Januar 2002. 30 Alle Ankündigungen und Artikel befinden sich im Nachlass des Künstlers. 19

West Chester bespricht 2003 der Philadelphia Inquirer, der in seiner Ausgabe vom 1. November 2005 auch einen Nachruf auf Karl Hagedorn veröffentlicht hatte,31 genauso wie auch die deutschen Zeitungen Abendzeitung und Nürnberger Nachrichten.32

2.5 Korrespondenzen im schriftlichen Nachlass in Philadelphia

Vorweg muss festgestellt werden, dass sich in diesem Nachlass keine langfristige Korrespondenz beispielsweise mit einem anderen Künstler befindet, auch keine Tagebuchaufzeichnungen oder gesammelte Aufzeichnungen Hagedorns hinsichtlich seiner Kunst. Hagedorn gehörte keiner Künstlergruppe an, in der möglicherweise ein reger Austausch von Gedankengut hätte stattfinden können. Er pflegte durchaus Bekanntschaften zu anderen Künstlern, die sich aber viel mehr aus den für diese Zeit in New York typischen Studio- und Atelierpartys ergaben und nicht im Briefwechsel, sondern im persönlichen Kontakt erhalten wurden.33 Der schriftliche Nachlass spiegelt Hagedorns rege akquisitorische Aktivitäten wieder, so finden sich neben Bewerbungen bei Galerien auch immer wieder Katalogzusendungen an Museen, beispielsweise eine Korrespondenz zwischen Hagedorn und Katherine H. Mead, einer Kuratorin am Sta. Barbara Museum of Art in Kalifornien, aus den Jahren 1976 und 1977.34 Zu Beginn des Jahres 1999 hatte Karl Hagedorn dem Museum of Modern Art in New York eine Schenkung angeboten, wofür sich eine Assistenzkuratorin des Hauses schriftlich bedankt, die Schenkung jedoch wurde nicht angenommen.35 Über die Jahre 1995 bis 1997 erstreckte sich eine Korrespondenz zwischen Karl Hagedorn und der Leiterin des Feininger Museums in Wernigerode. Weitere Zusendungen von Katalogen oder Anschreiben sandte Hagedorn an das Whitney Museum of American Art und an das Museum of Modern Art, beide New York. Es befindet sich in diesem Nachlass auch Korrespondenz mit der Nürnberger Kunsthalle und später mit dem Neuen Museum in Nürnberg (2.7.2.1).

31 Victoria Donohoe: Two abstract painters. Elegant and homespun. In: The Philadelphia Inquirer (2003). 02.11.2003. 32 Abendzeitung Nürnberg (09.11.2005) — Nürnberger Zeitung (01.12.2005). 33 Freundliche Mitteilung von Richard Galef an die Verfasserin. 34 Diese Korrespondenz befindet sich im Nachlass des Künstlers. 35 Ebd. 20

Vereinzelt liegen spärliche Korrespondenzen mit den Galerien, die Hagedorns Werke in Deutschland vertreten haben, vor, darunter die Galerien Heseler, Stolz in Köln, Aras und Hölder in Ravensburg, ebenso Korrespondenz mit der Galerie Brockstedt in Hamburg. Ab 2000 intensivierte Hagedorn den Kontakt zum Philadelphia Museum of Arts. Bereits im Jahr 1990 hatte eine Bekannte, Pamela Model aus Flourtown einen Ausstellungskatalog an das renommierte Haus geschickt, wofür sich Ann Temkin, eine Kuratorin des Museums, in einem Brief bedankt, der sich ebenfalls im Nachlass befindet.36 2002 nimmt Hagedorn Kontakt zum Museum auf und die Korrespondenz wird in den folgenden Jahren aufrechterhalten. Demzufolge liegen hier fünf Schreiben vor, zunächst mit dem damaligen Assistenzkurator Michael R. Taylor, anschließend weitergeführt von John Ittman37, welcher schließlich zu Beginn des Jahres 2004 Hagedorns Atelier besucht hatte.38 Nach Hagedorns Tod im Oktober 2005 setzte die Witwe des Künstlers diese Korrespondenz fort, was schließlich 2008 in einem Ankauf von Silberstiftzeichnungen (3.2.2) aus dem künstlerischen Nachlass Karl Hagedorns resultierte.

2.6 Die Forschungsreise in die USA

Die Forschungsreise im Jahr 2012 hatte die Verfasserin dahingehend geplant, die wichtigsten Lebensstationen Hagedorns in den USA aufzusuchen. Somit nahm die Reise ihren Ausgangspunkt in Philadelphia, dem letzten Aufenthaltsort Hagedorns und dem Wohnort seiner Witwe. Mit ihr fand ein umfassendes Gespräch sowie die Sichtung des schriftlichen Nachlasses statt. Die in einem eigenen Apartment gelagerten, künstlerischen Werke konnten ebenfalls gesichtet werden. Zudem konnte ein Termin im Philadelphia Museum of Art wahrgenommen werden. Die Reise wurde in den Twincities Minneapolis/St. Paul fortgesetzt, wo wichtige Interviews mit Wegbegleitern Hagedorns stattgefunden hatten. Im Walker Art Center, welches Werke Hagedorns zu seiner Sammlung zählt, konnten diese im Magazin des Museums eingesehen werden. In der Hamline University wurde ebenfalls die Gelegenheit wahrgenommen, ein Werk aus dem Sammlungsbestand einzusehen. Zudem bestand die Möglichkeit, mit einem der heutigen Dozenten zu sprechen. Die Forschungsreise nahm ihre letzte Station in New York, vor Ort

36 Schreiben von Ann Temkin an Hagedorn vom 19.03.1990. 37 Diese Korrespondenz befindet sich im Nachlass des Künstlers. 38 Freundliche Mitteilung von John Ittman an die Verfasserin. 21

wurde ein Termin im Brooklyn Museum wahrgenommen sowie ein Gespräch mit einem weiteren wichtigen Wegbegleiter Hagedorns durchgeführt.

2.6.1 Die Interviews mit Privatpersonen in den USA

Die Literaturlage ist nicht ausreichend, um daraus eine umfassende Analyse des künstlerischen Werkes Karl Hagedorns zu erarbeiten zu können. Während über das künstlerische Werk aber zumindest diese Publikationen vorliegen und der künstlerische Nachlass in großen Teilen erhalten und zugänglich ist, liegen über seine Biographie nur wenige Informationen vor. In den folgenden Teilkapiteln werden die jeweiligen Interviewpartner kurz vorgestellt. Die Mitschriften, welche während der Interviews angefertigt worden sind, befinden sich in Anhang 1 der vorgelegten Arbeit.

2.6.1.1 Das Interview mit der Künstlerwitwe Diana Cavallo- Hagedorn

Das Interview mit der Witwe Karl Hagedorns, Diana Cavallo-Hagedorn, fand im Zeitraum vom 25. Juli bis zum 03. August 2012 statt. Diana Cavallo-Hagedorn war bereit, im Vorfeld erarbeitete Fragen nach dem Leben des Künstlers in Deutschland, darin inbegriffen die Kindheit, Jugend und das Familienleben, die militärische Verwendung Karl Hagedorns während des Zweiten Weltkrieges, seine Entscheidung zur Flucht aus der DDR in die BRD, seine künstlerische Ausbildung in Deutschland, die Emigration in die USA, seine ersten Jahre in der Neuen Welt, seine weitere künstlerische Entwicklung und die Etablierung in den USA als Künstler zu beantworten. Über die Interviewfragen hinaus entstanden spontane Gespräche, in denen die Witwe ihre Erinnerungen darlegte. Aus diesen Gesprächen gingen vor allem Informationen zu Ausstellungen mit Hagedorns Kunstwerken in den USA und in Deutschland hervor und zudem konnte die Witwe der Verfasserin zahlreiche Namen aus dem professionellen Umfeld Hagedorns benennen und Kontakte zu weiteren Wegbegleitern, privater und professioneller Natur vermitteln. Abgesehen vom fortgeschrittenem Alter der Witwe, durch welches infolgedessen möglicherweise diverse Informationen inkorrekt sind und was nicht in jedem Fall nachweislich verifiziert werden kann, basieren zahlreiche ihrer Erinnerungen ausschließlich auf Gesprächen mit ihrem verstorbenen Mann, insbesondere

22

hinsichtlich der Jahre vor dem gemeinsamen Leben, welche sie lediglich aus Gesprächen mit ihrem Ehemann rekonstruieren kann.

2.6.1.2 Das Interview mit Winfried und Kay Raabe und Sigrid Bachmann

In Minneapolis/St. Paul fanden weitere Gespräche statt; zunächst mit dem Neurologen Dr. Winfried Raabe, ebenfalls ein Einwanderer aus Deutschland. Raabe hatte den Künstler zu Beginn der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts durch einen gemeinsamen Bekannten, den Arzt Gianfranco Ayala kennen gelernt, der ebenfalls auf dem Gebiet der Neurologie forschte. Zum Interview am 09. August 2012 erschienen neben Raabe auch dessen Ehefrau Kay und eine weitere gemeinsame Bekannte, Sigrid Bachmann; ebenfalls eine Medizinerin. Sie hatte Hagedorn Ende der sechziger Jahre durch den gemeinsamen Freund Herbert Scherer, der Kunstgeschichte an der University of Minnesota unterrichtet hatte, kennen gelernt. Besonders wichtig sind die Aussagen der Interviewpartner für die vorliegende Arbeit, da ihre gemeinsame Zeit mit Hagedorn stattfand, bevor seine spätere Ehefrau in sein Leben trat. In dieser Hinsicht sind die dem Interview entnommenen Inhalte auch wichtig für eine quellenkritische Abwägung hinsichtlich der Aussagen Cavallos. So kristallisierten sich in verschiedenen Aspekten zum Teil unterschiedliche Ansichten heraus, wie beispielsweise hinsichtlich der Geschäftstüchtigkeit Karl Hagedorns. Das Interview brachte weiterhin viele wichtige Informationen über die bereits genannten Modalitäten der Einreise in die USA für Immigranten zu dem Zeitpunkt der Einwanderung Hagedorns. Im Laufe des Gespräches konnte herausgefunden werden, dass Karl Hagedorn Entwürfe für ein Rosettenfenster an einer Kirche in Minneapolis (3.2.4.2) eingereicht hatte, welche auch realisiert wurden. Auch hinsichtlich künstlerischer Impulsgeber und Vorbilder, bezüglich der stetigen Etablierung seines Werkes und früher Ausstellungstätigkeiten erschlossen sich der Autorin in diesem Interview zahlreiche Hinweise.

23

2.6.1.3 Das Interview mit Philipp Larson

Ein weiteres Interview in Minneapolis fand am 10. August 2012 mit Philipp Larson statt. Larson war Kurator am Walker Art Center in Minneapolis und hatte Karl Hagedorn 1971 kennen gelernt, also kurz vor dessen Umzug nach New York. Für das Jahr 1971 war im Walker Art Center eine Ausstellung geplant, welche Graphiken von Künstlern aus den Twincities zeigen sollte. Larson trat während der Ausstellungsvorbereitungen mit Karl Hagedorn in Kontakt, um ihn für einen Ausstellungsbeitrag zu gewinnen. Aus dem Interview mit Philipp Larson gingen auch Hinweise auf dessen Werkentwicklung und künstlerische Vorbilder hervor.

2.6.1.4 Das Interview mit Richard Galef

Die letzte Station der Forschungsreise war New York, wo am 16. August 2012 ein Interview mit dem Designer Richard Galef Interview stattfinden konnte. Dieser Kontakt wurde ebenfalls über die Witwe des Künstlers hergestellt. Über seine damalige Lebensgefährtin Alice Baber39 lernte Galef Hagedorn kennen. Ein weiterer Verknüpfungspunkt zwischen Richard Galef und Karl Hagedorn bestand darin, dass beide ihren Wohn- und Arbeitsort in der New Yorker Broome Street im Stadtteil Soho hatten. Hagedorn wurde durch Galef die Chance zuteil, viele Künstlerinnen und Künstler kennenzulernen und Kontakte in der Branche zu knüpfen. Zu dem Kreis um Galef gehörten unter anderem Sonia und Robert Delaunay und Helen Frankenthaler, aber auch einer der Kunstkritiker der The New York Times, Clement Greenberg.

2.6.2 Besuche und Forschung in Museen und Institutionen

Während der Forschungsreise wurden neben den wichtigen Interviews auch Besuche und Recherchen in Museen möglich. Diese wurden bereits im Vorfeld der Reise vereinbart und entsprechend vorbereitet. Somit konnten alle Institute aufgesucht werden, die ein Werk Karl Hagedorns zu ihren Beständen zählen. Die Besuche, Gespräche und Recherchen werden in den folgenden Teilkapiteln dargelegt, ihre Ergebnisse sind ein wichtiger Teil der Forschungsgrundlage für die Ausarbeitung der Werkanalyse der vorliegenden Arbeit.

39 Alice Baber, 1928-1982, war eine US-amerikanische Malerin des Abstrakten Expressionismus. Sie war vor der Liaison mit Galef mit dem US-amerikanischen Maler Paul Jenkins verheiratet. An der University of Minnesota hatte sie Lehraufträge wahrgenommen und hatte Hagedorn in Minneapolis als Freund kennen gelernt. 24

2.6.2.1 Der Besuch im Philadelphia Museum of Arts

Der erste Forschungs- und Gesprächstermin fand am 31. Juli 2012 im Philadelphia Museum of Arts statt. Der Besuch umfasste ein Gespräch mit dem Kurator für Druckgraphik und Zeichnung, John Ittman sowie mit dessen Assistentin Nora Lambert. Darüber hinaus ergab sich die Begebenheit, dass der kürzlich erworbene Sammlungsneubestand komplett im Studiensaal des Departments für Druckgraphik und Zeichnung ausgestellt und damit uneingeschränkt zugänglich war. Bei den Werken handelt es sich um ein Konvolut aus Zeichnungen (Abb. 1-14), welche Hagedorn während seiner Einsätze als junger Soldat im Zweiten Weltkrieg angefertigt hatte. Die Auswahl dieser Arbeiten durch das Museum ist bemerkenswert, denn sie sind Zeugnisse aus den künstlerischen Anfängen Hagedorns und sprechen von seinem Talent, das bereits vor seiner künstlerischen Ausbildung an der Münchner Akademie sichtbar war. Weitere Schenkungsgaben oder Ankäufe aus dem Nachlass Hagedorn wären in Zukunft zu begrüßen.40 Bereits erarbeitete Aspekte zum Gesamtwerk Hagedorns bestätigten sich schließlich im Gespräch zwischen der Verfasserin und Ittman. Des Weiteren konnten Details über künftige Ausstellungspläne der Silberstiftzeichnungen in Erfahrung gebracht werden.

2.6.2.2 Der Besuch am Walker Art Center Minneapolis/St. Paul

Während des Termins im Walker Art Center am 8. August 2012 mit der stellvertretenden Registrarin Loren Smith bestand die Möglichkeit, die Werke Hagedorns im Magazin des Museums einsehen zu können. Die Arbeit „12 AM d.s.t.“ (Abb. 15), aus dem Jahr 1967 wurde vom Museum bereits 1967 angekauft.41 Die Mischtechnik „Circuit“ (Abb. 16) aus 1970 kam 1971 als eine Schenkung42 in den Bestand des Museums, die Kaltnadelradierung „Radivar 5“ (Abb. 17), 1966 war ein Geschenk Hagedorns im Jahr 1967.

40 Freundliche Mitteilung von John Ittman und Nora Lambert an die Verfasserin. 41 Informationen über “12 AM d.s.t.”. In: URL: http://www.walkerart.org/collections/artworks/12- a-dot-m-d-dot-s-t# (Stand: 15.01.2015). 42 Eine Schenkung durch Dr. and Mrs. Paul R. Cooper, 1971. 25

2.6.2.3 Der Besuch an der Hamline University in St. Paul

Am 9. August 2012 konnte ein Termin mit Nicole A. Flam43 und Leonardo Lasansky, welcher Hagedorn noch persönlich kennen gelernt hatte, an der Hamline University in St. Paul wahrgenommen werden. Vor allem aus dem Gespräch mit Lasansky waren Informationen über die Vertretungsdozentur, die Hagedorn 1971 für den Dozenten Paul Smith übernommen hatte, hervorgegangen. Ein Brand hatte in den achtziger Jahren große Bestände der Bibliothek und des Archivs des Departments of Studio Arts and Art History zerstört,44 so dass die Archivarbeit rasch ergeben hatte, dass keine Unterlagen mehr zu Hagedorns Lehrtätigkeit am Department vorliegen, sofern sie überhaupt existiert hatten. Die dem Department angegliederte Soeffker Gallery beherbergt die Kunstsammlung der Hamline University, wo sich „DEIX M.R.Y.“ (Abb. 18) aus dem Jahr 1970 befindet und während des Besuchs von der Verfasserin im Original betrachtet werden konnte.

2.6.2.4 Die Kirche La Mision El Santo Niño Jesús in Minneapolis/St. Paul

Ebenfalls am 9. August 2012 wurde die Kirche „La Mision El Santo Niño Jesús“ (auch „St. Paul’s on the hill“) besucht. Hagedorn hatte im Zuge der Renovierungsmaßnahmen zu Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts das Bildprogramm für ein Rosettenfenster entworfen. Eine detaillierte Beschreibung erfolgt in Kapitel 3.2.4.2.

2.6.2.5 Die Minnesota Historical Society und das Minneapolis Institute of Arts

Diese beiden Institutionen werden hier zusammengefasst, da sich im Archiv der Minnesota Historical Society lediglich ein Zeitungsartikel befindet. Dabei handelt es sich um eine Ausstellungskritik von Mike Steele, die er in einer Ausgabe des Minneapolis Tribune im Jahr 1969 veröffentlicht hatte45 und die sich in Kopie auch im Archiv des Neuen Museums in Nürnberg befindet.

43 Nicole A. Flam war zu diesem Zeitpunkt Registrarin am Department of Studio Arts and Art History für die dem Department angegliederte Soeffker Gallery, sowie Mitarbeiterin in der Mediathek des Instituts. 44 Freundliche Mitteilung von Nicole Flam an die Verfasserin. 45 Hagedorn, Karl, Artist. In: Minneapolis Star Tribune Portraits E-I. An Inventory of Its Portrait Collection at the Minnesota Historical Society (1969). 14.09.1969. 26

Im Minneapolis Institute of Arts befinden sich drei Graphiken von Karl Hagedorn. Diese wurden am 10. August 2012 eingesehen und dabei konnte in Erfahrung gebracht werden, dass diese Werke durch Schenkungen in den Besitz des Museums gelangten. Somit ist die Radierung „The Press“ (Abb. 22) aus dem Jahr 1968 eine Schenkung der Freunde des Instituts, während die Kaltnadelradierung „Seated Girl“ (Abb. 23) und die Radierung „Figure Studies“ (Abb. 24), beide aus 1966, im Jahr 2008 zusammen mit einer Schenkung aus etwa dreihundert weiteren Graphiken und Zeichnungen anderer Künstler in das Museum gelangten.46 Der Sammler und Schenker dieser Werke war Allen Brookins-Brown. Vor Ort konnten keine Informationen über Allen Brookins-Brown eingeholt werden und in einer späteren E-Mail-Korrespondenz mit der Assistenzkuratorin Kristin Lenaburg wurde deutlich, dass dem Museum tatsächlich nur wenige persönliche Angaben über Allen Brookins-Brown zugänglich waren. Neben den Werken des deutschstämmigen Hagedorns, sind auch Werke des deutschen Künstlers Paul Wunderlich in der Sammlung zu finden. Auffällig in diesem Kontext sind einige historische Ansichten oder Pläne von deutschen Städten wie Görlitz („View of Görlitz“, Sammlungsnummer P.97.31.18), Regensburg (P.97.31.11), Harburg (P.97.31.12), sowie „Thonnauwerth“ (P.97.31.15, entspricht Donauwörth) und Memmingen (P.97.31.19). Also keine Ansichten weltweit bekannter deutscher Großstädte wie Hamburg, München oder Berlin, sondern von kleineren Orten, zu denen der Sammler möglicherweise eine persönliche Verbindung hatte. Ein Platz in der Sammlung von Allen Brookins-Brown und im Anschluss im Minneapolis Institute of Arts ist angesichts der beschriebenen Qualität des Konvolutes ein respektabler Aspekt in Hagedorns Sammlungsvita.

2.6.2.6 Der Besuch am Brooklyn Museum in New York

Neben dem Interview mit Richard Galef konnte in New York das Brooklyn Museum aufgesucht werden, welches eine Arbeit von Karl Hagedorn aus dem Jahr 1978 im Bestand führt. Die Zeichnung „Homo Mensura“ (Abb. 25), 1978 war nach Aussage Marguerite Vigiliantes47 als Schenkung des Künstlers in den

46 Aus dem Telefonat mit Kristin Lenaburg, Assistenzkuratorin am Department für Graphik und Zeichnung. Ebenso sind diese Informationen auf der Internetseite des Museums abrufbar: http://new.artsmia.org (Stand: 09.02.2015). 47 Marguerite Vigiliante ist Koordinatorin im Department für zeitgenössische Photographie und Arbeiten auf Papier. 27

Besitz des Museums gelangt.48 Die Platzierung des Werkes in dieser Sammlung ist sinnvoll, da das Museum einen sehr guten Bestand an Arbeiten von Stuart Davis aber auch von Marsden Hartley pflegt. Davis ist in die Riege der Vorbilder Hagedorns einzuordnen und Hartley hatte ein vergleichbar singuläres Werk entwickelt. Das Werk konnte im Magazin für Graphik und Zeichnung eingesehen werden.

2.7 Forschungen in Deutschland

Neben der wichtigen und ertragreichen Forschungsreise in die USA wurden weitere Erkenntnisse über Karl Hagedorns Leben und Werkentwicklung in Deutschland erworben, wo er ab spätestens 1978 eine rege Zusammenarbeit mit Galerien gepflegt hatte.

2.7.1 Die Interviews mit Privatpersonen in Deutschland

Auch in Deutschland konnten Interviews geführt werden, deren Relevanz sich dadurch manifestiert, dass die Interviewpartner sehr frühe Wegbegleiter Hagedorns waren und es somit erstmals möglich geworden ist, Informationen aus den Jahren bis zur Emigration in die USA zu erhalten.

2.7.1.1 Das Interview mit Nepomuk Zöllner

Bereits im Jahr 2010 ergab sich die Gelegenheit, Nepomuk Zöllner in München für ein Interview zu gewinnen. Zöllner war Professor der Medizin und hatte an der Münchner Universitätsklinik gelehrt und gearbeitet. Er war zusammen mit Hagedorn im Dienst der Wehrmacht in Russland gewesen, wobei eine Freundschaft entstanden war, die bis zu Karl Hagedorns Tod im Jahr 2005 anhielt. Hagedorn hatte Zöllner kurz vor Kriegsende einige seiner Silberstiftzeichnungen anvertraut. Als Hagedorn Zöllner viele Jahre später in München besuchen konnte, gab Zöllner ihm diese Arbeit zurück.49 Im Interview offenbarte sich auch der Geist dieser Freundschaft. Eine Verbindung unter Soldaten, vor den Hintergründen und Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges geschlossen, basiert nicht auf den landläufigen Vorstellungen von Freundschaft.

48 Diese Information bestätigt auch die Homepage des Brooklyn Museums. In: URL: http://www.brooklynmuseum.org/opencollection/objects/115919/Homo_Mensura/set/75e028848b 0ad46dea5b10fde8c54937?referring-q=mensura (Stand: 16.01.15). – Freundliche Auskunft von Marguerite Vigiliante an die Verfasserin. 49 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 28

Die Verbindung zwischen Zöllner und Hagedorn fußt auf dem gemeinsamen Schicksal des Kriegseinsatzes und dem gesamten Spektrum, welches ein solcher mit sich bringt. Aus den gemeinsamen Gesprächen konnte Zöllner Hagedorns Erinnerungen an die Kindheit und Jugend entsinnen. Das Interview griff auch die Auswanderungspläne Karl Hagedorns auf, die Zöllner zu diesem Zeitpunkt direkt miterlebte und durchaus kritisch betrachtet hatte. Durch den regelmäßigen Kontakt, den die beiden gepflegt hatten, konnte Zöllner die Entwicklung Hagedorns in den USA nachzeichnen. Zöllner beschreibt Hagedorn als einen pragmatischen Menschen, der sein Leben und seine Arbeit stets in kontrollierte Bahnen zu lenken wusste. Er wusste sich im Gespräch auch durchaus kritisch zu äußern, dabei beschrieb er auch Facetten an Hagedorns Wesen und Lebensart, die andere Interviewpartner gegensätzlich schilderten. Diese unterschiedlichen Aussagen sind quellenkritisch zu betrachten und für die Erstellung einer Biographie sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Damit trägt das Gespräch zu einer differenzierten Aufarbeitung der Biographie bei und bereichert diese Arbeit zusätzlich um Detailinformationen aus der Zeit des gemeinsamen Kriegseinsatzes, einer Zeit, zu der kein anderer Interviewpartner selbst erfahrenes Material beisteuern konnte.

2.7.1.2 Das Interview mit Georg Bernhard

Im Januar 2013 konnte ein weiterer Zeitgenosse Karl Hagedorns für ein Interview gewonnen werden. Der Augsburger Künstler Georg Bernhard hatte bereits in den fünfziger Jahren eine Werkstatt betrieben, die in erster Linie Mosaiken in Auftragsarbeiten für öffentliche Gebäude, vor allem aber für Kirchen ausgeführt hatte. Hagedorns erste Wege führten nach seiner Flucht aus dem damaligen Staatsgebiet der DDR im Jahr 1953 zunächst nach Augsburg, da er hoffte, dort einen Kriegskameraden, den Bildschnitzer Ludwig Königsberger, anzutreffen.50 Königsberger vermittelte ihm den Kontakt zu Bernhard, in dessen Werkstatt Hagedorn eine lose Anstellung fand. Bernhard beschreibt im Interview Hagedorns hohen Arbeitseinsatz, seine Lernfähigkeit und sein Interesse an den auszuführenden Tätigkeiten als Mosaikleger.

50 Freundliche Mitteilungen von Diana Cavallo und von Georg Bernhard an die Verfasserin. 29

Bernhards Erinnerungen sind vielfältig und gaben für die vorliegende Arbeit Aufschluss über die Wesensart Karl Hagedorns, über seine Vorstellungen von der künstlerischen Arbeit und vor allem über die Jahre zwischen der Flucht aus der DDR und der Emigration in die USA, der Zeitraum zwischen 1953 und 1959.

2.7.2 Museen und Galerien in Deutschland und in den USA

In den USA ist Karl Hagedorns Werk in renommierten musealen Einrichtungen vertreten, was eine solide Grundlage zur kunsthistorischen Verankerung seiner Arbeiten bildet. In Deutschland bietet das Neue Museum in Nürnberg die umfassendste museale Repräsentanz weltweit. In jüngster Vergangenheit konnten durch Schenkungen weitere Museumsstandorte erschlossen werden. Somit befinden sich seit Kurzem Werke aus Hagedorns Nachlass in Berlin und in München. Spätestens seit den frühen achtziger Jahren sind erste Ausstellungen in Deutschland verzeichnet, was schließlich zu Galerievertretungen in München, Augsburg, Köln und Nürnberg geführt hatte. Auch in den letzten Jahren in Philadelphia wurde sein Werk noch von zwei Galerien vertreten. Heute, das bedeutet zum Zeitpunkt der Vorlage dieser Arbeit, repräsentiert die Bode Galerie in Nürnberg das künstlerische Werk exklusiv.

2.7.2.1 Archivrecherche im Neuen Museum in Nürnberg, Staatliches Museum für Kunst und Design

Das Neue Museum in Nürnberg beherbergt die weltweit umfangreichste Sammlung an Hagedorns Werken. Während der Archivrecherche im Neuen Museum konnte Einblick in einen Brief von Hagedorn an Heigl genommen werden. Im Verlauf des Schreibens bietet Hagedorn an, der Kunsthalle ein Ölgemälde zu schenken, sofern seitens des Museums ein Ankauf veranlasst werden würde.51 In einem weiteren Brief an Heigl gegen Ende desselben Jahres beschreibt Hagedorn, dass ihm Nürnberg die beste Repräsentanz seiner Werke in Europa biete.52 Bereits 1983 und 1984 waren von der Kunsthalle drei Arbeiten erworben worden, ein weiteres Werk kam als Geschenk des Künstlers in den

51 Schreiben von Karl Hagedorn an Curt Heigl, vom 25.08.1986. 52 Schreiben von Karl Hagedorn an Curt Heigl, Oktober 1986. 30

Besitz der Stadt.53 Als Folge der Korrespondenz zwischen Hagedorn und Heigl wurde 1987 ein weiteres Werk angekauft und die angekündigte Schenkung vorgenommen.54 Weitere Korrespondenz ist ab dem Jahr 2003 datiert, wobei es sich zum einen Teil um in persönlicherem Stil abgefasste Schreiben an den Konservator Thomas Heyden handelt und Hagedorn sich beispielsweise für eine kunsthistorische Einordnung seiner Werke im Vergleich zum Werk Richard Lindners bedankt55 und zum anderen Teil werden die Möglichkeiten eines erneuten Ankaufs, verbunden mit einer erneuten Schenkung, erörtert.56 Ein Ankauf konnte nicht realisiert werden, jedoch künftige Schenkungen,57 welche mit Folgekorrespondenz begleitet werden. Außerdem liegt eine kurze Korrespondenz zwischen Lucius Grisebach58 und Karl Hagedorn vor.59 Im Archivbestand befinden sich zudem kopierte Zeitungsartikel, die teilweise auch im Nachlass des Künstlers in Philadelphia aufzufinden sind und eine Betrachtung des Bildes „Psychogram“ (Abb. 236) von Thomas Heyden.

2.7.2.2 Die Staatliche Graphische Sammlung in München

Personen aus Hagedorns Münchner Freundeskreis haben sich in den Jahren 2011 und 2012 um die weitere Verbreitung des künstlerischen Erbes Hagedorns gekümmert und konnten zwei Schenkungen realisieren. Damit gelangte 2011 ein Skizzenbuch60 Hagedorns in den Bestand der Staatlichen Graphischen Sammlung München, die zur Pinakothek der Moderne gehört. Aus einer Korrespondenz mit

53 Hierbei handelt es sich um die Werke, „Focus One“, 1980 (N338), „Transmitter“, 1980 (N342) und „Hommage to L.“, 1983 (N343). „Regarde moi“, 1980 (N339) ist eine Schenkung. Quelle: Depotliste „Karl Hagedorn im Neuen Museum“. 54 1987 wurde die Arbeit „Counterpoise on Green“, 1982 (N340) angekauft und „Inception“, 1984 (N341) kam durch Schenkung des Künstlers in den Museumsbestand. Quelle: Depotliste „Karl Hagedorn im Neuen Museum“. 55 Schreiben von Karl Hagedorn an Dr. Thomas Heyden, vom 06.09.2003. 56 Schreiben von Karl Hagedorn an Dr. Thomas Heyden, vom 07.12.2003. 57 Somit gelangten 2004 durch Schenkung weitere Werke in das Neue Museum: „Deix Zero“, 1970 (256), „Psychogram“, 1978+1980 (Abb. 236), „Zwischendeck“, 1963 (254) und „Psychogram – First Stage“, 1968 (255). Quelle: Depotliste „Karl Hagedorn im Neuen Museum“. 58 Lucius Grisebach war der Gründungsdirektor des Neuen Museums in Nürnberg, Amtszeit: 1997-2007. 59 Schreiben von Lucius Grisebach an Karl Hagedorn, vom 28.04.2004. — Rückantwort von Karl Hagedorn an Lucius Grisebach, vom 13.05.2004. 60 Karl Hagedorn, Skizzenbuch, Inv.-Nr.: 2001:74, Staatliche Graphische Sammlungen, München. Sammlungsbestand seit 2011. 31

dem Museum61 geht hervor, dass diese Schenkung durch die Unterstützung der „International Patrons of the Pinakothek“ realisiert werden konnte. Dieser institutionell verankerte Förderkreis, der seit 2006 in den USA und seit 2010 auch in Deutschland organisiert wird, fördert in erster Linie den Ausbau der internationalen Beziehungen der Pinakothek der Moderne und den Ausbau ihrer Sammlung amerikanischer Kunst.62

2.7.2.3 Das Kupferstichkabinett in Berlin

Derselbe Personenkreis, der bereits die Schenkung in München realisiert hatte, konnte eine weitere Schenkung in das Kupferstichkabinett in Berlin ermöglichen. Somit befinden sich seit 2012 sieben Zeichnungen sowie ein Skizzenbuch in dessen Bestand.63 Neben einem achtundvierzigseitigem, in Leinen gebundenen Skizzenbuch befinden sich folgende Zeichnungen in Berlin: „Reciprocalaction“, „Circuity“, „Ohne Titel/5582DR“, „One Cent“, „Ohne Titel/C14“, „Passiflora matrix“ und „Knoten und St. Pauls Formen zu Emils Zeiten“. Während die Titel dieser Zeichnungen dem für Hagedorn typischen Repertoire entsprechen, bietet der letztgenannte Titel einen besonderen Hinweis. Mit „St. Paul“ ist die Zwillingsstadt zu Minneapolis gemeint, in der Hagedorn die ersten Jahre seines Lebens in den USA verbracht hatte. „Emil“ hingegen kann als Hinweis auf den Künstler Emil Schumacher gewertet werden, der 1966 bis 1967 eine Gastprofessur an der Universität von Minneapolis hatte. Hagedorn und Schumacher hatten sich in dieser Zeit kennen gelernt, was für Hagedorn einen besonderen Impuls, wenn auch nicht künstlerisch, bedeutet hatte.64

2.7.2.4 Galerien in den USA

Es konnte nicht erschöpfend rekonstruiert werden, wie viele Galeriekontakte Hagedorn bereits in Minneapolis/St. Paul geknüpft hatte. Hagedorn pflegte Kontakte zu einer kleinen Kunsthandlung in St. Paul65 und war dort womöglich

61 E-Mail Korrespondenz der Verfasserin mit der Staatlichen Graphischen Sammlung vom 24. und 26.02.2015. 62 Vgl. die Intentionen der International Patrons of the Pinakothek auf der offiziellen Homepage der Institution. In: URL: http://www.internationalpatrons.org/index.php/ueber-uns/ (Stand: 24.10.16). 63 Aus einer E-Mail-Korrespondenz der Verfasserin mit dem Kupferstichkabinett Berlin gehen diese Informationen zum Bestand hervor. Korrespondenz vom 24.02.2015. 64 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo und Philipp Larson an die Verfasserin. 65 Freundliche Mitteilung von Winfried und Kay Raabe an die Verfasserin. 32

auch an Ausstellungen beteiligt. Aus einer Ausstellungsliste gehen drei Einzelausstellungen in der Martin Gallery in Minneapolis hervor. Im Zuge intensiver Internetrecherchen erscheint die Martin Gallery für den Zeitraum der sechziger und siebziger Jahre in einigen Ausstellungslisten verschiedener Künstler, wie James Burpee66 oder Parviz Tanavoli;67 die Galerie wurde zu Beginn der achtziger Jahre aufgegeben. Karl Hagedorn wurde in New York in den Künstlerstamm der Galerie Gimpel and Weitzenhoffer aufgenommen. Die Galerie war eine Dependance der Londoner Galerie Gimpel Fils. Gimpel Fils68 wurde 1946 von den Brüdern Charles und Peter Gimpel gegründet und der Zusammenschluss zur Gimpel and Weitzenhoffer Gallery in New York fand im Jahr 1969 statt.69 Die Familie Weitzenhoffer geht zurück auf den österreichischen Immigranten Berty Weitzenhoffer und vor allem auf dessen in Oklahoma geborenen Sohn Aaron, einer der ersten unabhängigen Erdölbeförderer; worauf sich das Vermögen dieser Familie begründet. Sowohl das Sammeln als auch die Pflege und Vermittlung aller Künste war und ist ein Anliegen der Familie, was mit der Gründung und Finanzierung des Weitzenhoffer Family College of Fine Art, einem Department der University of Oklahoma in Norman, evident wird.70 Die Galerie hatte sich auf Grund der Vermögensverhältnisse und der hervorragenden Kontakte der Familie Weitzenhoffer innerhalb kurzer Zeit einen sehr guten Ruf in der New Yorker Galerienszene erworben. Karl Hagedorns Werke wurden 1977 in einer Gruppenschau in der Weyhe Gallery71 in New York gezeigt und 1981 in einer Einzelausstellung in der Jack Gallery, ebenfalls New York.72

66 James Burpee ist ein Künstler aus Minneapolis, mit regelmäßigen Ausstellungen vor Ort und verschiedenen Lehraufträgen in Minneapolis und St. Paul. Seine Arbeiten aus den sechziger Jahren weisen ähnlich farbstarke und abstrakte Tendenzen auf wie die Arbeiten Hagedorns, Burpee hatte sein Werk jedoch in eine andere Richtung weiterentwickelt. Die beiden Künstler hatten sich gekannt. 67 Parviz Tanavoli ist ein iranischer Bildhauer, dessen Werke unter anderem im Walker Art Center, Minneapolis ausgestellt sind. 68 „Fils“ ist ein Zusatz in Erinnerung an den Vater, den Kunsthändler und Sammler René Gimpel; somit geben sich die beiden Gründer bewusst als dessen Söhne aus. (frz. „fils“ – de. „Sohn, Söhne“). 69 Vgl. den Eintrag zur Unternehmenshistorie der Galerie Gimpel and Fils. In: URL: http://www.gimpelfils.com/pages/about/about.php (Stand: 24.10.16). 70 Vgl. About us, in: Weitzenhoffer Family College of Fine Arts. In: URL: http://www.ou.edu/content/finearts/about_us/weitzenhoffer_family.html (Stand: 24.10.16). 71 Die Weyhe Gallery war Leihgeber für das 1940 Kunst-Leihprogramm der National Collection of Fine Arts (U.S.): SIA RU000445, Smithsonian Institution Archives, Record Unit 445, National Collection of Fine Arts, Fine Arts Lending Program, Records. 72 Information aus der Ausstellungsübersicht Karl Hagedorns. 33

In New York selbst wurden noch zwei Einzelausstellungen realisiert, 1992 in der Virginia Lust Gallery und 1995 in der Martin Summers Gallery73. Virginia Lust strebte Bemühungen an, die Werke Hagedorns zu vermitteln, beispielsweise in das Newark Museum.74 In den frühen neunziger Jahren hatte Hagedorn Kontakt zur New Yorker Marlborough Gallery geknüpft, die sich auf seine Papierarbeiten spezialisiert und ihn in den Jahren 1993, 1994 und 1995 auf der Armory Show New York präsentiert hatten.75 Mit der sowohl in New York als auch in San Francisco ansässigen Galerie von Caldwell and Susan Snyder muss es geschäftliche Beziehungen gegeben haben, dies belegt eine weitere im Nachlass erhaltene Korrespondenz.76 Im schriftlichen Nachlass befinden sich zwei Bewerbungen Hagedorns bei den New Yorker Galerien Susan Sheehan Gallery und Pace Prints, beide im Jahr 1995, beide unbeantwortet.77 1997 hatte Hagedorn nach vorausgehenden Gesprächen Kataloge an die William Doyle Gallery gesendet.78 Des Weiteren liegt eine Absage der Mary Ryan Gallery aus 1993 vor.79 Zuletzt liegt noch eine Korrespondenz mit der Galerie Fitch-Febrel, New York vor. Es handelt sich darum, dass die Galerie in die Megan Moynihan Gallery übergehen solle und die Bestände der Werke Hagedorns ebenfalls übernommen werden. Da Karl Hagedorn kurze Zeit später verstorben war, hatte seine Witwe diese Galerie erneut kontaktiert. Sie waren jedoch nicht bereit zur Pflege des künstlerischen Nachlasses und sendeten die Werke an Diana Cavallo zurück.80 Außerhalb New Yorks zeigte 1980 die Monahan Gallery in Milwaukee, Wisconsin eine Soloschau mit Hagedorns Werken. Auf der aktuellen Homepage der Galerie ist vermerkt, dass eine Ausstellung mit den Werken Karl Hagedorns eine der ersten großen Schauen in dieser Galerie war; neben einer Ausstellung mit

73 Information aus der Ausstellungsübersicht Karl Hagedorns. 74 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 75 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin und aus der Ausstellungsliste. Außerdem liegt im Nachlass eine Notiz aus dem Jahr 1993 vor, hinsichtlich Kommissionen an die Marlborough Gallery, mit einer Notiz an Tora K. Reddi. 76 Telefax von Hagedorn an die Galerie Caldwell and Susan Snyder, vom 25.06.1998. Er kündigte den Transport der Werke „Bliss, „Prolog“ und „Configuration in Red“, alle 1998, an. 77 Kopien der Bewerbungen befinden sich im Nachlass des Künstlers. 78 Kopie eines Schreibens von Karl Hagedorn an die W. Doyle Gallery, (Danksagung für ein Telefonat mit Alasdeir Michael und Ankündigung einer Zusendung von Katalogen), undatiert. 79 Schreiben von der Mary Ryan Gallery an Karl Hagedorn, vom 30.08.1993. 80 Schreiben von Franklin Riehlman an Karl Hagedorn, aus 2005. Sowie freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 34

Arbeiten von Paul Jenkins,81 wodurch Hagedorns Kontaktweg zu dieser Galerie transparent wird. Eine zunächst sehr lukrative Geschäftsbeziehung unterhielt Hagedorn zu Eva Cohon. Nur wenige Jahre später geht aus einem Brief von Hagedorn an die Galeristin hervor, dass er sie um die Rücksendung eines der Werke bittet, die sie in Kommission führte. 82 Hagedorns Forderung war bei Eva Cohon auf Unverständnis gestoßen und führte zum Bruch jeglicher Geschäftsbeziehungen.83 Unterdessen war Karl Hagedorn von New York nach Philadelphia umgezogen. Seine letzten beiden Galerievertretungen waren die Newman Art Galleries, eine sehr renommierte Kunsthandlung in Philadelphia und die Garrubbo Bazan Gallery in West Chester in der Nähe von Philadelphia. In den Jahren 2003 und 2005 zeigte letztere Einzelausstellungen mit Hagedorns Arbeiten. Die letzte Galerie, die in den USA für Karl Hagedorn tätig geworden ist, ist die Galerie Fusco+Four in Boston; der Kontakt kam posthum durch die Witwe des Künstlers zustande.84 Die Galerie richtete auf der International Fine Arts Fair in Boston eine „Hagedorn Memorial Exhibition“ im Jahr 2006 aus.

2.7.2.5 Galerien in Deutschland

Von 1973 bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1997 hatte die Münchner Galerie Heseler die Werke Hagedorns in Deutschland vertreten. Im Jahr 1977 verzeichnet Hagedorn eine Ausstellungsbeteiligung in der Nähe von München, in Starnberg, in der 1968 eröffneten Galerie Die Insel. Die Galeristin Barbara Siebeck verfügte über ein internationales Netzwerk in der Kunstszene, beispielsweise zu David Hockney.85 1978 hatte Hagedorn Kontakt zu dem Augsburger Galeristen Hans-Jörg Rehklau geknüpft. Rehklau zeigte Hagedorns Arbeiten in vier Einzelausstellungen.86

81 Vgl. den Eintrag zur Unternehmenshistorie der Thomas Monahan Fine Art Gallery In: URL: http://www.thomasmonahanfineart.com/gallery-info/ (Stand: 03.03.2015). 82 Entwurf eines Schreibens von Karl Hagedorn an die Eva Cohon Gallery, undatiert. 83 Letztendlich rechnete Eva Cohon die bereits verkauften Werke erst auf ein Schreiben des Anwaltes Silvan R. Novik, vom 07.05.1993 hin ab, den Hagedorn schlussendlich beauftragt hatte. Kopie eines Schreibens von Silvan R. Novik (Karl Hagedorns Rechtsanwalt) an Eva Cohon, vom 07.05.1993. 84 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 85 Thomas Bärnthaler: Interview mit Barbara Siebeck. In: Süddeutsche Zeitung Magazin (2010). August 2010. Barbara Siebeck ist die Ehefrau des Gastronomiekritikers Wolfram Siebeck. 86 Entnommen aus der Ausstellungsliste Karl Hagedorns aus dem Nachlass des Künstlers. 35

Mit der Baukunst Galerie Köln kam nur eine Einzelausstellung 1983 zustande, eine weitere Zusammenarbeit in Köln konnte Hagedorn mit der Galerie Stolz initiieren, wo sein Werk 1987 in einer Gruppenschau und 1991 in einer Einzelausstellung gezeigt wurde.87 Mit der Galerie Brusberg konnte im Jahr 1983 eine Einzelschau in Hannover realisiert werden, mehr liegt über diese Verbindung nicht vor. Durch Curt Heigl wurde Hagedorn schließlich ein Kontakt zur Ravensburger Galerie Aras vermittelt.88 Heigl hatte den Inhaber Ali Rasekshaffee bereits 1981 zur Ausstellung in die Nürnberger Kunsthalle eingeladen, die Zusammenarbeit begann 1998, was durch im Nachlass auffindbare Korrespondenz belegt ist.89 In Ravensburg arbeitete Hagedorn auch mit der Galeristin Doris Hölder, die Doppelvertretung vor Ort führte letzten Endes zum Bruch mit Rasekshaffee. Vier Jahre nach der Ausstellung in der Nürnberger Kunsthalle zeigte die Galerie Kaiser in Nürnberg eine Einzelausstellung mit Werken Hagedorns, kurz nach der kommerziell erfolglosen Ausstellung endete auch das Vertretungsverhältnis. Doch Nürnberg sollte für Karl Hagedorn weiterhin ein höchst relevanter Ort der Repräsentation bleiben. In der Nürnberger Bode Galerie fand 1997 eine erste Einzelschau statt, gefolgt von weiteren Gruppen- und Einzelpräsentationen. Nürnberg konnte durch die aktive Galeriearbeit der Bode Galerie zum relevantesten Zentrum für das Werk des Künstlers ausgebaut werden.

87 Hinweis zur Einzelausstellung. In: Kölner Stadtanzeiger (1991). 29.01.1991. 88 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 89 Verschiedene Korrespondenz zwischen Karl Hagedorn und Ali Rasekshaffee vom 05.04.1997, vom 23.05.1998, vom 30.07.2000 und aus Dezember 2000. 36

3. Karl Hagedorn – Biographie und Werkanalyse

Der nachfolgende Versuch einer Biographie wird unter den Gesichtspunkten des Essays verfasst, sodass auch die Ansichten der Verfasserin auf einzelne Sachverhalte einfließen können. Alle Daten, Sachverhalte und Lebensstationen, welche in der folgenden Biographie benannt werden, beruhen auf der vorangehend beschriebenen Quellenlage aus Korrespondenzen und verschiedenen Artikeln und vor allem auf den Informationen, die den geführten Interviews entnommen werden konnten. Hinzugezogen wurde die sehr schmale Basis der dokumentierten Äußerungen oder Erinnerungen Karl Hagedorns.

3.1 Karl Hagedorn 1922 bis 2005 - biographische Betrachtung eines Künstlerlebens

Karl Hagedorn wurde 1922 in Güntersberge, im Harz, geboren. Seine Eltern Elsa und Karl-Heinz Hagedorn hatten in Güntersberge eine Sägemühle aufgebaut, deren Erträge der Familie ein gutes Einkommen ermöglichte. Karl Hagedorn hatte eine Schwester, Ottilie Hagedorn, spätere verheiratete Lösch. Sein Großvater väterlicherseits war Architekt. Güntersberge, ein Ort mit etwa achthundert Einwohnern, ist seit 2009 ein Ortsteil der zu diesem Zeitpunkt neugegründeten Stadt Harzgerode. Wie bereits aus diesem Namen hervorgeht, liegen diese Orte im Harz, ein Mittelgebirge im nördlichen Teil Deutschlands. Die nächsten beiden größeren Ansiedlungen sind jeweils etwa fünfzig Kilometer entfernt, zum einen das nördlich gelegene Magdeburg und das östliche Halle an der Saale. Der Ort Güntersberge liegt im Bundesland Sachsen-Anhalt.

3.1.1 Erste Lebensstationen Hagedorn erinnerte sich positiv an seine Kinder- und Jugendtage auf dem Land, in der Familie und auch im elterlichen Betrieb. Letzterer ist ihm in besonderer Erinnerung geblieben und bildete einen frühen Grundstein für seine späteren Werkinhalte als Maler. Sägewerke im frühen 20. Jahrhundert waren noch stark von den mechanischen Errungenschaften der Industriellen Revolution geprägt, relevante Bestandteile sind die Dampfkessel, das große Schwungrad, die langen Sägebänder und Walzen, das Holz, der Lärm und, für Hagedorn besonders elementar, das mechanische Werk des Ineinandergreifens der einzelnen

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Komponenten, das Funktionieren eines großen Ganzen aus vielen einzelnen Teilen. 2004, ein Jahr vor seinem Tod, blickte Hagedorn, zu diesem Zeitpunkt bereits von einer Erkrankung gezeichnet, in einem autobiographischen Aufsatz „The Story of my Life“ auf sein Leben zurück. Vom Schlittschuhlaufen und Schwimmen mit Freunden ist die Rede, von Aktivitäten in der Natur und zum anderen, genauso gewichtig, erinnert er sich an eine Kindheit voller Maschinen, Motoren, Werkzeug, harten und weichen Werkstoffen und an die Formenvielfalt, die sich daraus ergab. Das Gemisch dieser natürlichen und technischen Vielfalt beschreibt er selbst als einen unerschöpflichen Quell an Form, Farbe und Bewegung. Im Alter von fünf Jahren, im Jahr 1927, bot sich dem Kind Karl Hagedorn ein weiteres Ereignis, welches seine Kindheitserinnerungen einprägsam erweitert hatte. Das elterliche Sägewerk und damit auch das Wohnhaus brannten plötzlich ab. Ein fulminantes, alles vernichtendes Feuer, welches über eine Woche lang nachhielt, da es mit den Möglichkeiten der damaligen Zeit zunächst nicht zu löschen war. Eine Katastrophe für die Familie, ein Spektakel für das Kind. Er sollte diesen Brand, die Macht und die Farben des Feuers sein Leben hindurch in Erinnerung behalten. Die Existenz musste auch künftig gesichert werden, sodass die Eltern sich kurze Zeit später in Gernrode niedergelassen haben. Dort errichteten sie ein neues, moderneres und größeres Sägewerk. Der Vater konnte mit dem Verkauf des auf Kundenwunsch individuell gesägten Holzes an die alten Geschäftserfolge anknüpfen, sodass sich die Familie bald von dem Schock des Brandes und der erlittenen Verluste erholen konnte. In jungen Jahren, er selbst erinnert sich an ein Alter von etwa acht Jahren, seine Witwe gibt aus Erzählungen eher zehn bis zwölf Jahre wieder, hatte Hagedorn bereits sein lebensprägendes Interesse entdeckt: Er begann zu zeichnen. Die bereits beschriebene Fülle technischer und vegetativer Motive, die seine direkte Umgebung prägten, versuchte er zu sehen und mit dem Bleistift auf das Papier zu bannen. Somit näherte er sich der Darstellung der Formen, der proportionalen Verhältnisse und schulte, wohl ganz unbewusst, sein, später dann künstlerisches Auge. Genauso versuchte er bald auch Personen zu beobachten und deren Körperformen und Haltungen zu Papier zu bringen. Seine Eltern ließen ihn zunächst gewähren, aber hinsichtlich der Zukunft des Sägewerkes konnten sie

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seine Begeisterung für die Zeichnung weder fördern geschweige denn eine künstlerische Zukunft für ihren Sohn propagieren. Für die Eltern war diese künstlerische Betätigung eine Freizeitbeschäftigung, für Hagedorn selbst eine frühe Berufung. Mit zunehmendem Alter wollte vor allem der Vater die vielen Stunden, in denen Hagedorn sich zeichnend zurückgezogen hatte, nicht mehr dulden, sodass Hagedorn oftmals heimlich seiner Bestimmung nachkam. Hagedorn besuchte eine weiterführende Schule in Wernigerode und anschließend ein Gymnasium in Quedlinburg. Der Unterricht selbst hatte den jungen Schüler nicht immer begeistert, jedoch hatte er durch den Besuch des Gymnasiums die Möglichkeit, ein meisterliches künstlerisches Vorbild finden und kennen lernen zu dürfen. Während er auf dem Lande aufgewachsen war, bestand kaum Möglichkeit, die Gemälde bedeutender Künstler zu sehen. Im Schulunterricht wurde er schließlich mit den Werken Albrecht Dürers konfrontiert, oder wie er es selbst beschreibt „Durer my tutor and I his more than receptive pupil“90 und benennt den großen Künstler weiterhin als ein „…subject of endless fascination…“.91 Statt sich vor dem überwältigenden Werk Dürers klein zu fühlen, hatte der junge Karl Hagedorn es als ein Geschenk gewertet, diese Werke sehen zu dürfen und sich an ihnen zu schulen, soweit so etwas möglich sein kann. Während der Jahre auf dem Quedlinburger Gymnasium half Hagedorn seinem Vater dabei, kleinere Brennholzlieferungen an Kunden auszuliefern. Einer der Kunden war der Maler Otto Illies.92 Als Illies erfahren hatte, dass Hagedorn ein großes Interesse am künstlerischen Arbeiten hegte, wurde Illies für Hagedorn zu einem Mentor, der versuchte, dessen Talent zu fördern und der dem Jugendlichen auch die Werke aus seiner eigenen Kunstsammlung nicht vorenthalten hatte, wie beispielsweise Zeichnungen und Graphiken von Lyonel Feininger. Für den jungen Hagedorn hatte sich mit dem Kontakt zu dem älteren Künstler die Möglichkeit erschlossen, über seine Begeisterung zu sprechen und in seinem Tun ernstgenommen zu werden.

90 Karl Hagedorn zitiert aus: “The Story of my Life”, S. 2. 91 Karl Hagedorn zitiert aus: “The Story of my Life”, S. 1. 92 Otto Illies (1881-1959) bildete im frühen 20. Jahrhundert ein malerisches Werk aus, welches den akademischen Stil des 19. Jahrhunderts mit den Ausprägungen des deutschen Expressionismus vereinte. Illies lebte und arbeitete in Hamburg und war 1924 nach Wernigerode umgesiedelt. Vgl. zur Biographie Illies‘ auch Raimar F. Lacher (Hg.): Farben-Schöpfung. Otto Illies (1881-1959). Yokohama-Hamburg-Wernigerode. Kat. Ausst. Halle 2009. 39

Im Alter ab etwa sechzehn Jahren begleitete Hagedorn den Vater verstärkt bei geschäftlichen Reisen, woran er großen Gefallen fand. Sobald der Vater nach Abschluss der Geschäfte Freunde besuchte, nutze Hagedorn die Zeit, in Museen zu gehen, was vor allem in Berlin und Dresden von unschätzbarem Wert für den jungen Mann war. Je mehr er sich in die Meisterwerke der Künstler vertieft hatte, desto bewusster wurde ihm „…, I wanted to be an artist“93, wie er es selbst beschrieben hatte. Somit hatte zunächst alles eine gute Entwicklung genommen und Hagedorn war sich sicher, künftig auch die Eltern von dieser Entscheidung überzeugen zu können.

3.1.2 Zeichnen an der Front – Hagedorn im Zweiten Weltkrieg Die Dinge sollten sich anders gestalten, das Dritte Reich etablierte sich zusehends und brachte einschneidende Veränderungen mit sich. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges konnte die Familie den bevorstehenden Verlust eines zum Kriegsdienst eingezogenen Vaters abwenden, da die Sägemühle als wirtschaftlich relevant eingestuft wurde und er unabkömmlich war. Mit dem weiteren Fortgang des Krieges wurde aber schließlich der Sohn Karl ab 1941 an die Front in Russland befohlen. Sofern in derart widrigen Ereignisphasen eine Umschreibung wie „günstige Umstände“ genutzt werden darf, so kann es als solche bezeichnet werden, dass Karl Hagedorn Soldat der Nachrichtenabteilung 387 der Infanteriedivision 387 wurde und fortan in der 2. Funkkompanie seinen Einsatz fand.94 Die Nachrichten- oder Fernmeldetruppen der Wehrmacht waren zur Einrichtung und zum Betrieb von Fernsprech- und Funkverbindungen eingesetzt. Somit standen diese Soldaten nicht im direkten Gefecht, sondern dienten vielmehr der technischen Aufrechterhaltung der Netze, des Übermittelns sowie des Ver- und Entschlüsselns der Nachrichten.95 Aus den Interviews geht hervor, dass sich Hagedorn sich Zeit seines Lebens immer wieder Gedanken um die Ausmaße dieses Krieges in jeder Hinsicht gemacht hatte und dass er es nahezu als irreal empfunden hatte, die Ereignisse von

93 Karl Hagedorn zitiert aus: „The Story of my Life“, S. 2. 94 Diese Daten wurden übernommen aus einem maschinengeschriebenen Gefechtsbericht, der im Nachlass des Künstlers lagert: Georg Rachl, Oberleutnant, 2. Kompanie: Gefechtsbericht über den Marsch vom 16.01.1943 bis 30.01.1943. Darauf handschriftlich vermerkt: Inf.[anterie] Div.[ivision] 387. NACHR.[ichten] Abt.[eilung] 387, 2te. Funkkomp.[anie]. masch. und handschriftlich. 95 Vgl. Christian Hartmann: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/1942. München 2010, S. 38f. 40

Kriegshandlungen, über Gefangenschaft bis hin zum langen Heimweg zu Fuß, überlebt zu haben. Nach Kriegsende hatte Karl Hagedorn eine Karte seines Einsatzraumes gezeichnet und die Bewegungen seiner Einheit zwischen Frontfahrt und Rückzug eingetragen.96 Dabei verweist er auf eine Beinverletzung, die er im Jahr 1945 erlitten hatte, aber auch auf vier Fronturlaube, in denen er nach Hause fahren konnte. Während dieser Urlaubsfahrten, aber auch während Ruhepausen im Einsatz, folgte Karl Hagedorn seiner Bestimmung und zeichnete. Er fertigte Portraitstudien in verschiedenen Zeichentechniken an. Einige dieser Werke sind erhalten geblieben und befinden sich heute als frühe Zeugnisse seiner Begabung im Philadelphia Museum of Arts. Betrachtet man sich Hagedorns von Kindesalter an ausgeprägte Leidenschaft für die Zeichnung, so ist die Annahme sicherlich gerechtfertigt, dass ihm eben dieses Zeichnen zumindest für kurze Momente Abstand nehmen ließ von den kriegerischen Geschehnissen, die ihn umgeben hatten.

3.1.3 Die ersten Jahre der Nachkriegszeit und der erste Wendepunkt: die Flucht in die BRD Als Hagedorn nach Kriegsende zu Hause eintraf, war der Vater gefangen genommen worden und nur mit großem Bemühen konnte Hagedorn die Freilassung erwirken. Fortan lief das Sägewerk nicht mehr unter selbstbestimmter Führung, sondern als Produktionsstätte für Holz, das als Reparationsleistung nach Russland abtransportiert wurde. Sehr früh stellten sich Überlegungen ein, das Sägewerk aufzugeben und den russischen Sektor zu verlassen. Jedoch hegte der Vater die Hoffnung, dass sich die Gegebenheiten rasch ändern würden und verpflichtete seinen Sohn, ihm bei der Führung des Sägewerkes zu unterstützen. In den folgenden sieben Jahren kam der Fluchtgedanke immer wieder auf, bis um 1952/1953 die politischen Umstände zur baldigen Realisierung der Flucht führen sollten.97 In weiten Teilen der Bevölkerung und auch in der Familie Hagedorn trat nun das Bewusstsein für die tatsächliche Lage in ihrem Land ein. Hagedorn selbst erinnert sich in „The Story of my Life“, dass der Vater die Meinung geäußert

96 Hagedorn, Karl: gezeichnete Landkarte des Gebietes zwischen Prag, Warschau, Kursk, bis etwa dem heutigen Grenzgebiet der Ukraine und Russland, Ort: im Besitz von Chris Tsiouiris, Philadelphia/USA, einem Freund Karl Hagedorns. 97 Für die Geschehnisse der Jahre 1952 und 1953 in der ehemaligen DDR vgl. Martin Krämer: Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und sein politisches Echo in der Bundesrepublik Deutschland. Dortmunder historische Studien. Bd. 17. Bochum 1996, S. 32-84. 41

hatte, die Situation würde sich nicht ändern und half somit dem Sohn, seine Flucht vorzubereiten. Die Witwe berichtet hingegen, Hagedorn habe nach dieser Zeit die Bilanz gezogen, genug Hilfeleistung für die Eltern erbracht zu haben, und dass damit die Zeit gekommen sei, dem eigenen Traum zu folgen und damit den Heimatort und die Familie zu verlassen. Diese Sichtweise vertritt auch Georg Bernhard. Die Verfasserin geht davon aus, dass die äußeren, politischen und gesellschaftlichen Umstände den Fluchtzeitpunkt bestimmt hatten. Wäre Hagedorn geblieben, so hätte er zu Gunsten einer künftigen Übernahme des Sägewerkes seine künstlerischen Pläne aufgeben müssen.

3.1.4 Ankunft in der BRD und künstlerische Professionalisierung Aufgrund der politischen Lage war es abzusehen, dass der Abschied von der Heimat ein Abschied für immer sein werde. Über die Fluchtumstände ist nichts bekannt. Die Verfasserin geht davon aus, dass Hagedorn die Flucht zu Fuß angetreten hatte. Sein in Augsburg lebender Kriegskamerad Ludwig Königsberger wurde zu Hagedorns erster Anlaufstelle in der BRD, durch welchen rasch der Kontakt zu Georg Bernhard entstanden war. Bernhard erinnert sich vor allem daran, dass Hagedorn bereits beim ersten gemeinsam ausgeführten Auftrag, ein Altarmosaik für die Gemeindekirche in Neugablonz (Abb. 258), der oft langwierigen Arbeit des Mosaiklegens mit höchster Konzentration und Geduld begegnete. Vor allem später, in den ersten Jahren in den USA, sollten ihm die Erfahrungen aus Bernhards Werkstatt auf dem Weg in eine eigenständige künstlerische Existenz behilflich sein. Bereits 1954 stellte Hagedorn zum ersten Mal eigene Arbeiten in Augsburg aus. Auf Einladung Bernhards hatte er sich der Künstlergemeinschaft „Die Ecke“ angeschlossen, die erste Ausstellung fand im Augsburger Schaetzlerpalais statt, gemeinsam mit Werken von Georg Bernhard und Heinz Putz. Alsbald konnte Hagedorn sich ein kleines Wohnatelier mieten, sich mit der Arbeit bei Bernhard einen bescheidenen Unterhalt verdienen und sich der Zeichnung und der Malerei widmen. Augsburg bot ihm den Kontakt zu anderen Künstlern und bereits in den frühen fünfziger Jahren wurden dort Werke von Fritz Winter und Ernst Wilhelm Nay ausgestellt; moderne künstlerische Positionen also, die Hagedorn in Ostdeutschland nicht zugänglich gewesen wären. Hagedorn zögerte zunächst, ob er sich in seinem damaligen Alter von mittlerweile vierunddreißig Jahren noch an der Kunstakademie einschreiben solle. Wiederum 42

war es Bernhard, der ihm zu einem Studium an der Münchner Kunstakademie geraten und ihm die Malereiklasse von Professor Kasper empfohlen hatte. Die Jahre an der Akademie und wie er es selbst beschrieben hatte, der Unterricht bei Professor Kasper, waren die ersten bedeutenden Punkte in Hagedorns künftigen Leben als Künstler. In München erfuhr er nicht nur technische Ausbildung, es war vor allem die harte aber konstruktive Kritik des Professors, die seinen Blick neu ausgerichtet hatte. Ergänzt wurde diese Professionalisierung durch eine Studienreise nach Paris, wo Hagedorn erstmals der Kunst der Moderne, in erster Linie den Werken Paul Cézannes und Fernand Légers begegnet war. Hier offenbarten sich ihm eine Formenvielfalt und neue künstlerische Möglichkeiten, die eine Basis für sein gesamtes späteres Schaffen bilden sollten.

3.1.5 Der zweite Wendepunkt: die Emigration in die USA Das Jahr 1959 kann als eine weitere Zäsur in Hagedorns Leben beschrieben werden. Zunächst schloss er das Kunststudium ab und entschied sich schließlich für eine Emigration in die USA. Die Jahre an der Münchner Akademie und die in den letzten Jahren gewonnenen Erkenntnisse über die Möglichkeiten der modernen Kunst förderten bei Karl Hagedorn das Bewusstsein dafür, dass sich nicht nur das Zentrum der Kunst von Paris nach New York, sondern dass sich die Zukunft der gesamten Entwicklung der Kunst von Europa in die USA verlagert hatte. Besonders angesichts der Nachkriegssituation in Deutschland, wurde evident, dass die Chancen für einen aufstrebenden Künstler in den USA die besseren sein würden.

3.1.5.1 Ein Entschluss reift heran – belegt anhand dreier Selbstportraits Im Auswanderungsjahr entstanden drei Selbstportraits von Karl Hagedorn, welche die damalige Entwicklungsstufe seines Werkes, seine Motivinteressen, seine künstlerischen Vorbilder und auch sein eigenes Selbstverständnis als Künstler spiegeln. Das zuerst entstandene Portrait ist ein kleines Hochformat, in überwiegend braunen Farbtönen gearbeitet (Abb. 26). Vor einem unbestimmbaren dunklen Hintergrund steht Hagedorn im Profil und wendet seinen Kopf in das Dreiviertelprofil. Mit offenen Augen blickt er den Betrachter direkt an, erscheint aber als nachdenklich. Hagedorn malt das Selbstportrait zu einem Zeitpunkt, an

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dem er bereits den Entschluss zur Emigration gefasst hat, eröffnet dem Betrachter aber auch, dass er sich der großen Veränderung bewusst ist, das Gelingen möglicherweise auch anzweifelt. Das Portrait ist sehr ausgewogen auf der Mittelachse des kleinen Formates angesiedelt und beherrscht den Bildraum gänzlich. Durch die Brauntöne des Hintergrundes und des Hemdes erhalten das hellere Inkarnat und vor allem die Augen eine erhöhte Intensität. Mit Licht und Schatten modelliert Hagedorn das Gesicht und versteht es, die Volumina korrekt auszuführen. Der Einsatz der bildnerischen Mittel auf formaler Ebene ist von klassischer, akademischer Prägung. Hinsichtlich der Farbe führt er dies auch in der Bearbeitung des Gesichtes fort, während die wesentlich freiere Pinselführung und der leicht pastose Farbauftrag stark an den Einfluss Cézannes erinnern. Im zweiten Selbstbildnis (Abb. 27) dieser Reihe ist das Gesicht in der linken Bildhälfte angesiedelt. Eine doppelte Fensteröffnung wird rechts neben der Mittelachse von einem breiten Steg vertikal geteilt, welcher dem Gesicht zusammen mit den Bildrändern einen Rahmen verleiht. Besondere Merkmale dieser Arbeit sind der Lichteinfall von hinten, der das Gesicht hell konturiert und den Großteil der Gesichtsfläche im Dunkel lässt sowie die informelle Kleidung, die Hagedorn inzwischen selbstbewusst trägt. Durch den Fensterausschnitt nutzt Hagedorn abermals tradierte Bildnisformen und zeigt, dass er sich mit den Portraittypen bis zurück in die Renaissancemalerei sowie mit dem Chiaroscuro eines Caravaggio und der Malerei Rembrandts akademisch auseinandergesetzt hatte. Zwei Gründe sprechen dafür, dass dieses Selbstbildnis bereits in den USA entstanden ist. Im Gegensatz zum vorangegangen Werk zeigt Hagedorn eine entschlossene Haltung, er weiß, dass er den richtigen Schritt gegangen war. Das Sprossenfenster mit dem breiten Mittelsteg entspricht der amerikanischen Bauweise, die Fensterflächen mit vielen Sprossenunterteilungen kennt. Infolgedessen gilt auch das dritte Selbstportrait in dieser Reihe als ein in den USA entstandenes Bild (Abb. 28). Nun blickt Hagedorn nicht mehr lediglich den Betrachter an oder in eine vor ihm liegende Zukunft. Der Betrachter ist jetzt Hagedorns Modell geworden, der dem Künstler in seinem Atelier gegenübersitzt. Als Sitzfigur mit aufrechter Haltung, offener Körperhaltung und beurteilendem Blick stellt sich Hagedorn in seinem Selbstverständnis als Künstler dar. Die Studienjahre sind beendet, Hagedorn ist freischaffender Künstler in den USA. Der Atelierraum ist kaum tiefenräumlich gestaltet, über die Inneneinrichtung erfährt

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der Betrachter wenig. Hinter Hagedorn befindet sich ein kleines Fenster, rechts neben der Staffelei steht eine dunkle Kommode, auf der ein der damaligen Zeit entsprechendes Radiogerät aufgestellt ist. Unter der dreibeinigen Staffelei, die den rechten Bildraum beherrscht, steht ein kleiner Krug. Hagedorn sitzt in breitbeiniger Haltung auf einem Stuhl. Möbelstücke und Raumgestaltung treten in ihrer malerischen Ausführung deutlich hinter die Ausgestaltung der Person zurück. In einer diesem Bild vorangegangenen Zeichnung (Abb. 29) hatte sich Hagedorn auf ein Bruststück konzentriert. Den kritischen, beobachtenden Blick des Portraitmalers nimmt er bereits in der Studie vorweg. Dieses Selbstportrait ist das letzte dieser Reihe und auch das letzte Selbstportrait in seinem gesamten Werk. Im Jahr seiner Auswanderung kann Hagedorn auf ein grundlegendes malerisches Können, auf den sicheren Umgang mit den bildnerischen Mitteln und auf eine Kenntnis europäischer Bildtraditionen blicken, die er mit den Errungenschaften der Klassischen Moderne, die ihn tief beeindruckten, zu verbinden wusste.

3.1.5.2 Die Emigration – äußere und innere Faktoren Als Hagedorn sich zur Emigration entschlossen hatte, begünstigten verschiedene äußere Faktoren seine Pläne. Während die Besatzungsmächte Auswanderungen aus Deutschland untersagt hatten, lockerten sich diese Bestimmungen erstmals ab 1947. Heimatlosen, Vertriebenen und Flüchtlingen aus der DDR wurde fortan mit erleichterten Einwanderungsbedingungen begegnet.98 Hagedorn, als „displaced person“99 prädestiniert und fest entschlossen, seine künstlerische Karriere in den USA begründen zu wollen, bewarb sich für eine Passage und um einen sogenannten Sponsor. Damit zählte er zu den 779.700 Auswanderern, die zwischen 1947 und 1961 Deutschland verlassen hatten. Da er diesen Schritt erst im Jahr 1959 getan hatte, gehörte er der dritten und damit letzten Phase der

98 Familien und verheiratete Personen hingegen genossen vereinfachte Bedingungen hinsichtlich der Auswanderung. Hagedorn hatte kurz vor seiner Emigration geheiratet. 99 Hagedorn war aus dem Staatsgebiet der DDR geflohen, was aus Sicht der westlichen Mächte eine Repatriierung ausschloss. Somit teilte Hagedorn das Schicksal sowjetischer displaced persons, die nicht in ihre Heimat zurückkonnten, da sie von Stalin als Kollaborateure mit dem Westen betrachtet worden sind. Diese Personen wurden von den Alliierten noch bis 1946 zwangsweise repatriiert, was zu großen Unruhen in den Lagern geführt hatte. Bereits bis Mitte des Jahres 1952 wurden 500.000 displaced persons mit Hilfe der IRO (International Refugee Organisation) in verschiedene Auswanderungsländer verbracht. Vgl. Jan Philipp Sternberg: Auswanderungsland Bundesrepublik. Denkmuster und Debatten in Politik und Medien 1945-2010. Paderborn 2012, S. 27. 45

Nachkriegsmigration an.100 Bewerbungen für eine Überfahrt richtete man an das ICEM (Intergovernmental Comittee for European Migration), welches für die Finanzierung sorgte.101 Im Falle Hagedorns jedoch wurden die Kosten der Überfahrt von den USA übernommen, eine Folge des 1948 beschlossenen Displaced Persons Act.102 Der 1948 gegründete World Council of Churches,103 der sich verstärkt für Flüchtlinge einsetzte und Migrationshilfsprogramme initiierte, war ein Vermittler zwischen Migranten und den bereits erwähnten möglichen Sponsoren. Hagedorn fand zwei Sponsoren und erhielt eine Green Card. Sein Zielort in den USA sollten die Twincities Minneapolis/St. Paul im Bundesstaat Minnesota werden, denn der Immigrant verpflichtete sich, seine Bleibe für die ersten fünf Jahre dort zu nehmen, wo auch die Sponsoren zuhause waren. Die beiden Sponsoren Hagedorns waren ein Brüderpaar, beide für die in St. Paul ansässige 3M-Company104 tätig. Im Jahr 1959 trat Karl Hagedorn die Überfahrt nach New York an. Direkt nach dem obligatorischen Aufenthalt auf Ellis Island vor New York erreichte Karl Hagedorn schließlich die Metropole und es blieben ihm drei Stunden, bis er den Zug nehmen musste, der ihn in seine neue Heimat in Minnesota bringen sollte. Sein Weg führte ihn direkt in das Museum of Modern Art und er selbst sagte in der Rückschau „New York was always my real destination and became all the more so the moment I stepped into the Museum of Modern Art…“.105 Doch zunächst galt es, die englische Sprache zu erlernen und eine Arbeit aufzunehmen. In Minneapolis fand er mit Hilfe seiner Sponsoren eine Anstellung in der Putzkolonne des Kinderkrankenhauses. Möglicherweise zahlten sich hier

100 Die dritte und späte Phase der Nachkriegsmigration umfasst die Jahre 1958 bis 1961. Vgl. Sternberg, Auswanderungsland, S. 33. 101 Die Bundesregierung hatte einen Vertrag mit dem ICEM geschlossen. Im Gegenzug zur unterstützenden Finanzierung erfuhr die Bundesregierung, wer auswandern wollte und konnte somit die Abwanderung im Sinne deutscher Prioritäten steuern. Vgl. Sternberg, Auswanderungsland, S 60. 102 Vgl. Ebd., S. 63. 103 Der World Council of Churches, auch Ökumenischer Rat der Kirchen, ist ein weltweiter Zusammenschluss von Kirchen. Gründungsbestrebungen erstmals 1910 mit definitiven Planungen 1937/38, die aufgrund des bevorstehenden Krieges verworfen wurden. Tatsächliche Gründung 1948 mit Hauptfokus auf die Flüchtlingshilfe. Vgl. World Council of Churches unter dem URL: http://www.oikoumene.org/en (Stand: 8.3.2015). Das Symbol des World Council of Churches hatte Hagedorn in das später entstandene Kirchenfenster integriert (3.2.4.2). 104 3M, Minnesota Mining and Manufacturing, ist ein seit 1902 in Minneapolis ansässiger Technologiekonzern, der in erster Linie Klebeprodukte herstellt, bekannte Markenprodukte sind „Post-it“ und „Scotch“. Vgl. 3M Story, in: 3M Brand. In: URL: http://www.3m.com/3M/en_US/company-us/3m-science-applied-to-life/ (Stand: 24.10.16). 105 Karl Hagedorn zitiert aus: „The Story of my Life“, S. 3. 46

gewisse deutsche Tugenden wie Fleiß und Ordnungssinn für Hagedorn aus, denn nach nur wenigen Monaten wurde man aufgrund seines zügigen Arbeitstempos und der guten Ergebnisse auf ihn aufmerksam. Der Leiter des Reinigungstrupps bot ihm vertrauensvoll an, ab sofort auch den Rasenmäher und vor allem im Winter den Schneepflug zu fahren; gerade letzteres war in Minneapolis, das große Schneemassen im Winter kennt, äußert relevant.

3.1.6 Karl Hagedorns Way of Life – Integration und Etablierung in den USA Zufällig war Hagedorn bei Planungsgesprächen für ein zu gestaltendes Plakat für das Kinderkrankenhaus zugegen. Er erlaubte sich, höflich einen eigenen Vorschlag in die Gestaltung einzubringen, der tatsächlich aufgegriffen und umgesetzt wurde. Hagedorn hatte es erreicht, nach nur einem halben Jahr als Gebrauchsgraphiker in Minneapolis arbeiten zu können, denn man hatte ihn aufgrund seiner überzeugenden Ideen an die Redaktion des Catholic Digest in Minneapolis empfohlen.106 Hagedorn illustrierte fortan Artikel, fertigte Portraits an und layoutete Werbeanzeigen. Nach zwei Jahren übernahm er die Stelle des Art Directors. Bereits 1960 wurde Hagedorn im Monatsmagazin Select als Künstler vorgestellt.107 Der kurze Artikel beschreibt den Lebensweg in Deutschland und bezeichnet Hagedorn als ein bislang unbekanntes aber vielversprechendes Talent der Stadt, vor allem seine handwerklichen und technischen Fähigkeiten auf dem Arbeitsfeld der Druckgraphik werden in den Vordergrund gestellt. Am Ende des Artikels wird angekündigt, dass Hagedorn bei zukünftigen Reportagen über besondere Persönlichkeiten der Stadt ein Portrait für das Magazin zeichnen werde. Betrachtet man den gesamten zugänglichen künstlerischen Nachlass Karl Hagedorns, so nimmt das Portrait keinen großen Platz ein. Dem Artikel im Magazin Select und auch den Aussagen Diana Cavallos zufolge, hatte sich Hagedorn aber in den Jahren in Minneapolis den Ruf eines Portraitmalers erarbeitet. Zu den Dreharbeiten des 1972 ausgestrahlten Films „The Heartbreak Kid“,108 welcher zum Teil in Minneapolis spielt und dort gedreht

106 Vgl. The Catholic Digest. The Magazine for Catholic Living. In: URL: http://www.catholicdigest.com/ (Stand: 24.10.16). 107 Karl Hagedorn, in: SELECT. A monthly magazine published in Minneapolis (1960). April 1960. 108 Elaine May (Regie): The Heartbreak Kid. USA 1972. 106 Minuten. 47

wurde, sollte vor Ort ein Portrait der Hauptdarstellerin Cybill Shepherd109 angefertigt werden, welches im Film zu sehen ist. Hagedorn fertigte dieses Portrait während der Dreharbeiten an. Es war ein guter Anfang für den Einwanderer Hagedorn. In den folgenden Jahren entwickelte er ein beachtliches Kontaktnetzwerk und trieb vor allem den Ausbau seiner künstlerischen Position voran. Er verzeichnete Ausstellungserfolge und erarbeitete sich „…an American salary and lived like a[n] European“110, wie er es in „The Story of my Life“ selbst beschreibt.

3.1.7 Frühe Werke – frühe Ausstellungserfolge: die 1960er Jahre In Betrachtung des künstlerischen Nachlasses wird offensichtlich, dass Hagedorn erst ab Mitte der sechziger Jahre damit begonnen hatte, seine Darstellungen zu geometrisieren. Die Arbeiten der frühen sechziger Jahre sind in erster Linie Figurenstudien oder Arbeiten, die altmeisterlich anmuten und Hagedorns frühe Begeisterung für die Graphik Albrecht Dürers widerspiegeln. Im künstlerischen Nachlass finden sich zudem Arbeiten, die zunächst nur schwerlich dem Hagedorn’schen Oeuvre zuzuordnen sind. Als ein Beispiel dient die Radierung „Radivar 5“ (Abb. 17) aus dem Jahr 1966, eine Figurendarstellung, die an Karikaturen aus der Zeit der deutschen Reichsgründung ab 1871 erinnert. Diese Graphik ist ein Vertreter für eine kleine Reihe von Arbeiten, die einen ähnlichen, karikierenden Stil aufweisen, wie beispielsweise „The Critic“ (Abb. 30) aus 1960. Hagedorn griff auf diesen Stil auch noch in den achtziger Jahren zurück, wie es in „Stepping up to fame“ (Abb. 31) aus dem Jahr 1980 sichtbar ist. Ab Mitte der sechziger Jahre konnte Hagedorn bereits auf eine erste Ausstellung im Walker Art Center, zurückblicken. Zudem hatte er sich für die Show „Drawings U.S.A. ’66“111 beworben und konnte dort eine seiner Zeichnungen zeigen. Die Teilnahme an dieser Ausstellung ist als ein besonderes Privileg für Hagedorn zu bewerten, weilte er zu diesem Zeitpunkt doch erst sieben Jahre in den USA. Dazu veröffentlichte das Magazin The Twin Citian im Juni 1966 ein

109 Cybell Sheperd (*1950) ist eine US-amerikanische Schauspielerin, neben “The Heartbreak Kid” unter anderem eine Nebenrolle in “Taxi Driver”, 1976 (Regie: Martin Scorcese) und bekannt als Seriendarstellerin, vor allem „Moonlightning“ (1985-1989) an der Seite von Bruce Willis. 110 Karl Hagedorn zitiert aus: „The Story of my Life“, S. 3. 111 Drawings USA `66, third biennial exhibition, 7th April to 5th June 1966, The Saint Paul Art Center, St. Paul, Minnesota. 48

Künstlerprofil über Hagedorn aus dem Anlass, dass er einen der neunzehn Jurypreise des Saint Paul Art Centers erhalten hatte.112 Ebenfalls ab 1966 lässt sich nicht nur die fortschreitende Etablierung Hagedorns in den USA feststellen, sondern auch der beginnende Umbruch in seinem künstlerischen Werk, von Figuration hin zur Abstraktion. Eine der ersten Arbeiten, welche diesen Umschwung markieren ist die Zeichnung „The Spearing“ (Abb. 32) aus dem Jahr 1965. In unzähligen Positionen, an Frans Floris‘ „Engelssturz“ (Abb. 33) erinnernd, überlagern sich schmerzerfüllte Körper, die von langen Lanzen grausam aufgespießt worden sind. Eine erschreckende Szenerie, die Hagedorn in einen schwer definierbaren Innenraum positioniert. Die horizontal und vertikal strukturierte Wand sowie die markanten, diagonal eingestreuten Lanzen greifen spätere geometrische Strukturen vorweg. Das Kompositionsprinzip aus „The Spearing“ findet zunächst figürlichen Widerhall in „The Hand of my Aunt“ (Abb. 34) und später abstrakte Umsetzung in Werken wie „Circuit“ (Abb. 16), worin Hagedorn sein Interesse an den medizinischen Abläufen im Inneren des menschlichen Körpers visualisierte und die er bereits in der Arbeit „Remicircuit“ (Abb. Vergleich zu 36+37) im Jahr 1967 vorgearbeitet hatte. Nach der Teilnahme an der Ausstellung „Drawings U.S. A.“, 1966, sollten im folgenden Jahr zwei wichtige Ausstellungen für Karl Hagedorn folgen. Dies sind die „5th Minnesota Artists‘ Biennial“113 im Minneapolis Institute of Arts, wo Hagedorn einen der Anerkennungspreise verliehen bekam. Zudem bespricht der Kritiker John K. Sherman im The Minneapolis Star vom 7. September 1967 eine kleine Einzelschau in der Verkaufs- und Mietgalerie des Walker Art Centers.114 Die ausgestellten Ölgemälde vergleicht der Autor mit dem Stil eines Joan Miró, was darauf schließen lässt, dass es sich bei einem dieser Werke um „12 AM d.s.t.“ (Abb. 15) handelt, das sich im Besitz des Walker Art Centers befindet und starken formalen Bezug zu Mirós Werk aufweist. Eine überraschende Beschreibung gibt der Autor über heute unbekannte Zeichnungen, welche eine Serie über das Schicksal des russischen Zaren Nikolaus II. und dessen Familie bilden. Es darf

112 Sara Middleton: Profile: Saint Paul artist Karl Hagedorn, in: The Twin Citian. A monthly magazine (1966). Juni 1966, S. 67. 113 5th Minnesota Artists‘ Biennial, The Minneapolis Institute of Arts, 16th March to 23rd April 1967. 114 John K. Sherman: Two New Walker Art Center Exhibits Challenge to the Viewer, in: The Minneapolis Star (1967). 07.09.1967, S. 16 B. 49

davon ausgegangen werden, dass Hagedorn mit dieser Familiengeschichte vertraut war, zudem bewegte die vermeintliche „Zarentochter“ Anastasia deutsche wie amerikanische Medien, da Franziska Schanzkowski115 immer wieder auch in den USA gelebt hatte. Dennoch ist weder im schriftlichen noch im künstlerischen Nachlass ein Verweis auf eine solche Serie zu finden. Die beiden Ausstellungen im Jahr 1967 waren für Hagedorn wichtige Schauen, die seine Popularität aber auch seine Professionalität als Künstler festigten und sehr gute Referenzen für seinen weiteren künstlerischen Weg boten.

3.1.8 Facetten der persönlichen Entwicklung Hagedorns und seines persönlichen Umfeldes Im Interview schilderte Raabe (2.6.1.2) einen lebensfrohen Hagedorn; dieser sei sich jedoch stets über seine künstlerischen und professionellen Wege sehr bewusst gewesen und lies in allen Handlungen einen kaufmännischen Hintergrund evident werden. Finanzielle und sämtliche organisatorischen Angelegenheiten seien Hagedorn stets von elementarer Bedeutung gewesen. Diese Aspekte teilen die Zeitgenossen Hagedorns in zwei Lager. Einige teilen den Eindruck Raabes, die andere Gruppe schildert vielmehr einen in die Malerei und ins Amüsement versunkenen Künstler. Der Künstler Hagedorn hätte seine solide Etablierung nicht erreicht, hätte er ökonomische Aspekte vernachlässigt. Er hatte mit seiner Auswanderung und dem Aufbau einer neuen Existenz nicht nur menschlichen, sondern auch unternehmerischen Mut bewiesen. In den späteren Jahren seines Lebens hatte Hagedorn jedoch viele geschäftliche Belange schrittweise in die Hände seiner Frau übertragen, was zu den Eindrücken des anderen Lagers führen mag, dass er wenig Sinn für Organisation aufgewiesen habe. Kein ambivalenter, sondern ein durchaus nachvollziehbarer Weg, Verantwortung in die Hände eines Partners zu legen, was jedoch nicht impliziert, dass er sich nicht selbst darum hätte kümmern können. Noch in Augsburg gehörte Hagedorn der Künstlergruppe „Die Ecke“ an. In seinem späteren künstlerischen Leben sollte er sich nie wieder einer Künstlergruppe angeschlossen haben, dies war eine bewusste Wahl, er hielt das System der Künstlergruppen für ein überkommenes, er sah „…kein Klima für eine gemeinschaftliche Perspektive der Künstler oder für allgemeingültige ästhetische

115 Karin Feuerstein-Praßer: „Anastasia“ alias Anna Anderson alias Franziska Schanzkowski (1986-1984), in: Dies.: Frauen, die aufs Ganze gingen. München 2008, S. 175. 50

Prinzipien…“116. Auch die Wahl des künstlerischen Alleingangs und damit der Verzicht auf Gruppenzugehörigkeit erfordern ein gewisses Maß an Eigeninitiative und Selbstorganisation. Zu wie vielen oder welchen Künstlern Hagedorn in Minneapolis Kontakte gepflegt hat, ist nicht im vollen Umfang bekannt. Richard Lindner avancierte jedoch zu einem künstlerischen Vorbild für Karl Hagedorn. Später in New York sollte es Gelegenheit für ein Kennenlernen der beiden deutschstämmigen Künstler geben. Emil Schumacher, einer der erfolgreichsten Vertreter des Informel hatte 1967 bis 1968 eine Gastprofessur an der Minneapolis School of Art wahrgenommen. Mit dem Niveau der Lehre und der Organisation des Lehrbetriebes sei der renommierte Künstler und erfahrene Lehrer sehr unzufrieden gewesen. Es sei ein Versuch unternommen worden, Hagedorn und Schumacher zusammen zu führen, damit Hagedorn den berühmten Kollegen zum Bleiben bewegen möge. Ob dies tatsächlich so war ist von Seiten der Schule nicht bestätigt, aber Schumacher blieb das vereinbarte Jahr in Minneapolis und die beiden Künstler hatten sich kennen gelernt. Hagedorn hatte diesem Kontakt viel Bedeutung beigemessen, es war ihm wichtig, diesen international erfolgreichen Künstler gekannt zu haben und die beiden behielten den Kontakt bis zum Tod Schumachers bei. Eine wichtige Freundin innerhalb der Künstlerszene wurde Alice Baber, eine amerikanische Vertreterin des Abstrakten Expressionismus, die Hagedorn in den späten sechziger Jahren kennen gelernt hatte. In einem Interview benennt auch sie ihre Freundschaft zu Hagedorn.117

3.1.9 Die erste Europareise und der Umzug nach New York „…, I might have stayed in Minnesota forever“118 so resümierte Hagedorn in der Rückschau auf seine Jahre in Minneapolis am Ende seines Lebens. Um 1969 wurde ihm bewusst, dass der Zeitpunkt gekommen war, nach New York zu gehen, das eigentliche Ziel seiner Emigration. Hagedorn hatte in den Jahren in den Twincities viel erreicht und er hatte sich Ersparnisse aufgebaut, denn die Zukunft in New York blieb eine ungewisse, somit plante er, dort die ersten drei oder vier Jahre ohne eine Anstellung in seine Kunst und in den Aufbau eines neuen

116 Karl Hagedorn zitiert aus: Kat. Kunsthalle, S. 15. 117 Oral history interview with Alice Baber. (24.05.1973). Archives of American Art. Smithsonian Institution. 118 Karl Hagedorn zitiert aus: “The Story of my life”, S. 4. 51

Netzwerkes zu investieren. Vor dem Umzug jedoch wollte er erstmals wieder nach Europa reisen. Eine mehrmonatige Tour durch Spanien, Frankreich, England, Italien und Deutschland sollte zu einer tiefgreifenden Inspiration für den Künstler werden und führte ihn vor allem zu den historischen Stätten der reichen europäischen Kultur. Seine Reise begann im spanischen Altamira, von den steinzeitlichen Höhlenmalereien sollte er sein Leben lang beeindruckt bleiben. Madrid und Barcelona folgten. In Frankreich bereiste er erneut Paris, um die für ihn so beeindruckenden Zeugnisse der Moderne erneut zu studieren. Derart erfüllt von dem künstlerischen Reichtum der Alten Welt und voller neuer künstlerischer Vorhaben war Karl Hagedorn 1971 bereit für das Weltzentrum der zeitgenössischen Kunst: New York. Bereits im letzten Jahr in Minneapolis war er einige Male nach Manhattan gefahren, um sich erste Eindrücke zu verschaffen. Um seinen Umzug realisieren zu können, hatte er sich auch im Vorfeld um ein kleines, zentrales und dennoch bezahlbares Studio gekümmert, in dem er auch leben konnte. Die Kontakte seiner Freundin Alice Baber ermöglichten es ihm, in das ehemalige Atelier von James Rosenquist einziehen zu können; Rosenquist stand gerade kurz vor seinem Durchbruch als weltweit bekannter Popkünstler. Das kleine Studio im New Yorker Stadtteil Soho in der Broome Street, Ecke Crosby Street war für Hagedorn ein geeigneter Ausgangspunkt für die professionelle wie private Zukunft in der Weltstadt (Abb. 38). Für nur 325 US- Dollar Monatsmiete konnte er leben und arbeiten und profitierte mit dieser geringen Miete von dem erst kurz vorher von der Stadt New York beschlossenen Gesetz „J-51“.119 Hagedorn selbst hatte den Start in New York mit den Worten „…like jumping into an immense pool of cold water“120 beschrieben. Aber er hatte diesen Sprung gewagt und seine Ersparnisse, gepaart mit der vergünstigten Miete, erlaubten es ihm, eine Portfoliomappe anzufertigen, mit der er gedachte, bei verschiedenen

119 Dieses Gesetz machte es für Vermieter von Wohneigentum zur Auflage, einen gewissen Prozentsatz der Wohnungen an Künstler zu vermieten. Die so zu erwartende kulturelle Durchmischung sollte für ein offeneres Klima sorgen. Da sich Künstler aufgrund ihres oft niedrigen Einkommens die herkömmlichen Mieten nicht leisten konnten, verfügte das Gesetz, dass Künstlern für die ersten zehn Jahre Grund- und Gebäudesteuern erlassen wurden. Informationen zu diesem Gesetz finden sich in: URL: https://www1.nyc.gov/site/finance/benefits/benefits-j51.page (Stand: 08.07.2016). Durch solche und ähnliche Gesetze erreichte es der damalige Bürgermeister John Lindsay, das Image der Stadt zu verbessern und die Kriminalität einzudämmen. John Lindsay war Bürgermeister der Stadt New York von 1966 bis 1973, Mitglied der Republikanischen Partei sowie der Liberalen Partei. 120 Karl Hagedorn zitiert aus: “The Story of my life”, S.4. 52

Galerien vorstellig zu werden. Durch Baber lernte Hagedorn den Künstler Paul Jenkins kennen, der von 1964 bis 1970 mit Alice Baber verheiratet war und der ebenfalls über hervorragende Kontakte in New York verfügte. Hagedorn öffnete sich dem neuen und inspirierenden Umfeld voller Esprit und interessanter Persönlichkeiten - Möglichkeiten, wie es sie in Minneapolis nicht gegeben hatte. In Richard Galefs Studio hatte Hagedorn Künstlerpersönlichkeiten kennen gelernt, wie Sonia Delaunay, den Kunstkritiker Clement Greenberg oder den Künstler Ilya Bolotowski, dessen konstruktivistische Werke Hagedorn sehr bewundert hatte. Mit dem Umzug nach New York hatte Hagedorn sich zudem ein Treffen mit Richard Lindner erhofft; während seiner Europareise sollte er den Ausgangspunkt dafür finden. Auf dieser Reise hatte Hagedorn seinen Freund Ludwig Königsberger in Augsburg besucht. Dessen Ehefrau arbeitete inzwischen in München für ein Kunstmagazin, in einer der Ausgaben entdeckte er eine Zeichnung Lindners. Bei einem Besuch des Guggenheim Museums im Jahr 1976 oder 1977 traf Hagedorn zufällig auf den Künstler, er sprach ihn an und man vereinbarte ein Treffen, wobei Hagedorn ihm das Heft zu übergeben gedachte. Lindner war sehr überrascht und es sollte sich ein langes Gespräch über Kunst und über die Ähnlichkeiten beider Lebenswege entwickeln. Viele Übereinstimmungen fanden die beiden Künstler hinsichtlich der Energie, die sie dem Leben in New York entnehmen konnten, hinsichtlich ihrer ähnlichen Auffassung von der Dominanz von Farbe und klarer Form in ihren malerischen Werken und letztendlich auch hinsichtlich dessen, was es bedeutet, eine singuläre künstlerische Position zu vertreten.121 Mit den Referenzen aus Minnesota und mit seiner in New York zusammengestellten Portfoliomappe, gedachte Hagedorn, bei New Yorker Galerien vorstellig zu werden. Ende 1973 bereiteten die Galerien entlang der Madison Avenue für das kommende Jahr eine „New-Talent-Show“ vor. Mit einundfünfzig Jahren mag es zunächst als kurios erscheinen, aber Hagedorn war ein solches „New Talent“, schließlich war er in New York unbekannt. Die Galerie Gimpel and Weitzenhoffer integrierte schließlich seine Arbeiten in ihre Show. Künstler und Galerie wurden in ihrer Entscheidung von John Russel, Kunstkritiker der The New York Times, bestätigt. In seinem Artikel über die

121 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 53

Ausstellung befasst er sich ausschließlich mit Hagedorns Werk. Er hebt die partielle Überstrapazierung des Begriffes „Neu“ hervor, betont jedoch, dass die Bezeichnung „Talent“ auf Hagedorn zuträfe. Klar urteilt Russel, dass Hagedorns Werke auf deutlich auszumachenden Vorbildern basieren, Russel nennt hier Marcel Duchamp und Francis Picabia, bezeichnet jedoch gerade diesen klar erkennbaren Bezug auf kunsthistorische Impulsgeber als das eigentliche Potential dieser Arbeiten.122

3.1.10 Leben in New York und Ausstellungserfolge in Deutschland Ein Studio in guter Lage, zahlreiche Kontakte, eine Ausstellung in einer finanzkräftigen Galerie in guter Lage und eine hervorragende Kritik in der Zeitung The New York Times. Karl Hagedorn hatte den „Pool voll kalten Wassers“ in ein angenehmes Bad verwandelt. 1976 schließlich präsentierten Gimpel and Weitzenhoffer Hagedorns Werke in einer Einzelausstellung. Diese wurde auch dokumentiert im „New York Art Yearbook 1975-1976“,123 einem Publikationsprojekt des Noyes Art Books Verlages, für welches die Kuratorin Judith Tannenbaum124 alle Einzelausstellungen gesammelt und chronologisch notiert hatte. Auch John Russel hatte diese Einzelausstellung in der Tageszeitung The New York Times besprochen und empfohlen.125 Das mediale Interesse an dieser Galerieausstellung sollte nicht nur temporär wichtig werden, sondern auch langfristig. Denn diese Einzelschau sollte die erste und auch die letzte bei Gimpel and Weitzenhoffer bleiben. Hagedorn befand sich in einer misslichen Lage. Über die Jahre hinweg stand für ihn stets die Dankbarkeit, vor allem dem Galerieleiter Bob Endo gegenüber, im Vordergrund. Die andere Seite des Kontos füllt sich mit Kritikpunkten. Zwar wurden Ausstellungen initiiert, der Verkauf der Werke wurde jedoch nicht forciert. Hinzu kam, dass Gimpel and Weitzenhoffer andere Galerienausstellungen in New York nicht gestatteten. Aus dem beschriebenen Gefühl der Dankbarkeit heraus gestattete sich der Künstler nicht die Aufkündigung des Geschäftsverhältnisses zu dieser Galerie. Vielmehr schlug er einen Weg ein, die Restriktionen und die Untätigkeit Gimpel and Weitzenhoffers

122 Russel, John: Karl Hagedorn’s Wry Paintings at Gimpel, in: The New York Times (1974). 06.06.1974. 123 Karl Hagedorn at Gimpel and Weitzenhoffer Gallery, in: 1975-1976 New York Art Year Book. 124 Judith Tannenbaum, zuletzt Kuratorin am RISD Museum (Rhode Island School of Design). 125 John Russel: Karl Hagedorn (Gimpel & Weitzenhoffer), in: The New York Times (1976). 07.02.1976. 54

zu umgehen. So verkaufte er viele Kunstwerke direkt aus dem Atelier und suchte zudem nach Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Galerien. Umso mehr Gewicht erhielten damit auch die Galeriekontakte in Deutschland. Die Kontaktbörse des Kölner Kunstmarktes hatte Hagedorn bereits während seiner ersten großen Europareise zu nutzen gewusst und somit konnte bereits im Jahr 1973 eine Einzelausstellung in der Münchner Galerie Heseler initiiert werden. Die Ausstellungstätigkeit, die Arbeit der deutschen Galeristen und die Akzeptanz seiner Werke in seinem Heimatland, all dies waren wichtige Faktoren für Hagedorn, die ihn sehr zufrieden stellten und die es ihm ermöglichten, bisweilen über das fehlende Engagement von Gimpel and Weitzenhoffer hinwegzusehen. Allein der Galerist Heseler in München wies ein stärkeres Engagement für Hagedorns Werk auf als Gimpel and Weitzenhoffer dies in ihrer gesamten Zusammenarbeit taten. Dennoch war es Hagedorn gelungen, auch in den USA immer wieder an wichtigen Ausstellungen teilzunehmen. So wurden seine Werke 1978 in der Ausstellung „Painting and Sculpture“ 126 im Indianapolis Museum of Art gezeigt, zu sehen waren dort unter anderem Werke von John Baldessari, Gene Davis oder Sol LeWitt. Wie bereits aufgezeigt, hatte Hagedorn in seiner eigenen Lebensrückschau die Jahre in Westdeutschland und die Europareise 1972 gepaart mit dem Umzug nach New York als zwei Wendepunkte in seinem privaten wie künstlerischen Leben bezeichnet. Die 1981 stattfindende Ausstellung in der Nürnberger Kunsthalle bedeutete ihm einen dritten Wendepunkt. Dies ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass ihm diese Ausstellung die umfangreichste Werkschau und gleichzeitig bereits eine Retrospektive geboten hatte, sondern auch der Begebenheit, dass diese Ausstellung in Deutschland stattfand. Hagedorn selbst wertete dies als die Verbindung seiner „…Vergangenheit und der Welt in der ich heute lebe, …“.127 Außerdem konnte die Galerie Heseler im Jahr 1986 eine Arbeit Hagedorns, das sogenannte „Autobild“,128 in eine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst

126 Ausstellung im Indianapolis Museum of Art, Indianapolis, Indiana, 15. Juni bis 30. Juli 1978. Vgl. in: URL: http://www.imamuseum.org/exhibition/painting-sculpture-today-1978 (Stand: 24.10.16). 127 Karl Hagedorn zitiert aus: Kat. Kunsthalle, S. 8. 128 Laut eines im Nachlass vorliegenden Lieferscheins handelte es sich dabei um die Arbeit „Avus“, diese Arbeit ist im künstlerischen Nachlass nicht enthalten, somit ist der Standort unbekannt. 55

vermitteln.129 Die von Reimar Zeller kuratierte Ausstellung „Das Automobil in der Kunst 1886-1986“ war eine Schau über hundert Jahre Technik- und Fortschrittsdarstellung am Phänomen „Automobil“ in allen künstlerischen Gattungen. Der Ausstellungskatalog130 dokumentiert Arbeiten von Tamara de Lempicka, René Magritte, Tom Wesselmann, Konrad Klapheck oder Martin Kippenberger. Hagedorns Arbeit wurde für diese Ausstellung eingeliefert, jedoch nicht in den Katalog aufgenommen. Ebenso ist kein Hinweis recherchierbar, ob das Bild in der Ausstellung gezeigt worden ist oder nicht.131 Auch zwei Jahre später, im Mai 1988 wurde Heseler erneut für Hagedorn aktiv, indem er der Münchner Sammlung Strobel eine Arbeit aus dessen technoid inspirierten Werk vorschlägt. Heseler hatte also Hagedorn geben, sich Gedanken um eine Komposition mit Nähmaschinen oder Bügeleisen zu machen,132 dem Schwerpunkt der Sammlung Strobel. In der Zwischenzeit bis Juli 1988 hatte Hagedorn entsprechende Skizzen angefertigt, denn es folgt zur Bestätigung ein Schreiben des Sammlers direkt an Karl Hagedorn, das er selbige erhalten habe.133 In kurzen zeitlichen Abständen folgen Briefwechsel, zwischen dem Sammler, Heseler und Hagedorn, hinsichtlich genauer Vorstellungen des anzufertigenden Bildes. Aus einer Antwort aus Dezember 1988 geht schließlich hervor, dass der Sammler weder mit den Bildvorschlägen Hagedorns noch mit der Preisgestaltung seitens der Galerie einverstanden ist.134 Über weitere Schreiben hinweg wurden die Vorstellungen Strobels genauer definiert und auch die Preisvorstellungen sowie die Zahlungsmodalitäten angepasst.135 Die eigentliche Arbeit „Hommage à la Couture“ wurde schließlich erst im Januar 1991 an die Galerie Heseler geliefert.136 Eine weitere Arbeit aus dieser Phase mit dem Titel „Couture“ (Abb. 40) befindet sich bis heute im Nachlass des Künstlers.

129 Schreiben von Galerie Heseler München an Karl Hagedorn, vom 27.02.1986. 130 Raimar Zeller (Hg.): Das Automobil in der Kunst 1886-1986. Kat. Ausst. München 1986. 131 Aus dem Rechercheauftrag an und einer E-Mail-Korrespondenz der Verfasserin mit dem Künstlerverbund im Haus der Kunst München, unter dessen Leitung auch die benannte Ausstellung stattgefunden hatte (Korrespondenz vom 09.07.2016 bis 08.03.2017). 132 Schreiben von Galerie Heseler München an Karl Hagedorn, vom 11.05.1988. 133 Schreiben von Alfons Strobel an Karl Hagedorn, vom 01.07.1988. 134 Schreiben von Alfons Strobel an Karl Hagedorn, vom 18.7.1988. 135 Weitere Korrespondenz zwischen Alfons Strobel, Karl Hagedorn und der Galerie Hesler München, im Zeitraum vom 11.07.1988 bis 10.12.1990. 136 Lieferschein, ausgestellt von der Galerie Heseler München an die Sammlung Strobel über die Lieferung des Werkes „Hommage a la Couture“ mit Werktitel und Lieferadresse, vom 15.01.1991. 56

„My studio is still the center of my life…”137 so hatte er am Ende seines Lebens konstatiert. Karl Hagedorn und seine Frau Diana Cavallo konnten durch den Verkauf seiner Kunst auf einer soliden finanziellen Basis leben. Dazu gehörte die spätere gemeinsame Wohnung mit angeschlossenem Studio am Broadway, gutes Essen, Urlaubsreisen und die nahezu jährlichen gemeinsamen Reisen nach Europa. Da die beiden in Lower Manhattan lebten, hatte er jeden Tag nach dem Mittagessen einen Spaziergang am Battery Park entlang, die Battery Park City Esplanade bis hinauf zu den beiden Türmen des World Trade Centers unternommen. Im Nordturm gab es zur damaligen Zeit im 107. Stock die Bar „Windows on the World“, wo er einen Drink nahm. Danach begann er zumeist in seinem Atelier zu malen. Durch den Verkauf in den deutschen Galerien und durch die selbstständige Verkaufstätigkeit aus dem Studio konnte es Hagedorn ermöglichen, während der Zeit in New York sein Werk frei und ausschließlich nach seinen Vorstellungen weiter zu entwickeln, seine Inhalte und seine Werkaussagen zu konkretisieren und auch neue motivische Möglichkeiten zu wählen.

3.1.11 Ausbau der Galeriekontakte in Deutschland Hagedorns Ausstellungserfolg in der Nürnberger Kunsthalle 1981 und die Ausstellung in der Bamberger Stadtgalerie Villa Dessauer 1991138 trugen zu seiner soliden Repräsentanz in Deutschland bei. Die Geschäftsverbindung mit der Augsburger Galerie Rehklau war, ebenso wie diejenige zu Heseler in München, eine durchaus erfolgreiche und für Hagedorn eine sowohl lukrative als auch repräsentative Alternative oder Ergänzung zu der langjährigen Vertretung bei Heseler. Anfang der achtziger Jahre, als der Name Hagedorn sowohl in den USA als auch in Deutschland Präsenz erlangt hatte, hatte die Galeristin Dorothee Carus-Isserstedt139 Hagedorn an den Kölner Galeristen Dr. Ruprecht Stolz

137 Karl Hagedorn zitiert aus: Story of my Life, S. 5. 138 Aspekte der Gegenwartskunst in den USA, Ausstellung vom 10.11.1991 bis 06.01.1992 in der Stadtgalerie Bamberg – Villa Dessauer. Vgl. Aspekte der Gegenwartskunst in den USA. Ausstellung vom 10.11.1991 bis 06.01.1992 in der Stadtgalerie Bamberg – Villa Dessauer. Kat. Ausst. Bamberg 1991. Beteiligt an dieser Ausstellung waren neben Hagedorn die Künstlerinnen Bobbie Altman, Gabrielle Rossmer, Jo-Ellen Trillin. 139 Dorothea Carus-Isserstedt emigrierte 1952 mit ihrer Familie nach New York, USA. 1967 gründete die Kunsthistorikerin die Carus Gallery in der East 82nd Street in New York. Die Galerie war spezialisiert auf Graphik des deutschen Expressionismus und des russischen Konstruktivismus und repräsentierte Werke von Max Beckmann, Otto Dix oder Kasimir Malewitsch. Die Galerie wurde 2002 geschlossen, in diesem Jahr verstarb auch Dorothea Carus-Isserstedt. Vgl. Carus Gallery Records. (1967-2002). Archives of American Art. Smithsonian Institution. 57

empfohlen. Kurze Zeit später hatte Stolz Hagedorn in New York besucht und kennen gelernt. Bereits 1987 hatte die Galerie Stolz Arbeiten von Hagedorn in einer Gruppenausstellung gezeigt sowie 1991 in einer Einzelschau, die in der regionalen Presse einen guten Anklang gefunden hatte.140 Dennoch wünschte Hagedorn sich stets eine repräsentative Galerievertretung in Nürnberg. Im Jahr 1997 konnte eine erste Einzelpräsentation in der Nürnberger Bode Galerie stattfinden und bereits ein Jahr später erschien die bislang umfangreichste, bereits in (2.2) erwähnte, Dokumentation der Werke Hagedorns im Verlag der Galerie. Auch posthum zeichnet die Bode Galerie für das Werk Hagedorns verantwortlich. In Kooperation mit dem Neuen Museum in Nürnberg konnten bereits zwei gemeinsame Ausstellungen, 2009 und 2012, realisiert werden. Vor allem für die Erweiterung der Sammlung des Neuen Museums in Nürnberg hatte der Galerist Klaus D. Bode in Kooperation mit dem Konservator des Neuen Museums in Nürnberg, Thomas Heyden, einen Grundstein gelegt.

3.1.12 Reisen – Alltag in New York Die Stationen der Europareisen des Ehepaars Cavallo-Hagedorn lassen sich einerseits an den Ausstellungslisten und an den Galeriestandorten ausmachen. Hagedorns Skizzenbücher sind wie Dokumentationen der Reiserouten zu lesen. Hagedorn hatte stets ein Skizzenbuch mit sich geführt, um Gedanken oder formale Ideen, rasch festhalten zu können, aber vor allem auch, um das Gesehene zu bannen. Ein solches Buch aus dem Jahr 1977141 bietet den künstlerischen Überblick über eine Tour von Köln über Heidelberg nach Straßburg und Colmar. Matthias Grünewalds Isenheimer Altar muss eine große Faszination auf Hagedorn ausgeübt haben, in zahlreichen Skizzen hatte er sich Gedanken über dieses bedeutende Werk des deutschen Renaissancekünstlers gemacht. In Italien hatte er Bergamo und Florenz besucht, auch hier ist es wieder insbesondere die Malerei der Frührenaissance, die Hagedorn in seinen Skizzen festhielt, mit deutlichem Augenmerk auf die Darstellungen des Fra Angelico in San Marco. Die Skizzenbücher belegen seine kunsthistorischen Interessen, die er selbst in Interviews und auch in seinem eigenen Lebensrückblick beschrieben hatte.

140 Ausstellungsbesprechung im Kölner Stadtanzeiger (1991). 29.01.1991. 141 Karl Hagedorn, Skizzenbuch, 1977, gewidmet an seine Frau Diana „für die Europareise zur Erinnerung“. 58

Zuhause in New York pflegten Hagedorn und seine Frau viele Freundschaften, auch die alten Kontakte nach Minneapolis blieben bestehen. Im Jahr 1984 haben Cavallo und Hagedorn nach knapp zehn Jahren Bekanntschaft geheiratet und beschlossen, die jeweils eigenen Wohnungen beziehungsweise Studios aufzugeben und sich einen gemeinsamen Wohn- und Arbeitsort zu suchen. Da sich der Stadtteil Soho, wo das Paar zunächst lebte, stark verändert hatte142, entschieden sich die beiden für eine Wohnung am alten Broadway, zwischen St. Paul’s Chapel und Trinity Church. Ein Bezirk mit Nähe zur Wall Street und World Trade Center, in dem man zu Beginn der achtziger Jahre eigentlich nicht wohnte, da dies vielmehr Geschäftsbezirke waren. Somit konnte man jedoch eine große und zudem günstige Wohnung finden, die ausreichend Platz für zwei Personen sowie für ein abtrennbares Atelier bot. Die neue Wohn- und Arbeitssituation ließ sich hervorragend trennen und man gab, in Anklang an die Zeit in Soho, viele Partys. Da die New Yorker Jahre in geschäftlicher Hinsicht von der zähen Zusammenarbeit mit Gimpel and Weitzenhoffer determiniert waren, war Hagedorn darauf bedacht, seine Werke auch außerhalb der Metropole zeigen zu können. Über Paul Jenkins hatte er den Galeristen Thomas Monahan kennen gelernt, der 1977 nach Milwaukee im Bundesstaat Wisconsin umsiedelte und dort alsbald Werke von Hagedorn ausstellte.143 Die Ausstellung wurde lebhaft im „Milwaukee Journal“ besprochen.144 Bereits zur selben Zeit hatte Hagedorn die zunächst lukrative Zusammenarbeit mit der Galeristin Eva Cohon in Chicago begonnen; das bereits beschriebene Temperament der Galeristin hatte diese jedoch frühzeitig beendet (2.7.2.4). Ein starkes Netz aus Galerien, vergleichbar dem in Deutschland, hätte für Hagedorn den Ausgleich zu der Untätigkeit Gimpel and Weitzenhoffers bedeutet,

142 Vgl. The History of SoHo. Auszüge aus: Alanna Siegfried und Helene Zucker Seemann: Soho – a guide. New York 1978. In: URL: http://www.artnyc.com/SoHoHistory.html#1900/ (Stand: 19.07.2016). 143 Vgl. Eintrag zur Unternehmenshistorie der Thomas Monahan Fine Art Gallery, in: History. In: URL: http://www.thomasmonahanfineart.com/gallery-info/ (Stand: 24.03.2015). 144 James Auer: The Body as machine and vice versa, in: The Milwaukee Journal (1990). 18.05.1980. 59

die vor allem nach Bob Endos145 Erkrankung am AIDS-Virus im Jahr 1984 noch deutlicher hervortrat. Aber Hagedorn blieb in den USA stets hinter der Ausstellungsaktivität in Deutschland zurück. Der Autor Palmer Poroner schrieb in der Zeitschrift „Artspeak“ nach einer Ausstellung mit Papierarbeiten in der Jack Gallery 1981, die Werke Hagedorns besäßen einen Ausdruck von „…European sensibility,…“; fein differenziert konstatiert er, dass es sich um kein amerikanisches, sondern um ein amerikanisiertes Werk handele.146 1992 folgte noch eine weitere New Yorker Ausstellung in der Virginia Lust Gallery mit „Recent Paintings“.147 Die Galeristin Lust war durchaus bemüht um Hagedorns Werk, so informierte sie das Walker Art Center148 über die Ausstellung und sendete Abbildungen an das Newark Museum. Hagedorns Arbeiten hätten sicherlich größeren Anklang in den USA finden können, dafür hätte es jedoch noch intensiverer Vermittlungsarbeit bedurft. Möglicherweise liegen die Gründe für diese Unterrepräsentanz dennoch im Werk selbst begründet. Der einflussreiche Galerist Leo Castelli,149 den Hagedorn Anfang der achtziger Jahre kennen lernen durfte, hatte die malerische Leistung Hagedorns erkannt, aber in dieser Zeit hatte Castelli den Fokus seiner Galerie auf die Pop-Künstler Jasper Johns, Roy Lichtenstein und Andy Warhol gelegt. Aus dem Gespräch zwischen Cavallo und der Verfasserin war hervorgegangen, dass Castelli die Werke Hagedorns geschätzt, sie aber als dem aktuellen Zeitgeist diametral eingeordnet hatte, was er jedoch nicht als Qualitätskriterium verstanden haben wollte. Trotz dieser Absage haben das Treffen mit dem renommierten

145 Robert (Bob) Endo wurde im Jahr 1948 in Los Angeles geboren. Er absolvierte in London das Sotheby’s Expert Art Appraisal Program. Danach Rückkehr in die USA und Arbeit als Galeriemanager bei Gimpel and Weitzenhoffer. Nach zehnjähriger Krankheit ist Bob Endo im Jahr 1994 in seinem Pariser Apartment verstorben. Vgl. Profile „Robert Endo“, in: YAMP. In: URL: http://yamp.org/Profiles/RobertEndo (Stand: 19.07.2016). 146 Palmer Poroner: A European Sensibility, in: Artspeak. A bi-weekly gallery review. New York (1981). 10.11.1981. 147 Recent Paintings, 18.11. -12.12.1992 in der Virginia Lust Gallery, 61 Sullivan St, New York. Die Einladungskarte befindet sich im Nachlass des Künstlers. 148 Schreiben von Virginia Lust an Karl Hagedorn vom 21.10.1992. Über diese Zusendung, am 15.12.1992 bedankt sich Peter Boswell, Assistenzkurator am Walker in einem Antwortschreiben. Schreiben von Peter Boswell (Assistenzkurator am Walker Art Center) an Karl Hagedorn, vom 15.12.1992. 149 Leo Castelli, geboren 1907 in Triest, gestorben 1999 in New York, war einer der bekanntesten Galeristen und Kunsthändler des 20. Jahrhunderts. Vgl. Mary Lublin: Amerikanische Galerien im 20. Jahrhundert: Von Stieglitz bis Castelli, in: Christos M. Joachimides/Norman Rosenthal, Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1913-1993. München 1993, S. 171- 178. 60

Kunsthändler und dessen Aussagen Hagedorn in seinem weiteren künstlerischen Schaffen bestätigt.

3.1.13 Die letzten Jahre Die New Yorker Kunstszene, vor allem der Kontakt zu Alice Baber und Richard Galef, hatte Hagedorn viele Kontaktmöglichkeiten geboten, die er nur teilweise zu nutzen wusste. Seine freundliche aber zurückhaltende Art, sein Bestreben, die Erarbeitung seiner Kunst vor kommerzielle Aspekte zu stellen, mögen beträchtlich dazu beigetragen haben, dass ihm weitere Ausstellungsmöglichkeiten verwehrt geblieben sind. Dennoch war Hagedorn zu keinem Zeitpunkt untätig und hatte sich als Immigrant beachtliche Erfolge in den USA und schließlich auch in der alten Heimat Deutschland erarbeitet. Eine besondere Verbindung ergab sich über seine Ehefrau Diana, die als Schriftstellerin Mitglied in der Vereinigung PEN war. So lernte Hagedorn den Poeten Albert Russo150 kennen und illustrierte eine seiner englischen Buchausgaben. Der Gedichtband erschien 1992 in Paris.151 Eine ähnliche Zusammenarbeit konnte 2004 wiederholt werden, als Hagedorns Graphiken für das Werk „Faulkner, ancora“152 von Mario Materassi verwendet wurden, wie aus einem Schreiben des Verlagshauses Palomar in Bari hervorging.153 Auf dem Cover des Bandes ist die Graphik „The Critic“ von Hagedorn abgebildet. Eine Ausgabe des IBM-Magazins wurde ebenfalls mit Werken von Karl Hagedorn illustriert, ebenso wie ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit dem Werk „Ex-Vortex“ illustriert wurde.154 „I would never have left, …“155 konstatierte Hagedorn an seinem Lebensende über seine Zeit in New York. Aber seiner ihm stets eng verbundenen Ehefrau Diana zuliebe kehrte er 1999 dennoch New York den Rücken. Einerseits hinsichtlich Dianas Lehrtätigkeit an der University of Pennsylvania in Philadelphia, andererseits aus familiären Verpflichtungen heraus, entschied sich das Ehepaar für einen Umzug. Für Hagedorn war diese Entscheidung nur

150 Albert Russo, geboren 1943 in der Republik Kongo, ist ein belgischer Schriftsteller. 151 Der Gedichtband vereint die französische und die englische Ausgabe in einem Band. Englischer Teil illustriert von Karl Hagedorn. Futureyes, Paris 1992. Französische Ausgabe: Dans la nuit bleu-fauve, illustriert von Ianna Andréadis. 152 Mario Materassi: Faulkner, ancora. Bari 2004. 153 Schreiben vom Verlagshaus Palomar an Karl Hagedorn, undatiert. 154 Bernd Guggenberger: Zwischen Ordnung und Chaos, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (1991). 02.02.1991. 155 Karl Hagedorn zitiert aus: Story of my Life, S. 5. 61

schwerlich zu treffen und auch nach dem Umzug nach Philadelphia fiel es ihm nicht leicht, sich dort zu akklimatisieren. Schließlich machten es ihm äußere Umstände leichter, den Ortswechsel zu akzeptieren, sofern man in diesem Zusammenhang so sprechen darf. Durch die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 wurde auch das Gebäude am Broadway in Lower Manhattan zerstört, in dem das Ehepaar Cavallo-Hagedorn seine Wohnung und das Studio eingerichtet hatte. Aus den tragischen Entwicklungen heraus konzentrierte sich Hagedorn nun auf eine professionelle Zukunft in Philadelphia. Nach kurzer Zeit fand er bereits zwei neue Galerievertretungen. Doch die letzten Lebensjahre Karl Hagedorns waren überschattet von einer niederschmetternden gesundheitlichen Diagnose; Karl Hagedorn litt an nichtbehandelbarem Speiseröhrenkrebs. Lebensmut fasste er durch die Malerei, die er bis kurz vor seinem Tod nahezu ohne Unterbrechung ausüben konnte. Obwohl es beschwerlich geworden war, hatte er an den Reisen nach Europa, in erster Linie nach Deutschland festgehalten und er beschloss, der aussichtslosen Diagnose mit Lebensfreude zu begegnen. Die im letzten Abschnitt seines Lebens entstandenen Werke geben in zarten Farben und fast tänzerischer Leichtigkeit Zeugnis von seinem ungebrochenen Lebensmut. Gerade in diesen körperlich beschwerlichen Jahren erfreuten ihn späte Ausstellungserfolge oder die Feier zu seinem achtzigsten Geburtstag, die in Nürnberg stattgefunden hatte; Gäste aus ganz Deutschland waren gekommen. Ein letztes Mal reist er im Jahr 2004 nach Deutschland, für eine Retrospektive in Neumarkt in der Oberpfalz, was er auch in seinem Lebensrückblick „The Story of my Life“ als einen wichtigen Schlusspunkt seiner Ausstellungsbiographie beschreibt.156 In eben diesen Memoiren blickt er auf ein erfülltes Leben entlang einer historischen Zeitlinie zurück. Es sei ein Leben voller Höhen und Tiefen gewesen, aber in erster Linie ein erfülltes. Seine Malerei war ihm der Lebensinhalt, die Verbindung zu seiner Ehefrau Diana bedeutete ihm Lebensfreude und partnerschaftlichen Halt. Kurz vor seinem Tod im Herbst des Jahres 2005 sagte er zu ihr: „I hope that my work will help you having a good life after my death”.157

156 Ebd., S. 4. 157 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 62

3.2 Betrachtung und Analyse des künstlerischen Werkes Karl Hagedorns von 1945 bis 2002

„Die Frage ist: ‚Was bin ich, was ist der Mensch’? Diese ist aber nicht zu beantworten. Auch Philosophen und Wissenschaftler haben keine Antwort. Deshalb sucht man weiter. Ich zitiere Picasso: ‚Ich suche nicht, ich finde’. Wir sind die Maschine, aus welcher die materielle Welt und die geistig-religiöse Welt entstammen. (Adam und Eva): Der Versuch ist eine phantastische Schöpfung. Die psychisch-geistige Konstitution, die Fähigkeit zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, lässt dem Menschen die Einsicht verlieren, dass er ein Mensch ist und kein Übermensch. Ein oberflächliches Ebenbild zu schaffen, gelingt nicht. Was ist das Generelle und ganz allgemeine Bild des Menschen? Man kann das nicht beantworten, aber versuchen, es zu visualisieren.“ Notiz von Karl Hagedorn mit der Überschrift: „Bamberg 1991 und NYC“158

Nachdem der Versuch unternommen worden war, auf der Basis der vorhandenen und erarbeiteten Forschungs- und Quellenlage das Leben Karl Hagedorns in die Strukturen einer erstmals vorgelegten Biographie zu fassen, wird in den folgenden Teilkapiteln ein Überblick über sein künstlerisches Werk zu geben versucht. Die Analyse beginnt mit der Vorstellung der frühesten erhaltenen Werke, den Silberstiftzeichnungen, die sich heute im Besitz des Philadelphia Museum of Art befinden. Daran schließt sich ein Blick auf die Jahre zwischen 1947 und 1959 an, in denen Hagedorn nicht nur die Flucht aus dem Staatsgebiet der DDR gelungen war, sondern in denen er ein Studium an der Münchner Akademie für Bildende Künste absolviert und sich stilistisch breit an den Werken der klassischen europäischen Moderne orientiert hatte. Eine Neuausrichtung und damit Fokussierung auf den künftigen eigenen Stil wird die Betrachtung der ersten Werkphase nach der Emigration geben. Eine besondere Analyse kommt den Kreisformen in den Gemälden Karl Hagedorns zu, da diese als ein Substitut für die aufgelöste äußere Gestalt des Menschen in Hagedorns Formenwelt stehen. Diese Formenwelt wird in einem eigenen Teilkapitel entschlüsselt, bevor die Entwicklungslinien im Spätwerk benannt werden. Die Betrachtung schließt mit dem Versuch, die Werke Karl Hagedorns innerhalb der Kunstgeschichte zu verorten.

158 Handschriftliche Notiz von Karl Hagedorn, möglicherweise anlässlich der Ausstellung in der Villa Dessauer in Bamberg 1991. 63

3.2.1 Die künstlerischen Anfänge

Blickt man auf das künstlerische Werk Karl Hagedorns und zieht dessen eigene Aussagen in die Betrachtung mit ein, so wird evident, dass seine Inhalte auf den inneren und äußeren Strukturen des menschlichen Körpers sowie auf den Möglichkeiten von Technik und Mechanik basieren. Die wenigen artifiziellen Einflüsse, die sich dem jungen Hagedorn boten, studierte er aber umso intensiver und er hatte versucht, ihre künstlerische Essenz in sich aufzunehmen. Die romanische Kirche St. Cyriakus159 im heimatlichen Gernrode beeindruckte ihn durch ihre klare und schwere Architektur so sehr, dass er sich auch am Ende seines Lebens noch an dieses sakrale Bauwerk erinnerte.160 In dem Künstler Otto Illies fand Hagedorn einen wohlwollenden Mentor. Er erhielt dort keinen Zeichen- oder Malunterricht, aber, und dies schilderte Hagedorn im Gespräch mit seinen Freunden als umso wichtiger, Illies teilte seine Interessen und unterstütze die Idee Hagedorns, Künstler werden zu wollen. Die eigene Bildsprache des älteren Künstlers hatte den jungen Karl Hagedorn weniger oder gar nicht beeinflusst. Aber Illies konnte die künstlerische Sichtweise Hagedorns erweitern, beispielsweise mit den Graphiken und Zeichnungen von Lyonel Feininger, die er in einer umfangreichen Sammlung bewahrte. Für Hagedorn eröffnete sich damit eine neue, moderne Formen- und Farbenwelt.161 Neben den spärlichen architektonischen und bildkünstlerischen Inspirationen und den schmalen Einblicken in das graphische Werk Albrecht Dürers, gehören die frühen Museumsbesuche in Berlin und Dresden zum kunstdeterminierten Einflussbereich des jugendlichen Karl Hagedorns.

3.2.2 Die Philadelphia-Gruppe

Die frühesten erhaltenen Zeugnisse aus Karl Hagedorns künstlerischem Werk sind vierzehn Zeichnungen, die sich heute im Bestand des Philadelphia Museum of

159 Die ottonische Stiftskirche St. Cyriakus, deren Baubeginn auf 961 datiert wird, gehörte zu dem Stift Gernrode. Die dreischiffige Emporenbasilika wurde nach einer Restauration ab 1858 in den Zustand des 10. Jahrhunderts zurückversetzt. Sie stellt zusammen mit dem Naumburger Dom sowie den Hildesheimer Kirchen St. Michaelis und St. Mariä Himmelfahrt die bedeutendsten romanischen Architekturdenkmäler im nördlichen Teil Deutschlands dar. Vgl. Paul Genrich: Die Stiftskirche in Gernrode. Berlin 1954. 160 Vgl. “The Story of my Life”, S. 1. 161 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 64

Arts befinden.162 Das Konvolut besteht aus einer Zeichnung aus schwarzer und roter Kreide, aus drei mit schwarzer Kreide, möglicherweise auch mit Kohle163 gearbeiteten Zeichnungen, sowie aus acht mit dem Silberstift auf präpariertem Papier ausgeführten Zeichnungen. Dazu kommen zwei Bleistiftzeichnungen, eine davon ist mit Wasserfarben koloriert. Die Werke sind datiert auf die Jahre 1943, 1944, 1945 und 1946. Dieser Entstehungszeitraum markiert nicht nur eine frühe künstlerische Äußerung Hagedorns in den zwanziger Jahren, es sind die frühesten, heute erhaltenen Arbeiten aus seinem Gesamtwerk. Als Soldat, eingesetzt entlang des Verlaufs der östlichen Frontlinie des Zweiten Weltkrieges, hatte Hagedorn diese Portraits von Kameraden, von Mädchen, Frauen und Jungen aus der einheimischen Bevölkerung seiner Einsatzorte, aber auch von sich selbst angefertigt. Die im Philadelphia Museum of Arts aufbewahrten Zeichnungen vermitteln einen Einblick in Hagedorns frühes bildnerisches Interesse, ergo die äußere menschliche Erscheinung,164 hier konzentriert auf das Portrait. Besonders wertvolle Zeugnisse dieser Gruppe sind drei Selbstportraits, zwei während der Einsätze, eines zu Hause in Gernrode gezeichnet. Sie geben nicht nur Zeugnis über Hagedorns intensives Studium der menschlichen Physiognomie, vielmehr sind sie ein wichtiger Hinweis auf eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Die technische und stilistische Ausführung erlaubt eine Unterteilung der Philadelphia-Gruppe in drei Teile, nach deren Abfolge auch das vorliegende Kapitel gegliedert ist. Die Zeichnungen überraschen den Betrachter mit klarer Präsenz und einer versierten Fertigkeit im Umgang mit den zu modellierenden Partien der Gesichter sowie mit der Erzeugung von Licht und Schatten. Mit frappierender Sicherheit setzt Hagedorn bildnerische Mittel ein und schafft mit wenigen Details Portraits von hoher Individualität und Wiedererkennbarkeit. Die Frische und Klarheit des Strichs machen diese Werke zu unverfälschten Zeugen

162 Ankauf durch das Museum im Jahr 2008, geführt unter den Inventarnummern 2008-237-1 bis - 14. 163 Diese Unklarheit hinsichtlich des Materials besteht auch seitens des Museums. Freundliche Mitteilung von John Ittman an die Verfasserin. — Vgl. Karl Hagedorn, in: Philadelphia Museum of Art, Collections. In: URL: http://www.philamuseum.org/collections/permanent/304779.html?mulR=1577586811|1 (Stand: 07.09.2015). 164 Hagedorn beschreibt dies auch selbst. In „The Story of my Life“ erinnert er sich daran, bereits im Alter von sieben oder acht Jahren einen Mann bei der Apfelernte beobachtet zu haben. Spontan versuchte er, diese Figur zu zeichnen, was ihm auch gelungen war. Zitat: „Drawing was more than mere object after that.” Karl Hagedorn zitiert aus: “The Story of my Life”, S. 1. 65

des künstlerischen Talents Karl Hagedorns, denn zu diesem Zeitpunkt hatte er weder Malunterricht erhalten noch eine akademische Ausbildung durchlaufen. Diese Faktoren, die besondere Entstehungszeit sowie die Tatsache, dass es sich um ein über einen langen Zeitraum unversehrt erhaltenes Konvolut handelt, zeichnen diese Werkgruppe aus und waren entscheidend für den Ankauf durch das Museum in Philadelphia.165 Die Zeichnungen der Philadelphia-Gruppe scheint zunächst nichts mit dem Hauptwerk Karl Hagedorns zu verbinden. Doch sie bieten einen frühen Beleg für die Grundlage seiner späteren Abstraktion: der menschliche Körper. Als Jugendlicher fertigte er figürliche Skizzen an,166 darauf folgte die Konzentration auf das Portrait und bis in die frühen sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein hatte Hagedorn in weiten Teilen figürlich gearbeitet oder Portraits gemalt. Ausgehend von dieser Basis konnte er schließlich einzelne physiognomische, anatomische und später auch organische Bestandteile des menschlichen Körpers in eine Abstraktion übersetzen, vermischt mit Elementen aus Technik und Elektronik, kombiniert mit teilweise plakativer Farbigkeit. Und auch in diesen ingenieurhaft konstruierten Hauptwerken bleibt die Zeichnung in Form der Bildkonstruktion und der dominanten Linie offenkundig. Komplex bleibt die Frage nach künstlerischen Vorbildern und nach der Seherfahrung Hagedorns vor und während des Entstehungszeitraums der vorliegenden Zeichnungen. Hagedorn selbst berichtet von einer ersten, prägenden Begegnung mit Werken Albrecht Dürers während seiner Schulzeit an der Oberrealschule in Quedlinburg. Fortan hatte er mit größter Bewunderung die Arbeiten des Altmeisters betrachtet und studiert,167 benennt dabei aber keine einzelnen Werke oder Bildtitel. Gerade in der Zeit des sich etablierenden Dritten Reiches, also der Zeit, zu der Hagedorn noch Schüler in Quedlinburg war, waren die Werke des Renaissancekünstlers sehr präsent gewesen. Die damit einhergehende inhaltliche Fehlinterpretation vor einem heroisierend-altdeutschen Hintergrund muss hier nicht näher erläutert werden. Im Gegensatz zu Frankreich oder Italien hatte die Zeichnung in Deutschland ab dem späten 18. Jahrhundert in besonderem Maße Bedeutung erlangt. Das

165 Freundliche Mitteilung von John Ittman an die Verfasserin. 166 Vgl. “The Story of my Life”, S. 1. 167 Ebd., S. 2f. – Vgl. “Questions and Answers”, Frage 4, S. 2. 66

Zeichnen selbst, ein künstlerischer Selbstzweck, der sich seit dem Mittelalter herausgebildet hatte,168 war in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den Schulunterricht vorgedrungen,169 so sollte Hagedorn als Schüler in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts das Anfertigen von Zeichnungen als festen Bestandteil des Lehrplans erfahren haben. Kirchner beschreibt zwar für den Ablauf des Kunstunterrichtes in dieser Zeit starre Strukturen, wonach die zu zeichnenden Motive und vor allem deren Umsetzung, auf Reifungsstufen, die ein Kind durchlaufe, basierten und damit vorgegeben waren.170 Einen Kunstunterricht mit freier Entwicklung der Motivumsetzung unabhängig von Vorgaben und Altersstufen hatte Hagedorn somit nicht genossen. Zu weiteren frühen Vorbildern neben Albrecht Dürer liegen von Karl Hagedorn keine Äußerungen vor. Sein väterlicher Freund Otto Illies (3.2.1), dessen neoimpressionistische Malerei von Emil Nolde und Lovis Corinth beeinflusst war, fertigte auch Holzschnitte nach Vorbild altdeutscher Meister an.171 Es ist somit durchaus möglich, dass Hagedorn sich bei Illies in seiner Begeisterung für Dürer bestätigt sah. Wichtige Künstler des 19. Jahrhunderts wie Philipp Otto Runge, Julius Schnorr von Carolsfeld oder Moritz von Schwind wurden und werden in Deutschland für ihre Zeichnungen hochgeschätzt,172 Zeichnungen von Peter von Cornelius, Johann Friedrich Overbeck, Carl Philipp Fohr oder Adolph von Menzel sind herausragend. Ludwig Emil Grimms Illustrationen in den Ausgaben der „Kinder- und Hausmärchen“173 seiner Brüder Jacob und Wilhelm Grimm erreichten mit diesem Buch seit dem frühen 19. Jahrhundert eine breite Bevölkerung. Was im Teilkapitel „Der erste Teil der Philadelphia-Gruppe“ zu genauer Ausführung kommt, ist eine formale Nähe Hagedorns zu der akademisch- naturalistischen Zeichnung aus dem Kreis der Nazarener. Durch die Abkehr von

168 Vgl. Heribert Hutter: Die Handzeichnung. Entwicklung, Technik, Eigenart. Wien und München 1966, S. 6. 169 Vgl. Heise, Große Zeichner, S. 5-7. 170 Vgl. Constanze Kirchner: Ästhetisches Verhalten im Kindes- und Jugendalter, in: Klaus-Peter Busse (Hg.): Kunstdidaktisches Handeln. Bd. 1. Dortmunder Schriften zur Kunst. Dortmund 2003, S. 76-110, S. 78. 171 Vgl. Lacher, Otto Illies, S. 30. 172 Vgl. Heise, Große Zeichner, S. 7. 173 Auch im Hause Hagedorn könnte es eine Ausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ gegeben haben. Jacob und Wilhelm (Brüder Grimm): Kinder- und Hausmärchen (KHM). Erstauflage. Berlin 1812. Erstauflage Bd. 2. Berlin 1815 bis 7. Aufl. letzter Hand. Göttingen 1857. 67

den gültigen akademischen Lehren an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert fanden Peter von Cornelius und die anderen Künstler dieses Kreises zu einer klaren Form der Zeichnung mit markanter Betonung der Konturen. Diese Klarheit ermöglichte diesen Künstlern das genaue Studium der Werke ihrer Vorbilder, was ihnen bisweilen auch den Vorwurf der Nachahmung einbrachte,174 besonders durch von Cornelius‘ späterer Lehrtätigkeit an den Akademien in Düsseldorf und München wurde jedoch eben dieser Stil wiederum „akademisch“. Unter Berücksichtigung von Hagedorns Bewunderung für Dürer werden die Arbeiten des Lukasbundes und der Nazarener umso wichtiger für Hagedorns frühen bildnerischen Hintergrund, da sich diese Künstlergruppe im Sinne einer angestrebten Erneuerung der Kunst an eben dieser altdeutschen Kunst orientierte, wenngleich auch mit inhaltlichem Bezug auf das Mittelalter, welcher bei Hagedorn völlig außen vor bleibt, aber dem ideologischen Hintergrund, der während Hagedorns Jugendzeit herrschte, entsprach. Auch wenn dieser reine Stil und die „altmeisterliche Sorgfalt“175 in der Ausführung Meisterleistungen der Nazarenerkunst hervorgebracht hatten, so waren sie für die bald nachfolgende Kunst der Moderne nicht wegweisend gewesen. Ab 1918 findet das linienbetonte Zeichnen der Nazarener eine Rezeption in den Werken der Vertreter der Neuen Sachlichkeit, die nach den zahlreichen individuellen Tendenzen der Moderne etwas „Reines, nach der Natur schaffen“176 wollten. Auch wenn Karl Hagedorn in einer ländlichen, strukturschwachen Umgebung aufgewachsen war und die Weimarer Republik und damit die Neue Sachlichkeit nur als Kind erfahren haben konnte, muss zeitlich und stilistisch auch die Kunst der Neuen Sachlichkeit zum formalen Hintergrund Hagedorns gezählt werden. Da nicht belegt ist, welche Werke Hagedorn zu diesem Zeitpunkt bereits kennen gelernt haben könnte, dienen die im Folgenden gezeigten Werke anderer Künstler der Gegenüberstellung hinsichtlich technischer, stilistischer oder inhaltlicher Umsetzung und formen damit den kunsthistorischen Hintergrund, vor dem Hagedorn begonnen hatte, zu zeichnen. Die herangezogenen Werke der anderen Künstler lassen das künstlerische Vermögen oder auch Unvermögen Hagedorns

174 Vgl. Ludwig Justi: Deutsche Zeichenkunst im neunzehnten Jahrhundert. Ein Führer zur Sammlung der Handzeichnungen in der Nationalgalerie. Berlin 1919, S. 46. 175 Vgl. Martin Sonneborn: Peter Cornelius‘ Zeichnungen zu Goethes Faust aus der graphischen Sammlung im Städel. Kat. Ausst. Frankfurt am Main 1991, S. 21. 176 Vgl. Sergiusz Michalski: Neue Sachlichkeit. Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919-1933. Köln 1992, S. 14-20. 68

zum Entstehungszeitpunkt dieser Zeichnungen evident werden und stellen die eingesetzten künstlerischen Mittel in den Vordergrund der Betrachtung. Der frühe Entstehungszeitraum unter den zeithistorischen Umständen, die zeitliche Dichte und ihre inhaltliche Homogenität lassen die Zeichnungen der Philadelphia-Gruppe als ein Zeugnis der frühen künstlerischen Handschrift Hagedorns und als in ihrer Bedeutung als seine frühesten erhaltenen künstlerischen Äußerungen als umso wertvoller erscheinen.

3.2.2.1 Der erste Teil der Philadelphia-Gruppe

Die älteste Arbeit dieser Gruppe ist das „Portrait der Schwester des Künstlers, Ottilie in Gernrode“ (Abb. 1) aus dem Jahr 1943, gefolgt von dem „Profilportrait einer russischen Frau“ (Abb. 2) aus 1944. Diese beiden Arbeiten sind stilistisch, vor allem hinsichtlich Bildkomposition und Gestaltung der Bildnisse selbst, eng verbunden mit dem „Portrait eines deutschen Funkers aus der anderen Truppe“ (Abb. 3) von 1943 und mit einem „Selbstportrait an der russischen Front“ (Abb. 4) ebenfalls aus 1943. Im Stil dieser Arbeiten ist auch das 1943 entstandene Reihenportrait „Sechs deutsche Soldaten“ (Abb. 5) gehalten, welches zwar motivisch von den anderen Werken abweicht, hinsichtlich seiner Ausführung jedoch zur ersten Gruppe zu zählen ist. Alle Portraits sind individuell und Hagedorn berücksichtigt physiognomische Besonderheiten, sodass von einem hohen Grad an Wiedererkennbarkeit ausgegangen werden soll und seine Portraits deutlich von dem Begriff des Phantasieportraits oder der Tronie abzugrenzen sind.177 Gerade das Portrait der Schwester kann ein Hinweis auf die Eindrücke aus Otto Illies‘ Haus sein, dort konnte Hagedorn das Portrait von Otto Illies‘ Tochter Heilwig (Abb. 43) gesehen haben, deren Bildnis ebenso im strengen Profil angelegt ist. Hagedorn mag bei Illies auf die Relevanz einer klaren Linienführung für ein signifikantes Bildnis aufmerksam geworden sein, spielt diese in den wenigen Bleistiftzeichnungen von Illies doch eine markante Rolle. Dessen „Portraitstudie Hans Delbrück“ (Abb. 44) um 1910 zeichnet sich aus durch eine sehr bestimmte Linienführung und daneben auch durch auffällig gesetzte Schraffuren. Das Portrait der Schwester transportiert als durchgängiges Profil, mit

177 Vgl. Dagmar Hirschfelder: Tronie und Portrait in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Berlin 2008, S.100-105. 69

starr geradeaus gerichtetem Blick und durch die ernsthafte Mine der Dargestellten eine Strenge und nüchterne Sachlichkeit, welche dem Portrait eine gewisse Stärke verleiht. Um 1817/18 hatte Carl Philipp Fohr ein Gesichtsbild seines Freundes Peter von Cornelius (Abb. 45) angefertigt. Auch Fohr hatte sich der bildenden Kunst zunächst als ein Autodidakt genähert und erst spät an der Münchner Akademie178 Malerei studiert. Die besonderen Merkmale des nazarenischen Bildnisses, wie die Konzentration auf das Gesicht und der neutrale Hintergrund, sind auch für Hagedorns Zeichnungen wichtige Mittel der Darstellung. Betrachtet man diese Arbeit neben den beiden Zeichnungen Hagedorns, so sind gestalterische Ähnlichkeiten durchaus erkennbar. Im Gegensatz zu Cornelius‘ glühenden Blick drücken Hagedorns Modelle jedoch Introvertiertheit, Sorge und Ernsthaftigkeit als Folge des Entstehungskontextes aus. Allen Portraits gemeinsam ist die vernachlässigte Darstellung der Frisur. Die Hinterköpfe sind lediglich als eine Vervollständigung der Kopfdarstellung angedeutet, diese Partien bleiben hell, flächig und mit nur wenigen Strichen wird auf eine Haarfülle verwiesen. Das „Portrait eines deutschen Funkers von der anderen Truppe“ aus dem Jahr 1943 ist ebenso wie das Bildnis der Schwester auf der Mittelachse des Blattes angesiedelt und diesmal im Dreiviertelprofil gezeichnet; damit rückt diese Darstellung formal dem Portrait „Peter von Cornelius“ nahe. Aus dem Kreise Overbecks in Rom sind die gezeichneten Portraits Friedrich Wasmanns zu nennen, welchen die starke Konzentration auf das Antlitz in den Zeichnungen Hagedorns gleicht, beispielsweise „Die Schwester des Künstlers Minna Wasmann“ (Abb. 46) oder „Bildnis eines jungen Mädchens“ (Abb. 47). Der studienhafte, erforschende, also bei Hagedorn pseudoakademische Umgang mit den Modellen, ist ein bezeichnendes Merkmal der Zeichnungen der Philadelphia-Gruppe. Der angeführte Vergleich mit einer Portraitzeichnung von Carl Philipp Fohr zeigt bereits die formale Nähe Hagedorns zu Formensprache und Stilistik der Nazarener auf. Fohrs Arbeiten zeichnen sich aus durch eine schlichte Umsetzung, die von Bewunderung für sein Modell geprägt ist. Diese schwärmerische Haltung tritt auch in weiteren Werken Fohrs in den Vordergrund, wie in „Selbstbildnis“ (Abb. 48) und kann in Hagedorns Werken mit dem zumeist

178 Vgl. Anette Frese: Zu Carl Philipp Fohrs Portraitzeichnungen, in: Jörn Bahns (Hg.): Carl Philipp Fohr und seine Künstlerfreunde in Rom. Kat. Ausst. Heidelberg 1996, S. 12-31. 70

traurigen oder besorgten Ausdruck in den dargestellten Gesichtern vergleichen werden. Wie Hagedorn, hatte sich auch Fohr der Zeichnung als ein Autodidakt genähert, was Hagedorns Arbeiten der Naturnähe und der anfänglichen Aufbruchsstimmung der Nazarener179 geistig näher bringt. Und auch die Werke eines Peter von Cornelius zeigen diese entschiedene Ausprägung der Linie und des klaren Umreißens der Form, so festzustellen in „Knabenkopf“ (Abb. 49). Während alle weiteren Arbeiten der Philadelphia-Gruppe Einzelportraitstudien sind, fällt die Zeichnung „Profilportraits sechs deutscher Soldaten an der russischen Front“ aus 1943 durch eine Besonderheit auf. Das kleine Querformat zeigt eine Portraitreihung sechs junger Männer im Profil. Lediglich bei der vorderen Person wird ansatzweise deutlich, dass es sich um Soldaten handelt, da eine Schulterklappe180 auf der linken Schulter, sowie ein Abzeichen auf dem linken Kragenspiegel181 zu erkennen sind. Aus heutiger Vorstellung mag eine künstlerische Aktivität im Froneinsatz genauso unwahrscheinlich klingen wie die Gelegenheit für den Künstler, seine Kameraden zu portraitieren. Eine handwerkliche oder künstlerische Betätigung der Frontsoldaten wurde zu dieser Zeit jedoch bisweilen sogar behördlich gefördert, es gab regelmäßig erscheinende Hefte mit Anleitung zum kunsthandwerklichen Arbeiten,182 Schriften von Erich Parnitzke183 oder Robert Böttcher184 waren direkt an den Frontsoldaten gerichtet und formulierten ideologisch konforme Vorschläge für die Freizeitgestaltung während des kriegerischen Einsatzes. Im Berliner Verlag Gebrüder Mann ist

179 Vgl. Gerhard Bott (Hg.): Meister der Zeichnung. Zeichnungen und Aquarelle aus der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums. Kat. Ausst. Nürnberg 1992, S. 266 und 268. 180 Die Schulterklappe als Teil einer Uniform zeigt die Nummer des Verbandes, dem der Soldat zugehörig ist an. Sie ist umlaufend paspeliert und in der jeweiligen Waffenfarbe gestaltet. Waffenfarben zeigen die jeweilige Waffengattung an. Vgl. Richard Knötel: Farbiges Handbuch der Uniformkunde. Ergänzt und neu bearbeitet von Herbert Knötel und Herbert Sieg. 2. Aufl. 2 Bde. Bd. 2. 1994. 181 Auf dem Kragenspiegel war das Rangabzeichen des Soldaten angebracht, sodass dessen Dienstgrad ersichtlich wurde. 182 Vgl. Erich Parnitzke: Soldaten werken. Feldzeitung von der Maas bis an die Memel. Anleitung zum Laienschaffen, S. 1-6. Ab 1942 zunächst in Norwegen in Einzelbänden erschienen. In: URL: http://www.bdk-online.info/historische-quellen-2/kunsterziehung-im-nationalsozialismus/ (Stand: 23.05.2016). 183 Der Kunstpädagoge Erich Parnitzke gehörte der Truppenbetreuung der Deutschen Wehrmacht an und verfasste Texte und Anleitungen für „Soldaten werken.“ 184 Die Texte des Autors Robert Böttcher richteten sich in Teilen ebenfalls direkt an Frontsoldaten. Robert Böttcher: Zeichenschule. Eine organische Wegführung für die bildnerische Arbeit. Berlin 1943. (Auf der Titelseite der Erstausgabe von 1943 ist ein Selbstbildnis von Albrecht Dürer abgebildet: Albrecht Dürer, „Selbstbildnis mit Binde“, 1491, Federzeichnung, Universitätsbibliothek Erlangen). 71

beispielsweise die Reihe „Der Kunstbrief“185 erschienen. Worin regelmäßig einzelne Werke oder eine künstlerische Position in „einer sorgfältigen, voraussetzungslos-allgemeinverständlichen Beschreibung“186 vorgestellt wurden und ausdrücklich für die Lektüre der Soldaten im Einsatz bestimmt waren. In der 1944 erschienenen Ausgabe Nr. 15 „Das Antlitz eines Jugendbundes“187 wurde ausführlich das Leben und Werk Carl Philipp Fohrs beschrieben. Es ist denkbar, dass Hagedorn diese oder andere Ausgaben dieser Reihe zugänglich waren. Hagedorn setzte das Prinzip der Personenreihung formal wie inhaltlich ein, da das gemeinsame Tun dieser Personen nur durch innere Handlung deutlich wird und Hagedorn damit seine, aber vielleicht auch eine militärische Vorstellung von Einheit und Geschlossenheit visualisiert. Die Reihung, welche zumeist entweder in Frontalität, wie in Leonardo da Vincis „Das letzte Abendmahl (Abb. 50) oder in nebeneinander gesetzten oder gestaffelten Profilen auftritt, wie es Albrecht Altdorfer in seinen Einzeldarstellungen im „Triumphzug Kaisers Maximilians I“ (1512-1515) nutzte, oder genauso Lucas de Heere in „Dreifaches Profilportrait“ (Abb. 51) und Friedrich Meier in „Vier Brüder Gerlach“ (Abb. 52), wusste Hagedorn ebenfalls korrekt einzusetzen.188 Formal und inhaltlich dem Gruppenbild nahe verwandt ist das Doppelbild. Es hat die Beziehung zwischen den beiden Dargestellten zum Hauptmotiv, beispielsweise Eheleute oder Geschwister. Ein Doppelbildnis kann als Diptychon oder auf einer Tafel angelegt sein. Sieht man sich Ludwig Emil Grimms Doppelbildnis „Doppelportrait der Brüder Grimm“ (Abb. 53) von 1843 an, so ist erneut die Reihung der Profile das auffällige Bildmerkmal. In dem Gruppenbildnis „Scharff, Stein, Thomas“ (Abb. 54) von 1817/18 zeigt Ludwig Emil Grimm ebenfalls eine Reihung, die drei Modelle sind hier jedoch in das Dreiviertelprofil gerückt. Ein Merkmal des Freundschaftsbildes ist es, die innere Einheit der Dargestellten untereinander durch das künstlerische Mittel der Reihung von Profilen, wie es Hagedorn nutzte, oder Dreiviertelprofilen, wie in Grimms Arbeit, zu visualisieren.189 Das Freundschaftsbild, bereits seit der

185 Carl Georg Heise (Hg): Der Kunstbrief. Eine kleine Feldbücherei. Berlin 1943-1949. 186 Ebd., Klappentext, Rückseite, Bd. 15 (und auf jeder anderen Ausgabe dieser Reihe), Berlin 1944. 187 Vgl. Ludwig Grote: Das Antlitz eines Jugendbundes. Zeichnungen von Carl Philipp Fohr, in: Ebd., Bd. 15. Berlin 1944. 188 Vgl. Art. „Reihung“. In: Harald Olbrich (Hg.): Lexikon der Kunst. 7 Bde. Bd. 6. Leipzig 2004, S. 85f. 189 Vgl. Klaus Lankheit: Das Freundschaftsbild in der Romantik. Heidelberg 1952, S. 124. 72

italienischen Renaissance bekannt, stellt eben diese freundschaftliche Verbundenheit der Dargestellten in das Zentrum. In Folge der Herauslösung des Individuums aus der Anonymität der Masse mit dem ausklingenden Mittelalter, formierte sich auch der Begriff der Freundschaft neu. Jedoch zeigen entsprechende Darstellungen des 16. und des 17. Jahrhunderts lediglich Beziehungen zwischen Personen, deren Gemeinsamkeit auf Errungenschaften in Forschung oder Lehre fußt.190 Das hierarchische Denken des Barock geht nicht konform mit dem Wesen des Freundschaftsbildes,191 sodass dieses Genre erst im 18. Jahrhundert, vor allem mit der in England aufkommenden Empfindsamkeit, einen bedeutenderen Platz innerhalb der Portraitmalerei einnimmt. Zunächst noch auf den Adel bezogen, entwickelte sich das Freundschaftsbild dann innerhalb der Romantik in Deutschland zu einer eigenen Bildgattung, wo es auch vom Adel auf das Bürgertum ausgeweitet werden konnte.192 Lankheit beschreibt eingehend Genese und Intention des Freundschaftsbildes für die genannten Epochen und im Besonderen dessen Bedeutungsgehalt in der Romantik.193 Während die Frühromantiker die Bildgattung des Freundschaftsbildes noch weitgehend als gegenseitiges Portrait in Ateliersituation oder symbolhafter Landschaft verstanden hatten,194 so nahm das Freundschaftsbild innerhalb der Kunst der Nazarener eine kunsthistorisch einzigartige Sonderstellung ein. Carl Philipp Fohr hatte nach seiner nur kurzen Schaffenszeit eine ganze Reihe an Arbeiten dieser Gattung hinterlassen wie beispielsweise die Arbeit „Fohr mit zwei Freunden und Grimsel“ (Abb. 55). Im Kreis der Nazarener um Peter von Cornelius wurden eigene Bildkriterien für das Freundschaftsbild formuliert, wie das kleinere Format oder der nicht repräsentative Charakter, was auch die vorliegende Zeichnung Hagedorns formal berücksichtigt. Für die Darstellung selbst nutzte Hagedorn das Prinzip der einseitigen Reihung von Profilen, die sich so nahestehen beziehungsweise sich so eng überlagern, dass in der Realität kein

190 Ebd., S. 24-30. 191 Ebd., S. 45. – In Bezug auf die Hierarchien, die im Barock besonders für das Gruppenbildnis verbindlich geworden sind: „Die Gleichwertigkeit der Erscheinung ist aufgehoben“ vor allem in Betrachtung von entsprechenden Bildnissen von Rembrandt und Holbein d. J. Vgl. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. 9. Aufl. München 1948, S. 140. 192 Vgl. Lankheit, Freundschaftsbild, S. 45. 193 Ebd. 194 So beispielsweise Georg Friedrich Kersting, Der Maler Friedrich in seinem Atelier, 1811, Öl auf Leinwand, Hamburger Kunsthalle. 73

Raum für Schultern oder Brust vorhanden wäre, wie dies bei Ramboux‘ Arbeit „Die Brüder Eberhard“ (Abb. 56) der Fall ist. Neben dem sehr engen Beieinanderstehen und dem Überlagern der Gesichter tragen auch alle Dargestellten bei Hagedorn einen ähnlichen Haarschnitt, wie es Soldaten ohnehin gemein ist. Im Freundschaftsbild kann auch die Gestaltung und Farbgebung der Frisuren Einfluss auf die Erscheinung von Einheit oder Individualität geltend machen. Josef Eduard Teltscher verbindet somit die „Drei Freunde“ (Abb. 58) bereits durch die dunkle, lockige Haarfrisur. In einigen inhaltlichen Punkten grenzt sich Hagedorns Arbeit von den Prinzipien des Freundschaftsbildes ab, so gilt die herbeigeführte Zweckgemeinschaft von Soldaten nicht als tiefe Freundschaft, wenngleich eine solche natürlich aus der Kameradschaft heraus entstehen kann. Durch Hagedorns Benennung der Dargestellten mit Dienstgrad in verschiedenen Rängen im Bild entfällt zudem die Aufhebung jeglicher Hierarchie - wie das besonders das gegenseitige Portrait von Peter von Cornelius und Johann Friedrich Overbeck (Abb. 57) zeigt - die ein weiteres unverzichtbares Kriterium für das Freundschaftsbild ist.195 Abweichend von der Bezeichnung „Freundschaftsbild“ wäre in diesem Fall die Einführung des Begriffes „Kameradenbild“ eine genauere. Hagedorn zeigt bereits in diesen frühen Arbeiten elaborierte Details wie eine erhöhte Plastizität des unteren Lidrandes der Augen, indem er diesen mit einer sichtbaren weißen Linie vom Auge und vom Gesicht absetzt. Eine gestalterische Möglichkeit, um dem Auge mehr Größe und Ausdruck zu verleihen. Sieht man sich Albrecht Dürers Portrait des „Hanns Dürer“ (Abb. 59) an, so nutzte dieser eben diese Möglichkeit, um das Auge klarer und größer erscheinen zu lassen. Dieser erste Teil der Philadelphia-Gruppe wird komplettiert von einem „Selbstportrait an der Russischen Front“ aus dem Jahr 1943. Abgesehen von den inhaltlichen und künstlerischen Werten ist diese Arbeit, zusammen mit einem weiteren Selbstportrait aus demselben Jahr, zudem das älteste, heute erhaltene Selbstportrait Karl Hagedorns. Im Vorangegangenen wurden die Zeichnungen Hagedorns hinsichtlich der darstellerischen Mittel in eine vor allem auf das frühe 19. Jahrhundert konzentrierte Tradition einer akademischen und naturalistischen Zeichenkunst

195 Vgl. Brigitte Heise: Johann Friedrich Overbeck, das künstlerische Werk und seine literarischen und autobiographischen Quellen. Köln 1999, S. 98-100. 74

eingebettet. Vergleiche aus dem 15. beziehungsweise 16. Jahrhundert (da Vinci und Dürer) untermauern zudem Hagedorns selbst benanntes Vorbild Dürer und verifizieren durch die enge Bindung der genannten Künstler des 19. Jahrhunderts an die Werke Dürers und dessen Zeit zum einen die Verbindungslinie von Dürer über die Nazarener zu Hagedorn und geben zum anderen Ausblick auf die Kunst der Neuen Sachlichkeit als Hagedorns zeitlichen Hintergrund. Die Künstler, deren Werke alsbald unter dem Begriff der „Neuen Sachlichkeit“ manifestiert wurden, weisen formale Anklänge an die Malerei der Frührenaissance, an altdeutsche Kunst und an klassizistische Linienführung auf.196 Besonders relevant wurden Selbstbildnis und Bildnis, auch das des „einfachen Menschen“, bevorzugt mit Konzentration auf das Gesicht und vor neutralem Hintergrund, wie es für die (Freundschafts-)bildnisse der Nazarener bezeichnend war. Setzt man rückblickend noch einmal Fohrs Portrait „Peter von Cornelius“ und Hagedorns „Funker aus der anderen Truppe“ aber auch sein „Selbstbildnis an der russischen Front“ nebeneinander und fügt „Ingenieur D.“ (Abb. 60) von Otto Dix hinzu, so werden diese Verbindungslinien deutlich.

3.2.2.2 Der zweite Teil der Philadelphia-Gruppe

Neben dem weiteren „Selbstportrait, einen Silberstift haltend, an der Russischen Front“ (Abb. 6) aus 1943 gehören zum zweiten Teil die Blätter „Ukrainisches Mädchen“ (Abb. 7) aus 1943, „Russischer Jugendlicher“ (Abb. 8) und „Portrait eines jungen russischen Mädchens“ (Abb. 9) beide aus 1944. In seinem zweiten Selbstportrait zeichnet Hagedorn sich mit einem (Silber-)stift in der Hand und einem Blatt Papier vor sich. Diese Zeichnung ist damit die früheste erhaltene Äußerung seines Selbstverständnisses als Künstler. Das als Bruststück im Dreiviertelprofil gearbeitete Bildnis mit dem Titel „Ukrainisches Mädchen“ aus dem Jahr 1943 gibt den titelimmanenten Verweis auf die Ukraine als Entstehungsort, zusammen mit dem Entstehungsjahr stimmt das auch mit dem Verlauf der Einsatzgebiete Hagedorns überein.197 Es besteht die Möglichkeit, dass Hagedorn - als ein Bewunderer Dürers - das frühe Selbstportrait Dürers (Abb. 62) bekannt gewesen war. Wenn auch

196 Vgl. Wieland Schmied: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus in Deutschland 1918- 1933. Bielefeld 1969, S. 14. 197 Vgl. Karl Hagedorn: handgezeichnete Karte der Einsatzorte während des Zweiten Weltkrieges 1939-1945. 75

spiegelbildlich, ist hier eine Ähnlichkeit zunächst in der Anlage des Bildes zu vermerken. Auch Hagedorn nutzt die Ansicht im Bruststück im Dreiviertel- portrait. Dürer hatte sich selbst mit einem wachen und offenen Blick, der aus dem Bild hinausführt, dargestellt, was auch Hagedorns Modell tut, jedoch mit sorgenvollem Blick. Beide Darstellungen verbindet ein Fokus auf die Ausführungen von Haaren und Gewand. Bei Dürer wird der Betrachter jeder einzelnen Haarsträhne gewahr, die der Künstler zwar ungleich feiner als Hagedorn gestaltet hatte, dennoch zeigt auch Hagedorn in dieser Darstellung, dass er befähigt ist, die Struktur des Haares zu erfassen. In der Behandlung des Oberhemdes zeigt Dürer feinste Falten, vor allem entlang der Ärmel und er gestaltete das Gewand mit feinen Schraffuren und Schattierungen aus. Hagedorn zeigt, dass er die Form der weiten Oberbekleidung erfassen und wiedergeben kann. Das für Dürer elementare Verhältnis von Körper und Gewand bleibt bei Hagedorn jedoch marginal. Das Bildnis mit dem Titel „Russischer Jugendlicher“ aus dem Jahr 1944 ist oben rechts beschrieben mit den Worten „23. Januar 1944, Russischer Junge aus…“, das Präfix des Ortsnamens ist nicht lesbar, das Suffix lautet „-topol“. Folgt man Hagedorns selbstgezeichneter Landkarte, so hat er sich zu diesem Zeitpunkt in einem Gebiet zwischen Dnjepropetrovsk, Nikopol und Nikolajev, jeweils Ukraine, aufgehalten. In diesem Gebiet lauten viele Ortsnamen auf das Suffix „- topol“, das Portrait mag also dort entstanden sein, wie auch das „Portrait eines jungen russischen Mädchens“. Dieses Profilportrait ist auf der Mittelachse des Blattes angelegt und zeigt ein junges Mädchen im Schulterstück. Sieht man sich George Grosz‘ „Mädchenbildnis“ (Abb. 63) von 1924 an, so erkennt man in der zwanzig Jahre vor Hagedorns Blatt entstandenen Zeichnung eine nicht nur ähnliche Frisur, sondern ebenfalls eine Darstellung im verlorenen Profil, womit Hagedorns Arbeit erneut auch in den bereits benannten zeitlichen wie kunsthistorischen Hintergrund eingebunden werden kann.

3.2.2.3 Der dritte Teil der Philadelphia-Gruppe

Das Portrait mit dem Titel „Franz Walch aus Innsbruck“ (Abb. 10) von 1943 öffnet den Blick auf eine in dieser Gruppe singuläre Technik. Hagedorn hatte das Portrait des Kameraden mit Bleistift gezeichnet und mit Wasserfarben koloriert.

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Die Sonderstellung des Werkes wird unterstrichen durch die feine Ausgestaltung des Portraits. Das Bildnis des „Fünfzehnjährigen russischen Mädchens“ (Abb. 11) aus dem Jahr 1944 zeigt erneut eine Darstellung im Dreiviertelprofil, die auf der Mittelachse des Bildes angesiedelt ist. Direkt fällt dem Betrachter auf, dass diese Darstellung wesentlich weicher erscheint als die vorherigen. Erneut setzte Hagedorn Farbe ein und arbeitete mit roter und schwarzer Kreide. Vor allem durch den Einsatz der roten Kreide erhält das Portrait diese warme Ausstrahlung, das Gesicht erscheint deutlich stärker ausgearbeitet als das des „Ukrainischen Mädchens“, welches durch den Gebrauch des sehr weichen Bleistifts ebenfalls eine weichere Gestaltung aufweist. Durch diese Drei-Ton-Technik198 erreicht Hagedorn im Vergleich zu den anderen Zeichnungen neue Akzentuierungen, neue Tonwerte und weichere Übergänge. Mit gewisser Sicherheit setzt er die rote Kreide vor allem dazu ein, dem Gesicht Volumen zu verleihen. Betrachtet man Peter Paul Rubens‘ Portrait „Isabella Brant“ (Abb. 64), so wird deutlich, dass die rote Kreide eingesetzt wurde, um Stirn, Nase, Kinn und Wangen zu modellieren. Das Inkarnat erscheint porzellanartig durchscheinend, was der Darstellung hohe Attraktivität verleiht. Während Rubens durch die rote Kreide einen frischen und unmittelbaren Ausdruck erschafft, nutzte Hagedorn diese vor allem, um dem Gesicht des Mädchens Volumen zu verleihen. Ein Vergleich mit einer Arbeit von Hans Thoma (Abb. 65) ergibt, dass Hagedorn es vermochte, Varianten wie ein um den Kopf gelegtes Tuch korrekt anzulegen, dass er dessen Faltenwurf erkennt und mit dem nötigen, zumindest für eine Handzeichnung ausreichenden, Binnenlineament, wiedergeben kann. Ebenfalls mit schwarzer Kreide gearbeitet ist das Portrait des „Russischen Jungen mit Mütze“ (Abb. 12). Trotz der präzisen Linienführung entlang des Profils und auch am Ohr, lässt die Binnengestaltung auf einen schnellen Arbeitsprozess schließen. Angesiedelt in der rechten unteren Bildecke, ist das Portrait annähernd bildfüllend auf der Mittelachse des hochformatigen Blattes angelegt. Das Gesicht bildet zwar den Mittelpunkt, aber im Gegensatz zu den anderen Zeichnungen

198 Die Drei-Ton-Technik hatte sich im Italien des frühen 16. Jahrhunderts entwickelt. Sie ermöglicht einen deutlich höheren Grad an Lebendigkeit in der zeichnerischen Gestaltung der Haut. Vgl. Geneviève Monnier: Interesse an der menschlichen Gestalt, in: Jean Leymarie/Geneviève Monnier/Bernice Rose: Die Zeichnung. Entwicklungen – Stilformen – Funktion. Genf 1980, S. 164. 77

dieser Gruppe sind die Kopfbedeckung, darunter die Haare und auch die Oberbekleidung deutlich detaillierter gearbeitet. Dazu trägt das weiche Malwerkzeug bei. Adolph von Menzel hat in dem „Bildnis einer Dame mit Hut“ (Abb. 67), 1881 ebenfalls schwarze Kreide genutzt. Das in das Dreiviertelprofil gedrehte Gesicht ist vollständig erfasst und verfügt über eine markante Profillinie und Modellierung von sehr sicherer Hand. Den Mittelpunkt der Darstellung beschreibt jedoch der Hut mit seiner Hutzier. Ohne konturierende Linien stellt Menzel die Stofflichkeit und die Materialität der einzelnen Komponenten in den Vordergrund. Mit sehr dichten und kurzen Strichen bekränzt er die Hutkrempe, die zylindrische Krone ist nicht von festen Konturen umgeben, sondern derart fein-fedrig gestaltet, dass der weiche Stoffbezug die Anmutung von Samt erhält. Hagedorn nutzte eben diese Technik in der Ausführung des Fellkragens des „Jungen mit Mütze“. Damit erzeugt er den Eindruck von weichem, dichten Fell, indem er auf klare Konturen verzichtet und an deren Stelle kleine gebogene Linien dicht nebeneinander und in bis zu vier Reihen platziert. Klare Konturen zeigt Hagedorn hingegen in der Gestaltung der Kopfbedeckung des Jungen. Auch in Friedrich Overbecks „Selbstbildnis“ (Abb. 68) ist deutlich erkennbar, dass trotz sorgfältiger Beobachtung und Formenstrenge die Konzentration auf dem Gesicht und dem Ausdruck lag. Das Barett ist, wie es auch Hagedorn gearbeitet hatte, klar umrissen, jegliche Binnengestaltung aber fehlt. In seinem „Selbstportrait“ (Abb. 14) aus dem Jahr 1946 hatte Hagedorn ganz ähnlich gearbeitet wie im Bildnis der Schwester (Abb. 13). Von unten links lässt er sein Bildnis auf dem annähernd quadratischen Blatt erscheinen, sodass das schräg gehaltene Gesicht die Mittelachse überlagert. Der fragende Blick in diesem letzten Bildnis der Philadelphia-Gruppe transportiert die Umstände, denen Hagedorn sich nach seiner Kriegsheimkehr ausgesetzt sah und gleichzeitig spiegelt sich darin die Frage nach der Zukunft, nach der Realisierbarkeit seiner Idee, eines Tages als Künstler leben und arbeiten zu können.

Dass die Zeichnungen der Philadelphia-Gruppe hinsichtlich ihrer Inhalte kunsthistorisch nicht innovativ sind, ist deutlich ablesbar. Vielmehr zeichnen sich diese Arbeiten aus durch ihre Unmittelbarkeit und sind Beleg für Hagedorns ungeschultes, künstlerisches Auge und Talent. Zu betonen bleibt in diesem Kontext eine gewisse Sicherheit Hagedorns im Umgang mit den

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Darstellungsmitteln. Somit gelang ihm ein linienbetonter Stil, innerhalb dessen er mit unterschiedlichen Schraffuren und Verwischungen Tonwertabstufungen erzielen konnte und auch korrekte Ansätze in der Erzeugung von Volumina mit Hilfe von Licht und Schatten zeigt. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln war es Hagedorn darüber hinaus gelungen, individuelle physiognomische Merkmale zeichnerisch umzusetzen. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass er zum einen über die Befähigung zum Umgang mit verschiedenen Zeichengeräten verfügt, also Bleistift, Kohle, Kreide, Lavierung und Silberstift sicher einsetzen konnte und dass er zum anderen gerade mit dem Silberstift ein schwieriges, kaum Korrekturen zulassendes Gerät zu seinem wichtigsten Werkzeug gewählt hatte.

3.2.3 Die Jahre 1947 bis 1959

Trotz der widrigen Umstände nach Kriegsende hatte Karl Hagedorn weder seine Zukunftspläne aufgegeben, noch hatte er aufgehört zu zeichnen. Die strenge Überwachung des Arbeitslebens aber auch des privaten Daseins durch die im elterlichen Wohnhaus präsenten Soldaten, erschwerten es ihm jedoch, sich dem Zeichnen zu widmen.199 Der Gedanke, die Heimat aufzugeben wurde damit immer vordringlicher und spätestens der Volksaufstand des 17. Juni 1953 veranlasste Hagedorn schließlich zur Flucht in die BRD. Im Folgenden wird der Blick auf das nach dieser Flucht entstandene Werk beziehungsweise auf die heute aus den Jahren 1947 bis 1959 erhaltenen Arbeiten gelenkt.

3.2.3.1 Zeichnungen ab 1950

Über den genauen Umfang Hagedorns künstlerischer Produktion aus den Jahren 1947 bis 1953 liegen keine Hinweise vor. Hagedorn selbst vermerkt, dass er mit der Flucht 1953 weite Teile seines damaligen Besitzes zurückgelassen habe.200 Somit sind heute aus dem Jahr 1950 drei Zeichnungen erhalten, die sich in Technik und Stil von den besprochenen Arbeiten der Philadelphia-Gruppe unterscheiden. Die Skizze zweier Mädchen (Abb. 69) ist als eine Momentaufnahme zu bewerten, von großer Flüchtigkeit markiert, dennoch sicher in der Anlage. Die Tuschezeichnung „Alter Mann“ (Abb. 70) zeigt ein mit starken

199 Ebd. 200 Ebd., S. 3. 79

Schraffuren und von Hell-Dunkel-Kontrasten determiniertes Portrait einer männlichen Person. Bildfüllend setzt sich das Portrait von einem netzartig gestalteten Hintergrund ab, der dem Bildnis räumlichen Halt verleiht. Im Gegensatz zu den akademischen, nachahmenden Portraits der Philadelphia- Gruppe zeigt Hagedorn in diesem Bildnis eine freiere Hand und schafft bis auf wenige Ausnahmen Konturen allein durch das Gegeneinandersetzen unterschiedlicher Schraffuren. Das Portrait erfährt eine intensive Gestaltung, der Ausdruck der Person, der zwischen Entsetzen, Wut und Todesnähe vibriert, ist bilddominierend. Die Gestalt des Todes in „Ritter, Tod und Teufel“ (Abb. 88) aus 1513 des von Hagedorn verehrten Dürer zeigt einen ähnlichen Gesichtsausdruck mit nach oben gewendeten Augen und offenem Mund. Dürer hatte das Angesicht des Todes mit starken Schraffuren gearbeitet, das Bildnis hebt sich von einem Hintergrund aus eng verwobenen, sich kreuzenden Linien ab. Ob sich Hagedorn auf ein kunsthistorisches Vorbild bezogen201 oder einen ihm bekannten älteren Herrn portraitiert hatte, kann nicht belegt werden. Auch wenn das Abbild junger Menschen in Vielzahl die Portraitmalerei und die Bildnisstudie bestimmt, so ist die Darstellung des gealterten Menschen zwar zumeist dem jeweils gültigem Schönheitsideal entzogen, offenbart aber ein größeres künstlerisches Potenzial als die bloße Wiedergabe idealschöner Antlitze202 und zeigt, dass die Idee des Künstlers von Körperlichkeit sich nicht in diesen erschöpft.203 In „Kartenspieler“ (Abb. 74) aus 1951 und in dem bereits erwähnten Bildnis „Alter Mann“ (Abb. 61) aus 1959 greift Hagedorn das Motiv eines gealterten Menschen erneut auf.

3.2.3.2 Die frühesten, heute erhaltenen Ölgemälde

In den frühen Jahren hatte sich Hagedorn in erster Linie der Zeichnung gewidmet, vor allem auch weil die für eine Zeichnung nötigen Materialien leichter zugänglich und auch einfacher mitzuführen waren, so beispielsweise in den Kriegseinsatz. Dennoch liegen erste Ölgemälde ab 1949 vor, die nun nähere Betrachtung finden sollen.

201 Vgl. auch die Stellung der Augen in Peter Paul Rubens „Der sterbende Seneca“, 1612, (Abb. 72). 202 Albrecht Dürer: „Die Mutter des Künstlers“, 1514, (Abb. 73). 203 Vgl. Bärbel Witt-Braschwitz: Greise Heilige in der italienischen Malerei des 16. und des 17. Jahrhunderts: zur frühneuzeitlichen Konstruktion des heiligen Körpers. Phil. Diss. Hamburg 2012, S. 7f. 80

3.2.3.2.1 Impressionistische Einflüsse „Familienportrait“ und „Stillleben“ Das erste Ölgemälde aus Hagedorns heute erhaltenem Werk ist ein kleines Querformat ohne Titel aus dem Jahr 1949, das hier als Familienportrait benannt werden soll. Hinsichtlich der Konstellation des Bildpersonals ist es denkbar, dass Hagedorn seine eigene Familie portraitiert hatte. Das querformatige Bild (Abb. 75) zeigt eine Frau und zwei Männer in einer schlichten Wohnumgebung. Die Frau und der junge Mann sind im Profil dargestellt, der ältere Mann am Tisch dagegen wird en face gezeigt. Der Raum, in dem sie sich befinden, erhält sein Gefüge, indem in der rechten Bildhälfte die beiden Wände eine Raumecke bilden, zudem gliedern der mittige Türrahmen und das Gemälde rechts an der Wand den Raum rhythmisch. In der Raummitte ist der Tisch mit einem weißen Tischtuch gedeckt, eine Weinflasche und ein Brotlaib, oder ein kastenförmiger Kuchen, sind darauf angerichtet, jedoch keine Teller und keine Gläser. Im Interview mit Curt Heigl hatte Hagedorn zwei wichtige Hinweise gegeben. Zum einen spricht er davon, dass er schon früh Kunstbücher gekauft hatte und zum anderen nennt er Paul Cézanne als eine wichtige frühe Inspiration für seine Malerei.204 Mag auch die Anordnung der Weinflasche und des Brotlaibes noch eine weitgehend uninspirierte bleiben, so sollte sich das Vorbild Cézanne in einem nur zwei Jahre später entstandenen „Stilleben“ (Abb. 76) weitaus deutlicher auswirken. Die malerische Gestaltung des weißen Tischtuchs mit breiten Pinselstrichen, die Farbflächen von dunklerem Blaugrau bis zu hellem Weiß bilden, kann darauf zurückzuführen sein, dass Hagedorn eine vergleichbare Farbgestaltung in Werken Cézannes, beispielsweise dem „Stilleben mit Blumen und Früchten“ (Abb. 77) von 1888 in der Berliner Nationalgalerie gesehen hatte. Ein leuchtend weißes Tischtuch als optisches Zentrum in einer Malerei von weitgehend dunkler Farbpalette basiert demzufolge auf Werken von Künstlern, die Hagedorn selbst nicht als Vorbilder benennt, die aber in einer Auseinandersetzung mit Cézanne und mit der Kunst des 19. Jahrhunderts unumgänglich bleiben. In Claude Monets „Das Frühstück im Grünen“ (Abb. 78) und auch in dessen „Das Mittagsmahl“ (Abb. 79) bildet jeweils das weiße, strahlende Tischtuch einen Bildmittelpunkt aus.

204 Vgl. Kat. Kunsthalle, S. 11. 81

Betrachtet man erneut Hagedorns Familienportrait, so geht das Tischtuch beinahe nahtlos über in den weißen Rock einer vierten Person, die hinter dem älteren Herrn steht. Die vierte Person komplettiert nicht nur das Bildpersonal, durch ihre Darstellung im Stehen oder Gehen ist sie das einzige bewegte Element in diesem statischen Bild. Durch ihre Haltung dem Älteren gegenüber ist sie zudem die Einzige, die Verbindung zu einer anderen Person aufnimmt, während die anderen wie isoliert erscheinen. Betrachtet man im Vergleich Edouard Manets „Das Frühstück im Atelier“ (Abb. 80) aus dem Jahr 1868, so erscheinen auch hier die drei Dargestellten in einer eingefrorenen, einer Photographie ähnlichen, Szenerie. Lediglich eine Katze in der linken vorderen Bildhälfte, die sich putzt, bringt eine gewisse Lebendigkeit in dieses Bild. Neben dem weißen Tischtuch und dem Rock der stehenden Person sind die Gesichter die einzigen hellen Elemente in diesem Gemälde. Hagedorn war in der Dresdner Galerie Alte Meister beeindruckt von den Werken Raffaels und Tizians.205 Das visuelle Gedächtnis an das Chiaroscuro in Tizians „Der Zinsgroschen“ (Abb. 81) mag inspirierend gewesen sein in Hinblick auf diese Anfänge seiner Malerei. Die eklektizistische Haltung des Kunststudenten Hagedorn wird in diesem Gemälde besonders evident. In einer Arbeit wie Edouard Manets „Bildnis Émile Zola“ (Abb. 82) von 1868 verschmelzen Kleidung und Figur des Schriftstellers annähernd mit der dunklen Wand. Das Gesicht, die Hände und die hellen Buchseiten bilden starke Gegensätze zum dunklen Interieur. Frisur und Bart gehen hingegen wieder in den Hintergrund über. Eine ähnliche Haltung und Sitzposition nimmt in Hagedorns Werk die Person am linken Bildrand ein, die sich nur durch das heller gearbeitete Gesicht aus der dunklen Farbdichte abhebt. Die Figuren selbst, vor allem deren Kleidung, sind blockhaft reduziert und vor allem die Gesichter bleiben unausgearbeitete Farbflächen. Dennoch gelingt es Hagedorn in dieser Einfachheit, dem Betrachter ein Gefühl für das Alter der Dargestellten zu vermitteln. Blickt man auf ein Bild wie Claude Monets „Mohnfeld bei Argenteuil“ (Abb. 83) von 1873, so sind die Gesichter der vier Personen in einer vergleichbaren Weise gearbeitet. Lediglich das Inkarnat markiert ein Gesicht, Größe, Kleidung und Haltung verweisen auf Alter der Personen. Bereits die Behandlung der Wandbespannung in Hagedorns Arbeit, die unter einer grünen Palette eine ockerfarbene bis gelbe Farbgebung

205 Ebd., S. 11. 82

durchschimmern lässt, ist optisch interessanter als die Darstellung der Personen oder als die Szenerie selbst. Caspar David Friedrichs „Frau am Fenster“ (Abb. 84) von 1822 steht in einem Raum, dessen holzvertäfelte Wände ähnlich lasierend, wenngleich feiner, gearbeitet sind. Abgesehen von dem Geschehen im Bildvordergrund erinnert der karge Raum mit nur einem Bild sowie der Tür an die Interieurs des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi (Abb. 85). Vergleichbarer Motive haben sich auch Otto Illies, beispielsweise in „Blaues Interieur“ (Abb. 86) und dessen Vetter Arthur Illies bedient.

3.2.3.2.2 Bezüge zu den Werken Paul Cézannes „Kartenspieler“ Hagedorn hatte also die Malerei Cézannes und dessen „…Schaffung eines ‚neuen Raumes‘…“206 als eine Basis seiner eigenen Kunst benannt. Bewegte sich Hagedorn bereits mit dem vorangegangen beschriebenen Bild entlang der Malerei des späten 19. Jahrhunderts, so nimmt er mit dem 1951 gemalten „Kartenspieler“ (Abb. 74) einen direkten Bezug zu Cézannes Kunst auf, dessen fünf Motive der „Kartenspieler“ (Abb. 87-91) als die mitunter wichtigsten Werke seines Œuvres gelten. Betrachtet man Hagedorns Bild neben den Versionen Cézannes so erschließen sich zunächst markante Unterschiede. Hagedorns Kartenspieler sitzt alleine im Bild, was sehr auffällig ist, da das Kartenspiel ohne zumindest einen weiteren Mitspieler nicht funktioniert, abgesehen von Patiencen.207 In einer späteren Version aus dem Jahr 1956 (Abb. 92) glich Hagedorn aber seinen Bildaufbau enger an Cézannes Raum an. Nun steht ebenfalls ein hellgrau lasierter Tisch in der Bildmitte, wenn auch nicht vom vorderen Bildrand angeschnitten, wie bei Cézanne, sondern im Ganzen dargestellt. Während in Cézannes „Kartenspielern“ der Tisch auf der Mittelachse der Bilder steht, arbeitete Hagedorn sein Bild so, dass der Spieler in der Bildmitte sitzt und der Tisch in seiner Mitte vom rechten Bildrand durchtrennt wird. Der Farbklang in Hagedorns Arbeit ähnelt demjenigen in Cézannes vermutlich letzter Version der „Kartenspieler“ (Abb. 107), welche sich heute im Musée d’Orsay in Paris befindet. Während aber Cézanne die monumentalen Farbflächen

206 Karl Hagedorn zitiert aus: Ebd., S. 15. 207 Patiencen werden, bis auf explizite Zweier-Patiencen, alleine gespielt. Es soll davon ausgegangen werden, dass Hagedorns Spieler keine Patience legt, da er das Blatt in der Hand hält und dem Tisch nicht so zugewandt sitzt, als würde er eine entsprechende Figur auflegen. 83

klar nebeneinanderstellt, gehen die Farbflächen in Hagedorns Bild diffus ineinander über. Hagedorn hatte versucht, die Binnenstruktur von Cézannes Farbflächen zu übernehmen und dessen Pinselduktus, dessen Farbspiel von hellen und dunklen Strukturen nachzuahmen. Hagedorns Farbflächen oszillieren nebeneinander und übereinander, was aber bei dieser Dunkelheit und Konturlosigkeit ohne optische Brillanz bleibt und auch in dem späteren Werk von 1956 nicht differenzierter gearbeitet ist. Die Prägnanz in Cézannes Werk entsteht durch die klare, massive Trennung zwischen den Farbflächen, die aber keinen blockhaften Eindruck erzeugt, sondern Spannung und kontemplative Ruhe. Dennoch gelingt es Hagedorn, genauso wie Cézanne, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Thema des Bildes zu lenken. Der weiße Hemdkragen, der aus dem Dunkel heraus leuchtet, lenkt den Blick auf die Hände und die ebenfalls hell gestalteten Spielkarten. Hagedorns Arbeit aus 1951 tritt zudem in eine formale Verwandtschaft zu Cézannes „Der Raucher“ (Abb. 93) aus den Jahren 1890-1892. Auch dieser Mann sieht aus dem Bild heraus den Betrachter oder ein nicht sichtbares Gegenüber an. Ebenso sitzt er leicht vom Tisch weggerückt, den Oberkörper in fast bildparalleler Position. Eine markante Übereinstimmung ist die Tischplatte, die in beiden Bildern optisch wie nach oben geklappt erscheint und auf der auch keine Gegenstände angeordnet sind.

„Stilleben auf Grau“ Hagedorns malerische Auseinandersetzung mit Cézannes Werk wird auch in dem ebenfalls 1951 entstandenen Bild „Stillleben auf Grau“ (Abb. 76) evident. Hier nutzte Hagedorn erstmals breite schwarze Konturen, welche die Klarheit und Monumentalität der Formen verstärkt und die Cézanne sowohl bei Personendarstellungen als auch in Stillleben eingesetzt hatte. Hagedorn unterteilt seinen Bildraum in drei Bildzonen und erschafft ein Stillleben von klassischer Form und mit vertrauten Objekten. Diese Vertrautheit erzielt aber keine Abschwächung, sondern bereitet vielmehr die Bühne für Hagedorns kompositorische und farbliche Lösungsansätze. Im Vordergrund steht ein Tisch mit weißem Tischtuch, welcher vom linken und vom unteren Bildrand angeschnitten wird. Auf der Tischplatte stehen fünf unterschiedliche Gefäße und ein kleines Buch. Von gestalterischem Interesse ist, dass das Licht von vorne

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rechts in das Bild fällt und die Gefäße starke Schatten werfen, die an der hinteren Tischkante zu einer schwarzen Fläche zusammenfließen. Eine Lichtführung, die Cézanne beispielsweise in „Stilleben mit grünem Gefäß und Zinnkessel“ (Abb. 94), 1869/70 zeigt; auch die Schatten in den Stillleben Giorgio Morandis sind von derselben greifbaren Realität. Der Bildhintergrund, beziehungsweise die Wand, erscheint in einem einheitlichen Grau, vor dem sich die ebenfalls in verschiedenen Grautönen gestalteten Tassen, Vasen und Kannen deutlich abheben, was die schwarze Linienführung ermöglicht. Sowohl auf dem Tischtuch als auch auf den Utensilien versucht Hagedorn, Lichtreflexe wiederzugeben. Auf scharfe Kontraste verzichtete Hagedorn jedoch gänzlich. Die Konzentration auf die graue Farbpalette, die Kargheit und Stille sowie die geometrischen Formen evozieren auch eine motivische Nähe zu den hermetischen Kompositionen Morandis. Doch während der Italiener die Materialbeschaffenheit seiner Objekte gänzlich ausblendet und sein Bildaufbau einzig von der Farbe getragen ist, so räumt Hagedorn jedem seiner Gefäße eine eigene Oberflächenbeschaffenheit ein, vom keramischen Glanz der Tasse, über das matte Metall der kleinen Kanne bis hin zur Stofflichkeit des Tischtuchs.

3.2.3.2.3 Malerei nach der ersten Paris-Reise „Stillleben, abstrakt“ In einem weiteren Stillleben, welches 1958 entstanden ist, werden andere kunsthistorische Einflüsse sichtbar. Hagedorn war zu diesem Zeitpunkt bereits nach Paris gereist und stand kurz vor dem Abschluss seines Kunststudiums an der Münchner Akademie. In „Stillleben, abstrakt“ (Abb. 95) löste er sich vollkommen von der isolierten und realen Abbildung einzelner Objekte. Alle dargestellten Formen sind eingewoben in ihr Umfeld. Zwar erschließt sich dem Betrachter noch die für ein Stillleben klassische Aufteilung in eine Tisch- und eine dahinterliegende Wandebene mit den nebeneinander, sich teilweise überschneidend, angeordneten Objekten. Jedoch entstehen Räumlichkeit sowie Hell-Dunkel-Verhältnisse nur noch durch nebeneinandergesetzte Farbflächen, die diese optischen Erlebnisse einzig durch ihre Farbräumlichkeit evozieren. Die Darstellung ist so angelegt, dass die nebeneinanderliegenden Farbflächen sich in der Bildmitte zu einem Motivblock verdichten, der noch Einzelformen wie Vase, Tasse oder Glas andeutet, aber in seiner Gesamterscheinung zu einem abstrakten Gebilde aus neben- und übereinander liegenden Farbflächen wird und der 85

Betrachter sich die Frage nach der Zuordnung zu Figur oder Grund stellen muss. Die pastosen, malerisch durchgearbeiteten Flächen sind von verschiedenfarbigen kräftigen Linien umrandet, was sie zwar gegeneinander absetzt, aber die gesamte Komposition miteinander verwebt und optisch noch stärker verdichtet. Neben der Verdichtung der motivischen Struktur bleibt Hagedorn einer reduzierten Farbpalette treu, welche er den Werken des analytischen Kubismus, vor allem von Pablo Picasso oder Georges Braque entnommen haben kann. Obschon weder Motiv, noch der Umgang mit den bildnerischen Mitteln originär sind, so kommt dieser Arbeit innerhalb des Gesamtwerks Hagedorns die Bedeutung des Wegweisers zu. Die später einsetzende, werkbestimmende Abstraktion kündigt sich mit dieser und anderen Arbeiten aus dem Jahrzehnt der fünfziger Jahre an und betrachtet man die Arbeit „Arcana“ (Abb. 96) aus dem Jahr 1990, so erweist sich das zweiunddreißig Jahre früher entstandene „Stillleben, abstrakt“ (Abb. 95) als ein kompositorischer Vorläufer. Auf das Jahrzehnt der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts in der Malerei Hagedorns muss mit dem Vorbehalt gesehen werden, dass er in diesen Jahren noch keinen eigenen Stil entwickelt hatte, sondern sich künstlerisch, vor allem hinsichtlich des malerischen Werks, zunächst kunsthistorisch, eklektizistisch orientiert hatte. Somit ist zwischen dem Stillleben aus 1951 und demjenigen aus 1958 keine Werkentwicklung abzulesen, sondern vielmehr der vorhandene, sichere Umgang mit den bildnerischen Mitteln im Besonderen und seine stilistischen Vorbilder im Allgemeinen.

„Figur“ Im Jahr 1953 ist die Arbeit „Figur“ (Abb. 97) entstanden. Hagedorns Motivwahl verweist auf die Einflüsse, die er in den Gesprächen mit dem fördernden Freund Illies geführt hatte. Neben der Pflege einer Graphiksammlung von Werken Lyonel Feiningers habe sich Illies für die Konzepte der italienischen Futuristen, der Pittura Metafisica aber vor allem des Bauhauses interessiert.208 „Figur“ erzählt von dieser Bildsprache. Das schmale Hochformat erhält durch jeweils vier vertikale und horizontale, unregelmäßige Farbfelder eine simple Räumlichkeit. Die dargestellte Figur befindet als Bruststück auf der Mittelachse des Bildes, der

208 In der Publikation von Raimar F. Lacher kann dies nicht belegt werden, Diana Cavallo berichtete der Verfasserin jedoch mehrfach von der graphischen Sammlung des Künstlers Otto Illies, die Karl Hagedorn bei Besuchen in Illies‘ Haus einsehen durfte. Da Illies oft Weimar besucht hatte, liegt ein Interesse für die neuen künstlerischen Ideen des Bauhauses nahe. 86

Oberkörper ist im Profil, der Kopf im Dreiviertelprofil gearbeitet. Die sichtbaren Körperteile, Kopf, Hals, Arm und Torso sind wuchtig und wirken als seien sie mechanisch zusammengesetzt worden, vor allem der Arm setzt ohne Schulter am Oberkörper an und lässt erahnen, dass er wie ein Propeller drehbar sein könnte. Während der Torso noch einen Hinweis auf Bekleidung gibt und der Arm zwar zu groß, aber sehr muskulös gearbeitet ist, sind der konische Hals und der Kopf beziehungsweise das Gesicht überhaupt nicht durchgearbeitet. Dennoch erhält der Betrachter durch die Drehung des Kopfes den Eindruck, die Figur sähe ihn aus dem Bild heraus an. Bereits in dem Familienportrait aus dem Jahr 1949 hatte Hagedorn die Gesichter unbearbeitet gelassen. In Arbeiten wie Giorgio de Chiricos „Der verlorene Sohn“ (Abb. 98), 1922 hat die konstruierte Gestalt des Sohnes ein vergleichbares Gesicht, indem der Kopf in einer ovalen Form gezeigt wird, die nur durch die Farbmodellierung als vollplastisch erscheint. Doch in Hagedorns Arbeit fehlen die lähmende Ruhe, die vakuumierte Kulissenhaftigkeit und die übernatürliche Sphäre der Werke de Chiricos oder Carràs.209 Vielmehr lassen sich Bezüge zu Giorgio Morandis Objektlosigkeit der Dinge finden, vor allem auch durch die gedeckte, kontrastlose Farbpalette und zu den geheimnisvoll beleuchteten, gliederpuppenhaften Personen in den Gemälden Oskar Schlemmers. Hagedorns „Figur“ vereint dessen Vorstellung von einer schematischen und einfachen Darstellung des Menschen in der Reduktion auf geometrische Grundformen mit der Forderung Paul Cézannes, „…die Natur in Zylindern, Kugeln, Kegeln zu sehen…“.210

209 Hagedorns Darstellung grenzt sich inhaltlich zu de Chiricos Gliederpuppen („manichinos“) ab, da Hagedorn nach einer Abstraktion der Figur suchte, während de Chirico die bereits abstrahierte Figurendarstellung nutzte, um Thematiken der Neuen Sachlichkeit und des Magischen Realismus zum Ausdruck zu bringen. Karl Hagedorns Arbeiten wie „Figur“ (Abb. 97) und „Abstrakte Figur“ (Abb. 110) sprechen von der Kenntnis der Figuren de Chiricos. Unter der Berücksichtigung der eigenen formalen Bezüge in Hagedorns frühen Zeichnungen zur Romantik (3.2.2), kann auf den starken Rückgriff auf romantische Inhalte bei de Chirico verwiesen werden und eine sinnhafte Rezeptionslinie gebildet werden, wenngleich lediglich formaler Art. Vgl. Funken, Maschine, S. 101f. 210 Paul Cézanne zitiert aus einem Brief an den Maler Émile Bernard aus dem Jahr 1904. Diese kunsttheoretischen Ideen entsprangen Cézannes Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von Fläche und Volumen. Linien entstehen bei Cézanne lediglich dann, wenn zwei Farbflächen aufeinandertreffen. Hierin liegt ein bedeutender Unterschied zu Hagedorns Werkentwicklung, der in seinem späteren Hauptwerk die Formen durch umrandende Linien klar begrenzte. Cézannes Formen entspringen der Natur, Hagedorns Formen sind zumeist geometrischen, technischen oder organischen Ursprungs. Vgl. John Rewald: Cézanne. Biographie. Köln 1986, S. 226. 87

3.2.3.3 Erste Abstraktionstendenzen ab 1954

„Konstruktion mit Kegel“ 1954 malte Hagedorn das Bild „Konstruktion mit Kegel“ (Abb. 99). Das schmale, hochformatige Bild ist durch schwarze und rote Farbfelder rhythmisiert, wobei die roten Flächen deutlich vor dem schwarzen Hintergrund hervortreten. Durch unterschiedlichen Farbauftrag und durch ein von oben links einfallendes grelles Licht agieren einige Flächen zweidimensional in der Bildebene, während andere Formen dreidimensional aus dem flächigen Konstrukt ragen. Zur Bildmitte hin findet eine Kumulation der Flächen statt, sie finden hier Verbindungspunkte, die sie zu einer großen, gemeinsamen, aber strukturierten Fläche werden lassen. Der Bildaufbau gliedert sich vor dem schwarzen Hintergrund, der das Konstrukt links und rechts blockhaft begrenzt. Der untere Teil besteht aus zwei starken roten Rechtecken, die dem Aufbau eine solide Basis verleihen. Ab der Bildmitte erscheint der Aufbau zunehmend filigraner, indem das linke rote Feld nur noch schmal nach oben aufragt und zudem von einem hellen goldgelben Einsatz unterbrochen wird, der, bedingt durch den Lichteinfall, zu einem glänzenden Rohr wird, vergleichbar der malerischen Umsetzung solch glänzender Metallstücke bei Léger, wie der in der linken Bildhälfte von oben nach unten verlaufenden Stange in den „Akrobaten“ (Abb. 100) von 1918; überhaupt die Gestaltung metallischer Elemente bei Léger scheint Hagedorn hier adaptiert zu haben. Rechts oben blickt der Betrachter durch ein dick umrandetes, glänzendes Rohr und darüber läuft die Konstruktion nach oben hin aus durch ein rotes Band, welches mit der hellgelben Farbe einen Lichtpunkt erhält, der durch sehr unregelmäßige Pinselführung auffällt und der Klarheit der übrigen Konstruktion gegenübersteht. Das zentrale Motiv dieser Arbeit ist der für den Betrachter vor dem Konstrukt schwebende spitze Kegel, den Hagedorn durch geschickte Lichtregie vollplastisch erscheinen lässt; der nach rechts unten fallende Schatten verstärkt diesen Eindruck zudem. Zwar sichtbar und bemüht, jedoch weitaus weniger gelungen, erkennt der Betrachter direkt rechts neben dem Kegel dieselbe Form, um 180° gedreht und konvex dargestellt. Den Eindruck des schwebenden, konkaven Kegels hätte Hagedorn verstärken können, indem er eben diese Flächenpartie zweidimensional gearbeitet hätte. Die Beeinflussung durch Légers Werk manifestiert sich in der Darstellung des Kegels am deutlichsten und schafft

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zugleich eine Verbindungslinie zu Hagedorns bisheriger Verehrung für die Raumideen Cézannes. Dieses ungegenständliche Werk markiert einen Schnitt innerhalb Hagedorns Bildgenese. Alle bis dahin entstandenen Werke waren an die menschliche Figur gebunden, auch das Stillleben, welches als menschliches Arrangement immer ein mit dem Menschen verbundenes Sujet ist. Die „Konstruktion mit Kegel“ verbannt den Menschen aus dem Bild und lässt einzig Objekte sprechen. Wenngleich auch konstruierte oder aufgebaute Struktur aus diesem Bild spricht, so ist sie losgelöst vom Menschen. Dies sollte nicht werkbestimmend werden für Hagedorn, der sich in seinem Hauptwerk die Verbindung von Mensch und Objekt zur Aufgabe machte. Aber mit „Konstruktion mit Kegel“ setzte er sich erstmals intensiv mit der objekthaften Seite auseinander. Beide Elemente zusammenzuführen, das sollte baldmöglichst folgen.

„Sitzende Figur“ und „Mann und Rad“ Während Hagedorn 1954 die an Léger orientierte „Konstruktion mit Kegel“ (Abb. 99) malte, entstand im selben Jahr die Arbeit „Sitzende Figur“ (Abb. 102). In der „Sitzenden Figur“ versuchte Hagedorn, die bildkonstruierenden Forderungen Cézannes und die Bildsprache Légers mit der Darstellung einer menschlichen Figur im Raum zu verknüpfen. Oberkörper, Arme, Hände und Hals sind in kantige, scharf gegeneinander abgesetzte, dreieckige Formen zersplittert, die in ihrer Zusammensetzung die Erscheinung einer Dame, die an einem Tisch sitzt, evozieren. Das Gesicht, auch hier wieder ohne jegliche Physiognomie gearbeitet, ist in drei Farbpartien geteilt, lediglich die Frisur und der runde Hut bringen weiche Formen in das Bild, welche in den beiden Kugeln links und rechts der Figur ihr Pendant finden. Die Figur ist in das Raumgefüge eingebunden, das lediglich durch das Sprossenfenster oben rechts überhaupt Raumtiefe erhält. Sowohl die Tischplatte als auch alle weiteren an Mobiliar oder an Wände erinnernden Farbflächen agieren in der Bildebene. Hier greift Hagedorn einer wichtigen Entscheidung für sein späteres Werk vor, in welchem er nach Wegen suchte, menschliche Formen gemeinsam mit technischen Formen mit dem sie umgebenden Raum verschmelzen zu lassen, sodass dem Sujet „Mensch“ ein objekthafter Charakter zuteilwird. Die zurückhaltende Farbigkeit lässt dem Spiel der Flächen den Vortritt und Hagedorn zeigt damit auch, dass er die Arbeiten des

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Kubismus kennen gelernt hatte. Bezeichnenderweise hatte auch Léger ähnliche Konsequenzen aus Cézannes Formforderungen gezogen, wie es „Die Näherin“ (Abb. 103) aus 1910 zeigt. Die Jahre 1956 und 1957 bringen Arbeiten hervor, die Hagedorn sehr dicht an sein Vorbild Fernand Léger heranführen. Zwar fertigt er keine Werkkopien an, aber die Motivik dieser Jahre ist stark dessen Werkkomplex entlehnt, deren Umsetzung gepaart mit Hagedorns Einsatz der künstlerischen Mittel sind jedoch bemerkenswert. In der Arbeit „Mann und Rad“ (Abb. 129) aus dem Jahr 1956 reduzierte Hagedorn die Farbigkeit auf ein sehr dunkles Schwarzgrau, welches durch gleißende metallische Lichtreflexionen dynamisiert wird, die den starken Einfluss der Malerei Légers erneut verdeutlichen. Der im Profil und Kniestück vorbeigehende Mann ist in klobige und schwere Formen zerlegt. Die Beine verschmelzen mit dem Aufbau der Maschine, die runden Formen von Rumpf und Kopf treffen ohne Hals aufeinander und überlagern sich schwer, der große kantige Arm ist eher ein metallenes Rohr als eine Gliedmaße. Einzig die geschwungene Form der einem Barett ähnlichen Kopfbedeckung wirkt filigran. Detaillierter gestaltet und feiner in der Formgebung hingegen erscheint die Maschine hinter der Figur, die mit virtuoser Lichtführung auf horizontal gelagerten Rohren und einer dynamischen rotierenden Scheibe Kraft, Energie und Ingenieurskunst vereint; der Mann im Vordergrund wird durch dieselbe Farbigkeit und metallische Struktur zu einem Teil der Maschine. Die malerische Umsetzung dieser Idee wäre ohne die Kenntnis von Arbeiten wie „Soldat mit Pfeife“ (Abb. 105), oder „Akrobaten“ (Abb. 100) zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellbar gewesen. Der Mensch, derart eingebunden in die Welt der Maschine, jedoch ohne eine beängstigende Maschinenübermacht zu vermitteln, konstruiert und emotionslos aber nicht befremdlich.

„Mann“ und „Mutter und Kind“ Im Jahr 1957 entstanden zwei sehr ähnliche Arbeiten (Abb. 106) und (Abb. 107), mit denen Hagedorn sich erneut stark an die Bildwelt Légers anlehnte. Die direkte Erscheinung am vorderen Bildrand ermöglicht keine Distanz zwischen dem Betrachter und den Dargestellten, wobei diese aber nicht raumlos vor den Bildhintergründen stehen, wie beispielsweise Légers „Der Mechaniker“ (Abb. 108), sondern, bedingt durch die Gestaltung ihrer Körperformen, nahezu in

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den Bildhintergrund eingewebt sind. Die „Sitzende Frau“ aus 1954 oder „Mann und Rad“ aus 1956 erscheinen als wesentlich direkter beeinflusst von den Formideen des analytischen Kubismus und von der Bildwelt Légers, was aber rein zeitlich damit zu begründen ist, dass Hagedorns Paris-Reise im Jahr 1954 stattgefunden hatte, die Seheinflüsse also erheblich direkter und intensiver waren. Erneut sind die Körper gemäß geometrischer Grundlagen zusammengefügt, aber nun tritt eine gewisse bildhauerische Monumentalität hinzu, die Formen wirken behauen, aus festem Material prismenhaft herausgeschlagen. Hierin begründet sich auch der Unterschied zur kubistischen Malerei, Hagedorn schafft keine feine Zersplitterung der Formen und verzichtet nicht auf hermetisch geschlossene Flächen. Zwar fehlt in Hagedorns Bildern die Dynamik, mit welcher Légers Phantasiemaschine auf der Bildfläche agiert, aber gemäß Légers Vorstellung, einer geometrischen Ordnung, nicht nur in der Kunst, sondern der Umwelt,211 konstruiert Hagedorn seine Figuren aus dem gleichen Materialvorrat wie den restlichen Bildraum. Einen Kontrast zwischen den Farbflächen und einer möglichen Räumlichkeit gibt es nicht. Wenn auch nur annähernd, so wagt sich Hagedorn erstmals an die klare Farbigkeit Légers heran, stellt die weiche, tonige Farbpalette zurück und arbeitet vornehmlich mit primären Farben wie Rot, Blau, dazu Gelb und Weiß sowie mit starken schwarzen Umrandungen. Auch diese beiden Werke markieren einen elementaren Schritt auf Hagedorns Weg zu seiner eigentlichen späteren Bildform. Er verlässt die Erscheinung des Sujets, also die des Menschen, jedoch nicht zu Gunsten einer gänzlich bildbestimmenden Objektivität, wie dies Léger realisiert hatte, beispielsweise in „Frau mit Spiegel“ (Abb. 109).212 Vielmehr lässt Hagedorn ein geometrisiertes, maschinengleiches Bildpersonal aus dem Bild heraus mit dem Betrachter korrespondieren, wie in der Arbeit „Mann“ oder lässt den Betrachter bildinterne Emotionen erfahren wie diese zwischen „Mutter und Kind“.

211 Léger versuchte, die Formalität von Figuren herauszuarbeiten. Damit verliert die Figur ihre Individualität zugunsten der Ästhetik, der reinen Malerei und der lebendigen Kraft moderner Malerei. Bereits in „Akte im Wald“ (Abb. 159) komprimierte er sowohl die Formen der Natur als auch die Bestandteile der menschlichen Figuren auf einfachste geometrische Formen. Léger entwickelte im Laufe seines Schaffens die Figur so weiter, dass sie deutlich, sowohl in Farbgebung als auch hinsichtlich ihrer formalen Darstellung, an Maschinen erinnert. Vgl. Christopher Green: Wandlungen der Figur. Fernand Léger als Figurenmaler 1909-1927, in: Siegfried Gohr: Fernand Léger, das figürliche Werk. Kat. Ausst. Köln 1978, S. 27f. – Vgl. Peter de Francia: Fernand Léger. New Haven, London 1983, S. 68-106. 212 Vgl. zum Werk Fernand Légers: Werner Schmalenbach: Fernand Léger. Köln 1977. 91

„Abstrakte Figur 2“ Eine große und klar definierte Figur im Kniestück und verlorenem Profil nimmt in dieser Arbeit (Abb. 110) den Standpunkt des Betrachters ein. Ebenfalls am vorderen Bildrand installiert, steht diese Person links neben der Mittelachse im Kontrapost und hält die Arme, ähnlich einer Tänzerin auf Brusthöhe vor sich. Auf voluminöse Beine und Hüfte folgen eine schmale Taille und schlanke Arme, auf einem kräftigen Hals sitzt ein proportional zu kleiner Kopf, der wie ein Helm gestaltet ist. Das Licht trifft breit von außerhalb des Bildraums auf die Rückansicht der Figur und lässt vor allem den hinteren Oberschenkel, den Rücken und den Kopf metallisch schimmern. Der aus mehreren Teilen zusammengesetzte Anzug verleiht der Figur eine puppenhafte und surreale Anmutung, sie changiert zwischen Mensch, einem Tänzer mit Bühnenkostüm bekleidet und androidem Maschinenwesen. Welche Werke des Surrealismus, insbesondere Giorgio de Chiricos, beispielsweise „Hector und Andromache“ (Abb. 111), Hagedorn zu diesem Zeitpunkt kannte, ist nicht belegt, aber es ist offensichtlich, dass diese Arbeit auf deren Kenntnis basiert. Figuren aus Oskar Schlemmers Bildwelten, vor allem aus dem „Triadischen Ballett“ können formprägend gewesen sein. Die Figur selbst steht im perspektivlos leeren Raum und blickt auf ein Konstrukt, welches von der rechten oberen Bildecke scharf angeschnitten wird. Es besteht aus einem Scheibenmotiv, einem diagonal dahinter verlaufenden Stab und einer undefinierten grauen Fläche. Die Farben der Figur wiederholen sich dort, sodass eine Beziehung zwischen Figur und diesem Konstrukt entsteht.

Weitere Auseinandersetzungen mit der klassischen Moderne Wie stark die Einflüsse der klassischen Moderne auf Hagedorn gewirkt hatten, wie groß seine Auseinandersetzung mit der naturalistischen Wiedergabe der menschlichen Figur war und wie intensiv er sich auch in den späten fünfziger Jahren noch damit auseinandersetzte, seinen eigenen künstlerischen Weg zu finden, belegen nicht nur seine eigenen Worte, indem er um 2004 rückblickend schreibt, „…I labored for over two years to catch up,…“213, sondern auch einige, den soeben beschriebenen Werken nahezu diametral gegenüberstehende, Arbeiten. Denn Werke wie „Ohne Titel“ (Abb. 112) und „Mann in Blau“

213 Karl Hagedorn zitiert aus: „The Story of my Life”, S. 3. 92

(Abb. 113) offenbaren eine ganz andere Bildsprache. Zwar haben diese Bilder nichts mit der Ausdruckstärke in Pablo Picassos Werken gemein, aber die Farbgestaltung und die isolierte Darstellung einer einzelnen Person in einem vollkommen undefinierten Raum lassen dennoch auf eine Auseinandersetzung Hagedorns mit dessen Werken schließen und erlauben allenfalls noch einen Bezug zu den reduzierten Portraits eines Amedeo Modigliani. Hagedorns „catch up“ jedoch war nicht ausschließlich auf die Auseinandersetzung mit der menschlichen Figur im definierten oder geometrisierten Raum begrenzt. Auch nach der bereits vor seiner Flucht in die BRD offenkundig gewordenen Inspiration durch Cézannes Werk, arbeitete Hagedorn zwischen 1954 und 1959 immer wieder an Landschaftsbildern. Dieses Genre sollte in seinem Hauptwerk zwar keinen Niederschlag finden, aber 1959 war er schließlich in der Lage, künstlerisch auszudrücken, wonach er in der Landschaftsmalerei suchte. Den im Nachlass erhaltenen Landschaftsbildern ist gemein, dass es keine reinen Naturansichten sind, sondern es sich um Darstellungen einzelner Häuser oder Gebäudeensembles handelt. Damit lehnte er sich nach wie vor eng an Cézanne an, auch hinsichtlich der erdigen Farbpalette und auch angesichts der Motivwahl, beispielsweise vergleichbar mit Cézannes Arbeiten, „Bäume und Häuser“ (Abb. 114) oder „Das Haus von Dr. Gachet in Auvers“ (Abb. 115). Mit dem Bild „Augsburg“ (Abb. 116) aus 1959 ist es Hagedorn gelungen, sein tatsächliches Interesse an der Landschaftsdarstellung zu offenbaren. Nun nicht mehr streng an Cézannes Forderung nach dem künstlerischen Umgang mit der Natur orientiert, malte Hagedorn eine Stadtansicht von Augsburg, die der Bildsprache von „Mann“, „Mutter und Kind“ und „Sitzende Frau“ zuzuordnen ist.

3.2.4 Die künstlerische Neuausrichtung in den USA – Entwicklung eines späten Hauptwerks

Wenn nun mit Abschluss der Betrachtung der Studienzeit und der mit ihr einhergehenden stilistischen Orientierungsphase konstatiert werden konnte, dass Hagedorn sich nicht den zeitgenössischen künstlerischen Tendenzen in Westdeutschland oder in Europa angeschlossen hatte, so muss aber auch festgestellt werden, dass er sich zum Ende seines Studiums bereits für die Emigration in die USA entschieden hatte. Dies entsprach zum einen den zeitparallelen Entwicklungen und vermag zum anderen zu erklären, warum

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Hagedorn für sich selbst nicht die Notwendigkeit einer Beteiligung an der Neuformierung der Kunst in Deutschland gesehen hatte. In den USA begann Hagedorn, an der Entwicklung seiner eigenen Bildsprache zu arbeiten, mit der er sich auch in den USA nicht den zeitgenössischen Tendenzen anzuschließen gedachte, sondern seine eigenen, aus der europäischen Maltradition inspirierten und von zeitgeschichtlichen Entwicklungen geprägten Bildwelten zu gestalten.

3.2.4.1 „The Hand of my Aunt“ als Vorbote für die Motivik des späteren Hauptwerkes

Im Jahr 1966, sieben Jahre nach seiner Emigration in die USA malte Karl Hagedorn ein stark symbolbehaftetes Bild. „The Hand of my Aunt“ (Abb. 34) ist eine auf den ersten Blick schaudervolle Darstellung einer abgetrennten Hand. Doch das kleine Bild konzentriert alle Wendepunkte in Hagedorns privatem wie künstlerischem Leben und steht somit am Beginn dieses Kapitels. Formal findet es einen Vorläufer in der Zeichnung „The Spearing“ (Abb. 32).

3.2.4.1.1 Bildbeschreibung Vom oberen Bildrand und vor rotem Bildgrund hängt an einem dünnen Faden ein hochovales Amulett mit sandigem bis grünlichem Grund herab, welches eine linke, weibliche Hand umschließt. Die fast weiße Hautfarbe weist darauf hin, dass aus der Hand bereits das Leben entwichen ist und ihre Struktur zeigt an, dass sie, oder die Person, zu der diese Hand gehörte, bereits vor der gewaltsamen Trennung vom Körper nicht mehr gesund war. Arthritisch verkrümmt, mit verdickten Gelenken und hervortretenden Sehnen und Knöcheln bereitete sie schon seit langem Schmerzen. Gepflegt sind dagegen die Fingernägel und den Ringfinger zieren zwei goldene Fingerringe, die auch einen Hinweis darauf geben könnten, dass die Trägerin verwitwet ist, da sich Witwen oftmals den Ring des verstorbenen Partners vor den eigenen Ehering stecken. Dagegen spricht wiederum die linke Hand, da Eheringe in Deutschland zumeist an der rechten Hand getragen werden, was jedoch, teils auch regional, variieren kann,214 in den USA wiederum werden Eheringe durchweg an der linken Hand getragen. Die

214 Zu der Thematik der Ehe, des Tragens des Eheringes und der Verwitwung vgl. Monika Wienfort: Verliebt, verlobt, verheiratet: eine Geschichte der Ehe seit der Romantik. München 2014, S. 32f; S. 90-100; S. 281f. 94

Darstellung der Hand selbst offenbart sich nicht als zeitgenössische Malerei der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Wenn auch nicht die Handgestaltung selbst, so erinnert die lasierende Maltechnik viel mehr an eine altdeutsche oder mittelalterliche Darstellung denn an eine zeitgenössische, moderne Malerei. Hierin liegt auch ein erster Bezugspunkt dieses Werkes, nämlich derjenige zu Hagedorns Vorbild Albrecht Dürer, der eine solche Feinmalerei, besonders die der Haut, als „kläubeln“ bezeichnet hat.215 Hagedorn greift damit auf seinen ersten Kontakt zur Kunstgeschichte zurück, schließlich hatte er erste künstlerische Inspiration durch dessen Werke erfahren. Das fast weiße Inkarnat, das nichts mit der vielfältigen, auf die gesamte Farbstimmung im Bild bezogene Inkarnatfarbe der Malerei des 20. Jahrhunderts gemein hat, zeugt nur von der Leblosigkeit der Hand und lässt auch an das Inkarnat des von Hagedorn sehr verehrten Piero della Francesca denken, beispielsweise „Taufe Christi“, (Abb. 117) ab 1450, wobei aber das für Piero della Francescas Malerei elementare lebendige Licht gänzlich fehlt. Eben diese Leblosigkeit und die knöcherne, verletzte Hand finden aber auch einen Bezugspunkt in einem frühen Werk Hans Holbeins d. J. „Der Tote Christus im Grabe“ (Abb. 118)216 aus dem Jahr 1521, zu diesem Zeitpunkt war dessen Malerei noch stark in einer spätgotischen Maltradition verankert. Der Leichnam Christi ist bereits totenstarr, das Inkarnat gräulich-weiß und die neben dem Körper liegende rechte Hand ist knöchern und verkrampft.

3.2.4.1.2 Die abgetrennte Hand als Symbol der biographieimmanenten Ablösungen und Brüche Am unteren Bildrand setzt Hagedorn gegen den roten Bildhintergrund eine dunkle, unregelmäßig aber scharfkantig nach oben abgetrennte Farbfläche. Bei näherer Betrachtung offenbart sich, dass es sich hierbei um die klare Silhouette des Brockens handelt, der höchste Berg im Norden Deutschlands und der prägende Berg des Harzes und somit ein klarer Verweis auf Hagedorns Heimat (Abb. 119). Interpretiert man die vom Körper abgetrennte Hand als Symbol für

215 Der Begriff „Kläubeln“ (Diminutiv zu „Klauben“) steht für eine langsam von statten gehende Feinmalerei. Albrecht Dürer hatte diesen Begriff gebraucht in einem Brief an Jakob Haller, 1509. Vgl. Daniel Hess/Oliver Mack: Dürer beim Malen, das Frühwerk bis 1505, in: Thomas Eser/Daniel Hess (Hgg.): Der frühe Dürer. Kat. Ausst. Nürnberg 2012, S. 171-193. 216 Zu der Relevanz der Handdarstellung als dem Betrachter besonders zugewandtes und gleichzeitig Leid vermittelndes Körperteil vgl.: Bernd W. Lindemann: Der Leichnam Christi im Grabe, in: Müller, Christian: Hans Holbein d.J. Die Jahre in Basel 1515-1532. Kat. Ausst. München 2006, S. 257-259. 95

einen oder mehrere biographische Brüche, so findet sich, abgesehen von der Zäsur des Zweiten Weltkrieges, zunächst der nur bedingt freiwillige Bruch mit der Heimat, als Hagedorn 1953 nach Augsburg geflohen war. Besonders die Landschaft des Harzes, deren Wahrzeichen der Brocken ist, hatte er stets vermisst.217 Sowohl die Flucht aus dem Staatsgebiet der DDR, als auch die Emigration in die USA waren Lebenswege, die Hagedorn bewusst eingeschlagen hatte. Dennoch bedeuteten sie ihm jeweils endgültige Trennungen. Verließ er mit der Flucht 1953 seine Familie und Heimat, so verließ er mit der Emigration auch seinen Kulturkreis. Dies alles erklärt den klaren Rückbezug auf europäische Bildtraditionen und auf überkommene, der christlichen Ikonologie entlehnte Inhalte. Hagedorn verweist mit der abgetrennten Hand also nicht nur auf die zurückgelassene Heimat, sondern auch auf eine Kunstgeschichte, die dort um ein Vielfaches reicher ist, als diejenige in seinem neuen Heimatland. Dieses Bild fungiert innerhalb Hagedorns Werk wie ein europäischer Brückenkopf in den USA, wie ein Ausgangspunkt für einen stets werkimmanent vorhandenen Rückbezug auf europäische Bildtraditionen. Letzteres lässt deutlich werden, dass er ganz bewusst die Kenntnis der europäischen Kunstgeschichte für seine eigene Werkentwicklung in die USA zu transportieren wusste, was dem Bild zeitgleich zu seiner Rückwärtsgewandtheit einen Ausblick in die Zukunft verleiht. Denn die abgetrennte Hand ist alt und krank; Hagedorn hatte die Alte Welt hinter sich gelassen, um in der Neuen Welt, den USA, sesshaft zu werden. Eine weitere Dimension für „The Hand of my Aunt“ eröffnet das Entstehungsjahr 1966; zu vermuten wäre ein solches Bild bereits kurz nach seiner Ankunft in den USA. Die Formulierung der gekappten Verbindungen erst sieben Jahre nach der Einwanderung zu wählen, bedeutet aber auch, dass für Hagedorn zu diesem Zeitpunkt seine Entscheidung und deren Folgen sehr präsent waren. Im Jahr 1966 hatte er es bereits erreicht, als künstlerischer Leiter (Art Director) des Catholic Digest und als Gebrauchsgraphiker von seinen künstlerischen Fähigkeiten leben zu können. Er hatte bereits an Ausstellungen in Minneapolis/St. Paul teilgenommen und entwickelte sein Werk stetig fort. Wenn er nun 1966 dieses

217 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. Karl Hagedorn verbrachte die gemeinsamen Urlaube in den USA gerne in den Berkshire Mountains in den Bundesstaaten Massachusetts und Connecticut, da die Landschaft ihn an die Silhouette und die klimatischen Bedingungen des Harzes sowie des heimatlichen Brockens erinnert habe. 96

Bild malt, bedeutet dies also nicht mehr nur ein mögliches Hadern mit den getroffenen Entscheidungen. Es bedeutet, dass er tatsächlich in den USA angekommen war.

3.2.4.1.3 Künstlerische Vorbilder für „The Hand of my Aunt“ Auch hinsichtlich Hagedorns zeitgenössischer künstlerischer Umgebung in den USA, ist diese Arbeit relevant. „La grande Julie“ (Abb. 120) aus dem Jahr 1945 hatte Léger während seines Aufenthaltes in New York gemalt. Ein auffälliges Merkmal dieses Gemäldes ist, neben der Verschmelzung von Figur in der linken und Mechanik, in Form des Fahrrades in der rechten Bildhälfte, der scheinbar dysfunktional angebrachte Arm der Figur, der farblich mit dem Gestänge des Fahrrades verschmilzt und von oben herab in die Bildfläche hängt. Davon angeregt entstand 1967 Bruce Naumans „From Hand to Mouth“ (Abb. 121) und bereits ab den frühen fünfziger Jahren hatte Jasper Johns in seinen „Targets“ einzelne Körperteile wie Gesicht, Fuß, Hand, Ohr oder Geschlechtsteile eingefügt.218 Es existieren keine Belege für die Kenntnis Hagedorns für diese zeitgenössisch entstandenen Werke. Dennoch ist „The Hand of my Aunt“ auch ein Ausblick in Hagedorns künstlerische, motivische Zukunft. Einerseits ist die Hand per se elementar für einen Künstler, der ohne eine gesunde (Arbeits-)Hand kaum mehr in der Lage ist, zu arbeiten. Die abgeschlagene, kranke aber dennoch gepflegte, mit Gold geschmückte und beinahe sakral überhöhte Hand, die Hagedorn hier präsentiert, vibriert dabei zwischen Tatenlosigkeit und Schaffensdrang – ein Dilemma, welchem ein Künstler ohnehin ausgesetzt sein kann. Auch Georg Baselitz malte seit den sechziger Jahren einzelne Hände, die sich in fast surrealistischer Anmutung und in schonungsloser Körperhaftigkeit zwischen den genannten Polen befinden (Abb. 122) und die einerseits von Gewalteinwirkung sprechen, andererseits aber, bereits durch die Bildtitel

218 Ausgehend von Fernand Léger, der auch in weiteren Werken, basierend auf „Akte im Wald“, Figuren und Figurengruppen erarbeitet hatte, welche wie aus den einzelnen Körperteilen zusammengesetzt erscheinen, jedoch nicht auf den Prinzipien der Zerstückelung basieren (3.2.4.2), arbeitete im Besonderen Jasper Johns an seinen späteren Dekonstruktionen, in denen dreidimensional geformte Arme dem Bildraum vorgelagert werden. (Jasper Johns, „In the Studio“, 1982, Enkaustik und Collage auf Leinwand mit Objekten, 182,9x121,9cm, im Atelier des Künstlers). Dennoch kann nicht belegt werden, inwiefern Karl Hagedorn von den früheren Werken Johns, wie den „Targets“ der fünfziger Jahre, Kenntnis genommen beziehungsweise sich mit „The Hand of my Aunt“ auf diese Arbeiten bezogen hatte. Vgl. zu den „Targets“ und zu den Dekonstruktionen von Jasper Johns: Kirk Varnedoe: Fire: Johns‘ Work as Seen and Used by American Artists, in: Ders.: Jasper Johns. A retrospective. Kat. Ausst. New York 1996, S. 93-114. 97

impliziert (Abb. 123), Verweise auf eine göttliche Hand geben. Die Darstellung von Händen stellt für Künstler eine besondere technische Herausforderung dar, folglich werden sie oftmals vereinfacht dargestellt oder gar nicht gezeigt. Wobei der Handdarstellung hohe Bedeutung beigemessen ist, vor allem hinsichtlich der darstellerisch-technischen Perfektion, denkt man an die Entwicklung der Handdarstellung Dürers von den Händen in seinem „Selbstbildnis im Alter von Dreizehn Jahren“ (Abb. 62) bis hin zu der Arbeit Dürers „Betende männliche Hände“ (Abb. 124). Die Hand Gottes verleiht Adam in Michelangelos „Erschaffung Adams“ (Abb. 125) den Lebensodem, die übereinander gelegten Hände der „Mona Lisa“ (Abb. 126) sprechen von Ausgeglichenheit und anmutiger Ruhe, sie sind portraithaft statt idealtypisch. Tizians „Zinsgroschen“ (Abb. 81), den Hagedorn bereits als Jugendlicher in Dresden sehen konnte, erhält seine thematische Spannung von den unterschiedlichen Arten der Hände, auf denen durch das Hell-Dunkel zusätzlicher Fokus liegt. Mit der Moderne erfährt die Hand auch Umformung, wie die metallenen Hände in den Werken Légers, oder gar deren Auflösung wie in der Tanzfigur „Kugelhände“ in Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ (Abb. 127). Bereits seit dem Ende des 13. Jahrhunderts kommt der Hand die besondere Bedeutung der Gestik zu, im Besonderen verweist sie mit dem Redegestus auf die gesprochene Sprache und ist damit innerhalb der mittelalterlichen Malerei ein Stellvertreter für den menschlichen Ausdruck.219 Bis in die zeitgenössische Kunst hinein ist die Darstellung der Hand ein wichtiges Bildmotiv, welches auch in anderen Kunstformen, wie der Photographie und der Plastik elementare Umsetzungen findet. Bereits in Höhlenmalereien des Paläolithikums waren Handmalerei und Handabdrücke bekannt und werden als ein Pars-pro-toto für den gesamten Körper eingestuft, so wie Hagedorn der abgetrennten Hand ebenfalls nicht nur den Bedeutungsgehalt einer Hand, sondern vielfältige Verknüpfungen, unter anderem den Hinweis auf die Person „Tante“ einbeschreibt. Hagedorn interessierte sich intensiv für Höhlenmalerei.220 Dazu gehört auch der Aspekt,

219 Die bildnerische Nutzung von Handgesten erreichte mit den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels (1290-1375) einen ersten Höhepunkt. Vgl. Mariacarla Gardebusch Bondio: Die Hand. Elemente einer Medizin- und Kulturgeschichte. Berlin 2010, S. 43f. 220 Karl Hagedorn zitiert aus: „Questions and Answers“, Frage 4, S. 1. In diesem Gespräch erwähnte Karl Hagedorn sein Interesse an Höhlenmalereien, belegt anhand eines Besuches in der Höhle von Altamira, Santilla del Mar, Cantabria, Spanien im Jahr 1972, während seiner Europareise. 98

dass zur Hand geformte Amulette oder Amulette, die Hände zeigten, in ur- und frühgeschichtlicher Zeit von lebenden Personen getragen und auch als Grabbeigaben verwendet worden waren, da ihnen eine apotropäische Wirkung221 zugeschrieben worden war. Bedenkt man, dass dieses Gemälde zeitlebens unverkäuflich einen Platz in der Wohnung Hagedorns, auch später in den gemeinsamen Wohnungen mit seiner Ehefrau hatte, so kann dem kleinen Gemälde durchaus eine beschützende Funktion, ähnlich der eines Talismans oder ständigen Begleiters beigemessen werden, was den Gedanken an das religiöse Andachtsbild hervorruft. Der Bildtypus des Andachtsbildes ist determiniert von seinem Zeigegestus und vom dramatischen Nahausschnitt.222 Diana Cavallo erläuterte, dass Hagedorn vor allem die Darstellung des Brockens am unteren Bildrand stets als das Symbol seiner Kindheit und Heimat betrachtet und oft lange kontemplativ vor dieser Arbeit verweilt hatte,223 wie auch die Bildnisform des Andachtsbildes Erbauung durch Kontemplation ermöglicht.

3.2.4.1.4 Weitere Überlegungen zum Entstehungshintergrund und zu möglichen Inspirationsquellen Ob Hagedorn ein kunsthistorisches Vorbild für die Darstellung einer gewaltsam abgetrennten Hand kannte, kann an dieser Stelle nicht belegt werden. Geht man über den Gedanken der Trennung, der Ablösung (von der Heimat) hinaus, kann in diesem Werk auch eine negative Reflexion liegen, mit dem Bedenken der Kehrseiten der Emigration, begonnen mit einer Einsamkeit in der Ferne, einer gewissen Unabwendbarkeit, möglicherweise dem Gedanken daran, dass, wenn seine Hand nicht mehr vorhanden oder erkrankt wäre, er seinen Beruf, dessentwegen er ausgewandert ist, nicht mehr ausüben könnte. Natürlich sind damit auch diejenigen Erinnerungen an die Heimat und sein bisheriges Leben konnotiert, die ihm Schmerz bereitet haben, wie das Erleben des Zweiten Weltkrieges, die ungewisse und arbeitsreiche Zeit zwischen Kriegsende und Flucht in die BRD, vielleicht auch die Scheidung seiner nur kurzen Ehe.

221 Vgl. Art. „Abwehrzauber“, in: Verband deutscher Vereine für Volkskunde (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Volkskunde. Abteilung 1: Aberglaube. Sp. 133-149. — Vgl. Art. „Apotropaion“. In: Lexikon der Kunst Bd. 1. Leipzig 2004, S. 217. 222 Vgl. Art. „Andachtsbild“. In: Lexikon der Kunst Bd. 1. Leipzig 2004, S. 157. — Vgl. Karl Schade: Andachtsbild, die Geschichte eines kunsthistorischen Begriffs. Weimar 1996. 223 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 99

Sieht man sich die mit der Bedeutung von Leid verbundenen Hände bei Käthe Kollwitz (Abb. 128) an, so erwecken diese die Vorstellung von Schutz, so wie auch Hagedorns Hand in gewisser Weise schützend über der geliebten Harzlandschaft hängt. 1914 hatte Giorgio de Chirico in seinem Gemälde „Le Chant d’Amour“ (Abb. 129) einen roten Gummihandschuh an eine Hauswand genagelt, daneben schwebt ein weißer, marmorner Kopf einer antiken Statue. Auch wenn es sich dabei nicht um eine Hand handelt, so spricht aus dieser Darstellung ebenfalls das Moment der Leblosigkeit, da der Handschuh schlaff herabhängt; die rote Farbe assoziiert hier nicht lebensspendendes Blut, sondern neben einer möglichen Gewaltanwendung auch die Banalität eines Gummihandschuhs als künstliches, billiges Produkt. Hagedorn zeigt eine tatsächliche Hand und auch wenn diese gewaltsam vom Körper getrennt und damit tot ist, so wird sie mit der Darstellung in dem herabhängenden Amulett zu einer Pretiose von Bildnischarakter. Zwei Jahre nach Hagedorns Hand zeigt de Chirico in „Metaphysical Interior with Hand of David“ (Abb. 130), 1968 erneut ein Handmotiv und auch er bindet es diesmal als goldgerahmtes Bild in seine neometaphysische Szenerie ein. Es handelt sich aber im Gegensatz zu Hagedorns toter Hand um die kräftige, junge sehnig-muskulöse Hand des „David“ Michelangelos. Hagedorn überhöhte die Darstellung dieser Hand, indem er ihre Wahrnehmung zwischen der einer Reliquie und der einer Ikone ansiedelt. Dieses religiöse Bezugsfeld hat für Hagedorn keine inhaltliche Bedeutung, aber er nutzt dessen Ikonologie, um seine Darstellung zu akzentuieren. Die abgeschlagene Hand ruft Gedanken an Hand- oder Armreliquiare hervor. Das herabhängende Amulett umfasst zudem die Hand wie eine Mandorla und als ein kleines, auf Holz gemaltes Tafelbild nimmt diese Arbeit auch die äußere Form einer Ikone an, wobei es die, dieser Bildgattung zu eigene, formale Übersteigerung wie auch die Anwendung der Bedeutungsperspektive) übernimmt.224 So stellt sich dies auch in dem slowenischen Ikonenmosaik „Die Seelen der Gerechten in der Hand Gottes“ (Abb. 131) aus dem Zeitraum 1406 bis 1418 dar. Die in rote und blaue Gewänder gehüllten Menschen stehen eng gedrängt in einer übermächtig-großen, göttlichen

224 In diesem Kontext soll darauf verwiesen sein, dass im Besonderen die russische Ikonenmalerei die Relevanz medizinischer Tatsachen wie beispielsweise (Hand-)transplantationen in ihre Bildprogramme integriert hatte. Vgl.: Jörgen Schmidt-Vogt: Russische Ikonenmalerei und Medizin. München 1980, S. 123f. 100

Hand. Die Hand ragt ebenfalls vom oberen zum unteren Bildrand, ist dem Betrachter jedoch mit der Innenseite zugewandt und sie umfasst die kleinen Menschen sicher mit den Fingern. Wo Hagedorn aus dem Handgelenk gewaltsam Blutgefäße und Knochen herausragen lässt, schließt dort die Hand mit einem breiten, goldverzierten Armreifen ab, wobei aber auch Hagedorns Hand mit den beiden Ringen geschmückt ist.

3.2.4.1.5 „The Hand of my Aunt“ als Ausblick auf das spätere Hauptwerk Die Hand findet eine reale Bezugsperson in Hagedorns Jugendzeit. Die von ihm im Bildtitel benannte „Tante“ sei die Mutter seines Schwagers gewesen, die der junge Hagedorn stets „Tante“ nannte. Die Frau hatte eine Buchhandlung geführt und er hatte sie stets als eine extrem einschüchternde Person wahrgenommen.225 Damit ist diesem Bild eine durchaus negative Erfahrung eingeschrieben, was als ein deutlicher Hinweis darauf bewertet werden darf, dass Hagedorn nun endgültig mit derlei früheren Erfahrungen gebrochen hatte und sich auf seine Zukunft zu konzentrieren gedachte. Gleichermaßen ist es ihm gelungen, die negative Konnotation wieder aufzuheben, indem er mit dem Bild sein anatomisches Interesse formuliert. Denn vorausblickend auf das später entwickelte Hauptwerk, ist diese Arbeit als ein Richtungsweiser für Hagedorns künftige künstlerisch- inhaltliche Interessen zu verstehen. Durch die dünne weiße Haut erkennt der Betrachter, welche Knöchel, Sehnen und Adern sich darunter verbergen und am abgetrennten Handgelenk treten dann direkt Knochen und Blutgefäße hervor. Diese Innenwelt des menschlichen Körpers, deren Funktionsweisen von Blutkreislauf bis hin zum Nervensystem waren die Belange, die Hagedorn in seiner künftigen Malerei umzusetzen gedachte, für die er tiefes Interesse hegte und die er in seinen Werken mit mechanischen und technischen Elementen sowie mit weiteren Symbolen und Zeichen in Einklang zu bringen gedachte.226 Es ist dabei nicht belegt, ob Hagedorn die medizinhistorische Nutzung von Totenhänden, oder die Möglichkeit des Einsatzes von Totenhänden vor Gericht kannte, wonach diese Hände als Beweisindiz galten.227 Hagedorn, der dem

225 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 226 Vgl. Kat. Kunsthalle, S. 17. 227 Vgl. Christiane Wagner/Jutta Falling: Vielmals auf den Kopf gehacket…Galgen und Scharfrichter in Hessen. Nidderau 2008, S. 123f. 101

Kunstfilm und dem surrealistischen Film sehr zugewandt war,228 könnte jedoch Robert Wienes expressionistischen Film „Orlac’s Hände“229 gesehen haben, der die dem Titelhelden angenähten Hände in einer ähnlich knöchernen Variante motivisch inszenierte. Der medizinisch-fundierte Blick in das Innere des Körpers evoziert den Gedanken an Arbeiten aus dem Gesamtwerk Max Ernsts, der die Zustände der Verborgenheit (wie bei Hagedorn das Durchscheinen durch die weiße Haut) und der Öffnung (bei Hagedorn die gewaltsame Öffnung am Handgelenk) ebenfalls thematisiert hatte.230 Max Ernst hatte bereits 1923 die Arbeit „Man muß die Realität nicht so sehen, wie ich bin“ (Abb. 132) gemalt. Darin bewegt sich auf der Mittelachse ein weiblicher Akt, in dessen Torso der Betrachter, vergleichbar mit einem Röntgenbild, Einblick nehmen kann. Ohne den Leib der Figur gewaltsam zu öffnen, liegen Rippenbögen und Eingeweide frei und sind in einer zartbunten Farbigkeit gestaltet. Am rechten Bildrand wird die Figur von einer scherenschnittartig geformten, ebenfalls weiblichen Figur begleitet, beide scheinen einen Tanzschritt zu vollführen. Ernst dachte vor allem an eine uneingeschränkte Verehrung der Frau und deren innere und äußere Schönheit, die er mit seinen surrealistischen, veristischen und dadaistischen Stilmitteln in die ihm eigene Bildwelt integrierte. Für ein besseres Verständnis einerseits und als direktes Bildmaterial andererseits hatte Ernst papierne Puppen herangezogen, die für den Anatomieunterricht hergestellt wurden und deren Torso sich in mehreren Schichten öffnen ließ, damit der Blick bis auf die Eingeweide frei wurde.231 Aus solchen Studien gingen auch Arbeiten wie „Die Anatomie als Braut“

228 Freundliche Mitteilung von Sigrid Bachmann an die Verfasserin. 229 Robert Wiene (Regie)/Louis Nerz (Buch): Orlac’s Hände. Österreich 1924. 90 Minuten. 230 Vgl. Werner Spies: Max Ernst. 1950-1970. Die Rückkehr der schönen Gärtnerin. Köln 1971, S. 131. 231 Derlei „Schicht-Klappbilder“, die einen Blick in das Innere des Körpers ermöglichen, gibt es seit dem 16. Jahrhundert. Die Kenntnis und die Studien über das Körperinnere manifestierten sich dann ab etwa 1600, da zu dieser Zeit ein neues Gefühl für Körperlichkeit und Raum entstanden war. Vermehrte bildliche Wiedergaben des Inneren treten ab der Mitte des 17. Jahrhunderts auf. Mit fortschreitenden anatomischen Studien wurde das Interesse der Künstler an der menschlichen Anatomie geweckt, was sich bereits seit dem 15. Jahrhundert deutlich zeigt, jedoch zunächst mit Fokussierung auf die Muskeln, die Haut und die Beweglichkeit des Skeletts. Ein Interesse an den inneren, organischen Anteilen des Körpers fand innerhalb der Kunst erst später statt. Vgl. Marielene Putscher: Geschichte der medizinischen Abbildung. Von 1600 bis zur Gegenwart. 2., verb. Aufl. München 1972, S. 12-20. 102

(Abb. 133) hervor.232 Inwieweit sich Karl Hagedorn mit der Bildsprache Ernsts auseinandergesetzt hatte, dafür existiert kein Beleg. Dass er zumindest einzelne Werke kannte, davon zeugt seine ebenfalls 1966 entstandene „Liegende“ (Abb. 134), welche wie eine gemalte Rückschau auf „Die Anatomie als Braut“ erscheint. Aufgrund dieser nahezu eklektizistischen Mimetik muss vorausgesetzt werden, dass Hagedorn dieses Werk kannte.

3.2.4.2 Die Gestaltung eines Rosenfensters für die Kirche La Mision El Santo Niño Jesús in Minneapolis/St. Paul

Betrachtet man „The Hand of my Aunt“ als einen visualisierten Bruch Hagedorns mit seinem vorherigen Leben und gleichermaßen als eine Vorausschau auf seine künftig werkprägenden Interessen, so muss an dieser Stelle die Betrachtung seines im Jahr 1969 umgesetzten Entwurfs für ein Rosenfenster an einer Kirche in Minneapolis/St. Paul betrachtet werden. Zum einen zeugt die Auftragsvergabe an Hagedorn, wie rasch der Neuankömmling sich an seinem neuen Wohnort etabliert hatte, zum anderen ist die formale Gestaltung ein früher Hinweis auf die später realisierte Abstraktion. Das Kirchengebäude wurde im Jahr 1854 auf basilikalem Grundriss dreischiffig erbaut.233 Sowohl innen als auch außen zitiert das Gebäude gotisches Formenvokabular. Während des Besuches der Verfasserin vor Ort war ein kurzes Gespräch mit Padre Néptali Rodríguez möglich, wobei in Erfahrung gebracht werden konnte, dass das Kirchengebäude ab dem Jahr 1968 grundlegend renoviert worden war und dass im Zuge dieser Maßnahmen eine Ausschreibung bezüglich moderner Entwürfe für ein Rosenfenster stattgefunden hatte. Hagedorn war zu dieser Zeit bereits einige Jahre als Mitarbeiter bei der Zeitschrift „Catholic Digest“ für die graphische Gestaltung des Blattes verantwortlich.234 Wie Hagedorn von der Ausschreibung erfahren hatte, ist nicht bekannt, jedoch liegt die Verbindung nahe, dass er über diese Tätigkeit von dem Wettbewerb erfahren hatte.

232 Vgl. Spies, Ernst, S. 127-135. 233 Vgl. Roger G. Kennedy: The Basilican Tradition, in: Ders.: American Churches. New York 1982, S. 251-255. Die basilikale Bauform wurde im Kirchenbau Nordamerikas im frühen 19. Jahrhundert erstmals eingesetzt. Die erste Kirche dieses Baustils ist die Basilica of the Assumption, Baltimore Cathedral, Baltimore, Maryland, 1804-18. 234 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 103

Seinem Entwurf wurde stattgegeben und das 4,87 Meter im Durchmesser betragende Fenster nach seinen Ideen in die Westfassade der Kirche eingebaut (Abb. 19). Das Fenster ist formal einer gotischen Maßwerkrose235 nachempfunden und ist damit als eine Fensterrose236 zu bezeichnen. Die Motivik der einzelnen Glaspaneele hatte Hagedorn nach seinen eigenen, formalen wie inhaltlichen, Vorstellungen entworfen. Er integrierte seinen zu diesem Zeitpunkt erreichten Abstraktionsgrad, seine für sein Werk entwickelte Formensprache sowie eine, seinem Werk entsprechende, Farbigkeit in diesen Fensterentwurf. Damit wird das Kirchenfenster zu einem originären Ausdruck von Hagedorns Formenverständnis und grenzt sich damit von einer reinen Auftragsarbeit ab. In einer Ausgabe der „St. Paul Pioneer Press“ wird in einem kurzen Artikel erwähnt, dass die Kirche ein neues Fenster nach Entwürfen Karl Hagedorns erhalten hatte. Der Artikel schließt mit einem kurzen Überblick über die Darstellungen in diesem Fenster.237 Hagedorn kam in der Ausführung dieses Entwurfes seine Arbeit in der Werkstatt Georg Bernhards in Augsburg zugute (Vgl. 2.7.1.2). Dort hatte er bereits während seiner Studienjahre bei der Ausführung von Kirchenfenstern und Wandmosaiken unterstützend tätig werden dürfen. Für das Fenster in St. Paul versuchte er, „…to include symbols of our time as well as those of Christianity.“ 238 Hagedorn hatte für das Rosenfenster eine Verbindung christlicher Ikonographie mit zeittypischen und für seine eigene Werkaussage relevanten Aspekte geschaffen und darüber hinaus eine Verbindung geistlichen und irdischen Lebens. Das konstantinische Kreuz aus den Buchstaben Chi und Rho als ein Verweis auf Jesus Christus bildet den Mittelpunkt der Fensterrose, welcher als ein Sechspass gestaltet worden ist. Die Mitte wird damit zum Ausgangs- und Endpunkt, sie verweist auf Unendlichkeit ebenso wie auf die Trinität. In den zwölf umlaufenden Paneelen, die jeweils in Kleeblattbögen enden, stehen die Elemente Feuer, Wasser und Luft für das irdische Leben, Sonne, Mond und Sterne für eine himmlische Sphäre. Der Regenbogen, der die beiden unteren rechten Flächen verbindet, könnte als ein Symbol für die Bundestreue zwischen Gott und Mensch gedeutet

235 Vgl. Art. „Maßwerkrose“, in: Hans Köpf: Bildwörterbuch der Architektur. 3., überarb. Aufl. Stuttgart 1999, S. 338, Abb. 3. 236 Vgl. Art. „Fensterrose“, in: Ebd., S. 173. 237 New Memorial Rose Window at St. Paul’s-on-the-Hill, in: St. Paul Pioneer Press (1969). 24.11.1969, S. 8. 238 Karl Hagedorn zitiert, in: Ebd. 104

werden.239 Im äußeren Kreis aus zwölf Dreipässen finden sich zwischen den Attributen der vier Evangelisten verschiedene Motive, die das irdische Leben, das moderne Leben, Wissenschaft, Forschung, Fortschritt und Tradition symbolisieren. Beginnt man den äußern Kreis mit dem auf zwölf Uhr stehenden Dreipass mit dem Adler als das Attribut des Evangelisten Johannes im Uhrzeigersinn zu lesen, so zeigt Hagedorn im folgenden Dreipass den Planeten Saturn mit seiner Umlaufbahn. In dem ersten, wie auch in einigen weiteren, Zwickel ist ein Komet zu erkennen. Ein Verweis auf die himmlische Sphäre einerseits, ein zeittypischer Hinweis auf die Raumfahrt andererseits, die in diesem Jahrzehnt für die USA prägendste und fortschrittlichste technische Disziplin.240 Darauf folgen das Symbol für den World Council of Churches241 (Abb. 20) und der Löwe, welcher den Evangelisten Markus symbolisiert. In den beiden folgenden Dreipässen finden sich erneut naturwissenschaftliche Verweise. Neben einem stilisierten, sternförmigen Himmelskörper sind die griechischen Buchstaben Alpha, Beta und Gamma zu erkennen. Nach einem geflügelten Stier, der auf den Evangelisten Lukas hinweist, schließt Hagedorn eine große Sonne mit wellenförmigen Strahlen an und daneben folgen rote, in Winkeln von neunzig Grad gezackte Pfeile. Nach dem Dreipass für den Evangelisten Matthäus schließen sich vier einander gereichte Hände als ein Zeichen für Zusammenleben und Integration an, welches besonders in den USA als ein Einwanderungsland mit vielen Kulturen von beständiger Aktualität und Gültigkeit ist. Der Kreis schließt mit stilisierten

239 2. Mose, 24,9 und 17. Nach der Bundesfeier durften Mose und eine Delegation den Abglanz der Herrlichkeit Gottes sehen, was ihnen wie der Schein von Edelsteinen vorkommt. Als Mose schließlich alleine auf den Berg steigt, wird er am siebten Tag von Gott angesprochen, die anderen, die am Fuß des Berges verblieben waren, sahen die Herrlichkeit Gottes wie eine hell leuchtende Aura. Vgl. Fritz Rienecker/Werner de Boor (Begr.): Wuppertaler Studienbibel. (Reihe: Altes Testament). Das zweite Buch Mose, erklärt von Hansjörg Bräumer. Kevelaer 2005, S. 232 und 234. Die so gesehene Herrlichkeit Gottes wird in den bildenden Künsten durch einen Regenbogen symbolisiert. — Vgl. Renate von Dobschütz: Art. „Regenbogen“. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie. Bd. 5. Rom, Freiburg, Basel, Wien 1971, Sp. 521f. 240 Zu Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde mit den Vorbereitungen für eine mögliche Mondlandung begonnen, die am 20.07.1969 glückte. Das US-amerikanische „Space Program“, welches in seinen Ursprüngen bereits seit 1915 besteht, erlangte ab den fünfziger Jahren erhöhte Aufmerksamkeit in der Bevölkerung. Der von technischem Fortschritt inspirierte Hagedorn hat diese Entwicklungen verfolgt und künstlerisch umgesetzt. Vgl. Günter Siefarth: Geschichte der Raumfahrt. München 2001, S. 44-53. – Vgl. Roger D. Launius: NASA: A history of the U.S. Civil Space Program. Malabar 1994. – Vgl. Michael H. Gorn: Space Program, in: Hugh Richard Slotten: The Oxford Encyclopedia of the History of American Science, Medicine, and Technology. New York 2014, S. 492-496. 241 Vgl. Kapitel 3.1 dieser Arbeit sowie Fußnote 192 dieser Arbeit.

105

Symbolen, die auf Himmelskörper aber auch auf chemische Elemente verweisen können. Aufgrund der Gestaltung aus gebogenen Bahnen mit kleinen Kreisformen darin, kann, hinsichtlich der Verbindung zur Naturwissenschaft, an die stilisierte Darstellung von Isotopen (Abb. 21) gedacht werden. Karl Hagedorn hatte mit diesem Bildprogramm eine universelle Visualisierung aller zeitgenössischen Interessensfelder des modernen, aufgeklärten Menschen geschaffen. Mit der Einflechtung aktuellster Forschungsinteressen, wie die Raumfahrt oder die Nuklearforschung reagierte Hagedorn nicht nur auf den aktuellen technischen Fortschritt. Indem er diese Technologien in einen sakralen Kontext stellt, der bereits durch die Verortung dieser Fensterrose an einem Sakralbau entsteht, zeigt er dem Menschen an diesem Ort des Gebets und der Kontemplation an, dass jeglicher Fortschritt und jegliche menschliche Fähigkeit von Gott gegeben ist. Darüber hinaus aber bindet Hagedorn in diesen öffentlichen Auftrag seine eigenen künstlerischen Interessensfelder, die Technik sowie humanmedizinische Aspekte in das Bildprogramm ein, so erscheint beispielsweise im oberen rechten Paneel des inneren Kreises eine Helix, welche auf die DNS242 des Menschen hinweist. Der Einsatz der bildnerischen Mittel hinsichtlich der Einbettung aller Motive in ein den Hintergrund strukturierendes Geflecht aus geometrischen und biomorphen Formen, die klar gegeneinander abgegrenzt sind und sich durch klare Farbigkeit auszeichnen, ist ein deutlicher Verweis auf sein eigenes Formenvokabular sowie auf seine künstlerische Handschrift. Es könnte eine Interpretation naheliegen, welche die ohnehin runde Fensterrose, allein also durch ihre Kreisform (3.2.5.1), mit einem kosmologischen, gesehen in Verbindung mit ihrer sakralen Verortung, Hintergrund in Verbindung bringt. Tatsächlich sind Fensterrosen mit kosmologischem Inhalt, sei es hinsichtlich der bemalten Glasfüllung, sei es hinsichtlich einer möglicherweise an Himmelskörper erinnernden Lochscheibe,

242 DNS = Desoxyribonukleinsäure. Die DNS ist der Träger der Erbinformation des Menschen. Desoxyribonukleinsäure und Ribonukleinsäure tragen genetische Informationen. 1953 belegten die Wissenschaftler James D. Watson und Francis Crick, dass die DNS in der Form einer Doppelhelix (wie sie Hagedorn hier stilisiert nutzt) erscheint. Im Zuge umfassender Forschungen konnte bereits 1966 der genetische Code der DNS entschlüsselt werden. Vgl. Rudolf Hagemann: Allgemeine Genetik. 4., neu bearb. Aufl. Heidelberg, Berlin 1999, S. 34-38. – Vgl. Melinda Gormley: Genetics and Genetic Engineering, in: Slotten, Oxford, S. 439-444. Es gibt keine Belege dafür, dass Karl Hagedorn von diesen Forschungsergebnissen informiert war. Seine Freundschaft zu den Neurowissenschaftlern Raabe und Alaya, gepaart mit seinem Interesse für solche Fortschritte und Zusammenhänge und nicht zuletzt die Tatsache, dass er in diesem Fensterentwurf mit der Form der Doppelhelix gestalterisch umgegangen war, führen zu der Annahme, dass er diese Entwicklungen durchaus gekannt hatte. Es entspricht auch dem Einsatz der anderen, zeittypischen aktuellen Neuerungen und Interessensfeldern, wie beispielsweise die Verweise auf die Raumfahrt. 106

kaum bis gar nicht erhalten oder vorhanden.243 Hagedorn ist es mit dem Entwurf dieses Kirchenfensters gelungen, ein Dokument seiner eigenen Formensprache sowie also eine seltene Zusammenführung von kosmologischen, irdischen und sakralen Bezügen innerhalb der vollkommenen architektonischen Form der Fensterrose zu hinterlassen. Die Gestaltung der Fensterrose entspricht gänzlich seiner eigenen, zu diesem Zeitpunkt elaborierten, bildnerischen Sprache. Genauso ist es in seiner Modernität einerseits hinsichtlich der formalen Ausgestaltung und andererseits in Bezug auf die Inhaltlichkeit ein Pendant zu den modernen Kirchenbauten seit den fünfziger Jahren in den USA.244

3.2.4.3 Formulierung werkprägender Interessen

„The Hand of my Aunt“ steht mit klarer Form, offen dargestellter Gewalteinwirkung und dem Reichtum an persönlichen Bezügen singulär in Hagedorns Werk, findet aber dennoch eine formale wie inhaltliche Werkumgebung. Der nur wenig später in seinem Entwurf für das Rosenfenster sichtbar gewordene Abstraktionswille verweist formal auf das späte Hauptwerk, welches in den Folgekapiteln der vorliegenden Arbeit in einzelnen Entwicklungsschritten dargestellt werden soll.

3.2.4.3.1 „Mannequin Fragment“, „Patio“ und „Duo“– Wegbereiter des Hauptwerks „Mannequin Fragment“ Bereits 1958, also noch in Deutschland, hatte Hagedorn das Bild „Mannequin Fragment“ (Abb. 135) gemalt, welches in seiner Tonalität und Gemengelage eine Ähnlichkeit zu Fernand Légers „Akte im Wald“ (Abb. 136) evoziert. Auf unbestimmtem, vegetativ und gleichermaßen ornamental anmutendem Grund sind entlang des linken oberen Bildrandes, wie in die Ecke gedrängt, verschiedene Körperteile zu erkennen. Beine, Hand, Brust, Kopf, Hals, Torso alles ist unnatürlich angeordnet, überlagert sich und mutet durch die konstruierte Ausführung vielmehr als Einzelteile mehrerer Schaufensterpuppen, denn als menschliche Körperteile an. Sofern der Betrachter nach einem figürlichen Zusammenhang der einzelnen Körperteile sucht, so kann er dennoch eine mit

243 Vgl. Friedrich Kobler: Art. „Fensterrose“. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. 8. München 1987, Sp. 77. 244 Vgl. Roger G. Kennedy: Participation in Creation and Participation in Community, in: Kennedy, American Churches, S. 41-63. 107

übereinandergeschlagenen Beinen sitzende Frau erkennen, welche die Arme verschränkt hält, mit eleganter Kopfhaltung auf einem manierierten Hals. Hagedorn geht mit dieser Arbeit bereits früh einen Schritt in die von ihm angestrebte Richtung, die äußere menschliche Gestalt auflösen zu wollen. Auf der Grundlage seiner, im Jahr 1958 noch jungen Erfahrung mit den Möglichkeiten der klassischen Moderne, insbesondere derer des Kubismus, ist es verständlich, dass er diese Auflösung zunächst über die Aufteilung oder Zerstückelung in einzelne Gliedmaße zu realisieren suchte. Légers Akte sind nicht zerstückelt, aber sie sind deutlich in ihre einzelnen Körperteile aufgespalten, indem Léger sie gänzlich in kantigen, geometrisch inspirierten Formen darstellt. Er suchte nach einer Integration der Akte in die natürliche Umgebung des Waldes.245 Hagedorn greift mit „Mannequin Fragment“ die beginnende Zerlegung von Figuren sowie deren Integration in die Bildfläche auf, verzichtet aber auf das Element der Natur gänzlich. Um die Auflösungstendenz anzuzeigen, arbeitete Hagedorn jedoch mit einer weichen, vereinheitlichenden Tonalität, durch die sich das Mannequin nur in wenigen, in Weiß gemalten, Körperpartien von der ornamentalen Grundfläche abhebt. Während Léger diese Tonalität nutze, um die Menschen in die sie umgebende Natur einzuschreiben, nutzte Hagedorn diese, um die fortschreitende Auflösung anzuzeigen und um der gleichzeitigen Integration der einzelnen Körperteile in den Bildgrund vorzugreifen, die er in seinen späteren Werken vollumfänglich umgesetzt hatte.

„Patio“ Dennoch ist er mit dieser Arbeit seinem Ziel der Formauflösung bereits näher als mit der nur zwei Jahre früher entstandenen Arbeit „Patio“ (Abb. 137). In diesem Bild sind die Protagonistinnen in einer vergleichbaren, puppenähnlichen, Anmutung gearbeitet. Auch wenn sich die Bildanlage, vor allem hinsichtlich der Überlagerung der Körper und der optischen Verkürzung stark an „The Spearing“ (Abb. 32) orientiert, zeigt Hagedorn hier die Körper unversehrt in ihrer Gänze. In optischer Verkürzung liegen oder schweben diese Wesen dicht gedrängt wie

245 In dieser Arbeit komprimierte Léger alle Formen, die der Natur wie auch die der Menschen, auf einfache Geometrie. Dazu fasste er alle Bildbestandteile in eine gedämpfte Tonalität unter weitgehenden Verzicht auf die Modellierung mit Licht und Schatten zur Erzeugung von Volumina. Die Integration dieser Akte in die Natur steht in der Tradition der Figur im Einklang mit der Natur seit Henri Matisse und Paul Cézanne. Vgl. Christopher Green: Wandlungen der Figur. Fernand Léger als Figurenmaler 1909-1927, in: Gohr, Léger, S. 23. 108

Astronauten in der Schwerelosigkeit durch den Bildraum, der seine Räumlichkeit nur durch die perspektivisch konstruierten Figuren erhält, während der Hintergrund ein Geflecht und Nebeneinander diverser Farbflächen und Formen ist. Die schwerelose Stille, von welcher diese Figuren getragen werden, erinnert an Traumszenarien. Sie scheinen in einem Vakuum zu schweben, gleich einem Astronauten in der Schwerelosigkeit.246 Die Verbindung zur Realität, die Hagedorn knüpft, ist die Verbindung zum Werk Richard Lindners. Hagedorn hatte sich in diesen Jahren intensiv mit dessen Arbeit auseinandergesetzt und „Patio“ greift bereits typische Merkmale Lindners auf, wie die engen Mieder, die Strumpfbänder sowie die ostentativ gemalten Brüste, die Hagedorn mit übergroßen Brustwarzen zu Zielscheibenmotiven verwandelt. Auch wenn die Hauptfiguren unversehrt dargestellt sind, werden sie dennoch flankiert von einzelnen Köperteilen. Der Betrachter vermag so die Szenerie beliebig auszuweiten und Hagedorn gelingt die gewünschte Auflösungstendenz. Diese Arbeit, sowie „Mannequin Fragment“ und die 1968 entstandene Arbeit „Duo“ (Abb. 138) erinnern zudem an die Bildgestaltung eines Hans Bellmer, dessen Werk auch für Lindner eine wichtige Quelle bedeutet hatte247 und der einen erneuten Rückbezug auf die Arbeiten Max Ernsts, hinsichtlich dessen anatomisch inspirierter Bilder ermöglicht. Möglicherweise kannte Hagedorn Bellmers Zeichnungen oder Aufnahmen seiner beiden selbst konstruierten Puppen, die bereits 1934 erstmals in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure

246 Hinsichtlich Hagedorns belegtem Interesses an technischem Fortschritt wird ihm hier ebenfalls ein Interesse an den Entwicklungen der Raumfahrt unterstellt. In seinem Entwurf für das Kirchenfenster in Minneapolis hatte er auch astronomische Elemente eingesetzt. Die Thematik der Raumfahrt, der Schwerelosigkeit und die Erforschung des Weltraums in Verbindung mit den Möglichkeiten des technischen Fortschritts und dessen Auswirkungen auf die Bildende Kunst, wurden anhand der Werke von Christoph Inderwiesen im Jahr 1992 in einer Ausstellung im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft zusammengefasst. Vgl.: Christoph Inderwiesen/Wilhelm Salber (Hgg.): Das kalte Herz, zum Dialog zwischen Kunst, Wissenschaft und Technik. Kat. Ausst. Mönchengladbach 1992. Zur Entwicklung der Raumfahrt vgl. Günter Siefahrt: Die Geschichte der Raumfahrt. München 2001. Die Verbindung von Raumfahrt und Kultur hält bis heute an, wie es die Ausstellung „Outer Space: Faszination Weltraum“ zeigte, die 2014 -2015 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn stattgefunden hatte. Vgl. Claudia Dichter und Peter Schamoni: Outer Space: Faszination Weltraum. Kat. Ausst. Berlin 2014. 247 Vgl. Claudia Loyall: Richard Lindner, ein Emigrant in New York. Zum Selbstverständnis des Künstlers 1950-1953. Mit einem Anhang unveröffentlichter Korrespondenz an Hermann und Toni Kesten. (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 28. Kunstgeschichte. Bd. 246), S. 68-73. Und zu Hans Bellmer vgl. Wieland Schmied: Der Ingenieur des Eros. Erinnerungen an Hans Bellmer, in: Michael Semff/Anthony Spira (Hgg.): Hans Bellmer. Kat. Ausst. Ostfildern 2006, S. 13-33. – Vgl. Agnès de la Beaumelle: Hans Bellmer: Puppenspiele und Zeichensprache, in: Ebd., S. 41-55. 109

veröffentlicht worden sind.248 Bellmer thematisierte die Anatomie des weiblichen Körpers, in verzerrten, verletzten Positionen und visualisierte eine rohe, teilweise abstoßende Sexualität (Abb. 139).249 Seine Sichtweisen des weiblichen Körpers jedoch, wurden zu einem elementaren Teil des surrealistischen Formen- und Körperverständnisses.

„Duo“ Während in Hagedorns „Mannequin Fragment“ die dargestellten Gliedmaßen und Körperteile zwar zerteilt sind, aber der Fokus weder auf vordergründiger Gewalt, noch Sexualität liegt, sondern vielmehr auf der Auflösung der realen Körperform, so rückt seine Darstellung in dem 1968 entstandenen Werk „Duo“ wiederum näher an diejenige Hans Bellmers heran, indem er den weiblichen Körper radikal auf seine primären und sekundären Geschlechtsmerkmale reduziert (Abb. 140). Somit blickt der Betrachter direkt zwischen die weit auseinander und nach oben gespreizten Beine einer Frau, direkt darüber ragen die Brüste als zwei halbkreisförmige Objekte auf, die aus mehreren Ringen gestaltet sind und die Ästhetik der Zielscheibe in sich tragen. Auch diese Figur ist aus einzelnen Teilen zusammengefügt, konstruiert und hat außer der äußeren Form keinen körperhaft- menschlichen Bezug. Die beiden großen, wuchtigen Oberschenkel bestehen aus einer metallenen Außenhaut, die aus einzelnen geschwungenen Formen zusammengenietet worden ist, ähnlich einer Rüstung. An der Stelle der Knie, die aus metallenen Endkappen bestehen, endet die Darstellung dieser Beine. Zwischen den weit geöffneten Beinen stellt Hagedorn aber nicht etwa das weibliche primäre Geschlechtsorgan dar, sondern lässt diese Partie frei, um dort einige Zahlen und Zeichen anzuordnen. An der Stelle einer möglichen Körperöffnung setzt er eine rote Null. Der Betrachter verknüpft mit dieser Codierung die Vorstellung eines Nullpunktes, was den Gedanken an Gustave Courbets „Ursprung der Welt“ (Abb. 141) hervorruft. Letztendlich wird davon ausgegangen, dass die Darstellung und Stilisierung der Körperformen für Hagedorn von größerer bildnerischer Bedeutung war, als die Darstellung bloßer, sexuell konnotierter Ansichten. Vom unteren Bildrand zieht sich in „Duo“ exakt

248 Hans Bellmer: Poupée: variations sur le montage d’une mineure articulée, in: Minotaure: revue artistic et littéraire, Nr. 6. Jg. 1934, S. 30f. 249 Auch Claudia Loyall verweist auf Bellmers „Die Puppe“ als ein mögliches Vorbild für die Arbeiten Richard Linders, vgl. Loyall, Lindner, S. 68-70. 110

durch die Körpermitte bis über die beiden Brüste eine feine vertikale Linie, die knapp über den Brüsten von einer Horizontalen durchkreuzt wird. Im Kreuzungspunkt steht erneut eine Null, dort wo ein Gesicht zu vermuten wäre und die Konstruktion erweckt den Anschein eines Fadenkreuzes. Die gesamte Form ist umgeben von unregelmäßig auslaufender roter Farbigkeit,250 die weitere Bildfläche hingegen bleibt leer. Während Bellmer einen Körper zeigte, der sexuell-gewaltsam deformiert worden ist, versuchte Hagedorn, menschliche Körperhaftigkeit in metallene und graphische Formen zu übertragen. Diese Bildidee wird gestützt durch zwei Studien. Eine Zeichnung (Abb. 142) aus 1960 zeigt eine weibliche Figur in komplizierter Körperhaltung. Ihr Körper ist unterteilt in einzelne Partien, die den Muskeln und Sehnen entsprechen, vor allem im ausgestreckten rechten Bein lässt die Darstellung den Blick zudem auf das Körperinnere, vorrangig auf die Knochen zu.251 Alle Segmente sind überfasst von feinen gestrichelten angedeuteten Kreisen und Linien, sodass der gesamte Körperaufbau an eine Konstruktionszeichnung erinnert. Wären die einzelnen Segmente nicht zu der äußeren Form einer menschlichen Figur zusammengefügt, so könnte es sich auch um die Entwurfsskizze für ein mechanisches Gerät handeln; die formale Nähe zu einem Roboter ist evident.252 Diese Zeichnung zeigt zwar einen intakten Körper, die offensichtliche Unterteilung aber birgt den Vorgriff auf eine Zerteilung. Allein durch die unnatürliche Körperhaltung überlagert Hagedorn das natürlich-humane Element durch das technisch-konstruierte Moment, jedoch ohne die organische Relevanz zu verleugnen. Ein deutlicher Hinweis auf seine spätere Bildintention, der eine Fortsetzung findet in einer weiteren Studie aus demselben Jahr (Abb. 143) Auf einem Lager aus einer Vielfalt von geometrischen und weiteren Formen liegt eine Person. Markiert wird die menschliche Figur lediglich durch

250 Hier stellt sich die Frage, ob durch die Farbe Rot ein Bezug zur Menstruation geknüpft werden darf. Hinsichtlich des angedeuteten Nullpunktes und in der Interpretation dessen als einen lebenspendenden Ursprung ist dieser Vergleich evident, ebenso hinsichtlich Hagedorns Interesse an organischen Funktionsweisen. Jedoch finden sich in anderen Werken keinerlei Auseinandersetzungen mit dieser weiblichen Thematik und auch keinerlei Aussagen oder Bezugnahmen in seinen Aussagen. 251 Richard Lindner hatte anhand schematischer Abbildungen, die Metzger nutzen, um die einzelnen Partien von Tierkörpern korrekt benennen und aufbereiten zu können, studiert, wie ein Körper aufzuteilen ist und wie die einzelnen Körperteile zeichnerisch zu behandeln sind. Vgl. Loyall, Lindner, S. 70. — Vgl. Johannes Schaaf (Regie): Richard Lindner. Deutschland 1977. 44 Minuten. 252 Eine genaue Ausführung zur Relevanz der Kreisform in Hagedorns Malerei erfolgt ab Kapitel 3.2.5. der vorliegenden Arbeit. 111

einen Torso in der linken Bildhälfte, einen rechten Arm, der nur aus einem Knochen zu bestehen scheint, sowie zwei Beinen, die jeweils oberhalb des Knies enden. Die Person ist als solche nicht mehr im Bild vorhanden, ihre körperhaft anmutenden Segmente, aus denen sie besteht, erscheinen wie blecherne und konstruierte Versatzstücke, ähnlich einer Rüstung. Diese Vorarbeiten verweisen auf Hagedorns Interesse, der Figurenzerlegung zugunsten einer technoiden Erscheinungsweise des Menschen. Vor allem die metallische Ausformung von Körperteilen findet ihren Niederschlag in der Arbeit „Duo“.

3.2.4.3.2 Fortführung der erotisch konnotierten Motivik Das für den Betrachter offensichtliche sexuelle Moment in „Duo“ chiffriert Hagedorn mit Zahlen und geometrischen Formen, was den eigentlichen Gegensatz zu Bellmer bezeichnet, dessen Arbeiten gänzlich von Erotik bestimmt sind.253 Erotik und Körperlichkeit sind zwar auch in Hagedorns Arbeiten immanent, jedoch bei Weitem nicht in dem Maße prägend, wie bei Bellmer. Es ist nicht belegbar, ob Hagedorn sich mit den Schriften Ernst Fuchs‘254 auseinandergesetzt hatte, die für sein Vorbild Richard Lindner von großer Bedeutung waren. Fuchs manifestierte, dass das künstlerisch konstruierte Bild eines erotischen weiblichen Körpers auf dem Prinzip der Zusammenstückelung basiere, worin auch eine einzelne Körperpartie übertrieben in den Vordergrund gerückt werden kann.255 In der Annahme, dass Lindner im Rückgriff auf Fuchs mit seinen konstruierten Frauen ein erotisches Wunschbild schafft, so kann festgestellt werden, dass Hagedorn ebenfalls dem Prinzip der körperlichen Einzelteile folgte, diese aber nicht zu einer Figur zusammen fügte, sondern diese einzeln, eben zerstückelt, präsentierte und damit die Auflösung der Figur in Abstraktion für sein späteres Werk vorangetrieben hatte. Während „Mannequin Fragment“, „Patio“ und „Duo“ nur noch ein Verweis auf Gesamtkörperlichkeit sind, so sollen im Folgenden aber auch Arbeiten besprochen werden, die unversehrte Figuren zeigen. Die Auflösungstendenzen, welche Hagedorn für die menschliche Figur verfolgte, entsprechen damit nicht der Theorie Fuchs‘, sondern sind vielmehr von einem Abstraktions-Wollen

253 Vgl. Wieland Schmied: Notizen zu Hans Bellmer, in: Kestner Gesellschaft Hannover (Hg.): Bellmer. Kat. Ausst. Hannover 1967, S. 5-12. 254 Ernst Fuchs: Die Geschichte der erotischen Kunst in Einzeldarstellungen. München 1926. 255 Ebd., S. 4. 112

determiniert. Dass er sich auf dem Weg in seine persönliche Abstraktion neben den figurauflösenden Versuchen auch der rein figurativen Malerei zuwandte, basiert einerseits auf dem Einfluss Richard Lindners, andererseits auf Hagedorns Interesse an der menschlichen Figur, welches aufzeigt, dass er sich nur über deren volles Verständnis ihrer Auflösung nähern konnte. Wie es „The Hand of my Aunt“ und das bereits 1963 gemalte Bild „Iokaste“ anzeigen, suchte Hagedorn also über die Darstellung des Äußeren Einblick in das Innere zu erlangen, was die durch die Haut scheinenden Knochen und Sehnen bereits vorgreifen. Die körperliche Unversehrtheit, die Hagedorn anschließend in seiner Anlehnung an Lindner erreichte, trug nicht nur zum Formenverständnis der Figur bei, sondern darüber hinaus auch zu einer klaren, flächigen Malweise in klar abgegrenzten Formen.

3.2.4.3.3 „Iokaste“ als Vorbote an die Annäherung an die Werke Richard Lindners Die nicht der zeitgenössischen Malerei entsprechende Körperlichkeit der toten Hand aus „The Hand of my Aunt“ findet ein Pendant in der Darstellung eines weiblichen Körpers aus dem Jahr 1963. Diese Figur mit hervorgewölbtem Bauch und kleinen Brüsten erinnert den Betrachter an das Schönheitsideal des Mittelalters, aber auch an Darstellungen aus der Renaissance256 und ist mit dem Namen „Iokaste“ (Abb. 35) betitelt. Wie in der Darstellung der Hand zeigt Hagedorn auch hier eine sehr feine Malerei der weißen, fast gräulichen und damit leblosen Haut. Der dünne Körper gibt erneut den unnatürlichen Blick auf die unter der Haut liegenden Gelenke und Knochen, insbesondere auf den gesamten Brustkorb und die Knie frei und erweckt vielmehr die Anmutung eines Skeletts, statt die eines lebendigen Körpers. Die einzeln dargestellten Rippen und die klar hervortretenden Schlüsselbeine sollen in späteren, abstrahierten Werken Hagedorns als eigene freie Elemente einen bedeutenden Platz einnehmen (3.2.6.6). Dem leblosen Körper entgegen steht das zwar starre, aber dennoch wohlgeformte Gesicht mit übergroßen Augen und ausladendem, sehr schwungvoll arrangiertem Haar, welches die ornamental-dekorative Gestaltung von Haar in Werken des Jugendstils (Abb. 145) wiederholt. In die Haarfülle integriert, sind um den unteren

256 Beispielsweise Sandro Botticelli, Die Geburt der Venus, 1485/86, Tempera auf Leinwand, 278,5x172,5cm, Uffizien, Florenz. (Abb. 144). 113

Haaransatz herum Perlen eingebunden, oder Haarkämme, die mit Perlen enden, ein Element, welches sich in Muchas Darstellung ebenfalls wiederholt. Das Haupt der Dargestellten ist mit einer Tiara bekrönt, an deren Enden ebenfalls Perlen aufgesetzt sind. Diese Bekrönung wird hinterlegt von einem kleinen, abstrakten Arrangement aus erdigen Farbflächen. Gerade die übergroßen Augen der Frau lassen den Betrachter über den Zustand der Dargestellten im Unklaren. Es kann nicht belegt werden, ob diese auf Lebendigkeit oder auf Totenstarre hinweisen. Denkt man an die stark vergrößerten Augen ottonischer Buchmalerei, so vermitteln diese eine hohe Ausdruckskraft; die auffällig großen Augen, welche die von Georg Schrimpf portraitierten Personen aufweisen, gehen vor allem von großen Erwartungen aus, oft verknüpft mit nachdenklicher Pose oder dem Blick aus dem Fenster.257 Eine an Kitsch angrenzende Melancholie geht von den Portraits von Kindern mit übergroßen Augen aus, welche die US-amerikanische Malerin Margarte Keane258 schuf und die in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA große Popularität erreicht hatten. Es ist möglich, dass Hagedorn diese Werke bekannt waren und er einen ironischen Hinweis darauf in seinem Werk verankert hatte. Da diese Augendarstellung in Hagedorns Werk singulär bleibt, kann kein eindeutig geltender Einfluss festgelegt werden, aber auch der Surrealismus, aus welchem Hagedorn diverse Inspiration schöpfte, thematisiert das Auge, hier in erster Linie René Magritte „Der falsche Spiegel“ (Abb. 147)259 oder die besondere Rolle des Auges in Salvador Dalís „Ein andalusischer Hund“.260 Am unteren Bildrand von „Iokaste“ erkennt der Betrachter, dass die Figur hinter einem niedrigen Aufbau steht, der aus einer großen Zielscheibe geformt ist, welche von zwei weiteren kleineren Zielscheiben links und rechts flankiert wird; somit erscheint auch hier erneut das Target-Motiv in Hagedorns Malerei.

257 Georg Schrimpf, Bildnis der Maria Uhden, 1918, Privatsammlung, Hamburg. (Abb. 146). 258 Margarete Keanes Werk steht vor allem unter den Zeichen des Betrugs, dass ihr Ehemann ihre Werke nicht nur vermarktet, sondern sich als deren Urheber ausgegeben hatte. Obwohl diese Werke die Grenze zum Kitsch tangieren, erfreuten sie sich in den USA äußerster Beliebtheit. 259 Neben dieser werkprägenden Arbeit, hatte sich Magritte auch in „Die poetische Welt“ (1930) sowie in „Das Auge“ (1932) weiterhin mit dem Motiv des Auges auseinandergesetzt, genauso wie in dem erst 1950 entstandenen „Sheherazade“. 260 Salvador Dalí (Buch und Regie)/Luis Buñuel: Ein andalusischer Hund. Frankreich 1929. 16 Minuten. Dalís filmisches Kunstwerk „Ein andalusischer Hund“ galt Hagedorn als der relevanteste unter den Kunstfilmen des Surrealismus. Die wiederkehrende Szenerie des durch eine Rasierklinge zerteilten Auges dient in diesem Zusammenhang einerseits als Inspirationsquelle für Hagedorns Fokussierung auf die Augen, zum anderen ist die Zerteilung ein Rückbezug auf die fortschreitende Körperzerlegung innerhalb Hagedorns Malerei auf dem Weg in die Abstraktion. 114

Die hinter den Rücken gelegten Arme und der kleine, irrtümlich in den Unterschenkel der Figur statt in die Zielscheibe geworfene Pfeil verleihen diesem Bild zudem die Anmutung einer Darstellung des Heiligen Sebastian, der einerseits in gotischen Darstellungen mit einem knöchernen, abgemagerten Leib und andererseits ab der Renaissance oft stark effeminiert gemalt worden ist.261 Die Dargestellte könnte sowohl tot als lebendig sein, worauf an anderer Stelle erneut eingegangen wird. Die weitaufgerissenen Augen sind kein Beleg für die Lebendigkeit, doch die kleine Blutspur, die aus der Pfeilwunde austritt, könnte darauf hinweisen, dass die Person noch am Leben ist. Die plakative Darstellung des Körpers im schmalen Hochformat und der, das helle Inkarnat stark kontrastierende, schwarze Hintergrund erinnern teilweise an einen Sarg; zusammen mit dem fächerartigen Umhang aus zarten Federn zeugt diese Arbeit auch von der starken Beeinflussung Hagedorns durch die Arbeiten Richard Lindners, der die 1951 entstandene „Woman in Corset (Anna)“ (Abb. 148) ebenfalls vor schwarzem Hintergrund in einem Zwischenzustand zwischen Tod und Leben malte. Im Folgenden wird noch anzusprechen sein, in welche stilistische Nähe Hagedorn im Verlauf der sechziger Jahre zu seinem Vorbild Lindner gerückt ist und wie er sich letztlich inhaltlich wie malerisch von dem zwanzig Jahre älteren Künstler ablösen konnte. Die Einflechtung der Haarfülle und der Perlentiara in das kleine Hintergrundornament, wie sie Hagedorn in „Iokaste“ vornimmt, entsprechen frühen Arbeiten Lindners, in denen dieser eine Verknüpfung seiner Figuren in einen abstrahierten, geometrischen Hintergrund suchte. Besonders die reglose Frau aus Lindners „Woman in Corset (Anna)“ ist ein starker Bezugspunkt. Das 1951 entstandene Gemälde war Teil der Regis Collection,262 es ist anzunehmen, dass Hagedorn es in Minneapolis gesehen hatte. Die Frau steht oder liegt vor einem einheitlichen dunklen Hintergrund. Besonders die nicht animierte Darstellung der Frauen und das Schwarz der Bildhintergründe, sowohl bei Lindner als auch bei Hagedorn, erwecken die Vorstellung eines offenen Sarges

261 Vgl. Witt-Braschwitz: Greise Heilige, S. 7. — Vgl. Dies.: Die effeminierte Darstellung Johannes des Täufers in der Malerei des Cinquecento. Hamburg 2006. 262 The Regis Collection ist eine Firmensammlung, die der Inhaber der Friseurkette Regis, Myron Kunin in Minneapolis begründet hatte. Nach dessen Tod im Jahr 2013 gingen weite Teile dieser Sammlung amerikanischer Kunst des 20. Jahrhunderts in das Minneapolis Institute of Arts über. Vgl. Marianne Combs: Private art collection goes public, in: Minnesota Public Radio. In: URL: http://news.minnesota.publicradio.org/features/2005/12/01_combsm_villa/ (Stand: 30.09.2016). 115

oder verweisen zumindest auf den Gedanken, die Dargestellte könnte bereits tot sein. Einen vergleichbaren Gedanken evoziert Lindner auch in seinen Bildnissen „Verlaine“ (Abb. 149) aus dem Jahr 1953, und „Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788“ (Abb. 150) aus 1951. Die Zierleisten und Tapeten hinter Verlaine sind so gestaltet, dass der eigentlich Stehende sich auch im einen Sarg befinden könnte, Kant steht wie „Iokaste“ aber auch wie „Woman in Corset (Anna)“ vor gänzlich schwarzem Hintergrund und alle Figuren verbindet dieselbe Steifheit.263 Bezugnehmend auf den Bildtitel „Iokaste“ verstärkt sich die Annahme, eine Tote sei dargestellt. Iokaste, die Mutter und spätere Ehefrau des Ödipus hatte sich das Leben genommen. Jedoch hatte sie sich gemäß der mythologischen Überlieferung erhängt.264 Hagedorns Iokaste scheint, wenn überhaupt, eher dem Sebastians-Tod durch Erschießung mit Pfeilen zu erliegen. Zur gleichen Zeit evozieren die Zielscheiben am unteren Bildrand die Zurschaustellung einer plakativ nackten Frau, im Sinne Richard Lindners. Da jedoch vor allem der Körper in Hagedorns Darstellung nur wenig erotische Anziehungskraft besitzt, kann die Zielscheibenmotivik auch ein weiterer Hinweis auf das Leben Iokastes sein. Nachdem es deutlich geworden war, dass sie nicht nur mit ihrem eigenen Sohn verheiratet war, sondern mit ihm auch vier Kinder gezeugt hatte, nahm sie sich das Leben. Hagedorns Komposition, Iokaste wie Sebastian mit auf dem Rücken verschränkten Armen und von Pfeilen beworfen darzustellen, ruft auch das Bild einer „an den Pranger gestellten“ Frau hervor. Für Hagedorns rätselhafte Darstellungsweise stehen zwei Interpretationsmöglichkeiten zur Verfügung. Teilweise ließ Hagedorn in seinen Werken einen ironischen Anteil sichtbar werden. In dem 1992 entstandenen Bild „Homo Mensura“ (Abb. 151) begann er den Satz des Protagoras265 nicht nur im Bildtitel selbst, sondern erneut in lateinischer und altgriechischer Sprache, als

263 Vgl. Judith Zilczer: Zirkus des Absurden: Die Bilder Richard Lindners, in: Dies.: Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle 1948-1977. Kat. Ausst. München 1997, S. 22. 264 Vgl. Hans von Geisau: Art. „Iokaste“, in: Hans Gärtner/Walther Sontheimer/Konrat Ziegler: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 2. Stuttgart 1967, Sp. 1431f. 265 Satz des Protagoras von Abdera (um 485 bis 415 v. Chr.), auch Homo-Mensura-Satz: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden wie sie sind, der nicht seienden, wie sie nicht sind. (Überlieferung nach Platon, Theaithetos). Vgl. F. Lasserre: Art. „Protagoras“, in: Ebd. Bd. 4. München 1972, Sp. 1194f. Ob sich Karl Hagedorn auch mit dem erkenntnistheoretischen Gehalt dieses Satzes auseinandergesetzt hat, kann nicht belegt werden. 116

wolle er eine humanistische Bildung preisgeben, die er schließlich gar nicht besessen hatte.266 So kann es möglich sein, dass er, zumal vom anderen Kontinent aus gesehen, die europäischen Tradition wissentlich miteinander vermengte, dass er einer mythologischen Gestalt die Anmutung einer Figur der christlichen Ikonographie eingeschrieben hatte und sie letztendlich als eine gotisch inspirierte Jugendstilmuse wiedergab. Zudem aber hatte Hagedorn sich stark mit dem Mythos um Ikarus und Daedalus auseinandergesetzt,267 welcher einen Bezug zu den Federn und den gefiederten Pfeilen darstellen mag. Trotz mangelnder humanistischer Ausbildung interessierte sich Hagedorn sehr für antike Mythologie.268 Sieht man sich in Brockhaus‘ Konversationslexikon die Einträge um den Namen der Iokaste an, so findet sich dort näherstehend der Eintrag zu „Iocheaira“. Diesem Namen ist die Bedeutung „die mit dem Pfeil vertraute“ zugehörig.269 Es ist der Beiname der Artemis, der Göttin der Jagd, deren Attribut der Pfeil ist. Hatte Hagedorn die antiken Figuren vertauscht? Oder diesem Bild tatsächlich diverse Interpretationsmöglichkeiten zugeschrieben? Es ist eine Konstante in seinem Werk, dass er vieles klar definiert, vor allem die zumeist vorgenommene Einschreibung der Bildtitel in die Motive gibt dem Betrachter eine gewisse Interpretationsrichtung vor. In weiten Teilen aber bleiben seine Werke überraschend interpretationsoffen. Es bleibt dem Wissen und dem Entdeckungsdrang des Betrachters vorbehalten, wie weit er in die Schichten der Bildinhalte vorzudringen vermag oder dies möchte. Verfolgt man die benachbarten Einträge um den Wortstamm „Io“ im Brockhaus aber weiter, so ist dieser auch die Abkürzung für den an Minnesota, wo Hagedorn seit 1959 in den Twincities lebte, angrenzenden Bundesstaat Iowa. Dieser erhielt seinen Namen von den Iowa-Indianern; Indianer werden per se mit der Waffe Pfeil sowie mit dem Schmuck aus Federn konnotiert. Hagedorn interessierte sich bereits in seiner ersten amerikanischen Dekade stark für die

266 Sein Interesse für Figuren aus der Mythologie jedoch belegt auch die Arbeit “Euphrosyne” (Abb. 151a). Euphrosyne, welche Freude („euphorisch“) verkörpert, gilt als eine der bei Hesiod belegten, sogenannten „Drei Grazien“. Vgl. Jakob Escher-Bürkli: Art. „Euphrosyne“, in: Ebd. Bd, 6. Stuttgart 1907, S. 1225. 267 Vgl. Leonardo, S. 283. 268 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin und vgl. Leonardo, S. 282. 269 Vgl. Art. „Iocheaira“. In: Brockhaus‘ Konversationslexikon. 14. Aufl. Bd. 6. Leipzig, Berlin, Wien 1894-1896, S. 669. 117

Geschichte des Landes, für indianische Stammesgeschichte.270 Später entstanden weitere Werke wie „Beekman“ (Abb. 152), die diesen Bezug aufgreifen.271 Das Bild der Iokaste ist innerhalb der Malerei ein seltenes Motiv, Bekanntheit erlangte lediglich „Der Tod der Iokaste“ den Jean Jules Antoine Lecomte du Nouy im Jahr 1871 malte.272 Rückblickend kann aufgezeigt werden, dass zunächst die vielfältigen Bezüge, die „The Hand of my Aunt“ enthält, einen Umbruch in Hagedorns Werk manifestieren. Ablösung von der Heimat, klare Stellungnahme zu seinem künstlerischen Erbe und Vorausschau auf künftige motivische und inhaltliche Interessen. „Iokaste“ bildet eine weitere Station, auch hier werden die künstlerische Herkunft sowie der abendländische Bildungskanon nicht verleugnet. Der Einsatz der bildnerischen Mittel mutet altmeisterlich an, dabei herrschen eine gleichzeitige Akzeptanz der Gegenwart wie auch der Ausblick in die eigene künstlerische Zukunft vor.

3.2.4.4 Die symbiotische Annäherung an die Frauendarstellung im Werk Richard Lindners – (k)ein Drama in fünf Akten

Die Auseinandersetzung mit der Malerei Richard Lindners war eine wichtige Wegmarke auf Hagedorns Weg zur Abstraktion. Wie die im Vorangegangenen beschriebenen Werke zeigen, war Hagedorn sehr vertraut mit der Erscheinung der menschlichen Figur. Seine Faszination galt den klaren Formen des Körpers und bevor er den Schritt der Zerlegung dieses Körpers in diese von ihm bewunderten Formen stringent gehen konnte, verhalf ihm die Auseinandersetzung mit Lindners Werk, diese Formenklarheit in Malerei umsetzen zu können. Denn Lindners Figur ist klar umrissen, sie stellt sich dem Betrachter mit dem größtmöglichen Volumen und mit möglichst klarer Präsenz gegenüber. Nach der detaillierten, naturalistischen Auseinandersetzung mit dem Portrait, nach dem Figurenstudium im impressionistischen und kubistischen Sinn, ist es die

270 Freundliche Mitteilung von Kay und Winfried Raabe an die Verfasserin. 271 „Beekman“ ist eine Figur in James Fenimore Coopers Roman „Wyandotté or: The Hutted Knoll. A tale“, (Deutsch: „Wyandotté oder das Blockhaus“, Übersetzung aus dem Englischen, erschienen 1844 in Stuttgart), aus dem Jahr 1843 (erschienen in Philadelphia), der in der Zeit der nordamerikanischen Freiheitskriege spielt und die Verwicklungen der neuen Siedler mit den indianischen Volksstämmen thematisiert. Es ist möglich, dass Hagedorn solche Literatur gelesen hatte. 272 Jean Jules Antoine Lecomte du Nouy, Der Tod der Iokaste, 1871, Museum der schönen Künste in Arras, Frankreich. Das Werk wurde im Jahr 1915 bei einem Brand vollständig zerstört. Du Nouy hatte für diese Arbeit den „Prix de Rome“ erhalten. Vgl. Roger Diederer: From Homer to the Harem. The Art of Jean Lecomte du Nouy (1842-1923). New York 2004, S. 166. 118

plakative und scharfkantig gezeichnete Körperlichkeit der Lindner‘schen Figuren, die Hagedorn die Erkenntnis über die Klarheit der menschlichen Körperformen gewinnen lässt. Durch die Auseinandersetzung mit Lindner kann Hagedorn den Körper schließlich zerlegen und dessen Einzelteile von jeglicher Individualität befreien. Im Folgenden soll die stetige Annäherung und schließlich die fast gänzliche Symbiose an und mit Lindners Stilistik und Inhalten aufgezeigt werden. Schließlich soll aber auch deutlich die danach erfolgte und sehr wichtige Ablösung thematisiert werden, ohne die Hagedorns Werk epigonal geblieben wäre.

3.2.4.4.1 Exposition: „Blue Hat“ Die erste Arbeit, die sich stark an die Bildsprache Lindners anlehnt, ist das 1964 entstandene Bild „Blue Hat“ (Abb. 39). Das hochformatige Gemälde wird dominiert von einem weiblichen Rückenakt im Kniestück, der die rechte Bildhälfte dominiert und einer weiblich anmutenden Schaufensterbüste in der linken oberen Bildhälfte gegenübersteht. Die Bildfläche ist gänzlich organisiert durch unregelmäßige aber klar umrandete Farbflächen, die ein eigenständiges enges Gefüge bilden, aus dem vereinzelte konkrete Formen hervorgehen. Die Aktfigur steht raumlos vor diesem Bildgefüge und nimmt dabei die Position des Bildbetrachters ein. Die Ansiedelung der zentralen Figur direkt am unteren Bildrand und vor dem eigentlichen Bildgeschehen entspricht den isolierten Soloauftritten in Légers „Mechaniker“ (Abb. 108) genauso wie in Lindners „The Gambler“ (Abb. 153) und ist wie die Arbeiten dieser Vorbilder der Portraittradition der Renaissance verbunden.273 Hagedorn adaptiert zu diesem Zeitpunkt also noch ohne Umschweife tradierte Bildformen, wenn gleich hier die Wurzeln seiner späteren eigenständigen Bildsprache und Werkaussage liegen. Mit der Gestaltung des Kopfes der Schaufensterbüste, die links der Mittelachse angeordnet ist, greift Hagedorn eine Formulierung aus den bereits besprochenen Gemälden „Figur“ (Abb. 97) und „Abstrakte Figur“ (Abb. 110) auf, worin er auch

273 Karl Hagedorn begeisterte sich für die Portraitmalerei der Renaissance, im Besonderen für die Werke Piero della Francescas. Als Beispiel für diese bildparallele Frontalität kann hier dessen „Doppelportrait Battista Sforza e Federico da Montefeltro“, 1474, Öl auf Holz, 33x47, Uffizien, Florenz (Abb. 154) angeführt werden. Die Renaissancemalerei hatte inhaltlich keinen Einfluss auf Hagedorns Werk, jedoch greift er bereits in seinen frühen Portraits die Prinzipien des Renaissanceportraits auf und die in den späteren Werken klare Farbigkeit kann ebenfalls seiner Begeisterung für die Werke von Künstlern wie della Francesca, Cimabue oder Sassetta entnommen werden, von der er selbst gesprochen hatte. Vgl. Kat. Kunsthalle, S. 15. 119

auf die surrealistischen Figuren eines Carlo Carrà verweist und erweitert einzig durch Farbe die modellierte Kopfform physiognomisch um einen stilisierten roten Mund. Der Kopf sitzt auf einem sehr kurzen und zu breiten Hals, der übergeht in eine büstenähnliche Form, die aus vier einzelnen Farbflächen so zusammengefügt ist, dass sie den Eindruck einer hellblauen Bluse mit weißem Kragen hervorruft. Der Kopf trägt den titelgebenden blauen Hut, dessen Form der Hutmode der 1920er Jahre entspricht, also dem Geburtsjahrzehnt Hagedorns und damit auch die neusachlichen Bezüge in seiner eigenen (3.2.2) sowie auch in Richard Lindners Malerei als Randnotiz anmerkt. Direkt unterhalb der Büste erscheinen die einzigen gerundeten Farbflächen, die durch ihre modellierende Farbgestaltung die einzige Partie bilden, in der eine Tiefenräumlichkeit entsteht, da diese organische Form optisch vor die Büste zu treten scheint. Diese Form bleibt ohne Bezug. Jedoch das aus vier Flächen zusammengesetzte graue bis beigefarbene annähernde Rund kann, in Kenntnis um Hagedorns medizinisch-neurologische Interessen, als eine schematische Zeichnung eines Gehirns interpretiert werden. In vereinfachten Schemata wird das menschliche Gehirn in die vier Bereiche Frontallappen, Parietallappen, Okzipitallappen und Temporallappen unterteilt, von denen der Frontallappen die größte Partie einnimmt (Abb. 155).274 Hagedorns Aufteilung entspräche diesen Partien. Am linken oberen Bildrand ordnete Hagedorn eine Reihe der Ziffern Eins bis Sechs an, die bis knapp zur Bildmitte reicht und auf der gegenüberliegenden Bildseite in größeren, jedoch stark verdeckten Ziffern ihr Pendant findet. Auch in der späteren Arbeit „Duo“ (Abb. 138) hatte Hagedorn Ziffern in die

274 Die beiden Hemisphären des Großhirns sind in sogenannte Lappen unterteilt, was in schematischen Darstellungen durch farbige Segmente markiert wird; Hagedorns Darstellung ähnelt diesen Lehrbuchabbildungen. Hinsichtlich seines belegten neurologischen Interesses und seines Eigenstudiums mit medizinischen Lehrbüchern, soll an dieser Stelle konstatiert werden, dass Hagedorn in „Blue Hat“ bewusst diese Gehirnform einfügt. Indem er diese Form in die Schaufensterauslage integriert, verweist er sogar im Besonderen auf sein Interessensfeld. Außerdem ist denkbar, dass Hagedorn darauf hinweist, dass die Schaufensterbüste kein Gehirn besitzt und somit einen Schaufensterbummel und den damit verbundenen Konsum als „hirnlos“ (im Sinne von „sinnlos“) deklariert. In diesem Kontext könnte man auch die Nacktheit der Frau als eine Rückverbindung zu dem lächerlichen Moment aus Hans Christian Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ sehen. Es gibt jedoch keine Belege, außer die formale Nähe zu Richard Lindners Werken, für einen derart sozialkritischen Hintergrund innerhalb der Malerei Hagedorns, sodass diese Überlegungen zwar angemerkt, jedoch nicht weiter ausgeführt werden sollen. Vgl. C. Thomas (Hg.): Grundlagen der klinischen Medizin. 4 Nervensystem. Stuttgart, New York 1990, S. 8. – Vgl. Andreas K. Engel (Hg.): Neurowissenschaften. Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie. 3. Aufl. Heidelberg 2009, S. 9 und S. 217. – Hans Christian Andersen: Des Kaisers neue Kleider. Ein Märchen. (Erschienen in: Hans Christian Andersen: Märchen, für Kinder erzählt, Bd. 3, am 7.4.1837), nacherzählt von Gisela Fischer, Erlangen 1981. 120

Bildgestaltung eingefügt, ein Detail, welches in seiner späteren abstrahieren Symbolik einen festen Platz einnehmen wird. Bei aller Evidenz der europäischen Einflüsse ist die Einbindung von Ziffern der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen amerikanischen Kunst geschuldet. Zwar hatte auch Fernand Léger bereits in frühen Arbeiten, beeinflusst von Werbetafeln auf Pariser Hauswänden, Buchstaben oder Worte in seine Werke integriert.275 Weitaus intensiver nutzten die Einbindung von Ziffern aber, in Teilen auch Richard Lindner, vor allem die amerikanischen Künstler Jasper Johns276 und dessen Vorläufer Charles Demuth.277 Hier finden sich auch Rückbezüge auf den Umgang mit den bildnerischen Mitteln; Hagedorns Werke entstanden in zeitlicher Parallelität zur amerikanischen Pop Art. Alltägliches wurde nun genauso reflektiert wie mediale Auswirkungen. Arbeiten aus kunstunwürdigen Materialien waren entstanden, zumeist in schnellen, rohen Werkprozessen.278 Jasper Johns bildete hier eine Ausnahme. Seine Malerei war eine langsame, gar altmeisterliche, auf antike Techniken wie die Enkaustik basierende. Hagedorns Werk kann nicht dem Pop zugerechnet, werden, er war kein Pop-Künstler und adaptierte aus dieser zeitgenössischen Kunstrichtung, bis auf Bezüge zu einer plakativen Farbigkeit nur wenig. Die Integration von Zahlen und das Festhalten an traditioneller Maltechnik aber finden somit in den Werken Charles Demuths, Jasper Johns und natürlich auch Richard Lindners trotzdem einen für Hagedorn zeitlich relevanten, also aktuellen Bezug. Mit feinen Pinselstrichen modelliert, erhebt sich in der rechten Bildhälfte von „Blue Hat“ der weibliche Rückenakt, der mit sich auf dem Rücken berührenden

275 Beispielsweise das Wort „Cigares“ in „Die rote Statuette“, 1930, Öl auf Leinwand, 130x95cm, Privatbesitz. Vgl. Stanislaus von Moos: Fernand Léger La Ville. Zeitdruck, Großstadt, Wahrnehmung. Frankfurt am Main 1999, S. 8. 276 Jasper Johns nutzte bereits in seinen ersten Werken (1954-1958) Zahlen. Zumeist isolierte er seine Motive und ästhetisiert dadurch diese alltäglichen und banalen Gegenstände und Zeichen, sie werden damit bildwürdig. Vgl. Fritz Bayerthal: Art. „Jasper Johns“. In: Kindlers Malerei Lexikon. Bd. 3. Zürich 1966, S. 456-458. 277 Die Darstellung der Zahl (Charles Demuth: „I saw the figure five in gold“, 1928, Öl auf Holzfaserplatte, 90x76cm, Metropolitan Museum of Art, New York), zählt zu den herausragenden Arbeiten seines Gesamtwerkes. Die Arbeit, deren Inspiration auf der gleichlautenden ersten Zeile des Gedichtes von William Carlos Williams ist, thematisiert nicht den Zeichenwert dieser Zahl in einem abstrakten Bildgefüge, sondern stellt die Darstellung der Zahl mit dem Genre des Portraits auf eine Ebene. Demuth portraitiert damit keine Person, sondern ein numerisches Zeichen, was eine Abstrahierung dieses Genres bedeutet. Vgl. Herbert Read: Art. „Charles Demuth“. In: Kindlers Malerei Lexikon. Bd. 2. Zürich 1966, S. 73-74. – Vgl. Gail Stavitsky: Charles Demuth, in: Joachimides/Rosenthal, Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert, S. 471-472. 278 Vgl. Flaminio Gualdoni: Art. The Twentieth Century. Mailand 2008, S. 365-366. 121

Armen die Position einer Schaufensterbummlerin einnimmt und eine so natürliche Haltung einnimmt, dass die Nacktheit umso frappierender wirkt, da sie eben nicht einer überkommenen Vorstellung eines Aktes entspricht und zudem auch bar jeglicher Erotik ist. Die akkurate Bobfrisur und die nach vorne ragende linke Brust erscheinen so als wären sie bereits Teile des flächigen Bildhintergrundes, was die einzigen greifbaren Verbindungen der Aktfigur mit dem übrigen Bildgeschehen darstellt, die sonst genauso bezuglos zum Hintergrund dargestellt ist wie Légers „Mechaniker“. Richard Lindner hatte keine Akte gemalt, aber die Sexualität plakativ in den Vordergrund gerückt. 1964 ist Hagedorn mit „Blue Hat“ auch noch nicht an die harte, an die Hard-Edge-Malerei angelehnte, Ausformulierung eines Lindners herangerückt, aber dennoch greift er dessen ikonologische Elemente auf. Indem Hagedorn die zentrale Figur lediglich von hinten zeigt, überhöht er einen eigentlich banalen Gegenstand, den Hut. Zudem beherrscht die Schaufensterbüste die gesamte linke Bildhälfte als Entfaltungsraum und erhält durch die roten Lippen sogar eine höhere sexuelle Ausstrahlung als die nackte Frau, deren Nacktheit beinahe nebensächlich-banal wirkt, ähnlich der Aktdarstellung in Éduard Manets „Frühstück im Grünen“ (Abb. 156) und nichts von der Verehrung des Aktes durchscheinen lässt. Natürlich kann dies auch, hier wieder im Lindner’schen Sinne, eine Verdinglichung der Frau bedeuten. Dahingehend lässt Hagedorn die Frau nackt einen Stadtbummel unternehmen, was hier zwar beiläufig erscheint, aber dennoch ein Höchstmaß an Zur-Schau-Stellung bedeuten würde. Dabei wird sie als Rückenakt gezeigt, was ihre Sexualität verschleiert und ein Gegenstand, also die Schaufensterbüste, übernimmt den Blick aus dem Bild heraus; eine Sache ersetzt das menschliche Portrait was als bedeutender Vorgriff auf die spätere Maschinenästhetik in Hagedorns Werk ist. Mit „Blue Hat“ erscheint in Hagedorns Bilderwelt erstmals das Moment der Stadt, welches Lindner wesentlich stärker thematisiert hatte. Auch wenn sich dieses so vordergründig im späteren Werk nicht mehr wiederholen sollte, so thematisiert er es dennoch inhaltlich in Arbeiten wie „La Passagiata“ (Abb. 157), oder in der Figur des Radrennfahrers, beispielsweise in „Siren“ (Abb. 158) die an Sportveranstaltungen im urbanen Raum erinnert, oder anderen Bildmotiven, die über das Flanieren, Betrachten und Betrachtetwerden reflektieren. In „Blue Hat“

122

greift Hagedorn, wenngleich auch nur formal, die Ikonographie August Mackes279 auf und zeigt damit erste Einflüsse seines städtischen Lebens, welches er zwar bereits auch in Augsburg und München geführt hatte, welches aber zu diesem Zeitpunkt noch durch andere zeithistorische Umstände, wie durch eigene andere Interessen geprägt war. Das Flanieren, das beiläufige Betrachten einer Schaufensterauslage, die Begehrlichkeiten weckt – visualisiert in der nackten Frau – und die Überhöhung des Konsumgutes, all dies sind wichtige Bezugspunkte zu seiner neuen Lebensumgebung und zu Richard Lindners Werk und nicht zuletzt einer seiner zurückhaltenden Anklänge an die Pop Art.

3.2.4.4.2 Steigerung: „Running Girl“ Noch im selben Jahr, 1964, ist eine Arbeit entstanden, mit der sich Hagedorn noch offensichtlicher an Lindners Werk anlehnte und dessen Bildelemente direkt zitiert. Neben der für Lindners Frauendarstellung typisch gewordenen, voluminösen Figur, vor allem die kräftigen Beine, ist das der flächig gegliederte Hintergrund, der die Figur räumlich einbindet, ohne perspektivische Räumlichkeit zu erzeugen. Die Farbflächen greifen teilweise die Bewegung der Figur auf oder Figur und Hintergrund überlagern sich gegenseitig; wichtige Momente der Bildkomposition Lindners zu Beginn der sechziger Jahre. Somit stellt Hagedorn mit dem 1964 entstandenen Gemälde „Running Girl“ (Abb. 160) direkte Bezüge zur Bildsprache Lindners auf, was sowohl die Behandlung der Figur, als auch die Organisation des Hintergrundes und vor allem die Einbettung der Figur in die Bildfläche betrifft. Hagedorns „Running Girl“ agiert vor einem geometrisch gegliederten, farbflächigen Hintergrund, der räumlich nicht lokalisierbar ist. Definiert durch den rechten Fuß der Dargestellten ist im Bildvordergrund eine schmale Bodenfläche erkennbar. Diese bildet die einzige greifbare räumliche Struktur, sonst gibt es keine perspektivische Räumlichkeit. Jedoch geben die Farbflächen der Figur einen Aktionsrahmen und erscheinen dabei als Abstrahierung ihrer Körperform und Bewegung.

279 Wenngleich auch nicht stilistisch, so lehnt sich Hagedorn zumindest inhaltlich an die Arbeit Mackes an. Die Geschäfte und Auslagen des städtischen Lebens hatten Macke zu einer Serie von Schaufensterbildern inspiriert, der Moment des Flanierens bildet die inhaltliche Ergänzung dazu. Auch seine Bildfläche ist statisch-geometrisch gegliedert und die Figur wirkt beiläufig, während die Hüte in der Auslage die eigentlichen Protagonisten zu sein scheinen. (Abb. 159). 123

Im Bildvordergrund gibt es schließlich sogar eine Überschneidung von Hintergrund und Figur am Fuß der Dargestellten. Im Mittelgrund scheint sich der Hintergrund mit dem Rock zu verbinden, zumindest dessen Form aufzunehmen und in einer Linie weiterzuführen. Obwohl das Bild mit „Running Girl“ betitelt ist, wird die Bewegung lediglich durch das angewinkelte linke Bein der Dargestellten angezeigt. Im Gegensatz zu einer tatsächlich Rennenden oder Laufenden wirkt die Figur starr und puppenhaft. Auch die Kleidung wirkt steif, erinnert an eine Uniform, nur die manschettenähnlichen Rüschen am linken Ärmel und als Gegenpart dazu der rechte Teil des Kragens lassen Bewegung erkennen. Dazu gehört auch das blaue flatternde Tuch. Hiermit ergibt sich erneut ein Hinweis auf die Renaissancemalerei. Dabei geht es Hagedorn um die klare, von Licht erfüllte Farbigkeit und, wie bei Lindner, um eine genau definierte, sehr klare Form, um die Hagedorn mit „Running Girl“ im besonderen Maße ringt, da er zudem die Figur in den vielgestaltigen Hintergrund einzubinden versucht. Dazu kommen das Bestreben um eine ausgewogene Organisation der Bildfläche sowie um das Gleichgewicht zwischen Volumina und Flächen. Die Komposition erscheint als sehr sorgfältig ausgewogen. Sie weist einen diagonalen Bildaufbau auf, was eine hohe technische Herausforderung darstellt, und gemeinsam mit dem weißen Spitzenkragen eine Reminiszenz an die Malerei des Barock ist, aus der Hagedorn zwar nur wenig Inspiration schöpfte, dessen Zeichnungen, vor allem diejenigen von Rubens und Rembrandt er jedoch hochverehrte. Bereits seine Zeichnung „15jähriges russisches Mädchen“ (Abb. 11) fand im Umgang mit den bildnerischen Mitteln einen Vergleich zur Handzeichnung Rubens‘ und die Zeichnungen Rembrandts hatte Hagedorn einmal selbst als faszinierende Vorbilder benannt. Seine spätere Malerei schöpfte jedoch keine Inspiration aus dieser Epoche.280 Die diagonale Komposition wird markiert durch Gegengewicht der markanten Frisur zum üppigen Kragen, ein nackter steht einem bekleideten Arm gegenüber. Die linke obere Ecke gibt dem Oberkörper der Figur einen Rahmen während die rechte untere Ecke die Bewegung der Dargestellten sowie den Schwung ihrer Kleidung abstrahiert und fortführt. Vor allem die steife Darstellung der Person lehnt sich an die unterkühlte Personendarstellung bei Richard Lindner an. Die

280 Vgl. Kat. Kunsthalle, S. 15. 124

puppenähnliche Erscheinung des Mädchens ist ebenfalls ein thematischer Bezug zum Werk des älteren Künstlers. Wie hochaktuell Hagedorn Lindners Malerei reflektiert hatte, zeigt sich im Vergleich mit Lindners Arbeit „Coney Island II“ (Abb. 161) aus dem Jahr 1964. Lindner gliederte hier den Hintergrund wesentlich einfacher als Hagedorn, die Bildmitte wird zudem durch einen dick in Rot umrandeten Kreis klar markiert, während Hagedorn nur im unteren rechten Bilddrittel einen Halbbogen beschreibt, der die Fußbewegung des Mädchens reflektiert. In Lindners Arbeit teilen sich zwei Personen die Bildmitte, wobei der Mann in typischer Weise stark zurücktritt und völlig ausdruckslos mit einem schwarzen, scherenschnittartigen Kopf und einer Sonnenbrille als Person nicht mehr greifbar ist. Er trägt über einem rosafarbenen Anzug einen großen braunen Umhang, der auf der Brust mit drei Knöpfen geschlossen wird. Auf Bauchhöhe nimmt das Jackett auf der rechten Seite die Farbe des Umhangs an, ein großer glänzender Knopf wird sichtbar. Während die linke Körperhälfte des Mannes noch in Rumpf, Schulter, Arm und den auf halber Höhe des Oberschenkels endenden Beinen definiert wird, ist dessen rechte Körperhälfte nur noch ein graues, annäherndes Dreieck, welches nur in Verbindung mit der linken Hälfte überhaupt als Körper betrachtet werden kann. Der Kreisinhalt wird also maßgeblich durch die Körperformen des Mannes sowie durch einen blauen Hintergrund gekennzeichnet. Der Kreis selbst schwebt vor dem in vier Teilen gegliederten Hintergrund, oben links eine gelbe Fläche, die links unten und rechts oben jeweils von einem kleinen orangefarbenen Dreieck flankiert wird. Die verbleibende Bildfläche ist schwarz.281 Unten scheint der Kreis auf einer Art Koffer oder doppeltürigem Schrank zu stehen. Hagedorn hatte den Hintergrund in „Running Girl“ vielfach gegliedert und aufgefächert, diverse geometrische Formen verschaffen eine Dynamik, welche die titelgebende Bewegung des Mädchens jedoch stärker aufgreift, als es das Mädchen selbst zu vermitteln vermag. Ähnlich wie bei Lindner, werden die Farbflächen zu den Bildrändern hin größer, zum Zentrum hin detaillierter. Die zentrale Figur in Lindners Bild jedoch ist eine Frau in Rückenansicht, die sehr

281 Hierzu sei auf das Kapitel (3.2.5.2) verwiesen. Hagedorn fand in seiner voranschreitenden Abstraktion zu der Ausdrucksweise, verschiedenartig gestaltete Kreise als Stellvertreter für die menschliche Figur in das Bild zu integrieren. Die Darstellung Lindners, einen Kreis mit zwei Personen auszufüllen, könnte ein Impuls für Hagedorn gewesen sein, auf dem Weg zu dieser späteren Form- und Inhaltsfindung. 125

schnell zu laufen, ja zu rennen scheint, worauf ihre Armhaltung hindeutet. Als Zeichen dieser Kraft ist auf dem Rückenteil ihrer roten Corsage ein Panther abgebildet und ähnlich fokussiert wie dieses Tier, scheint sie auf einen weiteren Kreis, ein Target, zuzustürmen, welches sich auf der Brust des Mannes befindet. Die elementare Gemeinsamkeit zwischen Lindners und Hagedorns Darstellung aber ist, dass sowohl die Frau mit Panther als auch das „Running Girl“ zwar eigentlich „rennen“, jedoch wie in ihrer Bewegung erstarrt erscheinen, so als sei ein Film angehalten worden. Dazu kommt, dass beide von eher plumper Figur sind und zum schnellen Lauf sehr ungeeignete Kleidung sowie Schuhwerk tragen. Hier scheinen erneut die Bezüge beider Künstler zur Malerei der Renaissance auf, die von klarer getragener Form und inhaltlicher Ordnung zeugt und eine hektische, in schnellem Lauf befindliche Figur nicht kennt. Weisen bei Hagedorn lediglich das blaue Tuch und die Bewegung im Ärmelstoff überhaupt auf Bewegung hin, so ist dies bei Lindner einzig der wehende violette Haarschopf der Frau, die diagonale Komposition, welcher beide Werke unterliegen, ist jedoch per se ein Hinweis auf Dynamik. Selbst der Panther liegt. Zeigt Lindner mit „Coney Island II“ und der auf ein fragliches Ziel zustürmenden Frau die Fraglichkeit der Vergnügungssucht des Großstädters auf, so scheint sich auch Hagedorns „Running Girl“ in seiner vollausstaffierten Welt doch eher zu langweilen als zu amüsieren. Einige Jahre vorher, 1958 hatte auch Frank Stella eine Arbeit mit dem Titel „Coney Island“ (Abb. 162) angefertigt. Die zentrale Bildmitte, welche bei Lindner von Mann und Frau, bei Hagedorn von dem Mädchen dominiert wird, besteht bei Stella aus einem Quadrat. Die das Quadrat umgebende Malerei reduziert sich auf horizontale rote und gelbe Farbstreifen, wodurch, trotz der Einfachheit, eine ornamentale Anmutung entsteht.282 Hagedorns Bildhintergrund ist zwar weitaus vielteiliger, dennoch umgibt er das rennende Mädchen ebenso ornamental wie Stellas Streifen das Quadrat. Ähnlich gelangweilt wie Hagedorns „Running Girl“ erscheint dem Betrachter die Frau in Richard Lindners „Disneyworld“ (Abb. 163) aus dem Jahr 1965. Die ebenfalls plump bis unstimmig proportionierte Frau versetzt zudem den Betrachter in die Froschperspektive, degradiert ihn gewissermaßen so, wie sie in Lindners Bildern sonst den, hier abwesenden, Mann degradiert. Interessant ist hier der Aspekt, dass

282 Vgl. Markus Brüderlin: Frank Stella und das Ornament, in: Ders. (Hg.): Frank Stella. Retrospektive. Kat. Ausst. Ostfildern 2012, S. 98-125. 126

Hagedorns Arbeit bereits ein Jahr vorher fertig gestellt worden ist, aber Lindner seine Figur ähnlich kleidet. Auch hier findet der Rock eine, hier sogar zwei Entsprechungen im Hintergrund durch die beiden Fächer. Ebenfalls gibt es eine Überschneidung aus dem Bildhintergrund, in diesem Falle durch den Kopf des Papageien. Auch diese Figur trägt ein uniformähnliches Gewand. Ähnlich wie bei „Running Girl“ bildet auch hier der weiße Stoff und dessen Faltenwurf (Ärmel) den einzigen Hinweis auf Bewegung. Im Gegensatz zu Hagedorns diagonalem Bildaufbau ist Lindners Komposition nahezu symmetrisch. Obwohl das Gemälde zunächst wie ein Werbeplakat für Disneyworld wirkt, lädt die Darstellung nicht zu diesem Vergnügen ein. Vielmehr verweist Lindner auf die von Äußerlichkeiten determinierte und von Vergnügungssucht geprägte, aber im Innern leere, Gesellschaft; das wichtigste Thema in Lindners Werk, welches jedoch letzten Endes kaum Einfluss auf Hagedorns Bildwelten hatte. Für beide Künstler nahmen die grelle Farbigkeit, die Raumwirkung und das menschliche Leben in der amerikanischen Großstadt wichtigen Einfluss auf die Bildinhalte.283

3.2.4.4.3 Klimax: „Woman in Black“ Nach „Blue Hat“ orientierte sich Hagedorn mit „Running Girl“ offensichtlich und ohne Zurückhaltung zumindest formal stark an dem älteren Lindner und, dies ist an dieser Stelle von Belang, er kann gewisse stilistische Merkmale Lindners gleichzeitig anwenden, sie wie im Vergleich mit „Disneyworld“ sogar vorausgreifen. Das zeugt von Hagedorns intensiver Auseinandersetzung und beinahe symbiotischer Annäherung an Lindners Umgang mit den bildnerischen Mitteln. Dies erfuhr im folgenden Jahr, 1965, noch einmal eine Steigerung. Während er in „Blue Hat“ die Formzerlegung und die Aktion einer menschlichen Figur vor dieser Formenwelt thematisierte und in „Running Girl“ die grelle Farbigkeit, die kräftige Figur und die Verknüpfung von Person und Bildhintergrund adaptierte, so ist er mit der Arbeit „Woman on Black“ (Abb. 164) beinahe gänzlich bei Lindner angekommen, indem er die Bildsprache aus „Untitled No. 1“ (Abb. 165) von 1962 rezitiert. Im Gegensatz zu Lindners herausfordernder Frontalität steht Hagedorns Figur rechts neben der Bildmitte und ist dabei in ein Dreiviertelprofil gerückt. Sie endet im Kniestück, was zwar den

283 Vgl. Schmied: Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus, S. 73. – Vgl. Thomas Heyden: Richard Lindner. Im Kontext. (= Schriftenreihe des Neuen Museums). Nürnberg 2000, S. 17. 127

Blick des Betrachters auf die Körpermitte der Dargestellten lenkt, aber anders als bei Lindner, auf die gesamte Darstellung der Beine und damit auch auf High Heels verzichtet, welche die zur Schau gestellte Sexualität noch steigern. War in „Blue Hat“ die Sexualität trotz des Aktes nicht bildbestimmend, so hat „Woman on Black“ keinen anderen Inhalt mehr. Und Hagedorn erreicht dies eben nicht durch einen Akt, sondern mit Lindners Stilmitteln des Verhüllten, fetischistisch Überzogenen. Doch während Lindners Frauen provokant und dabei kalt und leidenschaftslos bleiben,284 strahlt Hagedorns Frauenfigur die gesamte Bandbreite der sexuellen Wirkung eines jungen Mädchens aus. Hagedorns Bildfigur füllt die Längsachse des Bildes gänzlich aus. Sie steht sehr aufrecht, beinahe sittsam mit geschlossenen Beinen. Jedoch trägt sie Strümpfe, die an einem Korsett mit Strumpfhaltern befestigt sind. Das Korsett verzichtet auf sichtbare Schnürung, die oft damit verbundene Einengung der Figur thematisiert Hagedorn nicht, denn er malt das Korsett ähnlich einem Kleidchen, welches einen Abschluss durch einen verspielten Saum aus weißer, satinglänzender Rüsche erhält, ein Bezug zu dem weißen Spitzenkragen in „Running Girl“, denn solche Kleidungsstücke können stets gleichermaßen sittsam als auch aufreizend wirken. Konnotationen, die sich auch Balthus zu eigen gemacht hatte, der wiederum eine wichtige Inspirationsquelle für Lindner, aber auch für Bellmer war.285 Lindner hatte stets einen sehr glatten, jegliche Handschrift verbergenden Farbauftrag genutzt, seine stärkste formale Annäherung an die Werke des Hard- Edge. Hagedorns Farbflächen hingegen bleiben die gesamte Werkentwicklung hindurch zwar klar gegeneinander abgegrenzt, aber in dieser Arbeit näherte er sich dem Vorbild Lindner nicht nur inhaltlich nahezu gänzlich an, er arbeitete auch mit einem Farbauftrag frei von Duktus und Pastosität. Es bleibt anzumerken, dass Hagedorn mit dieser Arbeit ganz bewusst epigonal gearbeitet hat, um sich der Bildform seines Vorbildes gewahr zu werden. Dennoch hat Hagedorns „Woman on Black“ nichts mit den überdimensionalen und übermächtigen Frauen Lindners

284 Vgl. Peter Selz: Richard Lindners bewehrte Frauen, in: Zilczer, Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle, S. 88. 285 Hagedorn setzte hier also die Satinrüschen in ihrem interpretatorischen Spielraum zwischen reiner Unschuld und Schönheit gegen ihre rein aufreizende Wirkung ein. Der Bezug zu den Inhalten Balthus‘ liegt darin, dass dieser den Körper des heranwachsenden Mädchens in eben diesem Spannungsfeld thematisierte. Vgl. A. Mohler: Art. “Balthus”. In: Kindlers Malerei Lexikon. Bd. 1. Zürich 1964, S. 190-191. – Vgl. Claude Roy: Balthus. Leben und Werk. München 1996, S. 76-81. 128

zu tun. Der Rückbezug auf Balthus bringt die beiden Künstler in „Woman on Black“ dennoch zusammen, und zwar im Gedanken an eine „Lulu“286, die in zahlreichen Figuren Lindners ein Gesicht erhält. An der Brust sitzt das Korsett knapp und trägerlos und lässt die Brust zeittypisch spitz erscheinen. Lindners Frau trägt verschiedenfarbige Strümpfe, die lediglich durch einen knappen Hüfthalter gehalten werden. Mit unnatürlich verdreht dargestellten Armen zieht sie ihr Oberteil aus und entblößt damit ohne Umschweife ihre Brüste und sieht dabei den Betrachter direkt an. Lindner hält sich in seiner Darstellung nicht zurück. Die Frontalität, die starken Körperformen der Frau, ihre offenherzige Pose und ihr fester Stand lassen ihn sogar so weit gehen, dass er den sie begehrenden Mann zu einem Hund degradiert, der von rechts in das Bild zu schweben scheint, der aber auch in einer Deutungsmöglichkeit als Jagdhund, die männliche Jagd auf Frauen impliziert. Hagedorn hält sich hinsichtlich der Farbigkeit und damit auch hinsichtlich der Offensichtlichkeit der Provokation deutlich hinter Lindner zurück. Der Hund tritt bei Hagedorn nicht auf, doch dessen eingeschriebenes Moment der Jagd konkretisiert Hagedorn, indem er die zögerlich-unschuldige Unerfahrenheit der Frau, die bei ihm eher ein Mädchen ist, in den Vordergrund rückt, aber die von links in das Bild tretende Zielscheibe klar als solche definiert, während diese bei Lindner ein farbiges Prisma bleibt. Ein weiteres deutliches Zitat bleibt der blaue Handschuh, der bei Lindner als ein blauer Ärmel auftaucht und während Lindner seine Figur vor einem flächigen mehrfarbigen Hintergrund aus scharf gegeneinander abgesetzten Formen agieren lässt, so hinterlegt Hagedorn den Kopf des Mädchens mit einer feingliedrigen, figurativen Komposition, die die Anmutung einer Harfe oder eines historischen Saiteninstrumentes hat. „Woman on Black“ zeigt im Sinne eines Balthus‘ die Erotik des heranwachsenden Mädchens in all ihren Facetten, von der freiwilligen Hingabe, gespiegelt in der Armhaltung des Ausziehens, über das Ausgesetztsein, wobei der Betrachter sich als Voyeur fühlt, bis hin zum möglichen Moment des Missbrauchs, was in erster Linie durch die Targetmotive evoziert wird. Lindner formuliert letzteres noch

286 Lulu ist die Hauptfigur in Frank Wedekinds Stücken „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“. Lindner war fasziniert von Wedekinds Werk. Das Bild der Lulu ist für die Nachkriegszeit ein bedeutendes geworden, welches vielerlei Ausgestaltung fand. Vgl. Peter Selz: Richard Lindners bewehrte Frauen, in: Zilczer, Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle, S. 85-86. 129

schärfer aus, mit zur dunklen Gestalt degradierten Männern, oder eben durch einen Hund. Hagedorns Verzicht auf diese Merkmale bedeuten bereits eine erste Abgrenzung zu Lindner. Genauso das für Lindner biographisch, wie künstlerisch zentrale Korsett287 hatte bei Hagedorn nie einen annähernden Stellenwert erreicht; die der Miederware vergleichbare Kleidung der „Woman on Black“ bleibt bei Hagedorn eine singuläre Erscheinung.

3.2.4.4.4 Retardierende Momente: Überlegungen zu Symbiose und beginnender Ablösung vom Vorbild In der Betrachtung der Arbeiten „Iokaste“, „Blue Hat“, „Running Girl“, „Woman on Black“ sowie „Duo“ lassen sich direkte Bezüge zu Richard Lindners Malerei feststellen. Dies sind die formalen Bezüge, wie die starre Frontalität der „Iokaste“ und die Verflechtung der Figuren mit einem vielfältig organisierten Hintergrund wie in „Blue Hat“ und „Running Girl“. Dazu kommt eine Annäherung an Lindners scharfe, dem Hard-Edge entlehnte Malweise die Hagedorn in „Running Girl“ aufgreift und in „Woman on Black“ noch steigert, jedoch ohne an die kalte Klarheit des Vorbildes heranzureichen. Besonders „Running Girl“ greift die Verflechtung von Raum, Hintergrund und Figur auf, die für Lindner bisweilen ein wichtiges Element war.288 Eine inhaltliche Nähe evoziert „Blue Hat“, obwohl Lindner nie bloße Nacktheit gezeigt hatte,289 während „Woman on Black“ Lindners Thematik adaptiert, vor allem durch starke Ähnlichkeiten zu „Untitled No. 1“. Die Arbeit „Duo“, die formal näher bei Bellmer als bei Lindner anzusiedeln ist, ist dennoch die einzige Arbeit, die an das verstörende Moment in Lindners Bildsprache anknüpft. Während Hagedorn in den fünfziger Jahren, einem Studenten angemessen, vielerlei künstlerische Stile und Formen adaptiert hatte, demnach auf der Suche nach einer eigenen Ausdrucksform war, konzentrierte er sich, wie die vorgestellten Werke zeigen, in seinem ersten amerikanischen Jahrzehnt auf die Darstellung der menschlichen, weiblichen Figur. Und er beweist parallel dazu, in

287 Vgl. Loyall, Lindner, S. 74-76. 288 Vgl. Judith Zilczer: Zirkus des Absurden: Die Bilder Richard Lindner, in: Zilczer, Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle, S. 22. 289 Vgl. Peter Selz: Richard Lindners bewehrte Frauen, in: Ebd., S. 88. 130

den USA angekommen zu sein, in erster Linie durch die Annäherung an Lindners Werk, aber auch durch die Betitelung seiner Werke in englischer Sprache.290 Doch trotz aller Bewunderung und Nähe, kulminiert Hagedorns Lindner-Adaption lediglich in „Running Girl“ und „Woman on Black“, während bereits in diesen und nachfolgenden Werken Abgrenzung zum unbestrittenen Vorbild erkennbar wird. Die Bildsprache Lindners war eine bewusst verstörende. Er übersexualisiert die Frau und degradiert den Mann, konzentriert sich auf die Schattenseiten des Großstadtlebens und stellt die Vergnügungsangebote kritisch in Frage. Diese Sozialkritik fehlt in Hagedorns Werken gänzlich. Obwohl gerade „Running Girl“ und „Woman on Black“ mit Lindners Schaffen zeitgleich entstanden waren, so fehlt ihnen dessen inhaltliche Schärfe. Aber wenn sich Hagedorn in den sechziger Jahren auf die Malerei Richard Lindners bezieht, dann ist dies ein Beleg für seinen Blick für außergewöhnliche Tendenzen. In den USA dieser Zeit stand die Entwicklung der Kunst vor einem Umbruch. Einerseits galten noch die Einflüsse des Abstrakten Expressionismus, andererseits begannen sich die Protagonisten der Pop Art zu etablieren. Es ist ein Beleg für Hagedorns Seherfahrung, in Lindners Werken Vorbildcharakter zu erkennen und, darauf gründend, einen ähnlich singulären Weg zu wählen, wie es in dieser Nachkriegszeit neben Lindner beispielsweise auch Francis Bacon291 gelungen war. Beide Künstler waren jeweils fünfzehn bis zwanzig Jahre älter als Hagedorn und beide vorrangig mit der Erscheinung der menschlichen Figur befasst. Dies wird rasch zu einem Moment der Abgrenzung Hagedorns von Lindner. Die menschliche Figur bleibt zwar in Hagedorns Werken erhalten, zumindest deren Eindruck, aber Hagedorn nutzte die Auseinandersetzung mit Lindner als Vehikel, welches ihn seiner Vorstellung von Abstraktion und

290 Hagedorn hatte in seinem weiteren Schaffen dennoch immer wieder deutsche Bildtitel verwendet. Die Relevanz seiner Bildtitel liegt zum einen darin, dass sie zumeist einen Hinweis auf eine mögliche Lesart seiner Bilder in technologischer oder medizinischer Interpretation geben, oder ein Verweis auf seine kunsthistorischen Vorbilder sind. Zum anderen sind die Bildtitel in den Werken Hagedorns dahingehend bildrelevant, da er sie zumeist entweder in die Darstellung integriert oder sie zumindest auf der Bildoberfläche sichtbar, plakativ, oft farbig und typographisch ausgestaltet, anbringt. Zu Bildtiteln vgl. Sukmo Kim: Bildtitel. Eine Kunstgeschichte des Bildtitels. Phil. Diss. Düsseldorf 2014. 291 Francis Bacon (1909-1992) lässt sich nur schwerlich den üblichen Kategorisierungen der Kunstgeschichte zuordnen und nimmt damit eine singuläre Position ein. Vgl. Werner Schmalenbach: Die nackte Existenz des Bildes, in: Galerie Beyeler (Hg.): Francis Bacon. Retrospektive. Kat. Ausst. o.O. o.J., S. 4. – Vgl. David Sylvester: Stationen eines Lebenswerkes, in: Haus der Kunst München (Hg.): Francis Bacon 1909-1992. Retrospektive. Kat. Ausst. Ostfildern-Ruit 1996, S. 13-31. 131

Formenzerlegung näherbrachte. Während Lindner also einen figurativen Symbolismus292 entwickelt hatte, versuchte Hagedorn, sich eine symbolische Abstraktion293 zu erarbeiten. Eine vergleichbare Symbiose aus biographischen und künstlerischen Elementen, wie sie Lindners Gesamtwerk bestimmt, findet sich bei Hagedorn sehr vordergründig in „The Hand of my Aunt“. Während Lindner, als der früher Geborene, auf eine sehr prägende Biographie zurückblickte und demnach auch zu drastischeren Formulierungen gegriffen hatte, legte Hagedorn seinen Werken eine vergleichbare Verknüpfung dieser Elemente zugrunde. Auch Hagedorn kombiniert europäische Maltradition mit amerikanischer Gegenwart und auch er visualisiert Kindheitserinnerungen und persönliche Interessen in seinen Werken. Die Nähe Hagedorns zu Lindner ist in den wenigen Texten über Hagedorns Malerei stets bemüht worden und selbstverständlich ist dieser Vergleich berechtigt und wichtig. Aber entgegen dieser Meinungen ist Hagedorn letztendlich nur annähernd symbiotisch mit Lindner geworden, was sich vordergründig durch die Motive zeigt und auch auf weiteren Ebenen sehr rasch evident wird. Die Relevanz von Spielzeug294 für den im, für seine Spielwaren weltberühmten, Nürnberg aufgewachsenen Lindner, findet bei Hagedorn weder privat noch künstlerisch einen Vergleich. Dafür verbindet beide die Vorliebe für den belebten Zierrat, worin körperliche Details zu Ornamenten werden können, sowie bei Lindner die Brust zur Kugel oder zur Zielscheibe, was Hagedorn in seiner Körperzerlegung schließlich zu abstrakter Ornamentik bringt. Dazu gehört auch die Einbindung von Ziffern und Buchstaben. Beider Malerei steht hinsichtlich Thematik, Farbigkeit und Inhalt dem Mainstream ihrer Zeit diametral gegenüber. Somit bleiben sowohl Lindners als auch Hagedorns Kunst eine in erster Linie persönliche Kunst. Um Hagedorns eigenen künstlerischen Weg herausarbeiten zu können, ist es jedoch um ein vielfaches wichtiger, seine bildnerische Ablösung von Lindner zu belegen, als lediglich Gemeinsamkeiten zu betonen.

292 Vgl. Judith Zilczer: Einleitung, in: Zilczer, Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle, S. 8. 293 Diesen Begriff nutzte Hagedorn auch selbst in seinem, zusammen mit seiner Frau Diana Cavallo, geschriebenen Aufsatz. Vgl. Leonardo, S. 282. 294 Vgl. Peter Selz: Richard Lindners bewehrte Frauen, in: Zilczer, Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle, S. 81. 132

3.2.4.4.5 (Ab-)lösung: „The Gambler“ und „Visitation“ „The Gambler“ Elf Jahre nach „Duo“ war eine Arbeit mit dem Titel „The Gambler“ (Abb. 166), entstanden. Mit dieser Arbeit ist Hagedorn gänzlich in seiner für ihn typisch gewordenen Bildsprache angekommen. Vergleicht man diese Arbeit mit Lindners „The Gambler“ (Abb. 135) aus dem Jahr 1951, so fällt auf, dass auch Lindner den Bildhintergrund detailliert gegliedert hatte. Im klaren Gegensatz zu Hagedorn hatte Lindner realistisch über den Bildtitel reflektiert und ordnete hinter der, raumlos am vorderen Bildrand stehenden, Figur Spielkarten, Rouletterad und weitere Spielfelder auf. Hagedorns Werk erscheint wie eine Abstrahierung und Komprimierung dieser Utensilien. Aus den Speichen des Rouletterades gestaltet Hagedorn den komplexen Apparat auf der rechten Bildseite. Die beiden, das Bild oben und unten begrenzenden, Kreise könnten zunächst ebenfalls als solche Glücksräder aufgefasst werden. Doch wo in Lindners Werk die zentrale Figur erscheint, bleibt bei Hagedorn eine leere weiße Fläche. Aber der Mensch ist nicht eliminiert. Er ist im Bild, in erster Linie als ein komplexes Wesen, das der Mensch schließlich ist, in den komplex gestalteten Kreisen und denen einer elektronischen Maschine ähnlichen Funktionszusammenhängen, aufgegangen. Vorgreifend, vor allem im Gedächtnis an das seit „The Hand of my Aunt“ klar formulierte medizinische Interesse sowie vorzeitig Bezug nehmend auf Hagedorns Abstrahierung mit Hilfe der Kreisformen (ab 3.2.5), muss an dieser Stelle auf die Arbeit „Selbstportrait des Dadasophen“ (Abb. 166a) von Raoul Hausmann verwiesen werden. Hausmann zeigt einen in einem Lehnstuhl sitzenden Herrn im Anzug dessen Brust geöffnet ist und den Blick auf die beiden Lungenflügel sowie auf die sich verästelnden Arterien und Venen freigibt. Der Kopf des Dargestellten aber ist ersetzt durch die kreisrunde Anzeige eines Messgerätes mit Zeiger und Zahlen (3.2.5.3.1).295 Hausmann jedoch, der, wie es der Fotomontage des Dada entspricht, zwar verschiedenste Motivausschnitte, vor allem diejenige aus Natur oder Technik und Architektur, kombinierte, sah aber vor allem in der Maschine

295 Raoul Hausmann erkannte in der Metapher der Maschine oder des Automaten ein reales Gegengewicht zur vergeistigten Gesellschaft. Anders als die Gliederpuppe der Pittura Metafisica ist der maschinell konnotierte Mensch bei Hausmann ein Produkt seiner Umwelt, aber keine zukunftsträchtige Vision. Hagedorn jedoch strebte mit seinem Blick in das organische Innere des Menschen bei gleichzeitiger, technischer Kombination und Auflösung in geometrische Formen, eine positive Symbiose von Technik, Mechanik und lebendigem Menschen an. Vgl. Funken, Maschine, S. 131-133. 133

und dem mit ihr verbundenen technischen Fortschritt keine zukunftsträchtige oder für ihn interessante Vision.296 Anders bei Hagedorn, der vor allem im Einklang von Technischem und Organischen eine heute Realität gewordene Symbiose vorausgesehen und in seinen Kompositionen spielerisch umgesetzt hatte. Wenn also Hausmann den Kopf durch Bestandteile der Mechanik oder durch der Messtechnik entlehnten Geräte ersetzt, dann, weil er den Kopf zu einem Empfänger umfunktioniert, als Metapher dafür, dass der Portraitierte, also der Mensch, empfänglich für die Visionen des Dada sei.297 Hagedorn ersetzt den Kopf, oder dessen Hirn- und Sinnesleistungen durch die Kreisform einerseits, um die tradierte Darstellung der menschlichen Figürlichkeit aus seiner Bildwelt zu eliminieren, andererseits um auf die soeben angesprochene Symbiose von Technik und Mensch aufmerksam zu machen. Trotz der unterschiedlichen Bildintentionen bleiben aber beide Künstler letztendlich dem klassischen Genre des Portraits treu. Auf der klar organisierten Bildfläche von „The Gambler“ sind Formen, Farbflächen und gegenständlich anmutende Formen verteilt, die den Eindruck vermitteln, gemeinsam eine Funktion zu besitzen. Die Anordnung zeigt einen Aufbau ingenieurhaft organisierter Maschinenteile. Jedem Element ist eine Aufgabe eingeschrieben und der gesamte Apparat kann nur funktionieren, wenn alle Einzelteile intakt sind. Diese polierte, klare und dennoch in sich komplexe Maschinenästhetik steht im Vordergrund des Bildes. Betrachtet man unter diesem Aspekt Légers „Mechaniker“ (Abb. 108), dessen Figur Lindner bei der Gestaltung seines „Gamblers“ vor Augen gehabt hatte, so fällt die klar und auf die Farben fokussierte Hintergrundbehandlung auf. Bei Léger vermittelt diese die Anmutung der Maschinenhalle, das Mechanische, bei Hagedorn vermittelt die klare Malästhetik die Vorstellung des Technischen, vielmehr des Technologischen,298 in Verbindung mit organischen Funktionsweisen. Dabei verzichtet auch Hagedorn

296 Vgl. Jean-François Chevrier: Die Beziehungen des Körpers, in: Eva Züchner: Der deutsche Spießer ärgert sich. Raoul Hausmann 1886-1971. Kat. Ausst. Ostfildern 1994, S. 81. 297 Vgl. Bartomeu Marí: Keine Utopie. Ein ungefähres Portrait des Dadasophen, in: Ebd., S. 132. 298 Während Fernand Léger in „Der Mechaniker“ auf technische, maschinelle und auch auf mechanische Aspekte in seiner Darstellung verweist, damit den Eindruck einer Maschinen- oder Fabrikhalle evoziert, sprechen Hagedorns Bildmotive eine technologische, eine elektronische Sprache, denn, im Anbetracht des technischen Fortschritts, war „The Gambler“ im Zeitalter der sich entwickelnden Computertechnologie entstanden. Bereits Légers Mechaniker zeigt sich als der von ihm beherrschten Maschinenwelt überlegen, statt von ihr dominiert zu werden. Hagedorn entwickelte diesen Aspekt schließlich zur positiven Verschmelzung von Mensch und Maschine um. Vgl. generell zum Werk Fernand Légers: Schmalenbach, Léger. – Vgl. Francia: Fernand Léger, S. 76-78. 134

auf jegliche Tiefenräumlichkeit. Die Darstellung behauptet sich auf der Fläche des Bildes, es geht um Strukturierung und Organisation, nicht um die Erzeugung einer Raumillusion. Auf dem einheitlichen Bildgrund dominiert direkt am oberen Bildrand eine vielfach gegliederte kreisrunde Scheibe das gesamte Bild, welche außerhalb der Begrenzung von den Zahlenkombinationen „11“, „22“ und „33“ in drei Segmente geteilt wird. Rechts tritt ein nach unten abgebogenes Rohr aus oder hinter der Scheibe hervor, diesmal unterschrieben von einer an einen Code erinnernden Buchstabenfolge. Entfernt lässt diese Konstruktion entweder an ein Schwungrad mit Pleuelstange (Abb. 167), wie Hagedorn es von der Dampfmaschine im elterlichen Sägewerk gekannt hatte, denken, oder in Bezug auf den Bildtitel auch an einen Roulettetisch. Direkt unter dieser Konstruktion tritt ein vom rechten Bildrand angeschnittener und noch komplexerer Apparat nach schräg oben weisend ins Bild. Vier schmale, einer Zigarre ähnelnde, Röhren, die mit einem runden Ende aus rosafarbenem Kreis mit rotem Kern versehen sind, liegen auf einem ebenfalls rosafarbenen Grund und werden bis knapp über die Hälfte von einer lasierenden Schicht überdeckt, die wie farbiges Glas anmutet. An jedem Ende dieser Röhrchen ist eine Kombination aus zwei Buchstaben angeordnet. Die oberen drei Röhrchen werden nach einer Barriere von drei kleinen Formen weitergeführt. Diese Formen bestehen aus einer rechteckigen Grundfläche, ragen daraus auf und werden von einem Halbkreis pilzförmig abgeschlossen. Diese Form ist in Hagedorns Formenvokabular elementar (3.2.6.5). Sie erinnert an das Zp9-Lichtsignal, welches einen Lokführer dazu auffordert, loszufahren299 (Abb. 168) und sie erinnert gleichermaßen an die stilisierte Darstellung von Gelenken, aber vor allem an Funktionszeichnungen von Synapsen300 (Abb. 169) in medizinischen Lehrbüchern.

299 Vgl. Joachim Fiedler: Bahnwesen. Planung, Bau und Betrieb von Eisenbahnen, S-, U-, Stadt- und Straßenbahnen. 4., neubearb. und erw. Aufl. Düsseldorf 1999, S. 190-195. — Laut Zusammenstellung der Bestimmungen der Eisenbahn-Signalordnung (ESO 1959) gemäß der Aufstellung vom 18.09.2015 wird dieses Signal heute nicht mehr genutzt, sondern lediglich eine kreisrunde weiße Scheibe mit grünem Außenring. Aufstellung: Eisenbahn-Bundesamt. Referat 34, S. 78. 300 Eine Synapse ist eine sogenannte Zielzelle zu der die feinen Ausläufer eines Nervs Reizinformationen übertragen. Hagedorn nutzte also die „Pilzform“ (3.2.6.5) in seinen Werken als einen Marker für die Übermittlung von Informationen. Für den Betrachter wird das auf unterschiedlichen Ebenen erfahrbar: kennt er die Bedeutung des Zp9-Lichtsignals, so kann er sich den Verweis technisch erklären, fühlt er sich durch diese Form an die schematische Darstellung der Synapse erinnert, so erhält er Zugang durch medizinisches Wissen. Ohne jeglichen technischen oder medizinischen Hintergrund kann der Betrachter zumindest an eine gewisse richtungsweisende Funktion dieser Form erinnert werden. Vgl. Thomas, Nervensystem, S. 37-39. 135

Führt man beide Bedeutungen zusammen, das Symbol des Lichtsignals für das „Losfahren“ als auch die Bedeutung von Synapsen und Rezeptoren für das „Weiterleiten“, für das Übertragen von Informationen durch eine Membran hindurch, so liegen diese Bedeutungen nahe beieinander und auch in Hagedorns Werk erscheinen diese drei Elemente, als übertrügen sie etwas von einem, dem ockerfarbenen Bereich, in ein anderes Stadium, also in das schwarze Feld, in das sie hineinragen. Für die zu übertragende Information können die Buchstabenkombinationen, als Verweis auf Sprache und als Verweis auf Codes gleichermaßen, stehen. Direkt gegenüberliegend, am linken Bildrand, ist ein weißer Kreis in eine unregelmäßige ockerfarbene Fläche einbeschrieben. Mit einer durchgängigen, sowie mit einer gestrichelten schwarzen Linie, und einem auffälligen roten Dreieck erscheint diese Konstruktion wie eine Armatur, wie ein Messgerät (3.2.5.3.1), ergänzt um den Großbuchstaben „B“. Unterhalb dieser Anzeige tritt vom linken Bildrand eine lange und komplexe aus Buchstaben, Zahlen und mathematischen Zeichen bestehende Reihung in das Bild. Der direkt darunterliegende Bildraum wird lediglich durch große, verschiedenfarbige Flächen unterteilt. Diese Flächen sind zwar durchaus klar gegeneinander abgegrenzt, aber entbehren dennoch der Optik der Hard-Edge-Malerei, da Hagedorn zwar zu klaren Linien findet, aber innerhalb der Farbflächen seinen Pinselduktus nicht verleugnet. Nach unten hin wird die Komposition von einer weiteren Kreisfläche abgeschlossen. Diese bildet ein Pendant zum oberen Kreis, verfügt aber über eine wesentlich einfachere Binnenstruktur und wird zudem vom unteren Bildrand angeschnitten. Dieser und der Anschnitt vom rechten Bildrand lassen den Eindruck entstehen, der Betrachter sieht nur einen Teil dieses Aufbaus. Hagedorn setzt sich damit also auch nicht mit den Fragen auseinander, die noch einige Jahre vorher beispielsweise Künstler wie Frank Stella bewegt hatten, ob nun die Bildfläche selbst die Komposition determiniert oder ob die Komposition diese bestimmt.301 Hagedorn akzeptiert zwar die Fläche, die Zweidimensionalität als solche, begrenzt seine Darstellung aber nicht durch die vorgegebene Fläche und ist damit wieder den Vorbildern Léger und Lindner formal näher als den zeitgenössischen Künstlern.

301 Vgl. Heyden, Lindner, S. 18. 136

Aus dieser Arbeit geht klar hervor, dass Hagedorn zwar die genannten Traditionen in hohem Maße zitiert, jedoch diese konsequent verfeinert und mit den Inhalten seiner eigenen Interessensfelder zu füllen wusste. Somit findet er eine eigene Farbigkeit, lässt trotz klarer Flächenumrandung den Pinselstrich sichtbar bleiben und bindet den Menschen auf höchst eigenständige Weise in seine Bildwelt ein. Hagedorn gelingt eine Symbiose von Subjekt und Objekt hin zu einer organisch durchdrungenen Technikdarstellung. Die Abgrenzung zu Lindner wird evident, indem Hagedorn aus der begonnenen Zerlegung des Menschen eine Integration menschlich-organischer Formen und Anmutung in eine technisch determinierte Bildkomposition verfolgt hatte. Besieht man die gesamte Komposition von „The Gambler“ vor dem Interesse Hagedorns am technologischen Fortschritt, somit wird diese lesbar als eine stilisierte Darstellung eines Algorithmus302 (Abb. 170). Die einzelnen Kreisformen sowie die weiteren benannten Gebilde gliedern die Fläche ebenso auf, wie es der visuellen Darstellung eines einfachen Algorithmus‘ entspricht. Eine Analogie findet sich auch in Hagedorns Gestaltung der Arbeit „Controller“ (Abb. 171). Hagedorn vermittelt damit die Grundfunktion eines Algorithmus, die darin besteht, aufgrund bestimmter Eingaben eine zielführende, problemlösungsorientierte Ausgabe zu erhalten. Das gebogene Rohr und die Röhrchenkonstruktion stehen dabei für die Eingabe, für einen Input aus unterschiedlichsten Daten in ein System. An verschiedenen Punkten, welche die Kreisformen markieren, werden diese Informationen gesammelt und verwertet, um sie schließlich wieder auszugeben, wofür in „The Gambler“ die lange Reihe aus Zahlen und Buchstaben, in „Controller“ der nach links austretende Pfeil stehen können. Algorithmen sind von Menschen erdachte Handlungsvorschriften, der Mensch ist also allein durch diese Tatsache diesen Bildern immanent, seine Anwesenheit wird durch die, eindeutig auf menschliche Aktion verweisenden, Bildtitel noch potenziert.

302 Ein Algorithmus ist eine Handlungsanweisung zur Problemlösung. Die Bezeichnung geht zurück auf den Namen Abu Dscha’far Muhammad Ibn Musa Al-Khwarazmi (780- etwa 850), ein indischer Universalgelehrter und Mathematiker. Die originale Niederschrift seiner Arithmetik ist verloren, aber es liegt eine lateinische Abschrift vor: „Algorithmi de numero Indorum“ (Universität Oxford). Damit wurde der Name des Verfassers latinisiert, der Titel wurde zu einem Fachbegriff, „Algorithmus“. Erstmals wurde im Jahr 1843 von Ada Lovelace ein Algorithmus für einen Computer geschrieben. Vgl. Gerhard Kropp: Geschichte der Mathematik. Probleme und Gestalten. Heidelberg 1969, S. 53. 137

„The Gambler“ kann damit eine Interpretation finden, dass der Mensch, hinsichtlich technischer Innovationen auch als Spieler bezeichnet werden könnte, im Sinne eines spielerischen Umgangs mit technischen Problemen, jedoch auch in Hinblick darauf, dass auch Computerspiele303 durch Algorithmen gesteuert werden. Die Bezeichnung „Controller“ liegt dem technischen Bereich begrifflich ohnehin nahe.304 Richard Lindner hingegen hatte die tatsächliche Präsenz des Menschen nie aufgegeben und Abstrahierungstendenzen ausschließlich hinsichtlich der Behandlung der Bildräume zugelassen. Dennoch war es für Hagedorn elementar, den Weg über die Auseinandersetzung mit Lindners Bildsprache zu gehen, denn nur durch diese konnte er zu klarer Farbigkeit und zu einer eigenständigen Organisation der Bildfläche kommen, worin ihm jedoch auch die intensive Adaption der Bildgefüge Légers wichtigste Impulsgeber waren. Auch inhaltlich war die Kenntnis der Werke Lindners wichtig für Hagedorn, um eine eigene Thematik und eine autonome Aussage zu begründen, wie es die nachfolgend beschriebene Arbeit „Visitation“ (Abb. 172) zeigt.

„Visitation“ Im Spätwerk „Visitation“ aus dem Jahr 1999 beweist Hagedorn seine bildnerische Eigenständigkeit, ohne die Einflüsse Richard Lindners zu verleugnen. „Visitation“ ist eine Umkehrung des Lindner’schen „Telephone“ (Abb. 173). Lindners Inkunabel der menschlichen Isolation in der modernen Großstadt vereint darüber hinaus das Spannungsverhältnis zwischen Frau und Mann und kommentiert moderne Kommunikationsmedien. Eine zweigeteilte, rote Telefonzelle markiert die Grenzen des Bildes, gibt der Szenerie Rahmen, Bühne und klaustrophobische Enge zu gleichen Teilen. In diesen beiden Teilen der Zelle, und man darf hier

303 Ein erstes Computerspiel wurde bereits 1958 entwickelt. Vgl. Konrad Lischka: Spielplatz Computer. Kultur, Geschichte und Ästhetik des Computerspiels. Heidelberg 2002, S. 19-21. 304 Es ist keine eigene Aussage Karl Hagedorns über ein spezielles Interesse an der Computertechnologie überliefert. Im Interview mit Curt Heigl verweist er jedoch auf eine Faszination für die Möglichkeit der „…Teilbarkeit der ‚unteilbaren‘ Atome…“ sowie für „…mechanische Elemente…“, die ihm Bezüge zum menschlichen System ermöglichen. Aus den Interviews, vor allem mit seiner Witwe Diana Cavallo und mit Winfried Raabe ging die Faszination Hagedorns für jeglichen technischen Fortschritt hervor. Sein Interesse am „…Gehirnsystem [und am] neurologische[n] System…“, ist ein Spiegel für das Interesse an Computertechnologien, da diese den Funktionsweisen des Gehirns nahezukommen sucht und da diese sich zeitparallel zu Hagedorns Hauptschaffensphase stark entwickelt hatte. Allein die Bildinhalte sind Belege für die Kombination dieser beiden Interessen. Karl Hagedorn zitiert aus: Kat. Kunsthalle, S. 17. 138

auch den Gedanken einer Gefängniszelle fortführen, befinden sich ein Mann und eine Frau. Sie sind sehr präsent in ihrem Äußeren wie in ihrer bildfüllenden Erscheinung, entbehren jedoch jeglicher Plastizität, das Bild existiert in der Fläche, nicht durch Raumillusion.305 Hagedorn begrenzt seinen Bildraum nach links und rechts ebenfalls durch verschiedenfarbig abgesetzte Balken und teilt das Bild im unteren Drittel durch einen Mittelbalken sowie durch einen horizontalen Balken. Da diese Formen bei Hagedorn aber entweder weiß oder zartfarbig-bunt sind, haben sie nicht die kräftig umrandende, Enge erzeugende Funktion wie bei Lindner. Trotz der Umrandung wirkt Hagedorns Bildraum weitläufig und frei. Auch er zeigt zwei Protagonisten, es handelt sich um eine für das abstrahierte Werk Hagedorns typisch gewordene Personendarstellung. Wie bereits mit „The Gambler“ aufgezeigt, macht Hagedorn den Menschen entweder nur noch durch eine organische Struktur in seinen Werken präsent, oder er erzeugt Ansichten einer menschlichen Figur, die der Betrachter als Figur zu interpretieren weiß, da ihm seine Seherfahrung anzeigt, dass diese Umrisse und Formenkombinationen mit der Erscheinung einer Figur kompatibel sind. Würde ein Betrachter diese Kombination aus Versatzstücken zu einer Figur nicht als Figur erkennen, dann würde für ihn das Bild als abstrakte Malerei ebenfalls funktionieren. Diese Art der Visualisierung von Figur hatte Karl Hagedorn aus der Arbeit „Running Girl“ heraus entwickelt. Das noch figürlich dargestellte Mädchen ist eng in seinen geometrisch-flächigen Hintergrund eingebunden. Daraus entstanden Bilder, in welchen der Betrachter teilweise sofort, teilweise erst nach einiger Zeit, eine oder mehrere Figuren erkennen kann. In „Visitation“ stehen links und rechts der Mittelachse zwei Personen, die sich einander im Profil zugewandt sind. Ihre Körper werden markiert durch große Rundformen, die als Köpfe fungieren, die Oberkörper, zumindest die Arme, scheinen in heftiger Bewegung, da sie vielfach aufgegliedert sind,306 komplettiert werden die Figuren durch jeweils ein Bein. Betrachtet man diese Formen einzeln in ihren jeweiligen Bildsegmenten, so sind es lediglich Farbflächen oder Formen,

305 Vgl. zu „Telephone“ im Besonderen die Ausführungen von Thomas Heyden, in: Heyden, Lindner, S. 17-27. 306 Dies ist eine späte Ausformulierung von zeitlich versetzten Bewegungsabläufen, wie sie Hagedorn in früheren Werken weitaus komplexer dargestellt [„Dimorphous Composition“ (Abb. 221), „La Passagiata“ (Abb. 157)] hatte und basiert auf den Bewegungsstudien eines Marcel Duchamp und den gemalten Bewegungs- und Schnelligkeitsstudien der italienischen Futuristen. 139

frei von jeglichem menschlich-figurativen Bezug. Erst in ihrer Gesamtheit nehmen sie Figurencharakter an. Lindners telefonierende Personen tragen strenge, einengende Kleidung. Die Frau trägt eine sonderbare Kopfbedeckung, die einerseits an blondes Haar erinnert, andererseits an einen tief herabgezogenen Helm. Der Mann trägt Hut mit breiter Krempe und darunter eine Sonnenbrille. Der Kopf der linken Figur in Hagedorns Bild ist überdimensional groß und erinnert stark an einen Helm, zumal er nach rechts hin von einem dunkler gestalteten Halbkreis abgeschlossen wird, der wie ein Visier erscheint. Das Zentrum bildet ein aus vier Dreiecken gestaltetes Rechteck. Die rechte Person hat einen wesentlich kleineren Kopf, bestehend aus einem hellgelben Kreis mit komplexem Zentrum sowie aus kleinteiligem Formenwerk (vgl. ab 3.2.5). Während in Lindners Werk die Personen den Bildraum gänzlich ausfüllen, so sind Hagedorns Figuren ganz in die Bildfläche eingebettet, in der ihnen genügend Raum zur Verfügung steht. Diese Bildfläche ist im oberen Bilddrittel stärker und kleinteilig gegliedert und besteht zum unteren Bildrand hin nur mehr aus wenigen klaren Farbflächen. Im Gegensatz zu Lindners klarer Verortung in einer Telefonzelle, ist der Schauplatz in Hagedorns Bild abstrakt und ortlos. Auch die am rechten oberen Bildrand angebrachte Schrift „SUPER“ verweist auf keinen Ort, auf keine Handlung.307 Lindners Frau wird markiert von dem Rund der Muschel ihres Telefonhörers und dem darunterliegenden Rund ihrer Brust, ein Bildelement welches Hagedorn aufgreift mit zwei kleinen, an Zielscheiben erinnernden Kreisen, die sich hier aber zwischen den beiden Darstellern befinden. Den ultimativ trennenden roten Balken in Lindners Arbeit formuliert Hagedorn um zu einer vitalen Vielfalt an Formen. Kaleidoskopartig angeordnet, befinden sich auf einer annähernd halbkreisförmigen Fläche verschieden bunte Röhrchen, ein zentrales Targetmotiv, welches die Binnenstruktur der Armatur aus „The

307 Der Superlativ „SUPER“, könnte in diesem Fall auf die Handlung selbst sein, indem diese als besonders „gut“ bezeichnet wird. Bezieht man sich auf die lateinische Wortherkunft in der Bedeutung von „oben, darüber, über – hinaus“, so ist es denkbar, dass Hagedorn sich im Jahr 1999 selbst zuschreibt, in seinem Spätwerk über das Vorbild Richard Lindner hinausgewachsen zu sein, zu einer eigenständigen Formensprache gefunden zu haben. Im Theater- und Filmwortschatz bedeutet der englische Begriff „super“ im Deutschen „Statist“. Karl Hagedorn hatte sich immer wieder für Musik- und Theaterstücke interessiert und Anklänge daraus in Werken verarbeitet [„Hommage to L.“ (Abb. 216), „Pere Ubu Roi“, „Arcana“ (Abb. 96)]. Die beiden Bildprotagonisten könnten eine, wenngleich unkonventionelle, Fokussierung auf eine Statistenszene sein. 140

Gambler“ wiederholt, plane geometrische Formen, modellierte Farbflächen, kleinteiligste Formenansammlungen und ein schwarzweißes Band. Dieses Formenkonglomerat befindet sich auf Höhe der Oberkörper der beiden Personen und visualisiert eine innige und stürmische Umarmung. Gemäß dem Bildtitel wird hier voller Freude Besuch empfangen. Hagedorn kehrt das von Lindner evozierte Spannungsverhältnis von gleichzeitiger Nähe und Distanz um in ein begeistertes Aufeinandertreffen. Auch wenn die Menschen, genau wie bei Lindner, maschinell statt menschlich wirken, so erzeugt Hagedorn einzig mit Farbe und Form Nähe und menschliche Wärme, während Lindner beißend auf die Isolation aufmerksam machte. Der Vergleich legt nahe, dass Hagedorn sein Vorbild niemals verleugnen wollte und es bewusst zitiert, aber dass er es dabei erreichte, seinen Werken Eigenständigkeit in Darstellung und Inhalt einzuschreiben. Was beide Künstler vereint, ist die Maskierung der Figuren, was sowohl Lindner dem Bestreben der New York School nach unkontrolliertem Ausdruck308 entgegenstellt, als auch Hagedorn der Vorstellung der Pop Art von reiner Realität und damit ein Beleg für die Nähe beider Maler zur Hard-Edge-Malerei ist. Lindner darf als ein Künstler bezeichnet werden, welcher die Prinzipien des Hard-Edge in der figürlichen Malerei anwendete. Hagedorn nutzte das Prinzip der klar gegeneinander abgegrenzten Farbflächen, vernachlässigte aber die weiteren Aspekte des Hard- Edge und arbeitete stattdessen mit organischen Formen und mit sichtbarem Pinselstrich.

3.2.4.5 Hagedorns Wege in die Abstraktion – zwei Bildbeispiele

In den zehn Jahren zwischen 1958 und 1968 war Hagedorns Werk, abgesehen von den bereits besprochenen Selbstbildnissen aus 1959 (Abb. 33, 34, 35), die jedoch einen singulären Entstehungshintergrund haben, geprägt von der Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper, von den Möglichkeiten der Auflösung dieses Körpers über den Weg der, teilweise erotisch konnotierten, Zerstückelung, wie im Kontext mit Fuchs und Bellmer aufgezeigt, und damit einhergehend auch von einer nahezu euphorischen Bewunderung für das Werk Richard Lindners. Die beschriebene Arbeit „The Hand of my Aunt“ ist ein Destillat der voranschreitenden Zerstückelung der Körper und dessen

308 Vgl. Heyden, Lindner, S. 25. 141

Auflösungsversuchen und sie ist der Vorgriff auf Hagedorns späteres Interessensfeld der Inneren Medizin beziehungsweise der Neurologie.309 Waren die Werke bis 1968 noch von der äußeren Erscheinung des menschlichen Körpers determiniert, so zeigt Hagedorn ein Jahr nach „The Hand of my Aunt“ eine gänzlich neue Darstellungsweise. Mit dem 1967 gemalten „12 A.M. d.s.t.“ (Abb. 15) hatte Hagedorn erstmals mit einem großen Werk den Schritt in die Abstraktion gewagt, derer er ab diesem Jahr mit wenigen Ausnahmen sein gesamtes weiteres Werk hindurch verbunden bleiben werden wird.

3.2.4.5.1 Eine neue Formensprache: „12 A.M. d.s.t“ Die im Titel enthaltene Zeichenkombination „12 A.M.“ verweist auf die Zeitangabe „Mitternacht“, „d.s.t.“ auf die Zeitbezeichnung „daylight saving time“, also Sommerzeit. Wie der Titel vermuten lässt, handelt es sich um eine Darstellung, welche ein fiktives Geschehen um Mitternacht, zur sogenannten „Geisterstunde“ zum Inhalt nimmt. Ähnlich wie in einem Traum tummeln sich Wesen vor einem undefinierbaren Hintergrund in einem aperspektivischen Raum. Das hochrechteckige Gemälde zeigt eine vorwiegend in Pastellfarben ausgeführte Komposition auf einem weißen, undefinierbaren Grund. Flächige und geometrische Formen mischen sich mit amorphen, wie mit biomorphen Formen, vereinzelt entstehen Figuren oder Teile von Figuren, die aber für jeden einzelnen Betrachter mit unterschiedlichen Assoziationen behaftet sein können. Die einzelnen Flächen und Formen sind umrandet und verbunden durch feine schwarze Linien, die das gesamte Bild strukturieren und einen Kontrast zu den sonst sehr zarten Farben bilden.

309 Hagedorn hatte versucht, über die Zerstückelung des Körpers einerseits eine Konzentration auf das Innere des Körpers zu erhalten und andererseits suchte er nach einer Möglichkeit, die äußere Erscheinungsform des Menschen aufzulösen, oder wie er es selbst benannte: „I was proficient with the human figure, fascinated by the machine, drawn to them both, but these external forms over time interested me less and less.“ Und weiter: „…the human figure has been treated for 20,000 years in much the same fashion artistically, […] the essentials […] were less bound by the outline, […] than what was hidden beneath it.” Karl Hagedorn zitiert aus Leonardo, S. 281. Aber die Zerstückelung ist lediglich ein Schritt auf seinem Weg zur abstrakten Darstellung des Menschen, Hagedorn zeigte kein substantielles Interesse an der Darstellung von Gewalt oder einer erotischen Komponente, er nutzte lediglich deren Möglichkeiten, um zu seinem originären Ausdruck zu finden. Über die Bedeutungen der erotischen oder der gewaltbehafteten Dimension vgl. Hartmut Böhme: Erotische Anatomie. Körperfragmentierung als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock und Stefanie Wenner: Ganzer oder zerstückelter Körper. Über die Reversibilität von Körperbildern, beide in: Claudia Benthien/Christoph Wulf (Hgg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek 2001, S. 228-253 und S. 361-380. 142

Diese feinen, schwarzen, das Bild gliedernden, Linien sind ein Bezug zu den Werken Joan Mirós, wie beispielsweise „Der schöne Vogel enthüllt das Unbekannte einem Liebespaar“ (Abb. 174), 1941 oder „Karneval des Harlekin“ (Abb. 175), 1924/25, die Hagedorn zu diesem Werk inspiriert hatten. Die Formen entstehen aus sich selbst heraus immer wieder neu. Der weiße Bildgrund und die ebenfalls hellen Formen dominieren die Darstellung, weitere Farben neben Weiß sind durch Pinselschraffuren nur angedeutet. Die wenigen starkfarbigen bis schwarzen Gebilde heben sich vor diesem Hintergrund deutlich ab. Auch diese scharf umrandeten, jedoch völlig gegenstandslosen, schwarzen Farbflächen, bergen eine Verbindung zur Malerei Mirós, der auf biomorphe wie geometrische Formen zurückgegriffen hatte.310 Möglicherweise sind diese schwarzen Formen, die in diesem Bild der übrigen pastellfarbenen Farbgebung diametral gegenüberstehen, Zufallsprodukte der Malerei. Betrachtet man im Vergleich „Die Hochzeit“ (Abb. 176), von Léger um 1910/11 gemalt, so wird deutlich, dass Hagedorn hier nichts dem Zufall überlassen hatte, sondern möglichst viele Kontraste in das Werk zu integrieren suchte, die das träumerische Geschehen noch verstärken. Wie Léger verband Hagedorn in dieser Arbeit, voluminöse, einfache Flächen mit komplexen Formen, Flächigkeit und Plastizität agieren dabei parallel, genauso wie die Kontraste aus Hell und Dunkel sowie Farbigkeit und Unfarbigkeit in Form von Weiß und Schwarz. Organische, wesensgleiche Elemente werden unterbrochen durch geometrische oder klar umrandete Formen.311 Dennoch nimmt Hagedorn auch klaren Bezug auf die surrealistische Darstellungsweise Mirós, wobei die benannten weichen Formen auch an die Formensprache Salvador Dalís erinnern dürfen.312 Es kann nicht belegt werden, ob Hagedorn die 1923 von Hans Arp veröffentlichten „7 Arpaden“ (Abb. 177a-g) kannte. In „12 A.M. d.s.t.“ nimmt lediglich das kleine Dreiviertelrund mit rechts auslaufendem Fuß annähernden Formenbezug auf Arps Figuren „Schnurruhr“ und „Schnurrhut“. Der Einsatz

310 Zur Formensprache Mirós vgl. Carolyn Lanchner: Peinture-Poésie. Its Logic and Logistics, in: Dies. (Hg.): Joan Miró. Kat. Ausst. New York 1998, S. 20f. 311 Vgl. Schmalenbach, Léger, S. 88. 312 Vor allem im Wissen um Hagedorns Begeisterung für den surrealistischen Film, werden die Rückschlüsse auf die malerischen Werke Joan Mirós und Salvador Dalís gezogen. Die Bildsprache, welche Karl Hagedorn in „12 A.M. d.s.t.“ anwendete, bleibt in seinem gesamten Schaffen eine weitgehend singuläre, diese ist, auch hinsichtlich des Entstehungsjahres 1967, immer noch stark determiniert von den Einflüssen der europäischen Moderne einerseits und von kunsthistorischen Vorbildern andererseits. 143

solcher kleinen schwarzen Formen bleibt dennoch mit Arps Formensprache verknüpft und zwar dahingehend, dass Arp diesen Formen Alltagsgegenstände und Körperteile zu Grunde gelegt hatte, was genauso Hagedorns Interesse und Vorgehensweise in der Abstrahierung entspricht. Die malerische Gestaltung des Bildgrundes ist fleckig und evoziert die Vorstellung eines freien Farbauftrags. Die Konnotation des Bildgeschehens mit einer Traumwelt, die freie Anordnung der irrealen Motive im undefinierten Raum und der nicht gesteuerte Farbauftrag lassen mit dem Wissen um Hagedorns Interesse an der klassischen europäischen Moderne auch den Gedanken an den Automatismus aufkommen, dessen Prinzipen jedoch keinen Einfluss auf seine weitere Werkgenese nehmen sollten.313 An einigen Stellen scheinen Vorzeichnungen durch, verstärkt in der linken Bildmitte, genauso Übermalungen vorher farbiger Flächen am oberen rechten Bildrand. Die Darstellung wird durch eine betonte Mittelachse geteilt, die sich im oberen Bilddrittel immer stärker auflöst. Eine vergleichbare Organisation weist die Bildfläche in „Karneval des Harlekin“ auf. Der dort abgebildete Harlekin besteht aus einer dünnen, schwarzen Linie, welche die Funktion der mittleren Bildachse übernimmt. Auf dieser Linie sitzt dann der fischartige Kopf des Harlekins, seine Arme haben ebenfalls in dieser Linie ihren Ursprung. Hagedorn formuliert diese Mittelachse deutlich massiver als Miró. Sie besteht in der unteren Bildhälfte aus zwei sich überlagernden, aus Versatzstücken bestehenden Röhren, die entfernt an Musikinstrumente wie Flöte oder Klarinette erinnern. Man bedenke, dass Mirós Harlekin musiziert, wenngleich auch auf einer Gitarre. Sehr genau im Bildmittelpunkt enden diese Röhrengebilde und die Mittelachse lässt sich nach oben hin noch optisch durch um diese herum arrangierte Bildelemente fortführen.

313 Der (psychische) Automatismus erreichte in den Bereichen der Literatur und der Malerei vor allem für den Surrealismus (etwa 1919 bis 1924) eine hohe Relevanz. Hinsichtlich des Traums, an den auch Hagedorns Gemälde erinnert, hatte sich vor allem André Breton auf die Erkenntnisse über die von Sigmund Freud entwickelten Methoden (Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 1900), Zugang zur menschlichen Psyche über den Traum zu erhalten, gestützt. Dabei war nicht die Methode an sich, sondern deren Novität für die Entwicklung seiner philosophischen Schriften von Interesse. Die automatistische Zeichnung und der Einsatz von Zufallsformen prägten die Werke der Künstler Hans Arp, Max Ernst und André Masson. Deren Werke gehören in das kunsthistorische Interessensfeld Karl Hagedorns. Zu den Erscheinungsformen des Automatismus in den Werken der genannten Künstler vgl. Beate Bender: Freisetzung von Kreativität durch psychische Automatismen. Eine Untersuchung am Beispiel der surrealistischen Avantgarde der zwanziger Jahre. Frankfurt am Main 1989, S. 9-13. – S. 145-159. – S. 167-173. 144

Einen ähnlichen Aufbau weist auch Arshile Gorkys „Garten in Sotschi“ (Abb. 178) aus dem Jahr 1943 auf. Diese Arbeit befindet sich im Museum of Modern Art, welches Hagedorn bereits 1959 während eines kurzen Aufenthaltes in New York besucht hatte. Auf ebenfalls pastos-unregelmäßigem weißen Bildgrund agieren zarte farbige Figuren, die teilweise miteinander in Verbindung treten, teilweise mit dem Hintergrund verschmelzen. Sie sind von dünnen schwarzen Linien umgeben, die wie in Hagedorns Werk dem Bild eine innere Struktur verleihen. Die Mittellinie wird hier durch ein vom oberen Bildrand herabfallendes schwarzes Rohr gekennzeichnet, durch dessen Dominanz es dem Betrachter leicht fällt, diese Line optisch nach unten hin fortzuführen. Visualisiert Hagedorn eine mitternächtliche, erträumte Szenerie, so zeigt Gorky ein Konglomerat aus Assoziationen und Erinnerungen. Gorky, der sich mit Mirós Werken auseinandergesetzt hatte und vor allem dessen zarte Linienführung adaptierte, wurde als einer der letzten Künstler dem Surrealismus zugerechnet und kann für Hagedorns Auseinandersetzung mit diesem wie eine Brücke zwischen dieser europäischen Strömung und der US-amerikanischen Kunst fungiert haben.314 In der oberen linken Bildecke von „12 A.M. d.s.t.“ steht auf einer runden Form eine Figur, deren Beine voranschreiten, während sich der Körper nach oben hin bereits wieder verflüchtigt. Rechts darunter ist ein Profil erkennbar, welches sich aber lediglich durch Frisur und Mund auszeichnet. In der unteren linken Bildhälfte findet sich eine Figur, die wie ein Geist anmutet, sich nach unten hin völlig auflöst und bereits kurz darunter deuten Kopf und Arme eine Haltung wie im Handstand an. Daneben tut sich eine große, langgestreckte Form auf, die wie ein auf die Seite gelegter Torso erscheint und sich nach unten hin birnenförmig erweitert. Oben öffnet sich eine gelbe Klappe und der Betrachter erkennt, dass ein kleiner Geist darin sitzt, was Assoziationen an eine Geburt, aber auch an die Herstellung eines

314 Vgl. Michael R. Taylor/Harry Cooper (Hgg.): Arshile Gorky. A retrospective. Kat. Ausst. New Haven 2010. – Vgl. Harry Rand: Arshile Gorky. The implications of symbol. Berkeley 1991. – Zur formalen Nähe Gorkys zu den Werken Joan Mirós vgl. John Golding: Arshile Gorky: The Search For Self, in: Arshile Gorky (Begr.): Arshile Gorky, 1904-1948. Kat. Ausst. London 1990, S. 15. – Zu Gorkys Haltung gegenüber dem Surrealismus vgl. Ebd., S. 17. – Vgl. Jim M. Jordan: The Paintings of Arshile Gorky: New Discoveries, New Sources and Chronology, in: Ders./Robert Goldwater: The Paintings of Arshile Gorky. A critical catalogue. New York, London 1987, S. 43- 45. Arshile Gorky werden die Künstler Fernand Léger, Joan Miró und Pablo Picasso als kunsthistorische Vorbilder zugeschreiben, mit Stuart Davis verband ihn eine Freundschaft, vgl. Ebd., S. 45f. Damit rezipierte Gorky diejenigen Vorbilder, die in der vorgelegten Arbeit auch Karl Hagedorn zugewiesen werden. 145

Homunkulus315 erwecken kann. Zur rechten Seite hin läuft die Form wellenförmig schmal aus und erinnert an die weiße gestreckte Figur in Mirós „Holländisches Interieur I“ (Abb. 179), von 1928, welches sich ebenfalls im Museum of Modern Art in New York befindet. Auch die anderen Figuren in Hagedorns Werk haben Vorbilder in den Arbeiten Mirós. Es ist jeweils die Seherfahrung des Betrachters, die diese Figuren zu Lebewesen oder zu Teilen von Lebewesen werden lässt, indem er durch die Definition von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen danach sucht, diesen Gebilden einen figürlichen Charakter einzuschreiben. Im Gegensatz zur linken, ist die rechte Bildhälfte dominiert von weichen, schwebenden Figuren, die keinen figürlichen Bezug mehr aufweisen und wie sie bisweilen auch in den Gemälden Max Ernsts erscheinen, der sie als einen Rückbezug zu dem, dem Surrealismus nahestehenden Dadaismus sowie zu den Werken de Chiricos eingesetzt hatte.316 Alle dargestellten Figuren und Formen gehen ineinander über und verändern damit für den Betrachter permanent ihre äußere Form und auch ihre Funktion. Viele der Formen münden in weiche, wellenförmige Enden, die wie Zehen nebeneinander aufgereiht sind. Mit der Kenntnis um Hagedorns Interesse am menschlichen Körper, sind die vielen halbkugelförmigen, teilweise farbigen,

315 Die Vorstellung der Herstellung eines künstlichen Menschen („Homunkulus“) ist ein Teil der alchemistischen Lehren. Im 2. Akt von „Faust II“ erschafft Wagner einen solchen Homunkulus, welcher jedoch nur in der Phiole lebensfähig zu sein scheint. Jedoch sei dieser in der Lage, die Träume Fausts zu erkennen. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Faust II, Faust. Eine Tragödie. Der Tragödie zweiter Theil in fünf Acten. Weimar 1888, in: Studienkreis (Hg.): Text-, seiten- und zeilenidentischer Neudruck der ersten Abteilung der Weimarer Ausgabe, Faust. Zweiter Theil. Bochum 1999, dort: „Laboratorium“, Zeilen 6820-7000. Ein möglicher Blick in das Gehirn ist die Grundlage der Neurowissenschaften. Innerhalb der Neurowissenschaften sind die Begriffe „sensorischer“ und „motorischer Homunkulus“ gebräuchlich. Dies sind Hilfskonstruktionen, um die jeweiligen Gehirnregionen den Körperteilen zuzuordnen, für die sie zuständig sind. Visualisiert man die jeweiligen Körperregionen, so erscheint ein kleiner, unförmiger „Mensch“ mit überproportional großen Händen und großem Mund (denjenigen Regionen mit den meisten Nervenenden). Dies wird dargestellt mit Hilfe somatotoper Karten. Vgl. Engel, Neurowissenschaften, S. 443-446. Diese Verbindungen zu einem möglichen Homunkulus-Zitat in der beschriebenen Form in dem Bild „12 A.M. d.s.t.“ basieren auf den Zusammenhängen, dass Hagedorn in dieser Arbeit eine Traumszenerie schildert und auf der Tatsache, dass sich Hagedorn stark für Neurowissenschaften interessiert hatte sowie auf den Zusammenhängen, welche die spätere Arbeit „Arcana“ (Abb. 96) aufweist, welche allein durch die Bildbetitelung auf den Arkanum-Begriff als einen Teil der Alchemie verweist; da der „Homunkulus“-Begriff bei Paracelsus (1493/4-1541) relevant ist (3.2.7.2). Diese Verbindungen sind vielfältiger Natur und weder in Hagedorns Nachlass noch in den Interviews belegt. Eine nähere Betrachtung dieser Verbindungen ist innerhalb der vorgelegten Arbeit aufgrund der Fülle an Bezügen als nicht sinnvoll zu betrachten, vgl. auch Kapitel 3.2.7.2. 316 Vgl. John Russel: Max Ernst. Leben und Werk. Köln 1971. Im Besonderen Ernsts Verbundenheit zum Surrealismus und dem Dadaismus, in: Ebd., S. 32-54. Zudem hatte sich Max Ernst umfangreich mit der Disziplin der Psychopathologie auseinandergesetzt, was wiederum eine Nähe zu Karl Hagedorns Interesse für die Neurologie evoziert. Vgl. dazu Ebd., S. 42. 146

Gebilde auch als Brüste zu definieren, während die geschwungenen, konkaven Formen den Gedanken an weibliche Genitalien evozieren.317 Letzteres kann erneut als eine Verbindung zu Joan Mirós Werk benannt werden, welches ebenfalls zahlreiche solcher Bezüge aufweist und diese Geschlechtsteile bisweilen offensichtlich zeigte, oder aber mit den Formen des Eies oder des Auges verschlüsselt hatte. Mit Blick auf die genannten Impulse aus den Werken Joan Mirós, Salvador Dalís, Arshile Gorkys und Max Ernsts bleibt dennoch die Malerei Fernand Légers als maßgeblich, was Hagedorns Umgang mit den bildnerischen Mitteln betrifft. Die Komposition, aus unregelmäßig weißen, pastosen Flächen in Kombination mit einer auf Blau, Rot und Gelb reduzierten Farbigkeit ist ein erneuter Beleg für die Auseinandersetzung Hagedorns mit Légers Werken und verweist in diesem Fall auf frühe Gemälde des älteren Künstlers, wie dem 1913 entstandenen „Die Treppe“ (Abb. 180). In dieser Arbeit beschränkte sich Léger ebenfalls auf den genannten Farbkanon und auch er definierte seine Formen durch schwarze Konturen, wenngleich auch wesentlich intensiver in den Farben als auch in der Konturierung, als es die feine, zeichnerische Linienführung bei Hagedorn ist. Ein weiterer Impuls aus Légers Malerei der Zehnerjahre des 20. Jahrhunderts ist der Farbauftrag. Klar gesetzte Farben, die aber innerhalb der Formen trocken und wie Schraffuren auslaufen und sowohl in Légers als auch in Hagedorns Werk nichts mit den jeweils erst später auftretenden glatten, geometrischen Farbflächen gemein haben. Jedoch fehlt in „12 A.M. d.s.t.“ jeglicher Anklang an die unsentimentale Härte, mit der sich Léger vor allem in seinen frühen Werken der Figur näherte. Léger wollte der menschlichen Figur „dieselbe Bildhaftigkeit“318 wie die der Maschine verleihen. Ein Aspekt, der auch Hagedorns spätere Werke dominieren sollte, den er jedoch nie in der Drastik eines Légers ausgeführt hatte. Hierin liegt eine weiterreichende Diskrepanz zwischen den Werken Légers und Hagedorns. Die Bedeutung in den Werken Légers liegt darin begründet, dass er alle komplexen Komponenten, die seine Bildthemen, wie der Mensch, der Krieg, die Technik, mit sich bringen, in eine simple, solide und überaus klare Bildsprache zu übertragen wusste.

317 Auch Joan Miró hatte derlei sexuelle Bezüge in seinen Werken chiffriert. Vgl. Carter Radcliff: „Ich singe den Leib, den elektrischen“: Die erotische Dimension in der amerikanischen Kunst, in: Joachimides/Rosenthal, Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert, S. 185-191. 318 Fernand Léger zitiert aus: Schmalenbach, Léger, S. 88. 147

Hagedorn suchte eine vergleichbare Aufgabe ähnlich zu lösen. Betrachtet man sein späteres Hauptwerk, so näherte er sich in einigen Aspekten an Légers Klarheit an. Hagedorn entwickelte ein eigenes Vokabular an wiederkehrenden Formen, er wandte sich einer geglätteten Malweise zu, die zwar frei von Gestus, aber dennoch vom sichtbaren Pinselstrich determiniert war. Aber diese Faktoren vermögen bei Hagedorn die inhaltliche Komplexität nur vordergründig in eine klare Bildsprache zu verwandeln. Hagedorn konstruierte seine Bilder und Werkserien aus vielfältigen Einflüssen, die ihm aus seinen Interessensfeldern Mensch und Medizin, Technik und Mechanik und deren Fortschritt, aus der Werbegraphik aber auch aus der Kunstgeschichte selbst sowie aus der Literatur bis zurück in die Antike zuströmten. Die bildnerischen Mittel seines Vokabulars und seines zurückhaltenden Malgestus‘ geben diesem Inspirationskonglomerat eine äußere, für Hagedorn verbindlich gewordene Bühne, auf der seine Inspirationen zur Aufführung kommen. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zu dem für Hagedorn zum stilistischen Vorbild gewordenen Werk Légers. Die an Traumgebilde erinnernden Figuren und deren Komposition in „12 A.M. d.s.t.“ geben erneut Hinweis auf Hagedorns Begeisterung für den surrealistischen Film. Hagedorns Darstellung ist zwar nicht grotesk-erschreckend, aber die Komposition setzt die unvermittelte Aneinanderreihung von Traumsequenzen, also in Anlehnung an Filmsequenzen, malerisch um. Aus dem 1991 erschienenen Text „The Road to Abstraction: Progressing from Image to Symbol” geht zudem hervor, dass Hagedorn die Schriften Guillaume Apollinaires319 kannte, welcher bereits 1917 den Begriff „Surrealismus“ in die Kunst und Literatur eingeführt hatte. Als Hagedorn um 2004 mit „The Story of my Life“ auf sein Leben zurückblickt und sich darin auch an seinen für sein Kunstverständnis so elementaren Aufenthalt in Paris erinnerte, benannte er die Begegnung mit den Künstlern der Moderne als „turning-point“320 und benennt hier klar auch „…, Miró, […] and Surrealist painters, …“321. Durch diese Belege kann nunmehr ein plausibler Bogen von den bereits angeführten Vergleichen mit

319 Guillaume Apollinaire kommentierte die Neuerungen der Avantgardisten und trug damit maßgeblich zur Bezeichnung und Kategorisierung neuer Stile bei. So prägte er die Begriffe „Surrealismus“ und „Orphismus“. Vgl. Art. „Apollinaire, Guillaume“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 1, Leipzig 2004, S. 210. 320 Karl Hagedorn zitiert aus: “The Story of my Life”, S. 3. 321 Karl Hagedorn zitiert aus: Ebd. 148

den Werken de Chiricos, über die entrückten figürlichen Darstellungen mit den sichtbaren Einflüssen Mirós und Bellmers bis zu Lindner und bis hin zu „12 A.M. d.s.t.“ gespannt werden. Eine Arbeit wie „12 A.M. d.s.t.“ wäre ohne die Kenntnis surrealistischer Malerei kaum denkbar.

3.2.4.5.2 Fortentwicklung von Form und Inhalt: „Circuit“ Mit dem Jahr 1971 setzte eine erneute biographische Zäsur ein. Aus dieser Zeit ist eine Arbeit erhalten, die als Fortentwicklung aus „12 A.M. d.s.t.“ bewertet werden kann und die als einer der ersten Belege für Hagedorns großes Interesse an den Funktionsweisen des menschlichen Körpers gilt. Es handelt sich um die Papierarbeit „Circuit“ (Abb. 16). Hagedorn hatte sich intensiv mit medizinischer Fachliteratur, vor allem mit medizinisch-schematischen Darstellungen des Herz- Kreislauf-Systems, beider Nervensysteme, Verdauungs- und Bewegungsapparat sowie den Vorgängen im menschlichen Gehirn auseinandergesetzt. Ein sprechender Beleg für diese Betrachtungen ist diese Arbeit, die bereits im Bildtitel einen Hinweis auf das Kreislaufsystem gibt. Das einfache, aus wenigen Formen zusammengesetzte Motiv ist ein klassischer Stellvertreter der Formensprache Hagedorns und seiner Idee von Malerei. Seinen Zielen entsprechend, menschliche und technische Funktionsweisen, körperliche und mechanisch-technische Elemente in seine Bildsprache zu integrieren sowie die Funktionsweise im menschlichen Körper zu visualisieren, zeigt er mit diesem Motiv eine Form auf, die diese Ideen in eine stilisierte Darstellung überträgt. Die einzelnen Farbflächen haben die Anmutung von miteinander verbundenen Rohrsystemen einer großen Maschine oder im Kleinen betrachtet wie ein Versuchsaufbau im Chemielabor mit Zylindern, Kolben und Schläuchen. Auf subtile Weise sind die einzelnen zartfarbigen Röhrchen miteinander verbunden und werden durch die umlaufenden gebogenen Formen zu einem annähernd kreisförmigen Gebilde zusammengefügt. Die augenfälligste Erscheinung ist jedoch die zentrale rote Form, die deutlich an eine stilisierte Darstellung des menschlichen Herzens erinnert. Die große, runde Form unten, welche die Herzkammern und die Vorhöfe zu vereinen scheint, die sich nach oben verjüngende Form, die zur Aorta wird und links daneben in Grün die obere Hohlvene des Herzens. Die Form auf der rechten Seite in Blau erinnert an die austretende Lungenschlagader, und die roten Stränge an die

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Lungenvenen.322 Alles ist sehr stilisiert dargestellt, jedoch mit dem Wissen um Hagedorns malerische Intention, die Abläufe im menschlichen Körper in seine Malerei zu integrieren, logisch zu deuten.323 Nicht zuletzt erschließt sich der Bildtitel „Circuit“ zum einen optisch, da es sich um eine kreisförmige Darstellung handelt und zum anderen im Sinne des medizinischen Begriffs des Kreislaufs, dessen Antriebsfeder das Herz ist. Hinzukommt, dass schematische Querschnitte durch das menschliche Gehirn oft ebenfalls als eine annähernde Kreisform mit einem schmalen Auslauf nach unten, der in diesem Zusammenhang das Rückenmark als Fortsatz des Gehirns markiert, dargestellt. Hagedorn komprimiert die Darstellung der für den Blutkreislauf relevanten Organe in ein Schema, welches in der Lehre der Medizin für die Darstellung des Gehirns üblich ist.324 Formal besehen konzentriert Hagedorn in „Circuit“ die funktionalen Abläufe des menschlichen Organismus in der ornamentalen Form des Kreises. Hinsichtlich Hagedorns künftiger bildkompositorischer Ideen ist dies als ein weiterer Vorgriff auf die spätere Integration des menschlichen Körpers in Gestalt verschiedener Kreisformen in das Bildgefüge zu verstehen (ab 3.2.5). Betrachtet man nun „Circuit“ im Vergleich mit „12 A.M. d.s.t.“, so sind zunächst farbliche Entsprechungen vordergründig. Ebenfalls auf weißem Grund setzte Hagedorn auch hier vorrangig helle Farbigkeit ein, die jedoch durch die Kontrastierung von Rot und Grün klarer und strahlender erscheint, als das zarte „12 A.M. d.s.t.“, was dadurch zum Ausgleich kommt, dass in „Circuit“ die schwarzen Umrandungen sowie die schwarzen Farbflächen gänzlich fehlen. Die Formen und Figuren in der älteren Arbeit besiedeln die gesamte Bildfläche,

322 Aus seinen Studien anhand medizinischer Lehrbücher, konnte Karl Hagedorn ein visuelles Verständnis für die Funktionsweisen des Herz-Kreislaufsystems erfahren haben. Dieses System umfasst den Lungen- und den Körperkreislauf, das Herz dient dabei jeweils in seiner Funktion als Pumpe. Zu- und Verteilung übernehmen dabei die Arterien. Lehrbuchdarstellungen des Herzens sind zumeist annähernd kreisförmig, was als ein weiterer Impulsgeber für Hagedorns Darstellungsweise sowie für seine späteren Darstellungen von Kreisformen gewertet werden kann. Vgl. C. Thomas (Hg.): Grundlagen der klinischen Medizin. 1 Herz und Gefäße. Stuttgart, New York 1989, S. 1-5 (inkl. Abbildung). 323 Auch Victor Vasarely arbeitete in den Jahren von 1928 bis 1939 an Motiven medizinischen Ursprungs, er hatte darüber hinaus medizinische Vorlesungen an der Universität besucht. So entstanden Arbeiten, die auf das Organische mit menschlichen Artefakten verweisen, wie in „Kreislauf“, oder Organe sehr stilisiert, teilweise mit karikierenden Gesichtern zeigen, wie „Hyperacidose“. Vgl. Der unbekannte Vasarely, autobiographische Texte. Neuchâtel 1977, S. 11- 51. 324 Vgl. den schematischen Querschnitt durch das menschliche Gehirn, in: Thomas, Nervensystem, S. 6. 150

während sich „Circuit“ tatsächlich, dem Titel angemessen, in einem einzigen kreisförmigen Gebilde abspielt und der übrige Bildgrund freibleibt. Augenfällig ist die dünne, nach unten hin auslaufende Linie, die das „Circuit“- Gebilde wie einen Luftballon an einer Schnur anmuten lässt, aber einerseits auch an ein Laborgefäß erinnern mag, ähnlich eines umgekehrten Rundkolbens (Abb. 181), und andererseits an die Arbeiten Otto Pienes Ende der sechziger Jahre denken lässt, dessen Feuergouachen ebenfalls eine annähernde Kreisform mit nach unten in dünner Spur auslaufender Farbspur zeigen (Abb. 182). Auch wenn Piene gänzlich ungegenständlich gearbeitet hatte, so offenbaren sich formale Ähnlichkeiten. Während sich Hagedorn wie bereits aufgezeigt, immer stärker den organisch-chemischen Abläufen des Organismus zugewandt hatte, sprach auch Otto Piene von Malerei als die Konzentration der Energien des Künstlers, also dessen Möglichkeiten und dessen Interessen, alles gefasst in die Dynamik der Farbe.325 Eine Auffassung, die Hagedorn zu teilen wusste.326 Ähnlich wie „12 AM d.s.t.“, verfügt aber auch „Circuit“ über eine betonte Mittelachse, um die herum sich die zentralen Formen ansiedeln. Das Blatt ist eine der für Hagedorn typisch gewordenen Studien zu einer Form- und Farbkomposition, wie sie sich dann in seinen Ölgemälden als einzelne Bildteile wiederfinden. Rückblickend findet man bereits in „Blue Hat“ (Abb. 39) ein mehrfarbiges kreisförmiges Gebilde, welches hier vorangehend bereits als eine schematische Darstellung des menschlichen Gehirns interpretiert worden ist und in „12 A.M. d.s.t.“ ist in der oberen linken Bildhälfte ein ähnliches Rund angesiedelt, welches zwar nur zu einem Viertel mit Farbflächen gestaltet ist, aber diesem Formenkanon entspricht und sich in seinen späteren Werken ebenfalls wiederholt.327

325 "Was ist ein Bild? Das Bild ist ein Kraftfeld, Arena der Begegnung von Energien des Autors, geschmolzen, gegossen in die Bewegungen der Farbe, empfangen aus der Fülle des Universums, geleitet in die Kapillaren der offenen Seele des Betrachters." Otto Piene, 1959, zitiert aus: Lothar Romain: Künstler: kritisches Lexikon der Gegenwartskunst. Ausgabe 13. Neu-Isenburg 1988, S. 2. 326 Karl Hagedorn hatte sich zur Farbe an sich geäußert mit dem Ausspruch: “…color is for me the binder…” (Das Zitat wurde dem Blatt entnommen, welches die Witwe zum Begräbnis Karl Hagedorns mit verschiedenen Zitaten von Karl Hagedorn und anderen Künstlern zusammengestellt hatte. Aus dem Nachlass des Künstlers). – Vgl. Karl Hagedorn im Interview mit Curt Heigl: „…; die Konfiguration einer Idee oder Vorstellung des Menschen - im Kosmos – ist, was ich versuche, sichtbar zu machen.“, Karl Hagedorn zitiert aus: Kat. Kunsthalle, S. 17. 327 So beispielsweise in „Successive Spiral“ (Abb. 183), 1974 oder in „Enter Time Center“ (Abb. 184), 1975. 151

3.2.5 Die Kreisform als Substitut für die menschliche Figur in Hagedorns Werk

Die bereits beschriebenen Arbeiten zeigten an, dass die geometrische Form des Kreises im Zusammenhang mit dem Menschen in Hagedorns Bildkompositionen erschienen ist. Zunächst noch als Targetmotiv neben reiner Figürlichkeit wie in „Iokaste“ (Abb. 35) oder „Woman on Black“ (Abb. 164), aber auch bereits in Anlehnung an stilisierte Organe wie in „Blue Hat“ (Abb. 39). „Circuit“ (Abb. 16) komprimiert schließlich den menschlichen Blutkreislauf in eine annähernd runde Form. Damit wird in Hagedorns Werk erstmals die Kreisform zum Stellvertreter für den menschlichen Körper. Hagedorn versuchte, die Figürlichkeit aus seinem Werk zu verbannen, jedoch nicht das menschliche Element. Die Arbeiten sollten weiterhin beseelt sein von der gedanklichen Anwesenheit des Menschen. Bis in sein Spätwerk hinein sprechen seine Bilder von dieser Präsenz. Dafür nutze Hagedorn zwei Stellvertreter. Die in den Bildern deutlich sichtbaren Bildtitel, die zumeist auf eine menschliche Aktion oder auf ein menschliches Artefakt verweisen - und die Kreisform, in die er Hinweise auf menschliches Tun, auf die (technischen und mechanischen) Produkte des Menschen oder auf dessen Organismus in diesen Kreisformen komprimiert und abstrahiert darstellte. Die nachfolgenden Kapitel sollen in einer detaillierten Beschreibung der einzelnen Kreisformen, die in Karl Hagedorns Werken erscheinen, zu deren Benennung beitragen und die These von einem in eben diesen Kreisformen aufgegangenen und damit wieder sichtbar werdenden Menschen stützen und belegen. Im Anschluss an die Beschreibung der Kreisformen werden die weiteren bildprägenden Elemente in der Malerei Hagedorns kategorisiert, sodass eine verbindliche Übersicht über sein symbolisches Formenvokabular entsteht. Hagedorn, der sich parallel sowohl für Technik und Mechanik als auch intensiv mit medizinischem Wissen beschäftigt hatte, wollte verstehen, wie der menschliche Körper funktioniert und welche Parallelen beispielsweise zwischen der Funktionsweise des Gehirns und komplexer Technologie bestehen. „Der Mechanismus des Organischen, das elektrisch-chemisch-physische Gehirnsystem, das neurologische System, die Funktion der Zellen, […] dies alles interessiert mich mehr und mehr“328 und hinsichtlich der geplanten malerischen Umsetzung

328 Karl Hagedorn zitiert aus: Kat. Kunsthalle, S. 17. 152

dieses Interessenfeldes versuchte Hagedorn „…die Figur zu zerlegen und mit den sie umgebenden Teilen zu integrieren.“329 Die zunächst noch simpel strukturierten, bildnerischen Überlegungen zum menschlichen Blutkreislauf wie in „Circuit“ und die ersten, in die Gemälde integrierten, annähernden Kreise, wurden alsbald zu streng geometrischen, kreisrunden Scheiben, teilweise gefüllt mit kompliziertem, formenreichem Inhalt. Die Kreisform ist eine der elementarsten geometrischen Formen und findet demgemäß Resonanz innerhalb der Kunst. Die optische Verbindung oder Integration menschlicher Gestalt in einem Kreis kann demzufolge ebenso klar verortet werden, indem die fruchtbeherbergende Eizelle ebenfalls rund und die den Fötus umgebende Fruchtblase im Mutterleib ebenfalls mit einer runden Form zu konnotieren ist. Die Idee von der Darstellung des Menschen im Kreis oder in der Kugel ist somit keine neue, jedoch erneuert Hagedorn sie, indem er sie mit technischen Funktionsweisen in Einklang bringt und keine Menschen oder Föten in Kreise einbettet, sondern vielmehr die Anmutung des Menschlichen in diesen Kreisen aufgehen lässt. Darin besteht eine Verbindung zu den Werken Robert Rotars, der, ebenfalls stark wissenschaftlich, auch in Hinblick auf das Gehirn, interessiert war und versuchte, das Motiv der Spirale als Symbol für den Ursprung einzusetzen.330 Im Folgenden soll daher zunächst knapp auf die Relevanz der Kreisform geblickt werden, um zu exponieren, welch grundlegende Formvariante Hagedorn als Stellvertretermedium für die menschliche Figur in seinen Kompositionen gewählt hatte. Daran schließt sich eine einleitende Betrachtung über die Relevanz der Kreisform als menschliches Substitut in Hagedorns Bildern an, ehedem seine einzelnen Varianten der Kreisformen dargestellt werden. Es soll dabei deutlich werden, dass aus diesen Formen menschliche Anmutung spricht unter Berücksichtigung künstlerischer Positionen, die ebenfalls mit dieser Form gearbeitet hatten und welche für Hagedorns Werkentwicklung prägend gewesen waren.

329 Ebd. 330 Robert Rotar (*1926 in Berlin - †1999 in Düsseldorf) konzentrierte sein Formenrepertoire ausschließlich auf die Spirale. Hagedorn, der nahezu jährlich den Kölner Kunstmarkt (die spätere Kunstmesse Art Cologne) besucht hatte, könnte mit Rotar oder dessen Werken in Kontakt gekommen sein. Einen Beleg dafür gibt es nicht, die Interessensgleichheit und die Werkintentionen sind jedoch vergleichbar. Vgl. Robert Rotar, in: Auktionshaus Koller (Hg.): Robert Rotar. Auktionskatalog zur Auktion vom 2. und 3.12.2016. Zürich 2016, S. 116. 153

3.2.5.1 Die Bedeutung der Kreisform innerhalb der Kunst

Die künstlerische Nutzung der Kreisform, von welcher Karl Hagedorn später ganz frei und mit eigenen Inhalten aufgeladen, Gebrauch machen konnte, hat ihren Ursprung im Gesamtverbund der Dekoration. Diese ist immer dem Gesamtschmuck verbunden, sei es demjenigen eines Raumes oder Gebäudes oder dem einer Fläche.331 Außerhalb des kunsthistorischen Kontextes gilt der Kreis zudem als die vollkommene geometrische Form, die Erweiterung zur Kugel lässt nicht zuletzt an die Form der Erde sowie aller Planeten und Sterne denken; und das Rad gilt neben dem Feuer als eine der elementarsten Entdeckungen des Menschen.

3.2.5.1.1 Die Kreisform in der Architektur und die Entwicklung des Ornamentalen Das Rund, ob als Kugel oder als Kreis, ist eine universelle Form und ist als solche eine der relevantesten Formen innerhalb der Architektur und der Malerei. Rad- und Rosenfenster332 sind vielgliedrige architektonische Elemente, ersteres lässt sich ikonologisch auf das Katharinenrad, dem Marterwerkzeug der Heiligen Katharina zurückführen. Ausgehend von den antiken Tempelformen des Monopteros333 und des Tholos334 entwickelte sich in frühchristlicher Zeit die Rotunde,335 allesamt Zentralbauten über rundem Grundriss, welche fortan epochenübergreifend entstanden sind. Auch Turmbauten erheben sich teilweise

331 Vgl. Art. „Dekorative Form“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 2. Leipzig 2004, S. 107. 332 Das Radfenster ist bereits im romanischen Baustil verankert. Fensterrosen wurden ab 1130 feste Bestandteile der Kathedralarchitektur. Gestaltet ist deren Lichte mit Maßwerk aus Stein oder Holz. Vgl. Friedrich Kobler: Art, „Fensterrose“. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Bd. 8. München 1987, Sp. 65-203. 333 Ein Monopteros ist ein Rundtempel, dessen Dach von nur einer im Kreis angeordneten Reihe von Säulen getragen wird. Zumeist als Überdachung über Statuen oder Gräbern genutzt. Vgl. Art „Monopteros“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 4. Leipzig 2004, S. 820. 334 Tholoi sind Rundbauten aus frühesten menschlichen Zeiten, vor allem als Wohngrube genutzt, später auch als Tholosgrab, in der griechischen Antike als sakrale Bauform. Im Unterschied zum Monopteros verfügt der Tholos über eine Cella. Vgl. Art. „Tholos“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 7. Leipzig 2004, S. 299-301. – Vgl. Andreas Schmidt-Colinet/Georg A. Plattner: Antike Architektur und Bauornamentik. Grundformen und Grundbegriffe. Wien 2004, S. 16f. 335 Die Bezeichnung „Rotunde“ fasst begrifflich alle Bauten über kreisrundem Grundriss zusammen. Vor allem in römischer Zeit eine populäre Bauform für Mausoleen und Tempel. Ab dem 18. Jahrhundert finden sie sich auch als Parkbauten und anschließend als Architekturform für Sternwarten oder Wassertürme und finden Eingang in die Ausstellungsarchitektur (Wien, New York). Vgl. Art. „Rotunde“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 6. Leipzig 2004, S. 266-267. In einer Reduktion auf grundlegende geometrische Formen, bezog auch Le Corbusier die Kreisform in seine Architekturentwürfe als ein relevantes Element ein. Vgl. William J. R. Curtis: Le Corbusier. Ideen und Formen. Stuttgart 1987, S. 55-66. 154

über rundem Fundament. Im architektonischen Zusammenhang stehen mit den bereits benannten Fensterformen zudem die Baudekoration und die Bauornamentik.336 Während aber die Dekoration und die Ornamentik noch die Gesamtheit aller zierenden Elemente bezeichnen, ist das Ornament selbst nicht eigenständig, da es einen Träger benötigt. Damit ordnet sich das Ornament zwar unter, gilt aber als eine Grundform des künstlerischen Ausdrucks, da dessen Ursprünge bis in das Jungpaläolithikum reichen, wo ornamentale Formen von reiner Ausschmückung von Höhlenwänden oder Gefäßen bis hin zu magisch aufgeladenen Schutzornamenten reichen. Über alle Epochen hinweg blieb das Ornament in verschiedenartiger Ausgestaltung relevant und überkam auch puristische Ansätze. Bezeichnend ist die Universalität des Ornaments in allen Gattungen. Dabei kennt das Ornament zwei Hauptformen, das geometrische und das vegetabile Ornament.337 Aus dem geometrischen Stil ist neben vielgestaltigsten Formen auch die Kreisform hervorgegangen.338 Zum Beginn der Renaissance war es Albrecht Dürer, der nach einer Idee Leonardo da Vincis, sechs Holzschnitte mit sogenannten Knotenornamenten (Abb. 188) vorgelegt hatte. Ein an gotisches Maßwerk erinnerndes Geflecht ist angeordnet auf einer kreisrunden Fläche. Was zunächst Klarheit vermittelt, wird bei näherer Betrachtung zu einer hochkomplexen Struktur. Durch das Über- und Unterschneiden dieser Linien, die eigentlich die, zu den Knoten geformten, Schnüre sind, wird der schwarze Untergrund zu einer Art Raum, vor dem sich dieses Geflecht ausbreitet. Dürer hatte also das Ornament von seinem

336 Zu den seit der Antike grundlegenden Formen der Bauornamentik vgl. Schmidt- Colinet/Plattner, Antike Architektur und Bauornamentik, S. 80-97. 337 Alois Riegl räumt der Analyse des Wesens des geometrischen Stils, den er in der Flächenverzierung verankert, die er über die ebenfalls flächengebundene Textilornamentik stellt, eine grundlegende Position ein. Um etwas, beispielsweise nach dem Vorbild der Natur, in der Fläche darzustellen, bedarf es der (Umriss-)linie, welche in der Natur nicht existiert und vom künstlerisch tätigen Menschen erst definiert werden musste. Aus der Anwendung der Linie wurde also eine Kunstform, indem man aus den Grundlagen der Geometrie schöpfte. Da diese wiederum der Natur entspringen, entsteht eine enge Relation zwischen Natur und Kunst. Vgl. Alois Riegl: Stilfragen. Berlin 1893. (Nachdruck Hildesheim, New York 1975). S. VIII und S. 3f. 338 Vgl. Art. „Kreismuster“. In: Edgar Lein: Das große Lexikon der Ornamente. Herkunft, Entwicklung, Bedeutung. Leipzig 2004, S.275f. – Seit der römisch-altchristlichen Kunst sind (verschlungene) Kreise zur Flächengestaltung bekannt, woraus sich, in Aneinanderreihung der Kreise, die Bandornamentik entwickelte. Vgl. Riegl, Stilfragen, S. 285f. 155

unabdingbaren Träger gelöst und das gebundene Ornament in ein Bild überführt.339 n dem Zwischenstadium zwischen Ornament und Bild befindet sich die Ausdrucksform der Groteske. Sie erhält ihre Komplexität aus ihrem vermischten Dasein zwischen Architekturbezogenheit und reiner Flächengebundenheit. Damit einher geht die eben benannte Trennung von Form und Grund, der Grund wird nur mehr zur Hintergrundfolie, die Form nimmt kurvolinear geprägten, vor allem in Form der Rollwerkgroteske, und der Rocaille, also auf der Kreisform basierenden, Bildcharakter an.340 Der Begriff des Ornamentes reicht demzufolge auch in der Beschreibung nicht mehr aus, sodass der Begriff „das Ornamentale“ begründet worden ist, aus dem eine eigenständige Formenkategorie entstehen konnte. Die Strahlkraft des Ornamentalen ist fortan in allen Epochen präsent bis hin zu einer erneuten Blüte, des kurvolinearen Stils im Jugendstil bis hin zu Auswirkungen in die Malerei des 20. Jahrhunderts hinein.341

3.2.5.1.2 Die Kreisform in der Malerei Das Ornamentale drückt sich in einer unendlichen Formenvielfalt aus, die für das Werk Hagedorns jedoch grundlegende ornamentale Form ist die Kreisform. Über die Architektur, die Bauornamentik und die Emanzipation des Ornaments zum Bild, erreicht in der Konzentration auf das Kurvolineare, das Kreisförmige einen ersten Niederschlag in der Darstellung der Glorie. Als dünner goldener Kreis bis

339 Dürer legte ab spätestens 1505 Wert darauf, die ornamentalen Bestandteile im Bild lebendig und eigenständig darzustellen, vgl. Valentin Scherer: Die Ornamentik bei Albrecht Dürer. Straßburg 1902, S. 58f. – Vgl. Markus Brüderlin: Frank Stella und das Ornament, in: Brüderlin, Stella, S. 98-125. 340 Zur Ablösung des Ornaments, im Speziellen der Form der Rocaille vom Grund, oder innerhalb der Architektur von der Wand vgl. Hermann Bauer: Rocaille. Zur Herkunft und zum Wesen eines Ornament-Motivs. Berlin 1962, S. 47. 341 Spätestens seit der Etablierung des freien Künstlers ab ca. 1789 erlangte das Ornament gestalterische Unabhängigkeit, die sich über das 19. Jahrhundert hinweg im Ornament des Historismus formenreich spiegelte. Dies mündete im Ornament des Jugendstils, der das zunächst noch opulent-vegetabile Ornament ab etwa 1900 in eine flächigere und formal zurückhaltende Geometrie überführte, welche im Art Déco erneut potenziert wird. Mit diesen Entwicklungen geht die Möglichkeit einher, ornamentale Formen industriell in Masse und stets gleich als Dekore fertigen zu lassen, die an allen technischen Neuerungen in Erscheinung treten können; in dieser Verbindung künstlerischen Ausdrucks mit den Möglichkeiten des technischen Fortschritts liegt eine Rückkoppelung zu der Werkintention Hagedorns im Allgemeinen und zu seiner Nutzung der Kreisform im Besonderen, da dieser technische Fortschritt letzten Endes ein Produkt des Menschen ist, den Hagedorn abbildet. Vgl. Günter : Ornament in Europa 1450-2000. Köln 2005, S. 147-172. 156

hin zur goldpunzierten, flächigen Scheibe tritt die Kreisform bereits in antiken Darstellungen auf.342 In Konzentration auf die Malerei der Moderne, die für Hagedorn werkprägend war, findet die Kreisform im Werk Robert Delaunays bedeutsamen Niederschlag, genauso auch in den Arbeiten Sonia Delaunays.343 František Kupka arbeitete ab 1909 mit Farbspektren und versuchte, diese in farbigen, sich überlagernden Kreisformen darzustellen.344 Robert Delaunays „Landschaft und Scheibe“ (Abb. 189) aus dem Jahr 1906 nimmt die in seiner späteren Malerei zentralen Kreise deutlich vorweg. Trotz der Zentrierung der Himmelsdarstellung erkennt der Betrachter eine untergehende Sonne über einer Flusslandschaft, die Sonnenscheibe nimmt dabei das helle Zentrum der konzentrischen Kreise ein. Ende 1912 entstand Delaunays erstes kreisrundes Gemälde, „Disque“ (Abb. 190), welches keinen gegenständlichen Inhalt mehr aufzeigt, sondern ausschließlich Farben gegeneinandersetzt. Delaunay, der selbst formulierte, damit an die eigentliche Thematik von Malerei und Farbe gelangt zu sein, galt die Kreisform als eine kosmische sowie als die einzig reale Form zugleich.345 Die Wahl des Kreises befreite ihn zudem aus dem Dilemma, entweder abstrakt oder gegenständlich malen zu müssen und gab ihm in jeder Hinsicht Freiheiten. Auch Kupka hatte die Kreisform zur Visualisierung seiner Farbstudien genutzt, um seiner Malerei einen Weg in die Abstraktion zu bahnen.346 In den ersten

342 Ab dem 4. Jahrhundert kennt die christliche Malerei den Heiligenschein. Ausweitung findet diese Kreisform bei Darstellungen von Jesus Christus und Maria zu einer Mandorla. In Bezug auf Hagedorns Gesamtwerk kann hier auf die Arbeit „The Hand of my Aunt“ (3.2.4.1) verwiesen werden. Die dargestellte Hand befindet sich auf einem Amulett, welches auch an die Form einer Mandorla denken lässt und damit nicht nur den, dieser Arbeit inhärenten, religiösen Bezug apostrophiert, sondern auch diese Arbeit innerhalb des Werkes in die Reihe der Vorläufer für Hagedorns Nutzung der Kreisform integriert. Vgl. Art. „Heiligenschein“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 3. Leipzig 2004, S. 184. 343 Vgl. Gustav Vriesen: Robert Delaunay. Licht und Farbe des Orphismus. Text von 1967, erschienen in Köln 1992, S. 147-169. 344 František Kupkas Kreisformen basieren auf Farbstudien Isaak Newtons und eigenen Untersuchungen mit Farbspektren und Prismen. Durch das Komponieren mit Ovalen und Kreisen begann er zudem, Räumlichkeit und Perspektive in seinen Bildern aufzulösen. Vorder- und Hintergrund erhalten damit eine gemeinsame Ebene, der Bildraum verflacht. Dieselbe Anerkennung der Zweidimensionalität der Bildfläche dominiert auch Hagedorns Werke. Vgl. Laurence Lyon Blum: Die Entdeckung neuer Formen, in: Dorothy Kosinsky/Jaroslav Anděl: František Kupka. Die abstrakten Farben des Universums. Ostfildern 1997, S. 74-76. 345 Vgl. Vriesen, Delaunay, S. 147-169. 346 Zur Relevanz der Kurvolinearität auf Kupkas Weg in die Abstraktion vgl.: Markus Brüderlin: Die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts oder die Fortsetzung des Ornaments mit anderen Mitteln. Die Arabeske bei Runge – Van de Velde – Kandinsky – Matisse – Kupka – Mondrian – Pollock und Taaffe, in: Vera Beyer/Christian Spies (Hgg.): Ornament. Motiv – Modus – Bild. München 2012, S. 366f. 157

Kreisformen setzte sich Delaunay mit der unterschiedlichen Bildung des Lichtes von Sonne und Mond auseinander. Jedoch ohne diese beiden Himmelskörper abzubilden, sondern viel mehr die Möglichkeit nutzend, deren Lichterscheinungen zu präsentieren. Die Kreisform wurde damit zu einer offenen Präsentationsform und Delaunay hatte sie genutzt, um die Erscheinungsformen von Licht und Farbe und die Bewegung von Licht im Raum zu visualisieren. Um eine Abgrenzung zu betreiben, ist dies nicht mit dem Beweggrund der italienischen Futuristen gleichzusetzten, welche die dynamische Bewegung eines Gegenstandes oder Menschen im Raum simultan darstellen wollten.347 Im Umkreis Delaunays und Kupkas bewegte sich auch Fernand Léger, der 1918 „Les Disques“ (Abb. 101) malte, welche den Beginn seiner période mécanique manifestieren. Anders als die weich nebeneinander gesetzten Farben bei Robert Delaunay und Kupka, zeigt Léger klare Farbkreise, die stärker an die Ausformulierung der Kreisformen in Sonia Delaunays Arbeiten erinnern, bestehend aus scharf begrenzten, unterschiedlich farbigen Ringen. Das Bild evoziert dem Betrachter eine frei erfundene Maschine, es vermittelt mechanische Kraft und funktionale Nachdrücklichkeit. Fernand Léger hatte die Scheiben als ein mögliches Ordnungsprinzip der maschinellen Welt gesehen, da er sowohl den Menschen, als auch die Technik in eine geometrische Ordnung eingebettet sah. Die sich überschneidenden Scheiben in seinen Werken vermitteln dem Betrachter die Kraft und Energie großer Maschinen.348 Während also Delaunay in seinen „Formes circulaires“ Licht, Sonne und transparente Farbigkeit sichtbar gemacht hatte, zeigt Léger mit seinen Kreisformen klare Farben mit Signalwirkung, der feste, stählerne Maschinenaufbau bietet keinen Platz für zarte Transparenz. Jedoch vermittelt auch diese Arbeit keine Ruhe, sondern birgt durch Überschneidungen und Brüche ein hohes Maß an Dynamik. Die Scheiben stehen in Légers Werken im Bildvordergrund und dominieren die gesamte Bildfläche, was zum einen eine ornamentale Ordnung hervorruft und zum anderen das dargestellte Objekt isoliert. Léger suchte in seiner période mécanique nach einer Ablösung des Sujets durch das Objekt, womit eine Personalisierung des Objektes einhergeht. Damit ist „Les Disques“ auch kein bloßes Abbild einer erdachten Maschine, sondern eine

347 Vgl. Vriesen, Delaunay, S. 147-169. 348 Vgl. Philippe Büttner: Begegnungen in Bildern. Fernand Léger und die Amerikaner der Pop- Art-Generation, in: Delia Ciuha (Hg.): Fernand Léger. Paris-New York. Kat. Ausst. Ostfildern 2008, S. 16. 158

Präsentation des Funktionierens und der maschinellen Kälte. Die rotierenden Kreisformen mit komplexer Binnenstruktur symbolisieren dies. Léger suchte danach, die Funktionen des Subjekts auf das Objekt zu übertragen. Daraus kann geschlossen werden, dass er die Kreisform als eine Stellvertreterform einsetzte, was als ein Impulsgeber für Karl Hagedorn zu bewerten ist, der schließlich seinen Kreisformen, verschiedene Hinweise auf die menschliche Figur oder auf das menschliche Wesen einbeschrieben hatte. Francis Picabia hingegen hatte auf die Konnotationen Légers mit einer gegenläufigen Nutzung der Kreisform respondiert.349 In „Nuit Espagnole“ (Abb. 191) aus dem Jahr 1922 werden die linke und die rechte Bildhälfte von je einer Person ausgefüllt. Scherenschnittartig agiert links ein Mann mit gänzlich schwarzer Silhouette, rechts ein Frauenkörper in Weiß, schemenhaft ausgestanzt. Picabia fokussierte mit seinem Bild auf die klassische Paarbeziehung einschließlich der Probleme, die diese birgt. Die beiden Kreisformen jedoch, zielscheibenähnliche Motive, markieren klar die primären und sekundären Geschlechtsteile des Frauenkörpers.350 Es sind in diesem Bild die einzigen Farbträger und durch ihre fokussierende Wirkung entpersonalisieren sie die ohnehin nur schemenhaft dargestellte Frau gänzlich und degradieren sie zu einem Objekt.351 Mit der Anwendung der Kreisform als einer Fokussierung auf die weibliche Sexualität und damit auf ein Ausgeliefertsein der Frau, erreicht die Kreisform einen neuen Bedeutungsinhalt, der dem Gebrauch eben dieser Formen in den Werken Richard Lindners vorgreift. Lindner setzte die Kreisform vielfältig in seinen Werken ein. Es kann sich dabei um eine klare Zielscheibe aus mehreren konzentrischen, farbigen Ringen handeln, die einer Person vorgelagert ist und sie so noch angreifbarer, beziehungsweise noch stärker einer voyeuristischen Begierde aussetzt, als dass sie dies durch die zumeist plakative Sexualität ohnehin ist. Lindner nutzte dieses Motiv als abstraktes Gestaltungsmerkmal, indem er es

349 Auch in weiteren Werken aus den frühen zwanziger Jahren inkludierte Picabia Kreisformen in seine Werke, die nicht die sexuelle Konnotation wie in „Nuit Espagnole“ besitzen, sondern vielmehr auf einem dynamischen Prinzip beruhen. Vgl. Enrico Baj: Il mio amico Francis, in: Picabia, Opere 1898-1951. Venedig 1986, S. 15. 350 Vgl. Heyden, Lindner, S. 26. 351 Picabia trennt Mann und Frau in zwei konträre Bildhälften. Die Einschusslöcher, die beide Figuren aufweisen, sind einerseits ein Vermerk auf die zum Triebobjekt degradierte Frau (Zielscheiben sowie eine pointiert dargestellte Penetration durch die Einschüsse), zum anderen sind diese Löcher die einzige optische Verbindung zwischen Frau und Mann, welche jedoch aus einer tiefen Verletzung (den Schüssen) herrühren. Hagedorn teilte diese trennenden Auffassungen Picabias und auch Lindners nicht. Vgl. Ulrich Christian: Studien zu Francis Picabia. Berlin 1980, S. 72. 159

neben die Protagonisten in einen leeren Bildraum setzte, bisweilen löste er auch die strenge Zielscheibenform auf und ordnet die Farbfelder fächerhaft im Kreis an, wie ein farbiges Prisma.352 Hagedorn gibt mit dem seinem Einsatz der Kreise ebenfalls einen Verweis auf den Menschen und zwar in seiner Gesamtkörperlichkeit, zu der auch die Sexualität gehört, die Picabia exponiert. Das voyeuristisch inspirierte Jagdmoment und den Objektcharakter des Menschen, wie in den Arbeiten Picabias und Lindners evident, lehnt Hagedorn ab und nutzt die, rotierende oder mit komplexen Inhalten gefüllte, Kreisform als das Bindeglied hin zu Technik und Mechanik. In der amerikanischen Malerei ab Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts erfährt die Kreisform weitere formale wie inhaltliche Ausgestaltung. Kenneth Noland entwickelte aus zunächst unscharfen Farbverläufen, klar abgegrenzte Ringe, die definierte Zielscheiben bilden und durch die kontrastierenden Farben eine gesteigerte Farbwirkung erhalten, wie es die Arbeit „That“ (Abb. 192) aus 1958/1959 zeigt. Somit nutzte er die Kreisform als optischen Träger für die Visualisierung der gestalterischen Prinzipien des Hard-Edge, im Besonderen hinsichtlich einer klaren Abgrenzung gegenüber der Unstrukturiertheit des Abstrakten Expressionismus.353 Jasper Johns hatte bereits in seinem Frühwerk die Kreisform zu einer Konstante ernannt. Indem er diese meist mit „Targets“ betitelte, nutzt er die Kreisform nun tatsächlich in ihrer alltagsgegenständlichen Form als Zielscheibe, wie auch Peter Blake, während sie bei den anderen Künstlern eine malerische Form mit Symbolgehalt geblieben war.354 Beide Künstler stehen hinsichtlich der Formalität in der europäischen Bildnistradition dieser Kreisformen, seit Kupka, Robert und Sonia Delaunay sowie Léger, isolieren diese jedoch aus jeglichem Bildkontext und untersuchen sie entweder hinsichtlich der Farbwirkung, wie Noland, oder hinsichtlich ihres Objektcharakters, wie Johns und platzieren sie damit originär innerhalb der

352 Vgl. Heyden, Lindner, S. 25f. – Vgl. Peter Selz: Richard Lindner begehrenswerte Frauen, in: Judith Zilzcer, Richard Lindner, Gemälde und Aquarelle 1948-77. Kat. Ausst. München 1997, S. 81-90. 353 Vgl. Karen Wilkin: Kenneth Noland. New York 1990, S. 7f. und S. 15. 354 Jasper Johns hatte in seinen Targets den Wert der Malerei dem Wert eines alltäglichen Objekts gleichgesetzt. Peter Blake antwortete darauf, durchaus ironisch, in dem er den Realitätsbezug noch übersteigerte und eine Zielscheibe aus dem Sport des Bogenschießens abbildete, die er demnach nicht aus dem visuellen Gedächtnis malte, wie Johns, sondern die er kaufte und abmalte. Die Kreisform, in der Gestalt des Targetmotivs, hat demnach bei Johns und Blake die Aufgabe, einen Realitätsbezug herzustellen, welcher der Pop Art ohnehin inhärent ist. Vgl. Marco Livingstone: Pop Art: a continuing history. New York 1990, S. 44. 160

amerikanischen Kunst. Frank Stella schätzte ebenfalls die Kreisform aus verschiedenfarbigen konzentrischen Ringen, vor allem wegen ihres planen, die Fläche strukturierenden Aufbaus und er setzte diese in seiner umfangreichen Protractor-Serie355 auch als Segmente ein.356 Auch die Op-Art erscheint als eine ornamentale Kunst, die Kreisform ist in den Werken Victor Vasarelys und Bridget Rileys präsent, fungiert jedoch entsprechend der Bestrebungen der Op-Art frei von materiellem Bezug oder Bedeutungsgehalt.357 In der kinetischen Kunst schlägt sich in vielen Objekten die Kreisform nieder, als ein Symbol für Bewegung und technisches Ineinandergreifen. Besonders Jean Tinguely hatte das Rad und die Maschine als die Verkörperung der menschlichen, konstruktiven Energie betrachtet.358 Dies birgt inhaltliche Bezüge zu Hagedorns mechanischer Ästhetik. 1970 greift Robert Smithson in seiner, der Land-Art zuzurechnenden, Arbeit „Spiral Jetty“ (Abb. 194) ebenfalls die Kreisform auf, wandelt jedoch die konzentrischen Kreise zu einer Spirale. Das Objekt lässt an einen Wasserstrudel, an einen unendlichen Quell und an den fortwährend aktiven und damit lebenserhaltenden Blutkreislauf im menschlichen Körper denken, was einen ersten engeren inhaltlichen Bezug zu dem Einsatz der Kreisform in Hagedorns Arbeiten herstellt.359 Es kann nicht belegt werden, ob Hagedorn diese Arbeit Smithsons kannte, es soll aufgrund ihrer Popularität jedoch vorausgesetzt sein.360

355 Zu den Protractor Series vgl. Gregor Stemmrich: Frank Stella – „what painting wants“, Protractor Series: Spannungsfeld von Abstraktion, Illusionismus und Dekor, in: Brüderlin, Stella, S. 48-51. — Vgl. Markus Brüderlin: Von der Geburt der Shaped Canvas bis zur Protractor Series, in: Ebd., S. 155–160. Stella hatte sich nicht in erster Linie mit der europäischen Bildnistradition der Kreisform oder dem Werk Légers auseinandergesetzt, war aber dennoch voller Bewunderung für Légers Arbeiten, vgl. Philippe Büttner: Begegnungen in Bildern. Fernand Léger und die Amerikaner der Pop-Art-Generation, in: Ciuha, Fernand Léger, S. 18. 356 Vgl. Markus Brüderlin: Frank Stella und das Ornament, in: Brüderlin, Stella, S. 98-125. 357 Vgl. zur Bedeutung des Ornamentalen und des Kreises in der Op-Art Karina Türr: Op Art. Stil, Ornament oder Experiment? Berlin 1986, S. 9-30. 358 Im Besonderen zu der Haltung Tinguelys gegenüber Rad und Maschine vgl. Reinhardt Stumm/Kurt Wyss: Jean Tinguely. Basel 1985, S. 9. 359 Ratcliff vertritt den Interpretationsansatz, dass die Landschaftsskulptur „Spiral Jetty“ sexuell zu konnotieren sei, da sie eine Vereinigung von Landzone und Wasser eingehe und durch ihr Hineinragen in den See diesen penetriere. Die Kreis-, oder Spiralform dieser Skulptur erreicht damit einen menschlichen Bezug. Vgl. Carter Radcliff: „Ich singe den Leib, den elektrischen“: Die erotische Dimension in der amerikanischen Kunst, in: Joachimides/Rosenthal, Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert, S. 186. 360 Zur Bedeutung von „Spiral Jetty“ vgl. Samantha Schramm: Land Art. Ortskonzepte und mediale Vermittlung. Berlin 2014, S. 13-27. 161

Die Darstellung des Kreises in der Spiralform nutzte bereits Marcel Duchamp in seinem Film „Anemic Cinema“361 aus dem Jahr 1926. Die Verbindungen der Kreisform zur Erfindung des Rades sowie ihre kosmische Vollkommenheit, werden bereits seit den frühesten künstlerischen Äußerungen auch mit dem Bedeutungsgehalt der Sonne und der Augen, letzteres vor allem dann, wenn Kreisformen paarweise angeordnet sind, in Verbindung gebracht. In der Geometrie stellte bis in das späte 19. Jahrhundert hinein die Berechnung einer möglichen Quadratur des Kreises eine der komplexesten Aufgaben dar, die erst zum Ende des 19. Jahrhunderts als unlösbar definiert worden ist. Die bereits benannten Werke Frank Stellas und deren Anlehnung an das Gegenständliche, können als eine Rückverbindung zu den früheren Werken Jasper Johns‘ verstanden werden. Dieser hatte mit dem Lineal Farbe auf der Leinwand verteilt und dieses in den abstrakten Malgrund integriert;362 Akzeptanz der Flächigkeit des Bildes und gleichzeitiges Tendieren zwischen Abstraktion und Materialbezug. Hierin findet sich eine direkte Verbindung zu Hagedorns Einsatz der Kreisform, der diese, wie noch darzulegen sein wird, formal wie inhaltlich komplex ausfüllte. Die Zwischenposition zwischen Abstraktion und realem Dingbezug findet sich somit auch in Hagedorns Malerei, der jedoch den rein materiellen Bezug auf die Anwesenheit des Menschen auszuweiten versuchte, um die Kreisform zu einem Stellvertreter dessen werden zu lassen. Die aufgezeigte Relevanz der Kreisformen innerhalb der bildenden Künste demonstriert Hagedorns Formenverständnis und bindet seinen Formengebrauch in eine bestehende Motivtradition ein. Sein persönlicher Gebrauch und seine werkinternen Konnotationen dieser elementaren Form sollen im Folgenden dargestellt werden.

361 Marcel Duchamp (Buch und Regie), (mit Man Ray und Marc Allégret): Anemic Cinema. Frankreich 1926. 7 Minuten. Auf Karl Hagedorns Begeisterung für den surrealistischen und experimentellen Film wurde bereits hingewiesen. Aufgrund des vorrangigen Einsatzes der Spirale, die in einem erotisch konnotierten Rhythmus vorwärts und rückwärts abläuft, vermag Anemic Cinema als ein weiterer Impulsgeber für Hagedorns späteren Einsatz der Kreisform gelten. 362 Vgl. Roberta Bernstein: „Seeing a Thing Can Sometimes Trigger the Mind to Make Another Thing”, in: Kirk Varnedoe: Jasper Johns. A retrospective. New York 1996, S. 43. 162

3.2.5.2 Die Entwicklung der Kreisform in Hagedorns Malerei

Hagedorns grundlegende Seherfahrung hinsichtlich einer Kreisform ist das große Schwungrad der Dampfmaschine,363 welche das elterliche Sägewerk betrieben hatte. Das Schwungrad ist als ein auffälliges Element an einer solchen Maschine für deren gesamte Optik prägend. Die ersten Nachweise für Hagedorns Adaption der Kreisform in seine Werke finden sich in der Mitte der fünfziger Jahre, noch während seiner Akademiezeit in München.

3.2.5.2.1 Vorläufer der Kreisform in Hagedorns Werken In dem 1954 gemalten Bild „Konstruktion mit Kegel“ (Abb. 99) befindet sich in der oberen rechten Bildecke ein heller Kreis mit schwarzen Inhalt. Hier bleibt die Kreisform rein geometrisch, ohne Sinngehalt und bildet in der weitgehend auf rechteckige Formen beschränkten Komposition ein Gegengewicht zum titelgebenden Kegel. Zwei Jahre später entstand mit „Mann und Rad“ (Abb. 129) eine Arbeit, die mit ihrer metallischen Kühle an Légers frühe Arbeiten mit glänzend dargestellten Röhren (3.2.2) denken lässt. Im Gegensatz zu „Konstruktion mit Kegel“ (Abb. 99) misst „Mann und Rad“ der Kreisform einen höheren Bedeutungsgehalt bei. Rechts hinter dem Mann ist eine große Kreisform sichtbar, die vom Rücken des Mannes zu einem Drittel überdeckt wird. Sie besteht aus vier alternierend hellen und dunklen Kreisen und wird nach außen hin fächerartig abgeschlossen von im rechten Winkel zu den Binnenkreisen angeordneten, ebenfalls hellen und dunklen Farbsegmenten. Die gesamte Gestaltung evoziert den Gedanken an eine Maschine, an das Rad als ein Kugellager, Schwungrad oder anderweitig mechanisch kraftgebendes oder kraftübertragendes Element. Diese Arbeit ist im Jahr 1956 entstanden, wohl nach Hagedorns Paris-Reise, denn die Einflüsse der Malerei Légers sind deutlich sichtbar. In dieser Arbeit benennt er mit Léger erstmals ein Vorbild, das für sein späteres Werk von sichtbarer Bedeutung bleiben sollte.

363 Wenn sich Hagedorn mit seiner kompositorischen Konzentration auf die Kreisform unter anderem von dem mechanischen Element des Schwungrades als ein elementares Element der Dampfmaschine beruft, so ist das nicht allein eine Reminiszenz an die Maschine seiner Kindheit, es ist gleichermaßen eine Reminiszenz an eine technische Erfindung, die das menschliche Leben grundlegend revolutioniert hatte. Auch wenn der Wirkungsgrad der später erfundenen Dieselkraft- oder Elektromotoren um ein Vielfaches größer war, so war die Dampfmaschine die erste und wichtigste technische Invention, da sie erstmals dem Menschen schwere Arbeiten erleichterte und den Transport von Personen und Gütern beschleunigte. Vgl. Gerhard Zachmann: Wärmekraft- und Kältemaschinen, in: Ders. (Hg.): Naturwissenschaften und Technik. Bd. 1. Die Gesetze der Natur und ihre Anwendung. Gütersloh 1985, S. 243-245. 163

Wie bereits beschrieben worden ist, hatte Hagedorn intensiv nach eigenen Möglichkeiten zur Zerlegung des menschlichen Körpers innerhalb der Malerei gesucht. Mit „Mann mit Rad“ fließt nun der zweite relevante und inhaltsstiftende Aspekt in die künstlerische Entwicklung Hagedorns ein, das ausgeprägte Interesse an Mechanik und Technik. Das Rad ist Teil einer nicht näher zu definierenden Maschine, das fabriknahe Umfeld wird zudem markiert durch die metallene Erscheinung der gesamten Darstellung sowie durch die Anwesenheit des Mannes, der die Anmutung eines Mechanikers besitzt. Die Gestaltung des Kreises mit konzentrischen Ringen in der Mitte und im Winkel von neunzig Grad dazu abgesetzten Stäben oder breiten Feldern im Außenkranz sollte bis in das späte Werk hinein beibehalten werden, auch wenn sie dann in gänzlich anderer Weise, auch weitaus detaillierter ausgearbeitet, erscheint. 1957 entsteht eine, an die Figurengestaltung Oskar Schlemmers, de Chiricos und Carràs erinnernde Darstellung einer Frau im verlorenen Profil. Das zentrale Motiv dieses Gebildes in der Arbeit „Figur“ (Abb. 136) ist eine Kreisform, die einen breiten, hellen Kreis um ein großes schwarzes Zentrum bildet und von zwei dünnen Kreisen beschlossen wird. Die betrachtende Person steht entweder vor einem abstrakten Kunstwerk oder vor einem radikal auf geometrische Formen reduzierten Gegenüber, welches sie ausschließlich durch dieses übergroße „Auge“ anblickt. Dieser Interpretationsansatz würde vielen der späteren Inhalte Hagedorns vorgreifen.

3.2.5.2.2 Die Entwicklung der Kreisformen innerhalb des Hauptwerkes Hinsichtlich der formalen und inhaltlichen Entwicklung der Kreisform in Hagedorns Werk können drei Ausgangspunkte festgelegt werden. Da sind zunächst die drei bereits benannten Werke „Konstruktion mit Kegel“, 1954, „Mann und Rad“, 1956 und die Arbeit „Figur“, 1957. Diese frühen, in den ersten Jahren nach der Flucht in die BRD entstandenen, Gemälde zeigen erstmals die Kreisform, auf drei unterschiedliche Weisen, wie es dieser stilsuchenden Phase in Hagedorns Schaffen entspricht. Hier wird das Rund als das eingesetzt, was es ist, frei von Bedeutungsgehalt. Das bedeutet, die runde Form in „Konstruktion mit Kegel“ ist lediglich ein kompositorisches Gegengewicht zu dem spitz zulaufenden Kegel auf der linken Bildseite. Das Rad in „Mann mit Rad“ ist tatsächlich ein Rad, womöglich optisch angelehnt an ein Kugellager, als Bestandteil einer 164

fiktiven Maschine. In „Figur“ ist die Kreisform entweder tatsächlich eine Zielscheibe oder Teil eines erdachten Kunstwerkes, welches die Person, stellvertretend für den eigentlichen Betrachter, ansieht. Ab der Mitte der sechziger Jahre entstanden weitere Arbeiten, in denen Hagedorn die Kreisform nutzte. Hier beginnt bereits eine inhaltliche Füllung dieser Form. Somit erscheint sie in „Iokaste“, 1963 und in „Woman on black“, 1965 als tatsächliches Target. Anders in „Blue Hat“, 1964, dort erkennt der Betrachter das annähernde Rund, welches in vier verschiedenfarbige Partien unterteilt ist, als einen ersten Verweis auf das menschliche Gehirn. Diese Arbeit „Circuit“, 1971 ist die Fortführung dessen, was Hagedorn in „Blue Hat“ und „Hand of my Aunt“ inhaltlich vorbereitet hatte. Mit der Zusammenführung von stilisierten Organen in einen Kreis und dem damit implizierten Verweis auf den Blutkreislauf, definierte er die Kreisform als einen Träger für sein medizinisches Interesse. In der fortschreitenden Abstraktion seiner Bildkomposition und in der Formulierung eines eigenen Formenvokabulars ist es Hagedorn gelungen, die Kreisform zu einem symbolhaften Vertreter des Menschen zu bestimmen. Durch die bewusste Wahl des Kreises als die vollkommenste geometrische Form und als ein in allen kunsthistorischen Epochen und Gattungen relevantes Gestaltungselement, trägt er dem Menschen Rechnung. Hagedorn nutzte damit eine tradierte und in der Kunstgeschichte etablierte Form als Träger für seine persönlichen Interessen und besetzte diese Form mit eigenem, neuem Bedeutungsgehalt.

„Enter Time Center“ Eine frühe Komposition seiner Interessen Mensch und Technik unter Zusammenführung in einer Kreisform zeigte Hagedorn in „Enter Time Center“ (Abb. 184) aus dem Jahr 1975. Auf annähernd quadratischem Grund ist die Darstellung im oberen Bildsegment angesiedelt. Nach oben und unten hin wird das Darstellungsfeld mit einer gestrichelten Linie vom Hintergrund abgesetzt, sodass es einem Filmstreifen ähnlich erscheint. Eine zentral angelegte, ovale Komposition füllt die Bildfläche aus. Die optische Wirkung gleicht einem Profilquerschnitt durch einen menschlichen Kopf. Das Gebilde ist umrandet von einem breiten, in mehrere Farbsegmente geteilten Streifen, dessen Farbigkeit auf der linken Seite mit zarten Rosétönen beginnt, was den Betrachter zusätzlich an

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Haut und damit an ein Gesicht als die vordere, äußere Hülle des Kopfes denken lässt. Zur rechten Seite hin schwenkt die Farbigkeit in leuchtende Grün- und Türkistöne um. Innen wird das obere Drittel dieser Form überfangen von einem breiteren hellen, fast weißen Bogen, der an einen Schädelknochen erinnert. Die Segmentierung der den Knochen umgebenden Farbfelder erinnert zudem an die kleinen Ausstülpungen, welche der menschliche Schädelknochen aufweist, um dort den Liquor cerebrospinalis zu absorbieren (3.2.6.5). Das geschützte Innere der Darstellung ist gefüllt mit ornamentaler Kleinteiligkeit, kleinste vielgestaltige Formen in zarten Farben, die von einem komplexen, dynamischen und sorgsam abgestimmten Zusammenwirken sprechen. Damit kann das Bild verstanden werden als eine Abbildung eines Gehirns mit entsprechend komplizierter Funktionsweise (Abb. 185). Hinzukommt, dass Hagedorn der Form des menschlichen Schädels eine hohe formale Bedeutung beigemessen hatte.364 Hervorgerufen durch den Bildtitel entsteht für den Betrachter der Eindruck, in ein Uhrwerk zu blicken, welches ebenfalls von dem perfekten Funktionieren aller seiner feinen Einzelteile abhängt. Vor dem Hintergrund, dass Hagedorn sich sowohl für neurologische Zusammenhänge, als auch für Technik interessierte, ist es ihm in dieser Arbeit gelungen, seine Darstellung so auszuführen, dass der Betrachter parallel zu den organischen auch technische Funktionsweisen darin erkennen kann. Hagedorn führt beide Aspekte so zusammen, dass sich eine sinnvolle Symbiose ergibt. Er zeigt kein abschreckendes Beispiel für ein von Technologien gesteuertes oder kontrolliertes Gehirn, sondern zeigt damit, wie stark die Funktionsweisen der Technik denen des menschlichen Organismus gleichen. Hagedorn greift mit diesen Bildern wichtige technische Erkenntnisse auf. Viele technische Abläufe lassen sich zurückführen auf natürliche Abläufe. Hagedorn schaffte mit dieser Umsetzung der Bildthematik „Mensch und Technik“ ein künstlerisches Bewusstsein für die Tatsache, dass Technik ein Produkt des Menschen ist. Dieser wiederum ist ein Teil der Natur und hat als Inspiration für technische Inventionen keine andere Inspirationsquelle als die Natur. Hagedorn stellt seine Bildaussage damit der bisweilen negativ konnotierten oder

364 Hagedorn betrachtete die Form des Schädels als eine klar definierte natürliche Form. Befreit von jeglichem individuellem Äußerem erschien ihm der Schädel als eine Form von symbolischen Wert für dasjenige was sich darunter verbirgt genauso als eine Form, die organische und geometrische Anklänge in sich vereint. Vgl. Leonardo, S. 281f. 166

idealisierenden, enthusiastischen Rezeption von „Mensch und Maschine“ diametral gegenüber. Er zeigt dem Betrachter nicht den von Technik überwältigten, redundanten Menschen, aber auch keinen Menschen, welcher sich der von ihm selbst erschaffenen Technik nicht mehr erwehren kann.365 Genauso wenig hatte sich Hagedorn, wie die italienischen Futuristen, von bedingungsloser Technikbegeisterung einnehmen lassen.366

Konrad Klapheck Die später entstandenen Werke Klaphecks, der Maschinen und technische Objekte in einer äußerst präzisen Malweise wiedergibt und diese teilweise geschlechterspezifisch konnotiert, lässt sich ebenfalls nicht mit der bildnerischen Intention Hagedorns in Verbindung bringen. Die Akzeptanz jedoch, die Klapheck der Relevanz der Maschine für den Menschen entgegenbringt, spiegelt Hagedorns Auffassung wieder.367 Légers Empfindung für die den technischen und mechanischen Elementen innewohnende Schönheit findet sich schließlich in Hagedorns Arbeiten wieder, wie es die Arbeit „Alba“ (Abb. 202) belegt.368

Le Corbusier Eine weitere Verbindung von Hagedorns Sichtweise auf Technik und Mensch findet sich zum architektonischen Werk Le Corbusiers.369 Dessen Entwürfe

365 Bereits die Arbeit „Im Eisenwalzwerk“, 1875 von Adolph von Menzel gemalt und eines der ersten Gemälde, welches den Industriearbeiter in seiner Arbeitsumgebung zeigt, erweckte bei den Betrachtern Emotionen von einer den Menschen überwältigenden Fabrikwelt, obwohl der Künstler diesen Eindruck nicht evozieren wollte. Vgl. Marie Ursula Riemann-Reyher: Das Eisenwalzwerk (Moderne Cyklopen), in: Claude Keisch (Hg.): Adolph Menzel 1815-1905. Das Labyrinth der Wirklichkeit. Kat. Ausst. Köln 1996, S. 283-289. 366 Vgl. Sylvia Martin/Uta Grosenick (Hgg.): Futurismus. Köln 2005, S. 6-9. 367 Klapheck zitiert in seinen Werken die gegenstandsorientierte Malerei der Neuen Sachlichkeit, zu deren weitgefassterer Rezeptionsgeschichte Hagedorn zwar immer wieder Anklänge aufweist, dieser aber nicht eindeutig zuzuordnen ist. Was Hagedorn in die Nähe Klaphecks bringt, ist dessen Aufladung der Maschinendarstellung mit menschlicher, emotionaler bis hin zu sexueller Konnotation sowie die Relevanz der Bildtitel hinsichtlich des Bildverständnisses. Genauso wie Hagedorn integriert Klapheck kunsthistorische Inspiration sowie Einflüsse aus den Bereichen Sport (3.2.7.2) und (Jazz-)musik (3.2.7.3) in seine Werke. Vgl. Thomas Hirsch: Art. „Klapheck, Konrad“. In: Andreas Beyer/Bénédicte Savoy/Wolf Tegethoff (Hgg.): Allgemeines Künstlerlexikon. Die bildenden Künstler aller Zeiten und Völker. Bd. 80. Berlin, Boston 2014, S. 385f. 368 Vgl. Christopher Green: Wandlungen der Figur. Fernand Léger als Figurenmaler 1909-1927, in: Gohr, Léger, S. 23. 369 Sowohl Fernand Léger als auch Le Corbusier hatten die der Architektur innewohnende Geometrie erkannt und aus ihr eine Ästhetik abgeleitet, die sie, aber vor allem Léger, auch auf das Technische zu übertragen wussten. Vgl. zu den Überlegungen über die Verbindung von Architektur, Geometrie, Ästhetik und Maschine: Funken, Maschine, S. 82-88. 167

basieren auf den klarsten geometrischen Formen und einten diese mit seiner Lehre des Modulor.370 Diesem legte er neben mathematischen Berechnungen die menschliche Figur zu Grunde. Zudem versuchte er die industrielle Fertigung großer Bauteile zu fördern.371 Le Corbusier steht der Vorstellung der Verbindung von Mensch und Technik gleichermaßen positiv gegenüber wie Hagedorn.

Willi Baumeister Hinsichtlich der Benennung Légers und Le Corbusiers an dieser Stelle, müssen die Zeichnungen Willi Baumeisters berücksichtigt werden. In der Zeit zwischen den Jahren 1922 bis 1928 widmete er sich einer geometrischen Verbindung von Mensch und Maschine (Abb. 212a). Darin begibt er sich in die Nähe Le Corbusiers, da er die flächige Gestaltung einer modellierten Gestaltung vorzieht, womit er sich von Léger abgrenzt. Eine Nähe zu Hagedorns Arbeiten wie „Chantress“ (Abb. 212), in denen er eine verblockte Einbettung des Menschen in eine flache geometrische Komposition erreicht hatte, ist damit zu postulieren, ohne dass es einen Beleg für die Kenntnis Hagedorns dieser Werke Baumeisters gibt.372 Baumeister, der in seine frühen „Mauerbilder“ eben wie Hagedorn eine zeitgenössische Wirklichkeitsnähe aus der Kombination von Maschinenästhetik, Technik und deren Verbindung mit dem Menschen, hatte einfließen lassen, suchte nach einer neuen Gestalt des Farbauftrages, indem er beispielsweise Sand untermischte, um eine raue Oberflächenwirkung und damit Struktur zu erzielen.373 Auch Hagedorn verzichtete nicht auf den sichtbaren Duktus sowie auf eine leichte Pastosizität der Farbe. Wenn Baumeister in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Maschine und Mensch kombiniert, führt ihn dieser Weg ebenfalls über die Zerlegung der menschlichen Figur.374 In den geometrisch abstrahierten Kompositionen finden sich menschliche Silhouetten oder die Konturen einzelner Körperteile. Baumeister geometrisiert und

370 Mit dem Modulor sollte Harmonie in der direkten Umgebung des Menschen erzielt werden, da er auf den Maßstäben des menschlichen Körpers beruht. Vgl. Dario Matteoni: Modulor, in: Andreas Vohwinkel (Hg.): Le Corbusier. Synthèse des Arts. Aspekte des Spätwerks 1945-1965. Berlin 1986, S. 19-31. 371 Vgl. Curtis, Le Corbusier, S. 69-81. 372 Vgl. Dietmar J. Ponert: Willi Baumeister. Werkverzeichnis der Zeichnungen, Gouachen und Collagen. Köln 1988, S. 27. 373 Vgl. Will Grohmann: Wandgemälde von Oskar Schlemmer und Willy Baumeister, in: Götz Adriani (Hg.): Willy Baumeister Gemälde. Kat. Ausst. Tübingen 1971, S. 44. 374 Ebd., S. 96. 168

mechanisiert die Figur, das für Hagedorn relevante Interesse an dem organischen Inneren des menschlichen Körpers bleibt bei Baumeister jedoch aus. Es liegen keine Aussagen Hagedorns über eine erfolgte Auseinandersetzung mit den frühen Werken Baumeisters vor. Jedoch ist Baumeister als derjenige deutsche Maler zu betrachten, der formal wie inhaltlich deutlichen Vergleich mit Léger findet und muss von daher in die Riege der künstlerischen Vorbilder Hagedorns aufgenommen werden.

Technischer Fortschritt Darüber hinaus greift Hagedorn wichtige Aspekte des Fortschritts in seinen Werken auf. Seit 1954 war die technische Fortentwicklung in den USA und in Europa größtenteils determiniert von den ambitionierten Raumfahrtprogrammen der USA und der Sowjetunion. Der Wettstreit um die Erkundung des Weltraums war nicht nur ein Politikum, mit der Raumfahrt gingen elementare technische Neuerungen und Entwicklungen einher. Die Raumfahrt selbst aber demonstriert, wie kaum eine andere Technologie, zu welchen außergewöhnlichen Leistungen der Mensch in der Lage war und ist. Hagedorn hatte tiefes Interesse an diesen Errungenschaften gezeigt. Spätestens nachdem im Jahr 1961 erstmals bemannte Raumflüge gelungen waren und nachdem 1969 die Mondlandung stattgefunden hatte, war auch in der Gesellschaft ein neues Bewusstsein für Technik entstanden. Technik wurde fortan nicht mehr lediglich als produktivitätssteigernd betrachtet, Technik sollte das berufliche und das alltägliche Leben erleichtern. Hausgeräte wie Waschmaschine375, Kühlschrank376, Staubsauger377 oder Haartrockner378 wurden ab den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den

375 Seit dem späten 18. Jahrhundert wurden verschiedene Waschautomaten konstruiert. 1946 wurde in den USA eine erste vollautomatische Waschmaschine angeboten, in Deutschland 1951. Vgl. zu der Entwicklung von Haushaltstechnik vor allem in den USA den Beitrag von Christopher W. Wells: Household Technology, in: Slotten, Oxford, S. 553-556. 376 Eine Kühlungsmöglichkeit durch Eis wurde bereits seit der Antike genutzt. Seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ist ein Kühlschrank in den US-amerikanischen Haushalten üblich geworden. Vgl. Ebd. 377 Eine amerikanische Entwicklung seit 1860, die viele Jahre benötigte, um für den Hausgebrauch eingesetzt und um erschwinglich zu werden. Erst ab den sechziger Jahren konnte man sich ein solches Gerät leisten, vgl. Ebd. 378 1908 entwickelt, wurde der Haartrockner ausschließlich von Friseuren benutzt, da dieser ein sehr schweres Gewicht von über zwei Kilogramm aufwies. Seit die Gehäuse und die Heizspiralen leichter geworden waren, konnte der Haartrockner ab den siebziger Jahren Einzug in den privaten Gebrauch halten. Zu den Entwicklungen der Hausgeräte in den USA vgl. Susan Strasser: Never Done: A History of American Housework. New York 1982. 169

privaten Haushalten üblich und erleichterten die alltägliche Arbeit, Pflege und Hygiene in hohem Maß. Hagedorn verfolgte und begrüßte diese Entwicklungen aufmerksam.379 Die technische Forschung dieser Zeit in den USA war beseelt von diesen Ideen, Abfallprodukte der Raumfahrt wie das Material Teflon oder das bald flächendeckende Angebot von elektrischen Haushaltsgeräten wurden gesellschaftlich wie politisch propagiert. Parallel dazu setzte eine verstärkte Entwicklung der bereits bestehenden Computertechnologie ein.380 Der Relevanz der Grundlagen der Bionik381, zu denen bereits Leonardo da Vincis Übertragung des Vogelflugs auf ein konstruiertes Fluggerät zu rechnen ist, greift Hagedorn damit aus wirtschaftlicher Sicht voraus, aus künstlerischer Sicht reflektiert er die Entwicklungen seiner Gegenwart - eine der vornehmsten Aufgaben des Künstlers überhaupt. Die Funktionsweise und das reibungslose Ineinandergreifen im Organismus und in einer feinen Mechanik wie dem Uhrwerk, zeitparallel zu der sich entwickelnden komplexen Informationstechnologie, sind sich zu gegenseitigen Metaphern geworden.382

Noch einmal „Enter Time Center“ In „Enter Time Center“ herrschen rings um das Gebilde starke äußere Einflüsse auf das Innere vor. An sieben Stellen treten unterschiedliche Formen teilweise lanzettartig in das Zentrum ein, ähnlich dem Eindringen einer Kanüle in das Innere einer Zelle in der Laborarbeit unter dem Mikroskop, beispielsweise um etwas zu injizieren oder zu entnehmen. Genauso ist vorstellbar, dass mit feinstem

379 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 380 Der Mensch hat schließlich durch seine eigenen technischen Erfindungen und Konstruktionen um ein Vielfaches dasjenige potenziert, was sein Körper selbst zu leisten imstande wäre. Beispiele sind das Fliegen, das Telefonieren, die Rechenfähigkeit des Computers. Dennoch sollte hinter allen Errungenschaften der Rückbezug auf den Menschen, der schließlich deren Ingenieur ist, nicht ausgeblendet werden, denn nur so bleibt zwischen Mensch und Technik eine Homöostase gewahrt. Diese Überlegungen wurden bereits in den fünfziger Jahren angestrengt, vgl. Lewis Mumford: Kunst und Technik, in: Fritz Ernst (Hg.): Die wissenschaftliche Taschenbuchreihe, Bd. 31. Stuttgart 1959. 381 Vgl. zur Bionik Bernd Hill: Bionik. Die Natur als Ideenschmiede. Weimar 2013. – Vgl. Olga Speck/Thomas Speck: Vorbild Natur, in: Patrick Boucheron/Dirk Bühler (Hgg.): Leonardo da Vinci. Vorbild Natur. Zeichnungen und Modelle. Kat. Ausst. München 2013, S. 107-120. 382 Hagedorn erfasste mit seiner Kunst eine neue Sichtweise auf die Verbindung von Technik und Mensch. Wie eng diese beiden Sphären ineinandergreifen, zeigt sich nicht nur darin, dass Technik ein vom Menschen erschaffenes Faktum ist, sondern auch mit tatsächlichen Entwicklungen, die den Menschen eng mit technischen Möglichkeiten in Verbindung bringen, wie beispielsweise Herzschrittmacher oder künstliche Herzklappen, welche technische Bestandteile direkt in den menschlichen Körper integrieren. Vgl. zu dieser Thematik auch Melike Şahinol: Das techno- zerebrale Subjekt. Zur Symbiose von Mensch und Maschine in den Neurowissenschaften. Bielefeld 2016, S. 84-86. 170

Werkzeug ein Uhrwerk oder ein vergleichbar komplexes Konstrukt repariert oder justiert wird. Dies evoziert letztendlich auch der Titel „Enter Time Center“, Eingabe in das Zeit-Zentrum oder Betreten des Zeit-Zentrums, als das Herzstück einer Uhr, aber auch in Anlehnung an die unterschiedlichen Zentren des Gehirns, hinsichtlich des Lang- und des Kurzzeitgedächtnisses als ein Zeit-Zentrum. Damit hält Hagedorn dem Betrachter gleichzeitig die zahlreichen Einflüsse vor Augen, welchen der Mensch, und damit das menschliche Gehirn täglich ausgesetzt ist, und zwar nicht nur visuell und auditiv, sondern auch über den Geschmackssinn, den Tastsinn und den Geruchssinn, genauso über sein emotionales Empfinden und dem was möglicherweise außerhalb unserer Vorstellungskraft liegen mag. Betrachtet man die sieben Einflussbereiche, die Hagedorn darstellt, so mag der Betrachter auch den sogenannten siebten Sinn bedenken, der eben letzteres beschreibt. Der Begriff des „Time Center“ kann also technisch ein Uhrwerk beschreiben, es kann eine Umschreibung für das Gehirn bedeuten oder den Hinweis auf ein Steuerungselement in einer elektronischen Anlage geben, was schlussendlich eine Zusammenschau aller Interessensfelder Hagedorns bedeutete.

Aus den vorangehend gezeigten Entwicklungen hatte Hagedorn in dem 1975 entstandenen „Enter Time Center“ seine Ideen und Interessen zusammengeführt und sie in dem formalen Erscheinungsbild zu einem Ausdruck vereint, den er vereinfachen, stilisieren und zu einem relevanten Bestandteil zukünftiger Bildkompositionen bestimmen sollte. Hagedorns Füllung dieser Form mit Bedeutungsgehalt fügt den bisher bekannten Nutzungsweisen dieser Form eine weitere Auffassung hinzu, die innerhalb der zeitgenössischen sowie der vorangegangenen Strömungen singulär ist. Jedoch gibt es eine architektonische Erscheinung in Nordamerika, welche Karl Hagedorn durchaus bekannt gewesen sein könnte und die ihn bei der Entwicklung seiner Form möglicherweise unterstützt hatte. Aus indianischer Zeit sind im Norden Nordamerikas und im Süden Kanadas so genannte „Medical Wheels“ erhalten. Dies sind Steinformationen, bisweilen mit Durchmessern von dreiundzwanzig Metern, die als kultische Stätten angelegt waren. Die klassische Form eines „Medical Wheel“ besteht aus mehreren speichenförmigen Strahlen rund um einen Mittelpunkt,

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beschlossen von einem oder mehreren konzentrischen Kreisen.383 Hagedorn, der sich früh nach seiner Ankunft in den USA für die Geschichte aber auch für die Kunstformen der Indianer interessiert hatte, kann durch diese „Medical Wheels“ durchaus Inspiration erhalten haben.

3.2.5.3 Die formenreich gefüllte Kreisform

Die formenreichgefüllte Kreisform kann in zwei bildrelevante Formen untereilt werden, welchen im Folgenden eine gesonderte Betrachtung zukommen soll.

3.2.5.3.1 Messgeräteform

Innerhalb der Kategorie der formenreich gefüllten Kreisform hatte sich Hagedorn Formenvariationen erarbeitet, die in seinem gesamten Hauptwerk immer wiederkehrend eingesetzt werden, teilweise formal oder farblich verändert, aber dennoch wiedererkennbar. Sie sind damit als ein Teil des Formenvokabulars zu bezeichnen, welches für Hagedorns Malerei obligatorisch geworden ist. Die sogenannte Messgerätform384 besteht in der reduziertesten Erscheinung aus einer Kreisfläche in der sich ein spitzzulaufendes Dreieck und ein feiner Zeiger, der zumeist auch den Radius des Kreises bemisst, befinden. Diese Kreisform kann nach außen hin von weiteren farbigen Ringen umgeben sein oder ist in ein anderes farbiges und zumeist unregelmäßig umrandetes Bildsegment eingefügt. In ihrer reinen Erscheinungsweise nutzte Hagedorn diese Form in „Controller“ (Abb. 171). Diese Form kann auch eine intensivere Binnengestaltung aufweisen, wenn sich innerhalb des zentralen Kreises bisweilen drei oder mehrere, teilweise angeschnittene kleinere Kreise, mit einem oder mehreren konzentrischen Ringen, bewegen. Diese kleinen Binnenkreise sind durch Linien miteinander verbunden oder strahlen mit Linien nach außen aus. Die Kreiszentren evozieren ebenfalls technische Dynamik. In einem dieses Zentrum umschließenden Kreis sind zudem,

383 Vgl. Joe Stickler: The Medicine Wheel, in: Department of Science, Valley City State University. In: URL: http://medicinewheel.vcsu.edu/ (Stand: 06.12.2016). 384 Messgeräte oder auch Messmittel werden dann eingesetzt, wenn es bestimmte physikalische Werte zu ermitteln gilt. Einfache Messgeräte sind beispielsweise Uhren oder Waagen. Darüber hinaus können weitaus komplexere Bestandteile wie das Vorhandensein oder die Konzentration von Gasen oder Radioaktivität gemessen werden. Messgeräte unterscheiden sich stark in ihrer Form und ihrem Äußeren. Für die Kreisform „Messgerät“ greift Hagedorn visuell auf die runden Anzeigen von Messgeräten wie Drehzahlmesser oder Rohrfedermanometer (Abb. 186) zurück. Vgl. zur Auflistung und Beschreibung von Messgeräten Jörg Hoffmann: Taschenbuch der Messtechnik. München 2015, S. 73-106. 172

ähnlich einer Uhr, unterschiedliche Felder umlaufend angeordnet, in denen sich Messstriche, Zahlen oder Buchstaben befinden. Diese Kreisform ist zumeist nach außen hin fest von einem dünnen, farbigen Ring umschlossen. Hagedorn könnte in seiner Auseinandersetzung mit den Werken von Künstlern aus dem Bauhausumfeld auf das Werk Karl Hermann Trinkaus‘ aufmerksam geworden sein. In seiner Arbeit „Statisch-Dynamisch“ (Abb. 187) aus dem Jahr 1929 zeigt dieser ein dichtes Gefüge aus kleinen geometrischen Formen und Farben, in das Kreise, aber vor allem kreisrunde, an Messgerätanzeigen erinnernde Formen eingefügt sind. Durch ihre Anzeigen und Zeiger vermitteln sie dem Betrachter eine bildimmanente Dynamik, basierend auf einem logischen mechanischen oder technischen Prinzip.385 Hagedorn setzte die Messgeräteform als einen Stellvertreter für technische oder elektronische Systeme ein, oder als einen Hinweis auf die Komplexität des menschlichen Gehirns. Die Adaption von, in diesem Fall, kreisrunden Anzeigen von Geräten aus der technischen Disziplin der Messtechnik entspricht Hagedorns Bildidee, technische Werkzeuge malerisch umzusetzen und sie zum konstruktiven Bestandteil seiner aus organischen und technischen Elementen geformten Motive einzusetzen. Die Messgeräteform erscheint zumeist zentral oder isoliert in der linken Bildhälfte. In komplexer Ausführung ist diese Kreisform in dem bereits beschriebenen „Visitation“ (Abb. 172) zu sehen. Hier dominiert sie klar das Zentrum der Darstellung. Während in der oberen Bildhälfte stürmische Vereinigung stattfindet, herrscht in der unteren Hälfte eine klare Trennung in linke und rechte Bildhälfte durch eine dominante Mittelachse vor. Die Kreisform sitzt auf dem Mittelpunkt und erscheint dort wie ein Instrument. Sie übernimmt hier die Funktion des Maschinellen, als sei die Intensität der Begegnung der beiden Robotermenschen steuer- oder messbar. In ihrer ursprünglichen Form erscheint die Messgeräteform zudem in „The Gambler“ (Abb. 166) und „Ace“ (Abb. 194). In das Bildgefüge der Arbeit „Controller“ hatte Hagedorn diese Form in der linken Bildhälfte leicht über der Bildmitte integriert. In einen weißen Kreis mit dünnem Außenring ist ein rechtwinkliges Dreieck einbeschrieben. Es trägt einen blauen Kreis sowie einen

385 Vgl. Theresia Enzensberger: Ironische Beinarbeit, in: Grisebach. Kunst, Menschen, Werte. Das Journal. Ausgabe 3. Herbst 2013. Berlin 2013, S. 35-40. 173

ebenfalls blauen Kreis mit weißem Außenring in sich und auf der Hälfte der Hypotenuse des Dreiecks zeigt ein dünner Strich, ähnlich einem Zeiger oder eines Radius bis zum Außenring. Sowohl die auf ein Uhr stehende Spitze des Dreiecks als auch die auf zehn Uhr stehende Zeigernadel zeigen nicht lesbare Parameter an, denn es sind keine Werte angezeigt, die abgelesen werden können. Dennoch wird dem Betrachter gewahr, dass es sich hier um eine, ihm verborgen bleibende, Funktion handelt. Folgt man dem Verlauf der Spitze des roten Dreiecks in Verlängerung seiner Hypotenuse, so zeigt diese auf einen Wert in dem rechts oberhalb befindlichen, hochkomplexen Rad. Folgt man der verlängerten Linie des Zeigers, so wird der Blick geleitet hin zu einem plakativen, schwarz umrandeten Pfeil mit weißer Innenfläche, der von einer gestrichelten roten Linie durchzogen ist. In Betrachtung der Gesamtkomposition erkennt man einen von rechts stark in das Bild eindringenden, durch die Überschneidung mit dem inneren Bildrand kenntlich gemachten, Input von außen, ähnlich den Umwelteinflüssen, denen jeder Mensch ausgesetzt ist oder vergleichbar mit der Energiezufuhr zu einer Maschine oder zu einem elektronischen Gerät. Die komplexe Kreisform, welche also diese Darstellung dominiert, scheint alle eintreffenden Informationen zu verarbeiten, ehe sie, wie der Pfeil und die rote Konstruktionslinie es andeuten, das System gebündelt und gerichtet wieder verlässt. Die Messgeräteform übernimmt in ihrer statischen Darstellung eine weit über ihr reales Erscheinen auf der Bildfläche hinausgehende Aufgabe, indem sie Blickrichtungen evoziert und damit auf die den Werken innewohnende Dynamik verweist. Konrad Klapheck, der in seinen äußerst klaren Wiedergaben von technischen Gegenständen vor allem auf deren Präsenz oder Überpräsenz im alltäglichen Leben verweist,386 zeigt in „Carpe Diem“ (Abb. 195) eine Uhr. Im Gegensatz zu Hagedorns Auffassung und künstlerischer Interpretation des Messgerätes zeigt Klapheck das Ziffernblatt derart präzise, dass es, auch bedingt durch den Bildtitel, zu einer vanitasgleichen Mahnung an die Endlichkeit des Menschen wird; ein Ansatz der den Bildaussagen diametral entgegengesetzt ist. Ähnlich wie in „The Gambler“ und in „Ace“ führt Hagedorn mehrere reale Welten zu seiner Bildwelt zusammen. Der Betrachter vermag die Anmutung einer elektronisch gesteuerten

386 Vgl. Art. „Klapheck, Konrad“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 3. Leipzig 2004, S. 760f. 174

Maschine zu erkennen, eine künstlerische Vorstellung eines Computers.387 Wie vor allem die Titel der beiden anderen Werke anklingen lassen, verbrämt Hagedorn diese Darstellung mit einer optischen Gestaltung, die an einen Spieltisch oder an einen Flipperautomaten denken lässt. Aber unter Berücksichtigung der neurologischen Interessen Hagedorns kann der Betrachter hier die Funktionsweise des menschlichen Gehirns wahrnehmen, welches sekündlich Einflüssen ausgesetzt ist, diese zu verarbeiten und einem für den Menschen nützlichen Gebrauch zuzuführen hat. Die kleine Messgeräteform übernimmt hier die Position des titelgebenden Controllers, in der Hirnforschung ist dies der Thalamus, der im Zwischenhirn angesiedelt ist und dort die Aufgabe übernimmt, welche Information in unser Bewusstsein dringt und welche vorher gefiltert wird.388 Hagedorn vereint in seinen Werken seine eigenen Vorstellungen, zeitgenössische Forschungsfortschritte und seine Bildideen und setzt sie mit seiner eigenständigen und klaren Bildsprache um. Durch den aufgezeigten Einsatz dieser Kreisformvariante trägt er seiner Begeisterung für technisches Gerät Rechnung und nutzt diese Form als ein Bildelement, welches Klarheit, da an Messgeräten stets genaue Daten abzulesen sind, und kryptischen Inhalt zugleich vermittelt, indem er nicht preisgibt, welche Werte gemessen, oder welche Einheiten gesteuert werden. Es wird damit zu einer Sehaufgabe für den Bildbetrachter, der Sinnhaftigkeit und den Bedeutungsverbindungen nachzuspüren, welche diese Form beinhalten oder anzeigt.

3.2.5.3.2 Die komplexe Kreisform

Eine formale und inhaltliche Steigerung erfährt die formenreich gefüllte Kreisform mit der komplexen Kreisform. Diese kann sehr vielgestaltig sein, entweder konzentriert auf das Innere der Kreisfläche und bisweilen auch über den abschließenden äußeren Ring hinaus. Oftmals nutzt Hagedorn diese Form mit einem kleinen runden oder eckigen Zentrum, welches aus dem Kreismittelpunkt

387 Karl Hagedorn sagte im Interview mit Curt Heigl: „Ich versuche, diese Dinge indirekt, symbolisch in ihren Funktionen […] zu interpretieren, auf sie zu reagieren oder zu reflektieren – mehr auf meine Intuition als auf definitive, wissenschaftliche Kenntnisse bauend. Karl Hagedorn zitiert aus: Kat Kunsthalle, S. 17. 388 Eine wichtige Aufgabe des Thalamus (ein Teil des Zwischenhirns) ist die Umschaltung der Sehbahn zur Sehrinde, der Hörbahn zur Hörrinde. Die Einflüsse aus dem Gleichgewichtssystem gelangen von dort in das Kleinhirn. Vgl. Thomas, Nervensystem, S. 10 und S. 18. 175

gerückt ist, darum herum bildet sich eine mehreckige, zumeist monochrome Form, die durch ihre Unregelmäßigkeit dieser Kreisform eine gewisse Dynamik verleiht, so als wäre die Form, oder das Innere der Form in (Dreh-)Bewegung. Nach außen abgegrenzt wird diese Kreisform höchst unterschiedlich mit gestichelten Konstruktionslinien, durchbrochen von Punkten und unregelmäßig verlaufenden kurvierten Linien, bisweilen von einem breiten farbigen Ring. Diese Form setzte Hagedorn oft in das Zentrum der Komposition, wo sie die Funktion eines Drehpunktes übernimmt, ähnlich einem Gelenk, wie beispielsweise in „Homo Mensura“ (Abb. 172).

Zwei Varianten der komplexen Kreisform Die komplexe Kreisform erscheint in zwei unterschiedlichen Ausdrucksweisen. In „The Gambler“ (Abb. 166) erscheint sie in einer Vorstufe, die in „Controller“ (Abb. 171) noch durch Zahlenwerk in ihrer Komplexität gesteigert wird. In beiden Werken aber nimmt diese Kreisform die bildbestimmende und funktionsgebende Position ein. Sie erscheint als der Ort, an dem die einströmenden Impulse verarbeitet und gegebenenfalls nach außen weitergegeben werden. Die bilddominierende komplexe Form in „Controller“ ist nach außen hin von einem dünnen roten Ring fest umschlossen. Danach folgt ein weißer Ring, von dem im Winkel von neunzig Grad regelmäßig weiße Linien austreten, die auf einen weiter innen liegenden weißen Ring treffen. So wird ein umlaufendes Fächerschema gebildet. Das Zentrum der Kreisform ist äußerst bewegt. In einem dünnen blauen Kreis liegt eine aus der Mitte gerückte, scheinbar in Bewegung befindliche violette Scheibe. Darauf sind entlang einer gelbgestrichelten Line zwei ganze sowie ein angeschnittener Kreis unregelmäßig angeordnet. Vom mittig liegenden Kreis führt nach links ebenfalls eine gelbgestrichelte Line. Die Felder im äußeren Ring sind gelb grundiert und sind mit unterschiedlichen Markierungen sowie mit den Zahlen 2, 3, 4, 5 und 8 gefüllt. Im Vorfeld wurden verschiedene technische Neuerungen auf dem Sektor der Haushaltsgeräte angesprochen, unter anderem der Haartrockner. Betrachtet man einen Haartrockner in der für die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts üblichen Bauweise, die auch schnell Designstatus erreicht hatte (Abb. 196), so kann die Bildkonstruktion im oberen Bilddrittel mit dieser Formgebung verglichen werden. Fügt man den nach rechts auslaufenden und nach

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unten abgebogenen gelben Bügel und den nach links unten weisenden großen, weißen und schwarz umrandeten Pfeil zu einem optischen Ganzen, so evoziert dies nicht nur die Erinnerung an das Gehäuse eines solchen Föhns. In Betrachtung der Funktionsweise eines Haartrockners erscheint auch in diesem Bild eine von der rechten Seite eintretende Eingabe, Energie- oder Informationszufuhr in Form der vier Röhrchen. Ebenso wie der Föhn mit dem Gebläse Luft in das Innere leitet, zeigt Hagedorn hier ein Gerät, dessen Energie oder Informationszufuhr von außen hineingeleitet wird. Im Inneren des Haartrockners sitzen Wendeln, welche die einströmende Luft erwärmen und schließlich zur anderen Seite hin abgeben (Abb. 196a). Mit diesem Herzstück aus den aufgewickelten Heizdrähten ist in „Controller“ die komplexe Kreisform gleichzusetzen; der Ausstoß oder die erzielte Produktionsleistung wird lediglich richtungsweisend über den Pfeil angezeigt. Hagedorn gelingt mit dieser Darstellungsform, die er wiederholt eingesetzt hatte, eine Verknüpfung seiner Interessen auf verschiedenen Ebenen und überlässt es dabei dem Betrachter, für welche Lesart er sich entscheidet. Neben der technischen Funktionsweise des Föhns, die dahingehend ein Verweis auf den Menschen ist, als dass der Mensch diesen Föhn konstruiert hat und benutzt, ist dies eine künstlerische Sichtweise auf das Funktionieren eines Computers, der auch die Eingabe von Datenmengen benötigt, diese verarbeitet und schließlich Ergebnisse in Form von Datensätzen ausgibt. Letzteres ist mit dem Menschen insofern verknüpft, als dass auch der Rechner eine Erfindung des Menschen ist, aber auch dahingehend, dass die Computertechnologie den Gehirnprozessen gleicht. Damit konzentriert sich die technisch-elektronische Auslegung auf die Arbeit des Gehirns, die Darstellung ist gleichzusetzen mit einem Profilquerschnitt durch das Gehirn (Abb. 185). Die Kreisformen sind Stellvertreter für die Hirnbereiche, wie sie gänzlich stilisiert bereits in „Blue Hat“ (Abb. 39) eingesetzt worden sind. Dazu wird, als ein Teil des Gehirns, das Auge kombiniert, welches in der Arbeit „Monitor“ (Abb. 197) eine singuläre Betrachtung erhält (3.2.5.4.2). Das Auge liefert dem Gehirn permanent Informationen. Hagedorn stellt das menschliche Gehirn wie eine Maschine, als einen Verweis auf dessen Funktionsweise, aber auch als Verweis darauf dar, dass alle vom Menschen erdachte Technik dem Vorbild der Natur entspringt.

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Der Mensch erhält permanent Einflüsse, die allesamt in seinem Gehirn zusammengeführt werden. Der Ablauf, Verarbeitungs- und Filterprozess, der dort stattfindet, verwandelt diese Einflüsse und Energien in Information, die der Mensch dann entweder speichert, vergisst oder als Handlung389 wieder nach außen trägt.390 Es wurde bereits dargelegt, dass Hagedorn in einem langen Arbeitsprozess nach einer Auflösung der äußeren menschlichen Erscheinung gesucht hatte, jedoch deren Anmutung stets in seinen Bildern beibehalten wollte. Über die Zerstückelung des Körpers war ein erster Schritt gelungen, über Arbeiten wie „The Hand of my Aunt“ (Abb. 34) wurde bereits auf das Organische verwiesen und mit Studien wie „Circuit“ (Abb. 16) war der Weg in das Innere des Körpers beschritten. Durch die ornamental-geometrische Konzentration auf die Kreisform war es jedoch gelungen, technische und gestalterische Elemente zu vereinen und ihnen durch ihre Komplexität und funktional-schematische Verbindung zum Gehirn eine Funktion einzuschreiben, die den Betrachter gewahr werden lässt, dass der Mensch in diesen Werken noch anwesend ist. Aber nicht mehr in seiner äußeren Erscheinung und auch nicht erkennbar durch formale Ähnlichkeiten zu Gliedmaßen oder Organen. Hagedorn setzte also die komplexe Kreisform als einen Stellvertreter für den Menschen in seine Bildkompositionen ein. Damit war ihm eine figurative Abstraktion gelungen, die als seine originäre Darstellungsform zu beschreiben ist. Wesen oder Gestalten sind zu gleichen Teilen Geometrie und Bewegung, was dabei zählt ist, was sie bewegen und wie sie auf den Betrachter wirken.391

František Kupkas Werke als mögliche Inspiration Eine vergleichbare Intention, menschliche Anmutung mit der kompositorischen Konzentration auf die geometrische Form des Kreises zu verbinden, findet sich im Oeuvre František Kupkas. In der 1900-1903 entstandenen Arbeit „Anfang des Lebens, Wasserlilien“ (Abb. 198) fokussierte Kupka eine Rhythmisierung der Bildfläche durch Kreisformen, die entweder kreisrund oder elliptisch erscheinen.

389 Als Handlung ist zu verstehen das Handeln als eine Tätigkeit, genauso aber auch eine Empfindung mit und ohne äußerliche Regung sowie das Sprechen. 390 Zu der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn vgl. Wolf-Dieter Keidel: Informationsverarbeitung, in: Ders. (Hg.): Kurzgefaßtes Lehrbuch der Physiologie. 6., überarb. Aufl. Stuttgart, New York 1985, S. 16.3. 391 Vgl. Wilhelm Salber: Verstehen – wie weit kann ich reisen?, in: Inderwiesen/Salber, Das kalte Herz, S. 23. 178

Das bemerkenswerte Moment ist jedoch die Integration eines menschlichen Fötus in einen hellen Lichtkreis, was in diesem Kontext wie ein Vorbild für Hagedorns Idee vor der Integration des Menschen in eine Kreisform ist sowie gleichermaßen ein Rückgriff auf die Malerei Hieronymus Boschs, der in seinem Werk „Der Garten der Lüste“ (Abb. 199) bereits um 1500 Menschen in durchsichtigen, gläsern erscheinenden, Kugeln darstellte, die ähnlich wie Kupkas Kugel einer Blüte entwächst.392 Dieser Kreis in Kupkas Bild überschneidet sich mit einem benachbarten Kreis, dessen Binnengestaltung eine Blüte aufweist. Kupka versuchte in dieser Arbeit auf die Evolution zu verweisen. Dabei schafft er durch die Überschneidung der Kreise eine Verbindung zwischen pflanzlicher und menschlicher Form, indem er beide als Teile der Natur definiert und er umschließt diese wesentlichen Bereiche mit der vollendeten geometrischen Form, dem Kreis. Bedeutungsvoll ist dabei, dass der Kreis mit dem menschlichen Fötus oberhalb der Horizontlinie, also in einer kosmischen Sphäre angeordnet ist, während der Kreis, welcher die Blüte beinhaltet, dem Irdischen zugewiesen ist. Nur wenige Jahre später erreichte Kupka in „Der erste Schritt“ (Abb. 221) einen hohen Grad der Abstraktion. Eine Mondscheibe überschneidet sich mit ihrem eigenen Schatten, darum herum sind kleine Kreise ornamental angeordnet. Deren Binnenstruktur aber gleicht den Aufnahmen vom Inneren einer Zelle.393 Kupka könnte also eine Ansicht genetischen Materials, den mikroskopischen Blick in die Zelle, in den Kreis eingesetzt haben und schafft damit eine Stellvertreterform für die Anwesenheit des Menschen im Bild, die der bildnerischen Idee Hagedorns noch näherkommt, als der Fötus im Ring. Auch Kupka hatte breite naturwissenschaftliche Interessen, unter anderem auch die Neurologie zum damaligen Kenntnisstand.394 Er vertrat die Ansicht, dass sich durch diese Studien der Themenkanon der bildenden Künste verbreitern ließe und hielt eine naturwissenschaftliche Zusatzausbildung für Künstler für äußerst relevant. Diese Haltung sollte jedoch unter seinen Zeitgenossen eine Singuläre bleiben.

392 Vgl. Roger H. Marijnissen: Hieronymus Bosch. Das vollständige Werk. Weinheim 1988, S. 87. Hier wird auch auf einen alchemistischen Bezug der Darstellung von Menschen in einer Kugel hingewiesen, vgl. dazu die Überlegung in 3.2.7.2. 393 Vgl. Dorothy Kosinsky: Sinnsuche, in: Serge Fauchereau/Dies.: Kupka. Barcelona 1989, S. 23- 25. 394 Vgl. Jaroslav Anděl: zwischen Chaos und Ordnung, in: Anděl/Kosinsky, Kupka, S. 88. 179

Kupka hatte seine Erkenntnisse aus diesen Studien seinen Werken zugrunde gelegt. Wie auch Hagedorn war Kupka fasziniert von den Leistungen und Strukturen des Auges (3.2.5.4.2) und des Gehirns. Er hatte sich mit mikroskopischen Fotografien des Nervensystems und mit der Funktionsweise und dem äußeren Erscheinungsbild des Gehirns auseinandergesetzt und deren Ästhetik umgesetzt.395 In seiner späteren Abstraktion mit Konzentration auf Kreisformen verfolgte Kupka eine Kumulation seiner vielfältigen Interessen, was eine Verbindung zu Hagedorn generiert. Doch während Kupka an einer Durchdringung von Formen und Atmosphäre arbeitete und damit die Oberflächen aufspalten wollte,396 versuchte Hagedorn, die Kreisform als eine Stellvertreterform für den Menschen und zwar entweder hinsichtlich dessen selbst oder hinsichtlich dessen technischer Produkte, in seinen Bildkompositionen zu etablieren. Dennoch muss an dieser Stelle auch an Kupkas Einsatz der Kreisform in seiner Werkserie der „Machinisme“ zwischen 1925 und 1935 erinnert werden. Unter dem Einfluss einer Maschinenästhetik in Verbindung mit der Musik, vor allem dem Jazz (vgl. 3.2.7.2), erarbeitete Kupka in zurückhaltender Tonalität maschinenähnliche, rotierende Bildkonstruktionen, die eine leicht ironisierende Zusammenschau der Werkintentionen Francis Picabias, Fernand Légers sowie des russischen Konstruktivismus sind.397

Menschliche Anwesenheit in Hagedorns Kreisformen Hagedorn nutzte die Geometrie und die ihr eingeschriebene wie die sie umgebende Bewegung, um für den Betrachter eine Wirkung zu erzielen, die ihn trotz aller geometrisch-technischen Strenge an einen in diesem Bild vorhandenen menschlichen Geist denken lässt. In vielen dieser Arbeiten evoziert Hagedorn diese menschliche Anwesenheit bei gänzlicher körperlicher Abwesenheit durch ein an Inkarnat erinnerndes Kolorit. Dazu verleiht er denjenigen Bildelementen,

395 Für sein Buch „Das Schaffen in der bildenden Kunst“ (Prag 1923), fertigte er Illustrationen wie „Die subjektive Welt“ (Abb. 201) an, die einen Querschnitt durch ein menschliches Gehirn zeigen. Kupka sah Überschneidungen des Erdballs, der Planeten, des Auges und des Gehirns. Im Verständnis des Gehirns als relevantestes Organ des Menschen und auch als Stellvertreterorgan des gesamten menschlichen Organismus, Körper und Charakter, band Kupka den Menschen in seine Malerei ein, ohne dessen äußere Gestalt (in anderen Werkreihen trat die menschliche Figur durchaus auf) abzubilden, vgl. Ebd. 396 Vgl. Laurence Lyon Blum: Amorpha, in: Ebd., S. 114-116. 397 Vgl. Suzanne Pagé (Hg.): František Kupka. 1871-1957 ou l’invention d’une abstraction. Kat. Ausst. Paris 1989, S. 311. 180

die technisch oder mechanisch konnotiert sind, eine biomorphe Form. Und nicht zuletzt verweisen die dominanten Bildtitel auf einen Menschen, auf eine menschliche Handlung oder Eigenschaft. So ist ein „Controller“ ein Beobachter, ein Kontrolleur, zudem ist es auch die englischsprachige Berufsbezeichnung des Rechnungsprüfers. Genauso kann der Betrachter an ein Gerät denken, an einen Regler oder an eine elektronische Steuerung. Hagedorn nutzt die sprachliche Mehrdeutigkeit geschickt für seine motivischen Absichten. Der Mensch oder seine Erzeugnisse und Tätigkeiten bleiben bereits durch die Titel werkimmanent.

Anatomische Verweise Die Bildkonstruktion in Arbeiten wie „Controller“, „Ace“ oder „The Gambler“ bestehen aus einem in der oberen Bildmitte angesiedelten Kreis, der sein Pendant leicht nach rechts aus der Mittelachse am unteren Bildrand findet. Von rechts ragt das vierteilige Gebilde mit Röhrchen und weiteren Formen ins Bild, das als „Impulsgeber“ beschrieben worden ist und diesen Impuls unter anderem über das rechtwinklig gebogene Rohr, in Anlehnung an den Haartrockner, an das zentrale Kreisgebilde abgibt. Links neben einer Mitte aus größeren Farbflächen ragt eine weitere Kreisform hervor, die der Messgeräteform angehört und wie ein Vermittler zwischen oberer und unterer Kreisform erscheint und zudem die Korrelation von Input und Output reguliert. Beschränkt man diese Darstellungsform auf den menschlichen Kopf, so sieht man sich an die vier Bereiche des Gehirns erinnert. Die Darstellung entspräche damit in der oberen und unteren Kreisform auch den zentralen Hirnbereichen, das Röhrchenkonstrukt ist in dieser Logik ein Verweis auf das Rückenmark und der Regler kann als weiterer Hirnbereich, aber auch als Auge, einer der wichtigsten Verbindungen des Gehirns nach außen gedeutet werden. Überträgt man dieses Schema jedoch auf den gesamten Menschen, so vertritt die obere Kreisform das Gehirn eigenständig, das gebogene Rohr und das Röhrchensystem bleiben Hinweis auf Wirbelsäule und Rückenmark als Sitz des zentralen Nervensystems. Der untere Kreis visualisiert als anatomischer Verweis auf die Körpermitte entweder den Bewegungsapparat, die Eingeweide oder das autonome periphere Nervensystem.398 Unter Beachtung,

398 Das autonome periphere Nervensystem steuert die vegetative Versorgung aller Eingeweide, ausgehend vom Parasympathicus. Vgl. Thomas, Nervensystem, S. 34f. 181

dass das komplexe System des menschlichen Darms im Sprachgebrauch auch als „zweites Gehirn“ betrachtet wird und dass ein „Bauchgefühl“ existiert, so stellt der zweite, untere Kreis auch einen nachvollziehbaren, nicht-medizinischen Hinweis auf den Gastrointestinaltrakt dar. Genauso kann ihm eine sexuelle Konnotation einbeschrieben werden. In diesem gesamtkörperlichen Kontext kann die Messgeräteform in der linken Bildmitte die Funktion des Herzens übernehmen. Hagedorns kompositorische Leistung ist es, dass diese Werke, frei von diesen Verbindungen, beispielsweise falls der Betrachter diese ablehnt, nicht erkennt oder Hagedorns Impetus nicht kennt, als phantasievolle technische Geräte funktionieren, mit der Anlehnung an den genannten Haartrockner, an Spieltische oder an computertechnologisch gesteuerte Maschinen. Die These, Hagedorn erschaffe eine kryptisch-abstrahierte Darstellung des Menschen in einer technisierten Umgebung, wird gestützt durch die Betrachtung der Arbeit „Alba“ (Abb. 202) aus dem Jahr 1986. Albas Kopf dominiert nach wie vor als komplexe Kreisform die obere Bildmitte. Das gebogene Rohr, in optischer Anlehnung an den Haartrockner, wurde zu einer eleganten S-Form und verschmilzt mit dem Röhrchenkonstrukt, indem es jetzt die Funktion einer Wirbelsäule einnimmt und das Konstrukt damit überflüssig macht. Der untere Kreis ist aufgegangen in die ausladende Form des Rockes, der in Anmutung der schmal taillierten Mode des 18. Jahrhunderts bauschig aufspringt. Die linksseitige Messgeräteform ist nach wie vor vorhanden und gilt, wie vorab bereits vermerkt, als ein eindeutiger Hinweis auf das Herz. Ornamental erweitert wird die Darstellung durch eine weitere kleinere Kreisform. Im nachfolgenden Kapitel soll die Arbeit „Alba“ nach einleitenden Worten eine intensive Bildbetrachtung erhalten.

3.2.5.4 Die formenarme und die formentleerte Kreisform

Entsprechend der formenreich gefüllten Kreisform können auch die formenarm sowie die formentleerte Kreisform in unterschiedliche Kategorien unterteilt werden, wie es die folgenden Teilkapitel aufzeigen sollen.

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3.2.5.4.1 Die konzentrischen Kreise, die Zielscheibe und das Prisma als formenarme Kreisformen – exemplarische Darstellung anhand der Arbeit „Alba“

Die konzentrischen Kreise und die Zielscheibe – eine Abgrenzung Eine häufig genutzte Form ist die Kreisform aus verschiedenfarbigen konzentrischen Kreisen. Diese entspricht der tatsächlichen Zielscheibe,399 Hagedorn schreibt ihr jedoch nicht diese Charaktereigenschaft zu. Das bedeutet, er nutzt das Targetmotiv nicht als realen Gegenstand, wie Jasper Johns, und er nutzt es nicht, um die Aufmerksamkeit auf einen Sachverhalt oder auf ein Motiv zu lenken, wie Richard Lindner oder Francis Picabia. Die Nähe zu Lindner besteht nur dann, wenn dieser die farbigen Kreisformen als ein malerisches Gegengewicht in seinen Bildraum platziert. Genauso wie weiterhin innerhalb der amerikanischen Kunst eine formale Nähe zu Kenneth Nolands klar gestalteten Farbkreisen besteht, die sich lediglich in der geometrischen und farbigen Evidenz manifestiert.400 Hagedorns Einsatz der konzentrischen Kreise ist eine Rezeption der Intention, die Fernand Léger den konzentrischen Kreisen einbeschrieben hatte. Dessen Verteilung solcher Scheiben aus mehreren ineinander gestaffelten Ringen beispielsweise in „Les Disques“ dient der Visualisierung maschinellen Funktionierens und technischer Dynamik. Eine vergleichbare Funktion übernimmt die Kreisform der konzentrischen Kreise in Hagedorns Werken. Die konzentrischen Kreise haben elementaren Anteil an dem optischen Funktionieren und an der Dynamik des dargestellten organisch-maschinellen Konstruktes. Hagedorn setzt diese Kreisform, einzeln, zu mehreren und bisweilen auch sich überschneidend, auch mit anderen Formen überschneidend, ein. Mit dieser, der klarsten und klassischsten Kreisform, kann er sowohl Dynamik aber auch, sofern diese Form einzeln und ohne Überschneidung eingesetzt wird, gleichermaßen Statik innerhalb seiner Komposition erwirken.

399 Zum Einsatz der konzentrischen Kreise als Target oder Zielscheibe bei Lindner, Delaunay, Noland, Johns, Stella sowie Auguste Herbin, vgl. Peter Selz: Richard Lindner begehrenswerte Frauen, in: Zilczer, Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle, S. 81-90. 400 Eine Nähe zu Nolands Arbeiten kann durch Ilya Bolotowski entstanden sein. Noland hatte am Black Mountain College (Asheville, North Carolina) bei dem konstruktivistischen Künstler Bolotowski studiert, Karl Hagedorn und Ilya Bolotowski hatten sich in New York durch den gemeinsamen Freund Richard Galef kennen gelernt. Freundliche Mitteilung von Richard Galef an die Verfasserin. 183

Oftmals bildet die Kreisform mit konzentrischen Kreisen einen Endpunkt, schließt eine komplizierte Form nach außen ab oder markiert ihren Mittelpunkt. Durch die Formalität der konzentrischen Ringe entsteht immer, auch wenn die Funktion als Zielscheibe vordergründig nicht genutzt wird, eine den Blick bündelnde, zentrierende Funktion. Vor allem in sehr unruhigen, vielteiligen Kompositionen sind diese Kreisformen strukturgebend, wie beispielsweise in der Arbeit „Vertical Atomism“ (Abb. 203), die erneut Hagedorns gestalterische Nähe zu den Bildkompositionen Fernand Légers aufweist, da „Vertical Atomism“ wie eine späte Hommage an Légers „Les Disques“ (Abb. 101) erinnert. Sofern Hagedorn diese Kreisform aber zu mehreren, oder sich überschneidend einsetzt, wird diese Bildpartie oder die gesamte Konstruktion als in Bewegung begriffen. Dann übernehmen die konzentrischen Kreise die Aufgabe von Zahn- oder Schwungrädern, die für den Funktionsablauf in einer Maschine unabdingbar sind.

Die Bedeutungen der Kreisformen am Bildbeispiel „Alba“ Bereits eingangs wurde darauf verwiesen, dass Hagedorns Einsatz der Zielscheibe oder der konzentrischen Kreise die bedeutendste Nähe zu Légers Idee dieser Form besitzt. Léger erreichte mit seinen farbigen Scheiben in „Les Disques“ eine hohe Dynamik, der Betrachter verspürt die schnelle, rotierende und kraftvolle Bewegung. Die vorangehend angesprochene Arbeit „Alba“ (Abb. 202) besitzt also, als ornamentale Erweiterung, wie es oben bereits angeklungen war, ebenfalls eine Zielscheibe. Auch hier verweist sie auf Bewegung und Dynamik innerhalb der Darstellung. Rein äußerlich besehen ist das ein Verweis auf die anmutige Bewegung des weiblichen Körpers, zudem befindet sich dessen Kopf möglicherweise ebenfalls in Bewegung oder starker Drehung in das en face, während der Oberkörper im Profil dargestellt ist. Unter Vernachlässigung der menschlichen Anmutung tragen die konzentrischen Kreise zur Visualisierung von Bewegung innerhalb einer Maschine bei, die hier ebenso dargestellt sein könnte. Und nicht zuletzt sind sie ein Verweis auf die Bewegung im Inneren des Körpers, der nie stillstehende Kreislauf, besonders hervorgehoben durch die komplexe Kreisform, die an ein Herz, den Motor des Kreislaufs, denken lässt.

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Wie nur in wenigen vorangegangenen Werken, kann aber die Zielscheibe auf Albas Dekolletee im Sinne eines Richard Lindner gelesen werden.401 Auch die Interpretation als eine weibliche Figur in enggeschnürtem Kleid mit repräsentativem Dekolletee, die aber mehr an einen Apparat denn an eine Person erinnert, rückt Hagedorns Darstellung erneut in die Nähe Lindners. Die Zielscheibe, vor allem in ihrer Position, kann somit auch eine sexuelle Konnotation besitzen. Kompositorisch drängt sich eine optische Verbindung zu Lindners „Telephone“ (Abb. 173) auf. Das strenge Profil und die starre Haltung stehen dabei im Vordergrund. Genauso sind die beiden Kreisformen ein direkter Hinweis auf die Telefonmuschel und die kreisrunde Brust der linken Figur in Lindners Bild.

Beschreibung der Figur In der Betrachtung der Arbeit „Alba“ wird die angesprochene Verbindung von Mensch und Mechanik deutlich.402 Leicht zu erkennen ist hier das Portrait einer Dame. Es handelt sich um ein Hüftbild, der Kopf ist in Geometrie aufgelöst und erscheint wie ein Prisma. Die Portraitierte wahrt eine sehr grazile und aufrechte Haltung, die angedeutete Bekleidung erinnert an die Mode des 18. Jahrhunderts. Ausgeprägt ist die elegante Rückenlinie vom Schulterblatt hinunter zu einer sehr schmalen Taille. Der vordere Oberkörper verjüngt sich in klar abgrenzender Linie von der Brusthöhe bis hin zur Taille, von der aus der Rock vorne flach hinunterfällt und am Rückteil ausladend gebauscht ist. Der Oberkörper wird akzentuiert von der benannten komplexen Kreisform auf Brusthöhe, die sich zu ihrer Mitte hin vielgestaltig und vielfarbig auffächert. Ihren Gegenpart findet diese in der Zielscheibe auf Höhe des Dekolletees. Darüber bricht die strenge Darstellung auf in eine große unregelmäßige weiße und eine hellblaue Fläche. Ab der Taille nach unten besitzt der Rock am Rückenteil eine rote Spange und gliedert sich auf in drei Farbfelder, die vom Dunkelblau des Oberteils über ein helleres Blau bis hin zu einer fast weißen Fläche reichen. Diese

401 Bei Lindner lenkt die Zielscheibe zumeist den Blick auf erotische Körperpartien, sie steht neben der Frau und verweist auf sie als Jagdobjekt, oder sie verdeckt die Augen des Voyeurs. Vgl. hierzu Peter Selz: Richard Lindners begehrenswerte Frauen, in: Zilczer, Richard Lindner. Gemälde und Aquarelle, S. 81-88. 402 Möglicherweise hatte Hagedorn die Motorräder des Motorradherstellers „Alba“ gekannt, die in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Stettin (Szczecin) angefertigt worden sind. 185

ist am Rückteil von einer gestrichelten Linie begrenzt, die wie eine Bruchkante oder Trennlinie in Konstruktionszeichnungen (3.2.6.1) wirkt. Der Kopf selbst ist komplett in Formen aufgelöst, eine kreisrunde Scheibe, die sich in viele kleine lange Rechtecke, Streifen und Dreiecke auflöst. Aus der Kreismitte gerückt ist dem Kopfkreis ein kleiner weißer Kreis eingeschrieben, der wie ein Loch erscheint, einzig die rote Form scheint sich dem geometrischen Muster des Kopfes entgegenzusetzen. Begrenzt wird der Kopf links, oben und rechts von verschiedenfarbigen, halbkreisähnlichen Formen, die wie Ohren oder Kappen wirken. Die linke obere Kopfhälfte wird flankiert von aufgereihten grünen Punkten. Die Figur steht vor einem sandig-gelben Hintergrund, der keinerlei räumlichen Bezug bietet, der aber durch klare Linien in drei große Felder unterteilt ist, welche der Aufteilung der Figur in Kopf, Oberkörper und Unterleib folgen. Während der untere und der mittlere Abschnitt kaum gestaltet sind, fällt der obere Teil des Hintergrundes durch eine Aufsplitterung in geometrische und andere Formen auf. Vom rechten oberen Bildrand her ragt eine weiche malerische und geschwungene Linie in das Bild.

„Alba“ als figurale Verbindung von Physiologie und Technik – medizinisch-physiologische Aspekte Ausgehend davon, dass Hagedorn versuchte, in seinen Werken die Darstellung der Abläufe im Inneren des menschlichen Körpers mit Elementen aus Technik und Maschinenwelt in Einklang zu bringen, so zeigt er mit „Alba“ eine der anmutigsten Darstellungen dieser Verbindung in seinem gesamten Werk. Hagedorn verleiht „Alba“ kein Gesicht, sondern lenkt den Blick in das Innere des Kopfes. Das komplexe Zusammenspiel aus Formen und Farben ist ein Synonym für die Komplexität des Gehirns, zum einen hinsichtlich seiner Funktionsweise, zum anderen hinsichtlich des – oft genauso – komplexen Gedankenspiels, welchem der Mensch sich bisweilen ausgesetzt sieht. Der Kopf beinhaltet das Gehirn, neben dem Herzen ist es das überlebenswichtigste Organ. Vergleicht man Albas Kopf mit der Studie „Circuit“ (Abb. 16) aus 1971, so erkennt man Parallelen in der Farbgestaltung und in der musterhaften Aufteilung. Auch wenn der Körper weithin sichtbar vorhanden ist, so changiert dieser dennoch zwischen menschlichem Körper und technischem Gerät.

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Begrenzt man die Darstellung auf nur eine Funktion des Kopfes, so reduziert sich diese Kreisform zu einem Auge, konzentriert auf die Pupillarzone, der weiße Binnenkreis und auf die Ziliarzone, der vielgestaltige, farbige Außenkreis, der Iris. Die sogenannte Irisdiagnostik teilt die Regenbogenhaut in zahlreiche Facetten auf, von denen jede für ein bestimmtes Organ, ein Körperteil oder eine Körperfunktion zuständig ist.403 An Veränderungen der Iris in dem jeweiligen Segment kann abgelesen werden, ob in dem zugewiesenen Körperteil eine Erkrankung vorliegt. Aufgrund Hagedorns medizinischen, vor allem aber neurologischen Interesses ist es möglich, dass er von dieser Diagnosemöglichkeit wusste, und somit den Kopf beziehungsweise das Auge als Stellvertreter für das gesamte körperliche System setzte, das für ihn so prägend war. Im medizinischen Verständnis ist das Auge Teil des Visuellen Systems und transportiert die erfassten Sinneswahrnehmungen über die Sehbahn in das Gehirn.404 Damit trägt Hagedorn mit der Konzentration des Kopfes auf das Auge, diesem Sinnesorgan Rechnung, wie es auch in der Arbeit „Monitor“ (Abb. 197) der Fall ist, ohne eindeutig zu benennen, allein hinsichtlich der Ausgestaltung, ob er tatsächlich ein Auge darzustellen versucht hatte. Dies lässt an Max Ernsts „La roue de la lumière“ denken, welches der Betrachter zwar zunächst eindeutig als menschliches Auge wahrnimmt, jedoch von Ernst aus dessen körperlichen Kontext entnommen wird.405

Technische Aspekte Genauso kann dieser „Kopf“ aber auch als ein technisches Konstrukt oder besser als die Zeichnung dessen betrachtet werden. Hagedorn arbeitet mit einzelnen, klar definierten Flächen, die über und nebeneinander entweder klar begrenzt oder durch gestrichelte Linien getrennt sind. Die untere Hälfte des Kreises ist in ein großflächig gegliedertes Rechteck eingeschrieben und in der kleineren, aus drei Ringen bestehenden Form links unterhalb finden sowohl der „Kopf“ als auch das weiße Loch eine Entsprechung. So erinnert dies beispielsweise an Zeichnungen

403 Die Irisdiagnostik ist Teil der Alternativmedizin, kann nicht theoretisch begründet werden und ist somit schulmedizinisch nicht anerkannt. Die Ursprünge liegen in der ägyptischen Medizin. 404 Vgl. E. Dodt: Lichtsinn, in: Keidel, Physiologie, S. 17.22-17.25. Und zur Anatomie der Iris: Andreas Berke: Biologie des Auges. Eine Anatomie und Physiologie des Auges. Mainz 1999, S. 124-141. 405 Vgl. hierzu die Bildintentionen Max Ernsts sowie Abb. 47, in: Bender, Kreativität durch psychische Automatismen, S. 143-144. 187

für Antriebe, die durch Übersetzung funktionieren, wo also mittels eines Riemens oder einer Kette ein kleines und ein großes Rad miteinander verbunden sind und so Kraft übertragen wird. Ein einfaches System, welches Hagedorn von Kindesbeinen an aus dem elterlichen Sägewerk kannte. Damit zeigt Hagedorn den Kopf zum Beispiel als das Schwungrad einer Dampfmaschine und macht ihn damit zum Antrieb für die gesamte Maschine – oder eben für den Menschen – womit wiederum die Metapher des Kreislaufs bedient wäre. Im Vergleich mit einer Konstruktionszeichnung einer Dampfmaschine, übernimmt „Alba“ deren prägende Bauteile. Somit übernimmt Albas Kopf die Position des Schwungrades, die elegante, in Anlehnung an die Ästhetik Légers metallisch glänzende, Röhre der Wirbelsäule wird zur kraftübertragenden Pleuelstange und der Körper zum Dampfkessel (Abb. 204).

Bildvergleiche Selbstverständlich evoziert die Gegenüberstellung des Hüftstücks der „Alba“ mit der schematischen Zeichnung einer einfachen Dampfmaschine auch den Gedanken an Francis Picabias „Marie“ aus dem Jahr 1917 (Abb. 205).406 Es handelt sich um eine, einer Konstruktionszeichnung ähnliche, Darstellung eines Motors mit vierblättrigem Propeller, derer und ähnlicher Picabia um 1917 mehrere gezeichnet und vorrangig sexuell konnotiert hatte, unter der Vorstellung, dass stetig drehendes Räderwerk oder angetriebene Propeller einer permanenten sexuellen Attraktion und Aktion gleichkommen.407 Anknüpfungspunkte zwischen „Alba“ und „Marie“ sind die Bildbetitelungen mit weiblichen Vornamen, die in die Konstruktion einbeschriebene, weich kurvierte Weiblichkeit sowie die Gegenüberstellung einer zentralen und einer komplementären Kreisform, die Interaktion anzeigen. Bei Hagedorn verweisen sie auf die stetige, nicht ruhende Aktion des Kreislaufs, bei Picabia auf die erotische Komponente der Frau, die in Interaktion mit einem Gegenüber funktioniert. Da Hagedorn eine schöne, attraktive Person in körperbetonter Kleidung darstellt, könnte ein sexueller Kontext überlegt, jedoch nicht in den Vordergrund gestellt werden. Dennoch darf an dieser Stelle, hinsichtlich einer kompositorischen Konnexion von Dampfmaschine und Frau auf die Arbeiten von Georg Scholz und

406 Marie war abgebildet in Picabias Zeitschrift 391. Nr. 5 (1917). März 1917, S. 5. 407 Vgl. Funken, Maschine, S. 46f. – Vgl. Christian, Studien zu Picabia, S. 34f. 188

Jean Veber aufmerksam gemacht werden, die erotisch bekleidete Frauen in aufreizenden Posen auf oder neben Dampfmaschinen zeigen und eine Metapher bilden für eine sexuelle Interaktion zwischen Mann und Frau, worin der Mann zwar mit der starken Maschine konnotiert, aber von der Frau beherrscht wird. Hagedorn knüpft nicht an diese Sichtweise an, jedoch sind diese Arbeiten frühe, erotisch-positive Verbindungen von Mensch und Maschine und nehmen die, für Hagedorn relevante, Dampfmaschine zum Bildinhalt.408 Schlussendlich erinnert diese Kopfscheibe auch an das Aussehen der Compact Disc (CD), die wie das Gehirn ein Speichermedium ist. Der von Computertechnologie begeisterte Hagedorn kann von dieser zur Entstehungszeit des Bildes neuartigen Entwicklung409 bereits gewusst haben.

Besondere Exposition: Wirbelsäule und Herz In „Alba“ agieren Kopf und Körper um die Mittellinie des Bildes herum. Das verbindende Element ist die markante Rückenlinie, die fast zu gleichen Teilen sowohl die linke als auch die rechte Bildhälfte berührt. Hinsichtlich Hagedorns neurologischer Faszination kommt ihr eine besondere Bedeutung als Wirbelsäule zu, verbunden mit dem Verweis auf das Rückenmark, also dem Sitz des Nervensystems. Sie trägt den „Kopf“ und ist neben ihm das auffälligste Bildelement. Aus der technischen Sichtweise heraus übernimmt diese Rückenlinie, die ohnehin die Anmutung eines Rohres aus glänzendem Metall hat, die Funktion entweder eines Verbindungsrohres oder – um im Beispiel der Dampfmaschine zu bleiben – die Funktion einer Pleuelstange, in überzeichneter Form, die dafür zuständig ist, die Drehbewegung des Schwungrades in die lineare Bewegung eines Kolbens zu übertragen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es eine ebensolche Funktionsweise sowohl im Skelett von Wirbeltieren gibt, als auch in der Gehörknochenserie des Menschen, nämlich in Form des Ambosses, der für die Übertragung der Schallwellen zuständig ist.410

408 Vgl. Funken, Maschine, S. 121-128. Es handelt sich um die Arbeiten „Fleisch und Eisen“ von Georg Scholz, 1923, verschollen, Abb. 63, in: Funken, Maschine, und Jean Veber: „Allegorie auf die Maschine, die die Männer verschlingt“, 1900, Abb. 64, in: Ebd. 409 Die erste Compact Disk, ein optisches Speichermedium, wurde in den Jahren zwischen 1980 und 1982 auf dem internationalen Markt eingeführt. Vgl. Jürgen Karl Lang: Das Compact Disk Digital Audio System: ein Beispiel für die Entwicklung hochtechnologischer Konsumelektronik. Aachen 1996, S. 56. 410 Vgl. Wolf Dieter Keidel: Physiologie des Gehörs, in: Keidel, Physiologie, S. 18.10. 189

Hagedorn ergänzt seine Visualisierung vom Zusammenspiel der Abläufe im Organismus durch ein drittes exponiertes Merkmal, mit dem er auf das neben Gehirn und Nervensystem weitere existenzielle Element des Körpers hinweist, das Herz. Exponiert setzt er es „Alba“ direkt auf die Brust. Die vielgestaltige, aufgefächerte Form deutet die ständige Bewegung des Herzens an. Der grüne Pfeil, der direkt in die Mitte weißt, lässt die Relevanz dieses Organs evident werden. Eine optische Verbindung dieser drei wichtigen Elemente des Körpers bilden die roten Formen, die wie Marker an oder um diese Stellen angebracht sind.

Formale Inspiration: Drei Frauenportraits von Francisco de Goya In der Bildbetrachtung von „Alba“ liegt alsbald eine formale wie titelimmanente Nähe zu den Darstellungen der „Herzogin von Alba“ von Francisco de Goya. Zwei seiner Portraits der Herzogin sind sehr bekannt, das um 1795 entstandene im weißen Kleid (Abb. 206) und das zweite, nur zwei Jahre später gemalte, im schwarzen Gewand (Abb. 207).411 Es ist vorauszusetzen, dass Hagedorn, der sein eigenes Werk tief in der europäischen Kunst verwurzelt hatte, die Werke Goyas kannte. In Verbindung mit seiner eigenen Werkgenese, könnte er daran in erster Linie Goyas realistische und moderne Darstellung des Menschen geschätzt haben. Die Arbeit „Alba“ dient hierfür als Beleg. Betrachtet man Goyas Portraits der Herzogin, so fällt eine zurückhaltende Farbigkeit auf, die in dem entgegengesetzten Rot eine Akzentuierung erfährt. Jeweils an Kopf und Oberkörper setzte Goya diese Farbe ein, in der früheren Arbeit in Gestalt einer fünffachen Schleife im Haar, einer Halskette, einer Schleife auf der Brust und einer Schärpe. In der späteren Darstellung sind es ebenfalls die Taille, die beiden Ärmel und ein heller Kopfschmuck unter dem Schleier. Wie soeben angesprochen, wiederholt Hagedorn dieses Schema mit den roten Akzenten am Kopf, auf der Brust und in der Taille. In der Detailbetrachtung des Schleiers in der Darstellung der Herzogin im schwarzen Gewand, erkennt man vor

411 Goya stellt die Frau in beiden Portraits aufrecht und würdevoll dar. Dabei wollte er ihr eine gewisse Intimität verleihen, indem er sie in ruhige Landschaften staffierte und ihr entweder, wie in der Darstellung im weißen Gewand, einen kleinen Hund an die Seite stellte oder, wie in der Darstellung im schwarzen Gewand, sie auf eine Inschrift „Solo Goya“ im Sand deuten ließ, die womöglich auf ihn selbst als den Geliebten verweist. Hagedorn adaptierte die Würde durch die elegante Haltung, die er seiner „Alba“ verlieh, die Intimität erhält sie durch die gänzliche Reduktion des Gesichts. Vgl. Werner Hofmann: Goya. Vom Himmel durch Welt zur Hölle. München 2003, S. 61-71. 190

allem in derjenigen Schleierpartie, die auf dem Oberkopf aufsitzt, Goyas annähernd prismatische Malweise, mit der er die Transparenz des Schleierstoffes anzeigt. Dies wiederholt Hagedorn in seiner vielgliedrig aufgefächerten Kopfscheibe seiner „Alba“. Steht Hagedorns Arbeit „Alba“ in der Betrachtung als moderne Reminiszenz an einen Protagonisten der europäischen Kunstgeschichte, Goya, so mag ein anderes Portrait aus dessen Werk, zehn Jahre vor der weißgekleideten Alba entstanden, Hagedorns Darstellung noch stärker beeinflusst haben. Das Portrait der „Herzogin von Osuna“ (Abb. 208) erscheint wie eine Vorlage für „Alba“. Sowohl Hagedorns als auch Goyas hochformatige Arbeiten haben einheitliche Hintergründe. Beide Darstellungen füllen den Bildraum zu ähnlichen Anteilen aus. Goyas Herzogin ist dem Betrachter zwar im Dreiviertelprofil zugewandt und streckt die Arme leicht von sich, während Hagedorns Alba statisch im Profil verweilt. Aber in beiden Darstellungen ist die Brust stark durch eine abstrakte Form, beziehungsweise durch eine große Schleife akzentuiert, der Rock des Kleides teilt sich bei Goya in einfarbigem Stoff und gestickter Zier auf, auch Hagedorn setzt den Rock farbig ab. Der Kopf der Herzogin ist durch die Frisur und durch den großen Hut stark betont, was auch in Hagedorns Arbeit der Fall ist, aber wenn man die dunklere linke Fläche, die hellere rechte Fläche, sowie die geschwungene Linie um den Kopf herum entsprechend betrachtet, so trüge auch Hagedorns Alba einen Hut.412 Motiv und Titel geben Aufschluss über Hagedorns Inspiration durch die Werke Francisco de Goyas. Hagedorn hatte betont, dass die Malerei des Spätbarocks und des Klassizismus‘ keinerlei Auswirkungen auf seine eigene Kunst gehabt habe.413 Dem ist beizupflichten, dennoch entstammen die genannten Vorbilder für „Alba“ dieser Zeit. Vor dem Hintergrund Hagedorns künstlerischer Position zwischen europäischer Bildtradition und zeitgenössischer amerikanischer Kunst, ist die Reminiszenz an Goya auch eine Reminiszenz an seine eigene künstlerische Herkunft, denn Goya war ein früher Wegbereiter der klassischen Moderne, welcher Hagedorn so viel Inspiration entnommen hatte. Vor allem in Goyas

412 In diesem Portrait ging es Goya auch um die Darstellung der opulenten Stofflichkeit der Garderobe, die er in vielen zarten farblichen Nuancen darstellte. Vor allem die aufwendige Frisur und der ausladende Hut stehen im Bildmittelpunkt, der Gesichtsausdruck dagegen ist eher zurückhaltender Art. Hagedorn adaptierte diese Pointierung, indem er gänzlich auf ein Gesicht verzichtete und dennoch den Kopf mit der prismatischen Kreisform überbetonte. Vgl. José Gudiol: Goya. 1746-1828. Biographie, Analyse Critique et Catalogue des Peintures. Bd. 1. Paris 1970, Abb. Nr. 165. „La Duchesse D’Osuna“, S. 245. 413 Vgl. Kat. Kunsthalle, S. 17. 191

früheren Werken nimmt die Bildniskunst eine zentrale Position ein. Hierin findet sich eine verbindende Linie zu Hagedorns eigener Werkgenese, die stark von der Portraitmalerei geprägt war.414 Und mit seiner Aussage „…colour is for me the binder…“415 belegt Hagedorn die Relevanz der Farben in seiner Malerei. Goya hatte in seinen Werken zunächst eine stark an die Malerei des Rokokos angelehnte Farbkultur gepflegt, in der erst die Farben die Bildstimmung generierten, später wurde sein Farbeinsatz dramatisch und ergreifend. Die Konzentration auf klar angelegte Bildnisse und der pointierte Einsatz von Farbe sind greifbare Berührungspunkte zwischen den beiden Werken. Goyas Realismus hingegen findet in Hagedorns Arbeit keinen Niederschlag.416

3.2.5.4.2 Die formentleerte Kreisform

Die formentleerte Kreisform besteht aus einem umschließenden schwarzen oder farbigen dünnen Kreis, dessen Fläche meist in weißer bis hellblauer, zumindest sehr heller Farbigkeit entweder flächig oder modellierend gefüllt ist. Bisweilen tritt diese Form einzeln oder paarweise in Hagedorns Bildkonstruktionen auf. Die entleerte Form ist allen anderen Kreisformen diametral entgegengesetzt und ist in den Gemälden mit zwei Bedeutungsfunktionen verknüpft. Zum einen steht sie für eine Umkehrung der hohen Formenkomplexität. Das bedeutet, dass Hagedorn gerade in seinem Spätwerk zu einer Vereinfachung seiner Bildstruktur gefunden hatte und als Markierung dessen diese stark vereinfachte Kreisform einsetzte. Die andere und auch früher erscheinende Funktionsweise der entleerten Kreisform ist der Verweis auf das menschliche Auge, oftmals in Zusammenhang mit der in diesen Jahren sich entwickelnden Computertechnologie und der optischen Geräte. In der intensiven Betrachtung der Arbeit „Alba“ (Abb. 202) wurde die Konzentration der Kreisform, die den Kopf dieser Figur bildet, auch unter dem Aspekt betrachtet, dass es sich nicht mehr um den Kopf im Ganzen, sondern nur noch um die Darstellung einer einzigen Sinnesfunktion, hier das Sehen,

414 Zu der Relevanz des Portraits bei Goya vgl. Fred Licht: Goya. Beginn der modernen Malerei. Regensburg 1985, S. 225-264. 415 Karl Hagedorn zitiert aus der Sammlung an Zitaten von Karl Hagedorn und anderen Künstlern, gedruckt anlässlich der Beisetzung Karl Hagedorns in Philadelphia 2005. 416 Zum Realismus in den Werken Francisco de Goyas vgl. Pierre Gassier/Juliet Wilson/Francois Lachenal: Goya. Leben und Werk. Köln 1994, S. 240-245. 192

handelt.417 Innerhalb der Kreisform findet demnach eine Konzentration auf das Auge statt, das damit zum Stellvertreter für den gesamten Kopf wird und damit für den Menschen. Die Gestaltungform aus leerem Zentrum und facettenreicher Umgebung legt die Interpretation als Pupille und Iris nahe, auch unter Beachtung des medizinischen Interesses Hagedorns. Die Erscheinungsformen und Aufgaben der Kreisformen als Stellvertreter des Menschen konnten bislang für organische Abläufe im Inneren des menschlichen Körpers oder als Verweis auf das Gehirn klassifiziert werden, die damit eine Funktion als pars pro toto für den gesamten menschlichen Körper übernehmen. Eine Fokussierung auf nur ein Sinnesorgan oder auf eine Sinnesäußerung wird in den folgenden Ausführungen dargelegt, zunächst anhand der entleerten Form als eine Scheibe als Verweis auf das Auge sowie im Anschluss anhand der entleerten Form als Kugel als Stellvertreter für Sprache.

„Monitor“: die formentleerte Kreisform als Auge Der entleerten Kreisform steht der Betrachter ab 1980 gegenüber. Die Arbeit „Monitor“ (Abb. 197) aus diesem Jahr ist damit ein weiterer Beleg für Hagedorns künstlerische Interpretation medizinischer Fakten und für das Stellvertreterdasein der Kreisform für den Menschen. Das zentrale Bildmotiv ist das Auge und die Funktionsweise des Sehens.

Kunsthistorische Relevanz des Motivs „Auge“ Das Auge selbst nimmt in der Kunstgeschichte eine relevante Rolle ein. Es findet seine Abbildung als Zeichen des Abwehrzaubers bereits seit dem Neolithikum418 auf Waffen und Gerät. Zudem ist es Bestandteil der Symbolik der christlichen Kunst, strahlenumkränzt oder in ein Dreieck eingeschrieben als Zeichen für den allsehenden Gott und dessen Licht und Erkenntnis in Verbindung mit der

417 Unter Beachtung der facettierten Darstellung des Kopfes der „Alba“ sowie dessen Erscheinungsform als Sinnesorgan Auge, besteht die bereits angesprochene optisch-formale Verbindung zu schematischen Karten der sogenannten Irisdiagnostik (Abb. 210). 418 Vgl. Art. „Auge“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 1. Leipzig 2004, S. 341. Und auch auf Amuletten gegen den bösen Blick, vgl. Lore Kaute: Art. „Auge, Auge Gottes“. In: Engelbert Kirschbaum SJ (Hg.): Lexikon der Christlichen Ikonographie. Bd.1. Rom, Freiburg, Basel, Wien 1968, Sp. 222- 224. 193

Trinität.419 In architektonischer Terminologie bedeutet ein Auge die Öffnung im Scheitel einer Kuppel, sowie die Scheibe in der Schnecke ionischer Kapitelle, zudem gibt es die Fensterformen des Bullauges sowie des Ochsenauges.420 Da in Verbindung zu Hagedorns Einsatz der Kreisformen bereits auf die Ornamentik verwiesen worden ist, liegt auch hier der Aspekt des Augenornamentes nahe. Die Ornamentik Mesopotamiens, diejenige in Europa seit der Bronzezeit und schließlich eine weltweite Ausbreitung auf indianische Kulturen Nordamerikas aber auch Polynesiens, kannten das Augenornament.421 Die Buchmalerei der Ottonik kannte eine Überhöhung in der Darstellung der Augengröße und Leonardo da Vinci hatte sich in einer Studie Gedanken über das Gesichtsfeld des Auges gemacht (Abb. 209). Der Surrealismus nutzte das Auge als ein Motiv, um abstrakte Handlungsmuster, wie beispielsweise den Voyeurismus darzustellen, wie René Magritte mit „Der falsche Spiegel“ (Abb. 147); als eine radikale Auslöschung des durch mediale Überflutung verdorbenen Auges, als eine Kritik auf die Sehweisen des 20. Jahrhunderts, kann Dalís „Ein andalusischer Hund“ gewertet werden. Picasso setzte das Auge als Sichtbarmachung seiner gleichzeitigen Mehransichtigkeiten von Gesichtern ein422 und Fotographie und Videokunst übernahmen schließlich die Funktion des Sehens in Stellvertretung für den Betrachter. Wie es bereits mit der christlichen Augensymbolik, spätestens jedoch mit Magritte anklingt, funktioniert das Auge als ein pars pro toto für den gesamten menschlichen Körper und verweist damit auf die Spitzenposition des Sehsinns unter den körperlichen Sinnen.423 Das Auge, verknüpft mit unterschiedlichen Bedeutungsgehalten, sei es als Einzelerscheinung oder als Teil des menschlichen Körpers ist epochenübergreifender Bestandteil der bildenden Künste.

419 Frühchristliche Darstellungen beziehen sich zunächst noch auf das böse Auge. Als in ein Dreieck eingeschriebenes Auge mit Strahlenkranz, symbolisiert das Auge die Allgegenwart der Dreifaltigkeit. Ebd. 420 Vgl. Art. „Auge“. In: Günther Wasmuth (Hg.): Wasmuths Lexikon der Baukunst. Bd. 1. Berlin 1929, S. 233. 421 Vgl. Art. „Augenornament“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 1. Leipzig 2004, S. 341. 422 Picasso hatte für seine Augendarstellungen einen klaren Ausdruck postuliert, vgl. Ulrich Weisner: Vom zeichenhaften Sinn der surrealistischen Bilder Picassos, in: Ders. (Hg.): Picassos Surrealismus. Werke 1925-1937. Kat. Ausst. Ostfildern 1991, S. 150. 423 Zu der Funktion des Auges als ein pars pro toto für den gesamten Menschen vgl. Sabine Flach: Das Auge. Motiv und Selbstthematisierung des Sehens in der Kunst der Moderne, in: Benthien/Wulf, Körperteile, S. 60. Und zur Relevanz des Auges vgl. Wolfgang Kemp: Augengeschichten und skopische Regime, Merkur 45 (1991), S. 1162-1167. 194

Künstler wie Tony Oursler haben in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Auge durch die Kamera ersetzt, in Ourslers videographischem Werk übernimmt die Kamera die Funktion des Auges als permanenten Beobachter.424 Das evoziert wiederum eine begriffliche Nähe zu Werken Hagedorns, welche Titel wie „Controller“ oder „Monitor“ tragen.

František Kupkas forschendes Interesse am menschlichen Auge Obwohl Kunst in direkter Abhängigkeit zum Sehen steht, existieren nur wenige, abgesehen von da Vincis Studie, künstlerische Umsetzungen des Sehvorganges an sich, wie ihn Hagedorn in „Monitor“ visualisiert. Eine Ausnahme bildet der forschende und umfassend naturwissenschaftlich interessierte Kupka. Er plädierte dafür, dass die Kunst ihre eigenen Wege zur Erkenntnis den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung, die dem Künstler so viel mehr an schöpferischer Vielfalt böten, hintenan zu stellen.425 Hagedorn hatte sich höchst interessiert und intensiv mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen und mit den medizinischen Funktionsweisen des Körpers auseinandergesetzt; Kupka ist dahingehend noch weiter gegangen und hatte naturwissenschaftliche und medizinische Vorlesungen an der Sorbonne besucht. Kupka versuchte, seine Formen auf der Vergleichbarkeit der Formen in allen Teilbereichen der Natur zu begründen, vor allem mit Gehirn und Auge hatte er sich intensiv auseinandergesetzt, einerseits hinsichtlich deren wahrnehmender Funktion, andererseits hinsichtlich deren Form.426 Er hatte sich mit mikroskopischen Aufnahmen des Auges und der Netzhaut auseinandergesetzt und reflektierte über diese Strukturen in seinen Arbeiten.

424 So projiziert Tony Oursler Aufnahmen von Augen auf große Kugeln, welche im Raum liegen und den Betrachter damit aus jeder Position beobachten, gleich einer Überwachungskamera: Tony Oursler (Regie): Criminal Eye. USA 1995, Videoinstallation (Farbe, Ton). Damit sei dem Einsatz der Kugel als Träger einer Sinnesfunktion bei Karl Hagedorn vorausgegriffen (3.2.5.4.4). Zu den Relationen von Videokunst, Sehen und Gesehenwerden vgl. Thomas Janzen: Tony Oursler, in: Sylvia Martin, Beate Ermacora: Anonyme Skulpturen. Video und Form in der zeitgenössischen Kunst. Kat. Ausst. Nürnberg 2010, S. 35. Bereits Hans Bellmer setzte in Zeichnungen Augen auf (Körperteilen entlehnten) weiche Formen, vgl. Schmied, Bellmer, S. 136. 425 In seiner kunsttheoretischen Schrift „Die Schöpfung in der bildenden Kunst“ verweist František Kupka auf das menschliche Auge als komplexes Organ, rekapituliert seine eigenen wissenschaftlichen Studien zum Sehvorgang und beschreibt die Relevanz des Sehens für die Kunst, vgl. František Kupka: Die Schöpfung in der Bildenden Kunst. Herausgegeben und übersetzt von Noemi Smolik, in: Dies.: Die Schöpfung in der Bildenden Kunst. Ostfildern-Ruit 2015, S. 7-157. (Originalfassung in tschechischer Sprache). – Vgl. Jaroslav Anděl: Wanderer zwischen Chaos und Ordnung, in: Anděl/Kosinsky, Kupka, S. 87. 426 Ebd. 195

„Monitor“ Wie es für Hagedorns Malerei üblich geworden ist, ist die Komposition in „Monitor“ für den flüchtigen Betrachter als eine erfundene Maschine, als eine Sicht auf den Arbeitsplatz eines technischen Zeichners oder als rein abstrakte Komposition vollständig gültig. Bei näherer Auseinandersetzung offenbart sich Hagedorns Verständnis für die Funktionsweise des Sehens und verweist auf eine Auseinandersetzung mit schematischen Zeichnungen in medizinischen Lehrbüchern (Abb. 211+211a). Das Zentrum, die große entleerte Kreisform, befindet sich in der oberen Bildmitte, entsprechend zu den vorangegangen besprochenen Bildern. Da sie jeglicher ornamentalen Binnengestaltung entbehrt, ist sie lediglich umrandet von einem breiten weißen Kreis sowie von einer dünnen dunkelblauen Linie. Im Inneren modelliert Hagedorn den Kreis mit einem Farbverlauf von hellem Blau hin zu reinem Weiß so, dass annähernd der Eindruck einer Kugel entsteht. Nach oben hin setzt ein kleines gelbes Rechteck an und zur rechten Seite hin tritt eine Folge aus Buchstaben und Zahlen aus. Um in der Denotation des Auges zu bleiben, bildet Hagedorn hiermit den Glaskörper ab. Damit wird der dünne dunkelblaue Rand zur Retina, der dicke weiße Rand zur Lederhaut. Das vorgelagerte gelbe Rechteck wird in dieser Lesart zur Hornhaut oder aber zur Linse, die jedoch eigentlich innenliegt. Die Buchstabenkombination erinnert einerseits an eine Codierung aus der Informationstechnologie und lässt Hagedorns Konstrukt auch immer noch als Technikum weiterexistieren. Andererseits bildet dieser Code dasjenige ab, was das Auge sieht.427 Die unter der Kreisform, oder im Sinnzusammenhang unter dem Glaskörper liegende Bildkonstruktion verweist auf den komplexen Verarbeitungsprozess des Gesehenen im Gehirn. In Interpretation der linken breiten und geschwungenen weißen Bahn als Sehnerv, so leitet dieser den Blick des Betrachters direkt in das von Hagedorn freigelegte visuelle System. Die im Bildzentrum liegende und hochkomplex komponierte Konstruktion aus verschiedenen kleinen Formen geometrischen und freien Ursprungs sollen als Thalamus gedeutet werden, der die ein- und ausgehenden Informationen für das Gehirn moduliert. Informationseintritt, Verarbeitung und Wiederaustritt sind Motivgrundlagen, die auch in bereits besprochenen Werken inhaltlichen Anteil haben. Der größer

427 Hierbei darf auch an die Tafeln mit Buchstaben und Zahlen gedacht werden, die für Sehtests eingesetzt werden. 196

flächig gestaltete Bereich, der nach rechts unten die Komposition abgrenzt, ist eine Kombination aus Hirnstamm und Sehrinde, die in medizinischer Literatur schematisch ebenso gelb markiert wird, wie sie Hagedorn hier gelb akzentuiert. Betrachtet man die Komposition in ihrer Gänze so ergibt sich ein äußerer Formenverlauf von breit geschwungenen Bahnen, die sich in der Bildmitte kreuzen und wieder auseinanderlaufen, ähnlich einer Acht. Um überhaupt sehen zu können, benötigt es Lichtreflektion und Licht besteht aus elektromagnetischen Wellen, womit Hagedorn einmal mehr Medizin und Technik in Einklang bringt. Das Gesehene tritt in die Pupille ein und wird auf der Netzhaut seitenverkehrt, auf dem Kopf stehend abgebildet.428 Das Auge und das Sehvermögen als Teil des visuellen Zentrums bestimmen in einem hohen Maße den Alltag, die Informationsaufnahme und deren Verarbeitung. Visuelle Medien sind die vorherrschenden Medien, ein Verlust der Sehfähigkeit ist in höherem Maße mit Isolation verbunden, wie beispielsweise der Verlust der Hörfähigkeit, da der Mensch als visuelles Wesen viel stärker auf die Wahrnehmung seiner Umwelt über das Auge denn über das Ohr geschult ist.429 Das Augenmotiv in künstlerischen Werken regt an, über Wahrnehmung, Sehen und den Blick generell nachzudenken. Mit Erfindung der Fotografie und spätestens mit dem Einsatz von Film und Videokunst wurde der Künstler zu einem Stellvertreter des Betrachterauges. Hagedorn fügt der Augendarstellung mit einer semi-wissenschaftlichen, malerischen Interpretation des Sehvorgangs einen neuen Aspekt hinzu. Im direkten Vergleich der Arbeit „Monitor“ mit Leonardo da Vincis Studie ergeben sich Parallelitäten in der Gestaltung. Beide setzten den Glaskörper als zentralen Bildursprung ein. Leonardo da Vinci interessierte sich für dasjenige, was vor dem Auge liegt, suchte damit das Gesichtsfeld zu markieren. Die Verarbeitung des Gesehenen hinter dem Auge beziehungsweise im Gehirn bleibt in dieser Studie unbeachtet. Kupkas Zeichnung „Auge im Profil“ (Abb. 232) gleicht einem lehrbuchartigen Querschnitt durch den Glaskörper. Da Vinci illustrierte demnach in erster Linie das Gesichtsfeld, Kupka konzentrierte sich auf das formale Verständnis des Auges, um dessen Strukturen in Abstraktion

428 Vgl. zur Anatomie des Auges Engel, Neurowissenschaften, S. 307. – Vgl. zur Funktionsweise des zentralen visuellen Systems Ebd., S. 342-346. — Vgl. Klaus Golenhofen: Basislehrbuch Physiologie. 4., überarb. und aktual. Aufl. München, Jena 2006, S. 425-447. 429 Die Verarbeitung des Gesehenen im Gehirn ist so aufwändig, dass die menschliche Großhirnrinde bis zur Hälfte ihrer Kapazität mit diesem Vorgang ausgelastet ist. Vgl. Engel, Neurowissenschaften, S. 304. 197

zu übersetzen. Hagedorn zeigt eine Gesamtschau des visuellen Systems, vom Sehapparat, dem Auge, über eine Abbreviatur des Gesehenen, also die Buchstaben- und Zahlenfolgen, einschließlich der Funktionsweise des visuellen Zentrums, also innerhalb des Gehirns, dar. Eine Gemeinsamkeit mit da Vinci bilden die der Darstellung beigefügten Informationen aus Zeichen. Da Vinci weißt jeder gezeichneten Sehlinie einen Buchstaben zu. Hagedorn gibt dem Auge eine codierte Kombination aus Zahlen und Buchstaben zu sehen. Die Verarbeitung findet dann zum unteren Bildrand hin statt. An der Stelle, an der das Rückenmark aus dem Gehirn austritt, beginnt eine Zahlenreihe, bestehend aus „8, 9, 0“ und einer vom unteren Bildrand angeschnittenen „1“. Eine perfekte Klammer, die die gesamte Darstellung fasst, da das visuelle System Teil des zentralen Nervensystems ist, welches wiederum seinen Sitz im Rückenmark hat.430 Mit Kupkas Zeichnung verbindet Hagedorns „Monitor“ die Konzentration auf den großen Glaskörper und die Anlehnung an schematische Darstellungen in Lehrbüchern. Darüber hinaus sind die drei Künstler aus unterschiedlichen Epochen über ihr tiefes naturwissenschaftliches Interesse miteinander verbunden, aus dessen eigenen Erkenntnissen sie ihre Werke zu schöpfen suchten.

3.2.5.4.3 Die formentleerte Kreisform als Scheibe

Hagedorn konnte die Kreisform auch von derart klarem Bedeutungsgehalt, wie dem des Auges, befreien. Betrachtet man jedoch eine Arbeit wie „Chantress“ (Abb. 212) aus dem Jahr 1980, so bleibt der Bezug zur menschlichen Figur gleichwohl evident. Es darf bereits hier behauptet werden, dass es Hagedorn mit Hilfe der entleerten Form gelungen war, sein bildnerisches Anliegen, die menschliche Figur aufzulösen, sie aber dennoch in den Bildaufbau zu integrieren, zu verwirklichen.

„Chantress“ und die formale Nähe zur Malerei Stuart Davis‘ Der Bildaufbau von „Chantress“ weist einen höheren Abstraktionsgrad auf. Vor orange-gelbem Fond ist eine kompakte, geometrisch basierte Konstruktion aufgebaut. Zunächst wird eine formale Verwandtschaft zu Stuart Davis „Owh! in San Pao“ (Abb. 213) aus 1951 deutlich. Davis‘ Einfluss auf Hagedorns Arbeit ist in verschiedenen Kompositionen sichtbar (3.2.7.3). Dies setzt Hagedorns

430 Vgl. H. Caspers: Zentralnervensystem, in: Keidel, Physiologie, S. 21–21.79. 198

Kenntnis der Werke Davis’ voraus und manifestiert damit neben den Bezügen zu Lindner eine weitere, wenngleich latente Annäherung Hagedorns an die US- amerikanische Kunst. Die starken Einflüsse der europäischen Moderne sind weithin relevant geblieben und darin lässt sich, genau wie bei Lindner, der Bezug zu der Malerei Davis’ einordnen. Zwar ist Davis eine wichtige Figur der amerikanischen Kunst und bereicherte die internationale Moderne maßgeblich um amerikanische Akzente, aber er vermischte die Tendenzen aus Hard-Edge und aggressiver Werbung mit Einflüssen der klassischen europäischen Moderne. So wie sich Hagedorn für die teils rasanten technologischen Entwicklungen interessierte und diese Tendenzen in seine Bildkompositionen einzufügen suchte, hatte Davis ein Vokabular entwickelt, um die Geschwindigkeit und teilweise Gleichzeitigkeit aller Entwicklungen in Amerika sichtbar zu machen. Sein Werk ist erfüllt von Energie, Dynamik und vitalem Rhythmus.431 Wie Davis hatte sich Hagedorn in „Chantress“ auf simple Formen und klare Farbigkeit beschränkt. Die leicht pastos aufgetragene Farbigkeit aus Davis‘ früheren Werken, welche Hagedorn stets beibehalten hatte, ist in „Owh! in San Pao“ verschwunden zugunsten eines geglätteten Farbauftrags. Beide Kompositionen sind kompakte Gebilde, jedoch wird Davis‘ Darstellung von unbändiger Dynamik auseinandergesprengt, die einzelnen Formen scheinen sich in schneller Bewegung zu befinden, der Betrachter fühlt sich an eine schnelle Abfolge von Leuchtreklame erinnert, wozu auch die eingefügten Worte, die Zahl sowie die schriftähnlichen Gebilde beitragen, sowie das Punktraster, welches ein Vorgriff auf Roy Lichtensteins Pop Art ist und damit den Bezug zu Werbung und großstädtischer Reklame noch verstärkt.432 Hagedorns Darstellung hingegen ist zu einem hochrechteckigen Block verfestigt. Doch im Inneren des Blocks herrscht ebenfalls Bewegung. Die starren großflächigeren Formen werden immer wieder durchdrungen oder überschnitten von kleineren, teilweise auch kurvolinearen Formen. Ähnlich wie in den vorangegangen Werken herrschen immer wieder Einschnitte von außen vor, so ist dies am oberen Rand des Blocks sichtbar,

431 Damit ist auch Stuart Davis motivisch und thematisch in das Umfeld Légers einzuordnen und verbindet europäische Einflüsse mit zeittypischen amerikanischen Tendenzen. Diejenigen Werke Davis‘, welche für Hagedorn als relevant eingestuft werden, gehören seiner Werkgruppe der schematischen Bildkonstruktionen an, welche bereits ab 1920 entstanden waren. Vgl. Herbert Read: Art. „Stuart Davis“. In: Kindlers Malerei Lexikon. Bd. 2. Zürich 1966, S. 44-46. 432 Vgl. Karen Wilkin: Stuart Davis. New York 1987, S. 200-202. 199

genauso im linken und rechten oberen Segment und am deutlichsten durch den quereinschneidenden breiten Balken an der unteren rechten Bildecke. In Konzentration auf die Kreisform, die zentral im oberen Bilddrittel angebracht ist, erscheint die Komposition dieser Arbeit als ein Vorgriff auf das 1986 entstandene Bild „Alba“. Definiert man die entleerte Kreisscheibe als Kopf, so wird die links darunter liegende schmale hellgelbe Form ebenfalls zur Wirbelsäule, die von rechts eingeschobene Klammer übernimmt die Funktion von Armen. Die Bildanlage ist eine spiegelverkehrte und stark verdichtete Fortführung von Werken wie „Controller“, „Ace“ und „The Gambler“. Während dort die komplexe Kreisform das Bild dominiert, tritt die entleerte Scheibe an deren Stelle und lässt damit einer Figürlichkeit Raum, die in den benannten Werken nahezu vollständig eliminiert war. Die Figürlichkeit in „Chantress“ greift also der klar zu erkennenden Figur in „Alba“ vor.

„Chantress“ und „Inversion on White“ als neue Kompositionsprinzipien Wie relevant diese Bildnisform für Hagedorn war, zeigt das seitenverkehrte Gegenstück zu „Chantress“, „Inversion on White“ (Abb. 214), da er sie in diesem Werk einundzwanzig Jahre später erneut aufgreift. Während Hagedorn in den bereits beschriebenen Werken das menschliche Gehirn oder das Sinnesorgan Auge zitiert, so wird in Werken wie „Chantress“ oder „Inversion on White“ die Figur wieder erkennbar. Das titelgebende „Chantress“ bedeutet in der deutschen Übersetzung eine weibliche Sängerin, es ließe sich zudem von dem englischen Wort „enchantress“ ableiten, was „Zauberin“ oder „Magierin“ bedeutet. Die titelgebende Bezeichnung gibt erneut einen deutlichen Hinweis auf eine weibliche Person und damit auf menschliches Dasein und menschliche Aktion. Die Person ist im Profil dargestellt und als Bruststück in das feste Bildgefüge integriert. Wie es auch der Komposition der Vergleichswerke entspricht, tritt, in diesem Fall nach rechts, ein weiteres Gebilde aus der oberen Kreisform aus. Eine blaue und eine gelbe Form fügen sich zu einen nach rechts weisenden Pfeil, der Zeichen enthält, die als die Abfolge der Buchstaben „n, d, b, n, a“ gelesen werden können. Stand der austretende Pfeil bereits in den früheren Arbeiten für den Informationsoutput im technischen Verständnis (3.2.5.3.2), so visualisiert Hagedorn hier den Gesang der dargestellten Sängerin oder die Sprache der

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Magierin. Diesen sprachlichen Ausstoß chiffriert und abbreviiert er durch die Buchstabenfolge. Auch in Davis’ Arbeit sind Worte und Buchstabenfolgen integriert, die er als zufällige Extrakte der allgegenwärtigen Reklame zitierte. Ob es sich nun um die permanente visuelle schriftliche Information handelt, die den modernen Menschen stetig umgibt oder um vokale Äußerungen, welche durch tonübertragende Medien ebenfalls zur gewohnten Umgebung gehören, sie finden jeweils Eingang in die Bildkompositionen Davis‘ als auch Hagedorns und lassen die Werke damit zu aktuellen Spiegeln ihrer zeitgenössischen Umgebung werden. Die portraitierte Sängerin in „Chantress“ ist eingebettet in eine abstrakt- geometrische Komposition aus klaren Farben, die Hagedorns formale Nähe zu den Werken der Farbfeldmalerei dokumentieren, insbesondere zu der scharfen Farbfeldabgrenzung im Hard-Edge eines Kenneth Noland, wobei er niemals die Härte der Kompositionen Ellsworth Kellys erreichte (3.2.5.1). In Abgrenzung zum Hard-Edge stehen der sichtbare Duktus sowie die partiell leicht pastos aufgetragene Ölfarbe. Die größte Differenzierung liegt in der Motivik, während Hard-Edge und Farbfeldmalerei nicht darstellend sind, so fügte Hagedorn die Farbflächen zu einer inhaltlichen Komposition zusammen. In der linken Bildhälfte wird die Komposition durch gestrichelte Konstruktionslinien (3.2.6.1) weitergeführt, die einem Ingenieur anzeigen, wo ein Materialumbruch einsetzt, was dem zweidimensionalen Werk den Ausblick auf eine dreidimensionale Umformung einbeschreibt. Das spätere „Inversion on White“ verfügt über eine gesteigerte Kompaktheit in der Bildkonstruktion und spricht der implizierten Figur eine weitaus maschinengleichere Anmutung zu, als dies in „Chantress“ der Fall ist. Die Inversion, eine Umkehrung, bezieht sich damit nicht nur auf die zu „Chantress“ spiegelverkehrte Darstellung, sondern auch um eine Wandlung im Umgang mit der Figur, zieht man die gedankliche Linie von „Chantress“ über „Alba“ zu „Inversion on White“. Während in „Chantress“ bereits die Farbigkeit des Bildgrundes und die organische Weichheit der bilddominierenden Scheiben dem Bild eine warme, figürlich- bewegte Präsenz verleihen, so ist die Figur in „Inversion on White“ von metallischer, spät erneut an Léger erinnernder Kühle umgeben. Übereinstimmung finden die Kompositionen hinsichtlich des Motivs und der vergleichbaren Binnengestaltung. Mit Rückgriff auf bereits bekannte Bildbestandteile müssen diese Arbeiten als Fortführung der bekannten Motive hin zu einer abstrakten

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Simplifizierung und Komprimierung der Formen bezeichnet werden. Dies sind die an die Konstruktionsweise des Haartrockners angelehnte Kreisform mit einer austretenden gebogenen Form und dem pfeilähnlichen Gebilde, welches den sogenannten Output visualisiert, die in früheren Arbeiten sehr komplex gestaltete Form wird nun komprimiert zu verblockten Farbflächen. Hinzu kommen das vierteilige Röhrchenkonstrukt (3.2.6.4), das nur mehr aus vier schmalen farbigen Rechtecken besteht sowie der zumeist diagonale Einschub am linken oder rechten unteren Ende der Komposition, der jetzt die Darstellung nicht mehr diagonal beschneidet, sondern als breiter roter Querbalken die Farbfelder durchtrennt. Diese Verblockung und damit einhergehende Vereinfachung spiegelt sich zum einen in der Entwicklung der Kreisformen von der komplexen Kreisform hin zur entleerten Kreisform und wird im Spätwerk auf die gesamte Bildstruktur übertragen. Die Abgrenzung der einzelnen Farbflächen und den sichtbaren Duktus im Farbauftrag behält Hagedorn jedoch bei. Wendet man in „Chantress“ den Blick an den unteren Bildrand so entsteht kontextbezogen zur Sängerin ein Bühnencharakter. Zum einen entsteht durch den schräg eingesetzten roten Balken gemeinsam mit dem Gegenkreis Räumlichkeit und Dynamik und zum anderen findet sich links unter dem mittigen blauen Halbkreis ein „a“. Bezieht man sich nun auf die Sängerin, ihre Bühnennähe, auf ihre durch die Buchstabenfolge visualisierte stimmliche Aktivität, somit wird der in ein gelbes Orthogon eingeschriebene blaue Halbkreis zu einem Souffleurkasten, der sich am Bühnenrand befindet, das „a“ zur Artikulation der Souffleuse. Beschreibt Hagedorn in Werken wie „Controller“ oder „Ace“ den Eintritt von Informationen oder Energie in ein Nervensystem oder in ein technisches Konstrukt, so vermittelt er in „Chantress“ die Informationsübertragung zwischen Sender und Empfänger. Einerseits zwischen Souffleuse und Sängerin, andererseits zwischen Sängerin und Publikum. Die formentleerte Kreisform als Scheibe geht einher mit der Reduktion und gleichzeitigen Verblockung der Bildformen und sie spiegelt, in Stellvertretung des Menschen, den ikonologischen Sachverhalt, dass es sich hier nicht um die Visualisierung der Prozesse im Inneren des menschlichen Organismus geht, sondern vorrangig um den Informationsaustritt, in Form von Sprache oder Gesang. Die Relevanz von Sprache und Kommunikation in den Werken Hagedorns wird im anschließenden Kapitel eine nähere Betrachtung

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erfahren. Hagedorn zeigt mit der entleerten Form als Scheibe zudem an, dass es ihm gelungen war, nach bereits völliger Eliminierung die menschliche Figur stark abstrahiert wieder sichtbar zu machen, ohne seine Kompositionsprinzipien preis zu geben.

3.2.5.4.4 Die formentleerte Kreisform als Kugel

Die Kugel als Trägerform der Stimme: Magritte, „Die Stimmen der Lüfte“ Im Jahr 1931 malte René Magritte das Werk „Die Stimmen der Lüfte“ (Abb. 215). Über einem sehr niedrigen Horizont und damit vor weitem, hohem und wolkenlosen Himmel schweben sich überschneidend drei Kugeln, die jeweils horizontal in zwei Halbkugeln getrennt sind. Diese Kugeln werden als Schellen interpretiert, die an Perkussionsinstrumenten wie dem Tamburin oder auch an Pferdegeschirre angebracht sind.433 Hier werden sie ihrer Funktion enthoben und zu Himmelskörpern umformuliert, die wie große Planeten über dieser Landschaft erscheinen. Lediglich ihre Aufgabe der Klangerzeugung geht mit der Betitelung konform. Diese Motivverfremdung ist ein surrealistisches Charakteristikum und René Magritte visualisiert die im Titel implizierte Stimme in Form von Kugeln, deren Grundeigenschaft die Erzeugung eines musikalischen Klangs ist. Es entspricht Magrittes Werkintention, die Faktoren Malerei, Musik und Sprache zueinander zu führen. Auch wenn sich aus dem Bildtitel die poetische Sichtweise einer „Stimme der Lüfte“ erschließt, so ist die Stimme doch eine der relevantesten und elaboriertesten Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen. Hagedorn hatte in „Chantress“ den Gesang in Form eines Pfeils beschrieben, auf dessen Spitze eine unbestimmte Buchstabenabfolge notiert ist. Im Vergleich mit dem bereits in der Buchmalerei eingesetzten Spruchband, folgt Hagedorn damit traditionellen Wegen der Darstellung von Sprache in der Malerei, die auch Magritte nutzte. Doch in „Die Stimmen der Lüfte“ verleiht Magritte dem abstrakten Phänomen Sprache mit den Kugeln eine feste, massive Form. Wie Fremdkörper, einer Vision von Raumschiffen gleich, schweben sie über der Landschaftsidylle. Einzig die Formenwahl der Kugel steht dem Bedrohlichem entgegen, das diese Eindringlinge

433 Magritte hatte die Vorstellung, dass diesen Schellen ein gefährliches und gleichzeitig vegetabiles Moment anhaftet. Ein eisernes Artefakt, welches durch seine Nutzung als lautgebendes Instrument eine Stimme erhält. Hagedorn verleiht gleichermaßen dem neutralen geometrischen Objekt der Kugel eine Funktion als Trägerobjekt der menschlichen Stimme. Vgl. Harry Torczyner: René Magritte. Zeichen und Bilder. Köln 1977, S. 93. 203

mit sich bringen, ist doch die Kugel zunächst eine vollkommene Form und entspricht sie der Form aller Himmelskörper, was ihr somit die Eigenschaft des Fremdkörpers nimmt.

Karl Hagedorn: „Hommage to L.“ Hagedorn führte seine eigenen vielfältigen Interessen mit dieser Darstellungsidee Magrittes in einer Zeichnung zusammen, die einen Ausgangspunkt für weitere Werke bilden sollte. In der 1982 entstandenen Zeichnung „Hommage to L.“ (Abb. 216)434 zeigt Hagedorn die entleerte Form erstmals als Kugel. „Hommage to L.“ ist eine gezeichnete Hommage an Louise Varèse,435 die Ehefrau des Komponisten Edgar Varèse,436 einem Vertreter der Neuen Musik.437 Die 1989 verstorbene Übersetzerin und Autorin Louise Varèse war in New York gut bekannt mit Diana Cavallo, der Kontakt war über die Schriftstellervereinigung PEN entstanden, der beide angehörten. Hagedorn hatte Louise Varèse ebenfalls kennen gelernt und er blieb stets beeindruckt von dieser Person auf Grund ihres umfassenden literarischen wie musikalischen Wissens.438 Die zeitgenössische

434 Ein weiteres, ähnliches Exemplar befindet sich im Bestand des Neuen Museums in Nürnberg: „Hommage to L.“, 1983, Farbstift und Bleistift auf Papier, 37,5x53,7cm, erworben 1984, Inventarnummer: N 343, Leihgabe der Stadt Nürnberg. 435 Louise Varèse (1891-1989), Schriftstellerin und Übersetzerin unter anderem der Werke Marcel Prousts, Artur Rimbauds und Stendhals. Sie hatte auch eine Biographie über Ihren Mann, den Komponisten Edgard Varèse, verfasst: „A looking glass diary“, an der wiederum die Schriftstellerin Diana Cavallo, Hagedorns Ehefrau, mitgewirkt hatte. Louise Varèse war ein Jahr vor der Fertigstellung Hagedorns „Arcana“ verstorben. Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. – Vgl. Dieter A. Nanz: Edgard Varèse. Die Orchesterwerke. Berlin 2003, S. 582. — Vgl. John Russel: Louise Varèse is dead; literary translator, 98, in: The New York Times (16.08.1989). In: URL: http://www.nytimes.com/1989/08/16/obituaries/louise-varese-is-dead- literary-translator-98.html (Stand: 02.03.2017). 436 Edgard Varèse (1883-1965), geboren in Paris, studierte dort Komposition. 1915 Emigration nach New York, arbeitete dort als Chordirigent und Komponist. Mit seinen Kompositionen seit „Amériques“ (1918) gilt er als einer der relevantesten Vertreter der Neuen Musik. 1922 Heirat mit Louise Norton. Grundlegende Forschungen auf dem Gebiet der elektronischen Musik. Vgl.: Dieter A. Nanz: Edgard Varèse, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2., neu bearb. Aufl. Personenteil 16. Kassel o.J., Sp. 1328- 1339. 437 Musikwissenschaftlich ist dieser Begriff schwer einzugrenzen, da sich „Neue Musik“ hinsichtlich der diesem Begriff inhärenten Mehrdeutigkeit nicht eineindeutig auf das 20. Jahrhundert eingrenzen lässt, auch wenn die Musik dieses Jahrhunderts vorrangig damit gemeint ist. Im Bruch mit der Musik der Moderne fanden Komponisten wie Arnold Schönberg und später auch Edgard Varèse neue Kompositionswege für die Kunstmusik. Seit 1910 geht die Fortentwicklung der Musik mit der Fortentwicklung der Kunst einher, so umfassen beispielsweise Bewegungen wie der Futurismus alle Künste, somit auch die Musik. Vertreter der Neuen Musik sind neben vielen anderen Arnold Schönberg, John Cage und Edgard Varèse, vgl. Hermann Danuser: Neue Musik, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. 2., neu bearb. Aufl. Sachteil 7. Kassel o. J., Sp. 75-122. 438 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 204

Musik Varèses war für Hagedorn ein relevanter Impuls (3.2.7.2), in New York hatte Hagedorn die Möglichkeit, diese Stücke im Original zu hören.439 In Anbetracht Hagedorns tiefen Interesses an den Funktionsweisen des Gehirns bleibt es konsequent, dass auf Darstellungen, welche die Komplexität des menschlichen Gehirns zu visualisieren suchen sowie auf die Fokussierung auf das Sinnesorgan Auge nun auch eine Konzentration auf das relevanteste Ausdrucksmedium des Menschen, die Sprache, erfolgte.440 In Betrachtung der Zeichnung „Hommage to L.“ wird greifbar, dass die Kreisform nicht lediglich Köpfe substituiert, sondern dass diese Kugeln in einer weitaus größeren Zahl das Bildgeschehen durchdringen. Ein solch komplexes Medium wie die Sprache mit Hilfe von Kugeln darzustellen, entstand, mit dem Wissen um Hagedorns genereller Einbeziehung geometrischer Formen in seine Kompositionen, vor dem Hintergrund der Kompatibilität.441 Der Komplexität und Relevanz von Sprache gebührt demnach die nach dem Kreis idealste geometrische Form. Die Kugel steht im Fokus architektonischer oder bildkünstlerischer Formphantasien, sie visualisiert oftmals die Verbindung zum Kosmos oder wird mit Utopien gleichgesetzt. Paul Cézanne bezog sich in seiner Formenreduktion auf die Kugel, Oskar Schlemmer setzte die Kugel im „Triadischen Ballett“442 ein (Abb. 237), bei Lindner erscheint die weibliche Brust in formal perfekter Halbkugelform und Walter de Marias „Large Red Sphere“ (Abb. 217)443 vereint als eine reine Form die sämtliche Umgebung auf der Kugeloberfläche. In der vorangegangenen Darstellung der Kreisformen als Stellvertreterformen und als Verweise auf die Abläufe und Funktionen im Gehirn wurde auch auf die

439 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo und Richard Galef an die Verfasserin. 440 Es darf an dieser Stelle davon ausgegangen werden, dass Hagedorn sich darüber bewusst war, dass die menschliche Sprache der direkte neurologische Ausdruck der Leistungen des menschlichen Verstandes ist. Vgl. Thomas, Nervensystem, S. 2. 441 Wassily Kandinsky hatte Kunst generell als Sprache, als einen Ausdruck kategorisiert. Wenn Hagedorn dem menschlichen Artikulationsmedium der Sprache einen bildnerischen Ausdruck, die Kugel, verleiht, so ist es denkbar, dass er sich mit den Überlegungen Kandinskys befasst hatte, ein Beleg dafür existiert jedoch nicht. Zu Kandinskys Theorie von Kunst als Sprache vgl. Reinhard Zimmermann: Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky. Bd. 1. Darstellung. Berlin 2002, S. 373- 382. 442 Die von Oskar Schlemmer und Anton Weininger entwickelte Tanzfigur „Kugelhände“. Hier wird der komplexeste Körperteil, die Hand, durch die idealste geometrische Form, die Kugel, sichtbar gemacht. Oskar Schlemmer: Triadisches Ballett. Uraufführung am 30. September 1922 in Stuttgart. Vgl. Hans M. Wingler: Das Bauhaus 1919-1933. Weimar, Dessau, Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937, 4. Aufl. Köln 2002, S. 350-359. 443 Walter de Marias „Large Red Sphere“ ist ein Meisterwerk des Minimalismus. 205

Kreisformen mit komplexen Binnenstrukturen eingegangen, welche zudem vom Zusammenwirken der vielfältigsten Einflüsse aus der Umwelt des Menschen sprechen, deren Verarbeitung und Filterung in den einzelnen Hirnregionen stattfindet. Die möglichen Resultate dieser Einflüsse werden dann sichtbar in kompositorischer Konzentration auf einzelne, nach außen gerichtete Sinnesleistungen des Menschen, wie das Sehen oder die Sprache. Letztere kulminiert in der Deutung der zu Kugeln modellierten Kreisform als ein Träger von gerichteter Sprache, Dialog oder gedanklicher Interaktion im Raum.444 Die Komposition „Hommage to L.“ besteht aus einem Doppelportrait. Die klare Struktur des Renaissancebildnisses aufgreifend, stehen sich zwei Personen im Profil als Bruststücke gearbeitet gegenüber. Lediglich findet deren Lokalisierung nicht am vorderen Bildrand, sondern im Mittelgrund statt. Die beiden Personen befinden sich in heftiger Interaktion. Während die linke Person mit erhobenem rechten Arm entweder mit großer Geste die eigene Rede unterstreicht, oder gegebenenfalls, kontextbezogen, sofern man an Edgar Varèse denkt, dirigiert, so sitzt die rechte Person in aufrechter Haltung und in raumgreifender Haltung gegenüber. Louise Varèse hatte beliebte Salons gegeben und war auch auf Atelierpartys ein gerngesehener und eloquenter Gast.445 Abseits von der Bühnensituation, an die das Bild erinnert, könnte also auch eine angeregte Konversation dargestellt sein. Vier geschwungene filigrane Formen, die sich aus geraden und kurvolinearen Elementen zusammensetzen und sich teilweise überschneiden, erscheinen ornamental mit Anklängen an eine der Grundformen der Ornamentik, des C-Bogens (3.2.6.6); diese Form etablierte sich zu einem festen Bestandteil in Hagedorns Bildvokabular. Die beiden Personen agieren vor

444 Bereits 1966 und 1967 fasste Lewis Mumford in seiner universellen Gesamtschau zur Entwicklung der modernen Technik seit der Industriellen Revolution zusammen, welche Determinanten dazu beigetragen haben, den einfachen Menschen zu einem Geschöpf werden zu lassen, welches in einer extrem kurzen Zeitspanne nicht nur komplexeste Technologien entwickelt hatte, sondern darüber hinaus durch diese in seiner Persönlichkeit grundlegend verändert worden ist. Dabei blickte Mumford auf die kulturelle Entwicklung des Menschen, worin die Entwicklung der menschlichen Sprache angesiedelt ist. Die Sprache ist gleichzeitig dessen abstraktestes Produkt, welches, wäre es konservierbar gewesen, paläontologisch und kulturhistorisch weitaus aufschlussreicher gewesen wäre als erhaltene Werkzeuge oder Kochgeschirr. In diesem Kontext des hohen Abstraktionsgrades gesprochener Sprache, verbunden mit der Überlegung derer Konservierung oder Sichtbarmachung, steht Hagedorns Versuch, das gesprochene Wort zu visualisieren, wozu er die vollendete geometrische Form der Kugel eingesetzt hatte. Vgl. Lewis Mumford: Mythos der Maschine. Kultur, Technik und Macht. Die umfassende Darstellung der Entdeckung und Entwicklung der Technik. Frankfurt am Main 1977, S. 13-25 und S. 91-101. 445 Freundliche Mitteilung von Richard Galef an die Verfasserin. 206

einem verdichteten und dennoch dynamischen, formenreichen Gefüge, dem durch die Raumperspektive, die im linken Bildteil durch diagonale Einschübe entsteht, durchaus Bühnencharakter zugeschrieben werden kann. Die Darstellung ist zur Bildmitte hin kompakt, jedoch zu den Bildrändern hin sehr unregelmäßig begrenzt. Weiche Kurvenformen, die voluminös sind und an Légers metallisch glänzende Rohre erinnern, alternieren mit streng geometrischen Formen. Am linken unteren Bildrand ist einem Rechteck ein Kreis, dem ein Sechstel der Kreisfläche fehlt, eingeschrieben. Trotz des fehlenden Segments ist er formal mit der Messgeräteform kompatibel. Durch die perspektivische, leicht nach links unten gekippte Darstellung und durch die gestrichelte Kontur erscheint das Rechteck wie eine große Karte oder ein Bild. Damit und durch die Überschneidung mit dem unteren Ende der verbreiterten kurvolinearen Form, die vor dem Oberkörper der linken Bildfigur verläuft, entsteht Raumtiefe. Zur Bildmitte hin verdichtet sich die Darstellung stark, bis die Flächen zu simplen Rechtecken in dunkler Tonalität werden. Zur rechten Figur hin hellt sich die Schraffur auf und die Gestaltung wird deutlich differenzierter. Gegenüber vorangegangen beschriebenen Werken erscheint „Hommage to L.“ dynamisch, die Bildgestaltung ist weitaus offener und formenreicher. Legt man innerhalb der Komposition zwei der Kugeln als die Köpfe der beiden Personen fest, so verbleiben neun weitere, unterschiedlich große Kugeln. Eine davon befindet sich hinter dem Rücken der linken Figur, eine andere unterhalb der rechten Figur. Die weiteren Kugeln türmen sich über dem Kopf der linken Figur auf beziehungsweise breiten sich zwischen den beiden Figuren aus. Sie sind verbunden durch ein schmales gewundenes lineares Gebilde, welches optisch an einen Schlauch, in Hinblick auf Hagedorns Nähe zur Medizin jedoch auch an eine Ader, erinnert. Die Kugeln erhalten durch ihre Platzierung mit Bezug auf die beiden Personen eine inhaltliche Bedeutung. Sie visualisieren Gedanken und stehen stellvertretend für die sprachliche Interaktion, die von den beiden Personen gleichermaßen gesendet und empfangen wird, sie also in einen Dialog treten lässt, dessen abstrakte Existenz anhand der Kugeln visualisiert.446 In Kombination mit

446 Im linguistischen Verständnis übernimmt damit der erwähnte Schlauch die Funktion des Kanals oder Kontaktmediums, welches die Nachricht und den Gegenstand zwischen Sender und Empfänger transportiert. Bei gesprochener Sprache im Raum ist dieser Kanal die Luft, die durch die Sprache in Schwingungen versetzt wird, was Hagedorn mit Hilfe des Schlauchs sichtbar macht. Vgl. Heidrun Pelz: Linguistik. Eine Einführung. 6. Aufl. Hamburg 2001, S. 28. 207

den zahlreichen kurvolinearen Gebilden, die einerseits die Kugeln verbinden und andererseits vor den Körpern der beiden Figuren die Bewegungsabläufe der Hände und Arme vervielfachen, erscheint diese Interaktion als äußert intensiv.

Vergleichswerke: Duchamp, der italienische Futurismus, Stella Marcel Duchamp (Abb. 218), aber vor allem der italienische Futurismus (Abb. 240), konzentrierten sich auf die Darstellung von Bewegungsabläufen im Raum. Indem sie die sich bewegenden Gliedmaßen abstrahierten und multiplizierten, entstand der optische Eindruck einer schnellen Bewegungsabfolge. Hagedorn nutzt diese Erkenntnis und visualisiert eine gestenreiche Kommunikation. Der Einsatz dieser Formen in „Hommage to L.“ zeigt, dass Hagedorn die für die Visualisierung von Bewegung im Raum notwendigen Beziehungen zwischen den Gestaltungselementen Linie und Fläche sowie Raum und Zeit zu nutzen wusste. Er gebraucht die von Duchamp eingeführte Vervielfachung und verweist mit dem Einsatz der geschwungenen Linien auf die feinen Linien in den Werken Mirós, die ebenfalls Dynamik evozieren.447 Betrachtet man alle geschwungenen, also an das Ornamentale erinnernden Formen in dieser Arbeit, so setzte Hagedorn diese sowohl rahmend, da sie der Darstellung nach links, oben und nach rechts einen optischen Halt bieten, als auch gliedernd ein, denn sie verleihen dem Bild eine rhythmische Struktur. Mit den konzentrischen Kreisen konnte Hagedorn bereits einmal formal in die Nähe Frank Stellas kategorisiert werden (3.2.5.4.1). Auch hinsichtlich der abstrahierten Ornamentik, die in „Hommage to L.“ bildprägend ist, kann ein Bezug zum Werk Stellas geknüpft werden. Stella schaffte in seinen Reliefs (Abb. 220) die widersprüchliche Symbiose des Ornamentalen mit der Abstraktion. Barocke Überfülle brachte er mit den Gesetzmäßigkeiten der abstrakten Malerei und Plastik in Einklang und überwand damit diese Gegensätzlichkeit.448 Hagedorn, der nach einer eigenen Ausdrucksmöglichkeit innerhalb der Abstraktion gesucht hatte, zeigt in diesem Werkbeispiel, dass er menschliche Aktion, die heftige Geste, in eine bildnerische Sprache zu übersetzen wusste, die dynamisch, überbordend, aber gleichzeitig sehr klar ist.

447 Vgl. Carolyn Lanchner: Peinture-Poésie. Its Logic and Logistics, in: Lanchner, Miró, S. 20-22. 448 Vgl. Markus Brüderlin: Frank Stella und das Ornament, in: Brüderlin, Stella, S. 98-125. 208

Die Kugel als Bedeutungsträger für die menschliche Sprache In diesem Zusammenhang können auch die Kreisformen auf einen ornamentalen Ursprung zurückgeführt werden.449 Während das Ornament selbst einen Bezug zur Fläche hat, separiert Hagedorn den Kreis, ebenso wie er die Linie separiert, aus dem Ornament und zeigt den Kreis entweder, wie bereits beschrieben, selbst ornamental gefüllt, oder er potenziert dessen Volumen hin zur Kugel wie in „Hommage to L.“. Es wurde aufgezeigt, dass alle in der Fläche agierenden Kreisformen eine Relation zum Menschen haben. Indem der Mensch in seiner äußeren Erscheinung aus dem Bild eliminiert worden ist, bleibt sein Gedächtnis in Form dieser verschieden gestalteten und unterschiedlich konnotierten Kreisformen bildimmanent. Sind die zweidimensionalen Kreise als Stellvertreter für das Organische, Gehirn oder Auge, zu deuten, so setzt Hagedorn die zu Kugeln potenzierten Kreise als Visualisierung zwischenmenschlicher Interaktion, im Besonderen die des Dialoges, also als Visualisierung von Sprache, ein. Er verlässt das Körperinnere und konzentriert sich mit der Sprache auf eine der komplexesten Äußerungsmöglichkeiten des Menschen. Mit der bereits genannten Visualisierung von Sprache, der höchsten Form zwischenmenschlicher Interaktion, in Form von zwischen den Protagonisten schwebenden Kugeln, erweitert Hagedorn seine Darstellungsmöglichkeiten mit der Integration von Sprache in die Malerei um eine weitere Ausdrucksform, basierend auf seiner eigenen Entwicklung aus den Varianten der Kreisform.

449 So ist nach Brüderlin das Ornament im Wesentlichen auf Kreisformen aufgebaut, lediglich die darin enthaltenen Mikrostrukturen formen dann die einzelnen individuellen Ornament-Formen. Vgl. Brüderlin, Stella, S. 98-125. Hagedorn hatte keine ornamentale Kunst geschaffen, jedoch immer wieder Aspekte des Ornamentalen in seine Werke integriert. Diese Formen entspringen einerseits seiner eigenen Abstraktion, gebildet aus seinem eigenen Formenvokabular, andererseits könnten diese auch latente Einflüsse der zeitgenössischen Kunstentwicklung sein, in der seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts das Ornament für die Abstraktion eine neue Relevanz gewonnen hat. Auch wenn Hagedorns Arbeiten nur wenige Verbindungspunkte zu der zeitgenössischen Kunstentwicklung aufweist, so ist seine annähernd ornamentale Gestaltung eine dieser, wenngleich losen, Verbindungen. Zu der Relevanz des Ornaments für die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts, vgl.: Markus Brüderlin: Die abstrakte Kunst des 20. Jahrhunderts oder die Fortsetzung des Ornaments mit anderen Mitteln. Die Arabeske bei Runge – Van de Velde – Kandinsky – Matisse – Kupka – Mondrian – Pollock und Taaffe, in: Beyer/Spies, Ornament. Motiv – Modus – Bild, S. 349-369. 209

Weitere Formen von Sprache im Bild bei Hagedorn Spruchband und Redegestus sind die ältesten Zeugnisse der Wiedergabe von Sprache, in der Malerei.450 Sprache in Form von Schrift tritt in der Malerei auf als in das Bild integrierte Briefe,451 oder als Inschriften. Die Schrift kann auch zum reinen Bildinhalt werden,452 in Reduktion zusammen mit Zahlen auftreten453 oder sich auf die Integration von Zahlen in den Bildraum konzentrieren.454 In der Kunst des 20. Jahrhunderts hatte der Gebrauch von Schrift im Kubismus begonnen, Futurismus und Dadaismus machten sich Schrift in den Bildräumen zu eigen und weiteten ihren Kunstbegriff auf die Dichtkunst aus.455 In Hagedorns Werken übernehmen Buchstaben und Zahlen ebenfalls wichtige Funktionen. Nicht die einem realen Schriftmedium entlehnten Schriftversatzstücke machte er sich zu eigen, sondern er platzierte die Bildtitel immer sichtbar in die Abbildung. Und er integrierte in sein Formengeflecht einzelne Zahlen und Buchstaben, welche den Bezug zu Datenverarbeitung und Computertechnologie sowie zu den Gehirnleistungen Sprache und Rechenfähigkeit evident machen.456

450 Vgl. Oskar Holl: Art. „Rede und Redegestus“. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie. Bd. 5. Rom, Freiburg, Basel, Wien 1971, Sp. 515f. – Vgl.: Helmut Rosenfeld: Art. „Schriftband“. In: Ebd., Sp. 125f. 451 Beispielsweise der Brief von Charlotte Corday an Jean Paul Marat, der deutlich lesbar in das Bild integriert ist, Jacques-Louis David: „Der Tod des Marat“, 1793, Brüssel, Musées Royaux des Beaux-Arts. Vgl. Jörg Traeger: Der Tod des Marat. Revolution des Menschenbildes. München 1986, S.143-147. – Vgl. Dorothy Johnson: Jacques-Louis David. Art in Metamorphosis. Princeton 1993, S. 104f. 452 Hanne Darboven drückte sich in Zahlenkombinationen und später vorwiegend schriftlich aus. Elke Bippus/Ortrun Westheider: Das Buch als Werk. Eine neue Sicht auf Hanne Darbovens Schreiben, in: Dies. (Hgg.): Hanne Darboven. Kommentiertes Werkverzeichnis der Bücher. Köln 2002. – Vgl. Maik Schlüter/Veit Görner: Hanne Darboven. Ein Jahrhundert-ABC. Kat. Ausst. Hannover 2004. 453 Zu den Kombinationen aus Zahlen (Datum) und Buchstaben (Ortsangaben) in On Kawaras “Date Paintings” vgl.: Jonathan Watkins: Where ‚I Don’t Know‘ is the Right Answer, in: Ders.: On Kawara. New York 2002, S. 42-105, besonders S. 67. 454 Bereits Giacomo Balla konzentrierte sich in „Numbers in Love“ um 1924 auf die reine Darstellung von Zahlen im Bildraum, genauso Charles Demuth mit „I saw the Figure Five in Gold“, der zu der mehrfach dargestellten Zahl auch Buchstaben kombinierte. Jasper Johns hatte diese Darstellungsform in seinen Number Paintings erneut aufgegriffen und erweitert, vgl. Schmied, Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus, S. 72. 455 Vgl. Katrin Ströbel: Wortreiche Bilder. Zum Verhältnis von Text und Bild in der zeitgenössischen Kunst. Wetzlar 2007, S. 31. 456 In Bezug auf den italienischen Futurismus, lassen sich die einzelnen Buchstaben mit den Forderungen Marinettis hinsichtlich der futuristischen Literatur vergleichen, die Worte in Buchstaben zu zergliedern. Filippo Tommaso Marinetti: „Marcia futurista“. Parole in libertà. 1915, in: Susanne de Ponte: Aktion im Futurismus. Ein Versuch zur methodischen Aufarbeitung von „Verlaufsformen“ in der Kunst. Baden-Baden 1999, Abb. 89, S. 353. – Vgl. Ströbel, Wortreiche Bilder, S. 38f. 210

Die Zahlen und Buchstaben kopiert Hagedorn nicht und er nutzte auch nicht die Möglichkeiten der Collage, sondern er gestaltete seine Typographien selbst. Wie am Bildbeispiel „Chantress“ aufgezeigt, kann eine solche Buchstabenreihe den direkten Sprachoutput, hier den Gesang, sichtbar machen. Mit der zu Kugeln variierten Kreisform gibt Hagedorn dem Dialogmedium Sprache eine geometrisch-abstrahierte Form. Er verfremdet das Bild von Sprache gemäß seiner Bildidee, menschliche Formen in eine definierte Abstraktion zu übertragen. Er geht nun über die äußere Erscheinung des Menschen und über die Darstellung seiner Sinnesorgane hinaus und visualisiert ein nicht greifbares Phänomen. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sprachliche Bezeichnungen stets von Symbolik belegt sind, die beispielsweise in Form von Attributen künstlerische Darstellungen beherrscht.457 Die Form der Kugel lässt das abstrakte Phänomen der Sprechsprache dabei massiv erscheinen, so wie auch gesprochene Sprache massiv den Raum beherrschen kann und gleichzeitig trägt er zu der Visualisierung der Beweglichkeit bei, denn Sprache besitzt immer eine Richtung.458

Sprache im Bild Ausdrucksformen in Hagedorns zeitgenössischem Umfeld und Vorläufer Die ab den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstehende Konzeptkunst verzichtet gänzlich auf Bilder und äußert sich ausschließlich schriftlich; es ist am Betrachter, die entsprechenden Bilder zu generieren und darüber hinaus geht es nicht lediglich um eine künstlerische Schöpfung, sondern um ein Nachdenken über die Kunst selbst. Hagedorn kann künstlerisch nicht in die Konzeptkunst verortet werden, hinsichtlich seiner Visualisierung von Sprache und seiner Integration von Zeichen in seine Werke muss zumindest angemerkt werden, dass diese schriftbasierte Kunst das zeitgenössische künstlerische Umfeld Hagedorns prägte. Cy Twombly hatte ausgehend vom Abstrakten Expressionismus alphabetische und numerische Zeichen in seine Arbeiten integriert. Hagedorns Arbeiten

457 Somit weiß der entsprechend gebildete Betrachter, dass ein Löwe den Evangelisten Markus symbolisiert oder dass ein beigefügter Bienenstock einen Hinweis auf die Gestalt des Kirchenvaters Ambrosius gibt. Derlei Symbolik existiert in allen Kulturkreisen, sowohl sakraler als auch profaner Art. Vgl. Mumford, in: Ernst, Taschenbuchreihe, S. 95. 458 Gemäß den Grundlagen des Prager Strukturalismus funktioniert Sprache auf der Basis verschiedener Faktoren, wie dem Gegenstand, der Nachricht, dem Kontaktmedium (oder Kanal), den Codes, welche zwischen Sender und Empfänger übertragen werden, vgl. Pelz, Linguistik, S. 28. 211

verfügen zwar anteilig ebenfalls über eine gewisse Rätselhaftigkeit, jedoch bleiben seine Werke, im Gegensatz zu denjenigen Twomblys, stets für den Betrachter lesbar, wenngleich oftmals mit unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten.459 Ein formaler Vorläufer der bildnerischen Idee Hagedorns, Sprache in Form einer Kugel zu visualisieren, ist die Sprechblase. In der seit dem frühen 19. Jahrhundert aufkommenden Karikatur, auf die sich Hagedorn bereits mit Graphiken wie „Radivar“ (Abb. 17) bezogen hatte, formierten sich Sprechblasen, die dann in der Kunstform des Comic zu einem festen Bestandteil geworden sind.460 Hierin liegt einer der wenigen Berührungspunkte Hagedorns mit der zeitgenössischen Pop Art, die, vor allem in den Werken Roy Lichtensteins, das Comic adaptiert. Indem Roy Lichtenstein Schrift in Sprechblasen einsetzte, konnte er die Schrift als Kontrast zum malerischen Bildgeschehen einsetzten. Dieser Ansatz ist vergleichbar mit Hagedorns Einsatz der Kugeln als Träger der gesprochenen Sprache oder des Dialogs, welche sich damit von der übrigen Bildszenerie absetzt.461

Weitere Sprachkugel-Kompositionen Hagedorns Die Kugel als Sprach- oder Dialogmedium zwischen zwei Personen findet sich in weiteren Kompositionen, die formal und stilistisch aus „Hommage to L.“ hervorgegangen waren. 1983 malte Hagedorn das Bild „Dimorphous Composition“ (Abb. 221) als eine Fortführung von „Hommage to L.“. Formal hat sich die Komposition im Ölgemälde gegenüber der Studie um ein Vielfaches konkretisiert, sie ist wesentlich stärker geometrisch organisiert und die klare Abgrenzung der Farbflächen sowie die Gegenüberstellung reiner Farben,

459 Konzeptkunst und Abstrakter Expressionismus sind Kunstrichtungen, die parallel zu Hagedorns Schaffen entstanden sind und die er, in New York lebend, zur Kenntnis genommen hat. Sein Werk kann mit keinem dieser Stile verbunden werden, jedoch gibt es die genannten latenten Anknüpfungspunkte. Vgl. zur Schrift in Konzeptkunst und Abstraktem Expressionismus, Ströbel, Wortreiche Bilder, S. 45-50. 460 Bereits in der 1541-42 erstellten aztekischen Bilderhandschrift, die für Karl V. angefertigt worden ist, wird der Akt des Sprechens mithilfe kleiner Luftwolken visualisiert. Codex Mendoza, Bodleian Library Oxford, MS. Arch. Selden. A. 1. Die Sprechblase ist im Comic dasjenige Mittel, um die Figuren in Monolog oder Dialog treten zu lassen. Das Äquivalent für Gedanken oder inneren Monolog sind die Gedankenblasen. Vgl. Klaus Schikowski: Der Comic. Geschichte, Stile, Künstler. Stuttgart 2014, S. 22f. 461 Vgl. Ströbel, Wortreiche Bilder, S. 214f. – Vgl. Diane Waldman: Roy Lichtenstein. Stuttgart 1993, S. 75. 212

vorrangig Rot, Gelb, Blau, Schwarz und Weiß, geben einen erneuten Verweis auf Hagedorns Kenntnis der Farbfeldmalerei und des Hard-Edge. Das auffälligste Moment in „Dimorphous Composition“ aber ist der Aufgabenwechsel des Bildpersonals. Stand der Betrachter in „Hommage to L.“ noch einem Doppelportrait aus Dirigent/Regisseur und Bühnenfigur oder zumindest zwei Konversationspartnern gegenüber, so erscheint die Szenerie jetzt wie einer Sportveranstaltung entlehnt (3.2.7.2). Im linken Bildteil befinden sich eine schwarz-weiße Linie, die an eine Ziellinie aber auch an eine Torstange oder die Hindernisstange im Reitsport denken lässt, ein Gedanke, der durch das drunter befindliche schwarz-weiß karierte Segment unterstützt wird, sofern man sich an eine Zielflagge erinnert fühlt. Dieses Element setzte auch Max Beckmann in seinen 1929 entstandenen „Die Rugbyspieler“ (Abb. 222) ein. Eine aufgetürmte Menge aus vier Spielern kämpft sich durch eine sogenannte Gasse, um den Ball, der hier der Sportart untypisch als Kugel dargestellt ist, über das aus den schwarzweißen Malstangen konstruierte Tor in das dahinterliegende Malfeld zu befördern. Die bereits in „Hommage to L.“ vorhandene Karte mit dem eingeschriebenen Kreis ist jetzt vergrößert und das obere, breiter gestreifte Dreieck mit der kleinen Scheibe daran erscheint wie eine Medaille am Band. Darüber erscheint ein helles, metallisch glänzendes Gebilde, welches in „Hommage to L.“ noch um einhundertachtzig Grad gedreht war und dort an einen nach oben gereckten Arm erinnerte. Betrachtet man nun diese Form zusammen mit den drei darüber angeordneten Kugeln und im Zusammenhang mit den aus der Welt des Sports entlehnten Motiven, so entsteht der stark abstrahierte Eindruck eines Radfahrers. In der rechten Bildhälfte wurde die ursprüngliche Figur ebenfalls verfremdet. Kopf und Rumpf sind verschmolzen zu einem Gebilde aus fünf, sich stark überschneidenden Kugeln. Einzig eine L-Form, die mit einem schwarzen Kreis mit blauem Zentrum an eine der Kugeln angebracht ist, evoziert den Eindruck eines angewinkelten Armes, diese Idee wird verstärkt durch das gelbe, unregelmäßig begrenzte Ende, das optisch die Aufgabe einer Hand übernimmt. In „Hommage to L.“ (Abb. 216) wurden die den Körpern vorgelagerten, mehrfach gefächerte, geraden und kurvolinearen Formen als ein Mittel zur Visualisierung der Bewegung, der Gestik der Hände und Arme, bezeichnet. In Anknüpfung an diese Interpretation und verbunden mit der Idee an eine

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malerisch-abstrakte Wiedergabe einer Sportveranstaltung, sollen hier diese Bogenformen die Bewegung des stark abstrahierten Armes potenzieren, sodass sich an Jubel, Applaus und die Anfeuerung des Sportlers durch seine Fans denken lässt. Die drei Kugeln in der oberen Bildmitte fungieren abermals als eine sichtbar gewordene Kommunikation. Aus der rechten Figur ragt eine kräftige und breite rote Linie, welche die drei Kugeln, die genauso dicht beieinander liegen, wie die Kugeln in Magrittes „Die Stimmen der Lüfte“ (Abb. 215), regelrecht in die Richtung des Sportlers schiebt, von dem sie mit einer schwarzen und einer roten Linie adaptiert werden. Anders als in „Hommage to L.“ geht es in dieser Arbeit nicht um Kommunikation in Form von Dialog oder regem Austausch, sondern vielmehr um die gerichtete Kommunikation von Fan oder Zuschauertribüne zum Sportler in der Arena oder an der Rennstrecke. Die Kugeln transportieren hier nicht mehr die Inhalte eines Gesprächs, sondern die Massivität und Lautstärke der Massenveranstaltung.

Vorläufer der Kugel in Hagedorns Werken Der, der Kugel zugeschriebene, Bedeutungsgehalt als visueller und gleichzeitig massiver Träger des abstrakten Phänomens der menschlichen Sprache, findet bereits 1978, der Dialogthematik vorangestellte, Vorläufer in Karl Hagedorns Werk. Dies sind die Arbeiten „Hommage to Munch“ (Abb. 223+223a), von der zwei Versionen existieren. Munch thematisierte in seinem Hauptwerk „Der Schrei“ (Abb. 224) die Angst des Menschen in der Natur. Der Betrachter erhält eine Vorstellung einer Natur, derer der Mensch fremd geworden ist, die ihn nicht birgt, sondern verängstigt.462 In Munchs Arbeit zeigen der der weit geöffnete Mund, das zum Totenschädel erstarrte Gesicht sowie die Haltung der Hände an, dass sich die Person im Schreien befindet. Die Wellen des Schalls werden nach oben rechts von dem tiefdunklen Wasser einer Bucht aufgenommen und damit unendlich potenziert. In seiner „Hommage to Munch“ komprimiert Hagedorn die Darstellung auf die Form des länglichen Kopfes.463

462 Vgl. Ulrich Bischoff: Edvard Munch, 1863-1944. Bilder vom Leben und vom Tod. Köln 1999, S. 53. 463 An dieser Stelle darf auf Hagedorns Begeisterung für den menschlichen Schädel als elementare Form und als Behältnis für das Gehirn gleichermaßen verwiesen werden, wie es bereits in (3.2.5.2.2) angesprochen worden ist. 214

Indem er die kompakte Form oben in gleißenden Gelb- und Orangetönen überfängt, zitiert Hagedorn den Abendhimmel aus Munchs Werk. Munch durchtrennt das Bild von links eintretend diagonal durch die Brücke und ihr Geländer, auch Hagedorns Kopfgebilde erfährt am unteren linken Ende der Komposition eine solch diagonale Abtrennung, in der ersten, den gesamten Bildraum ausfüllenden Version befinden sich an dieser Stelle diagonale Einschübe innerhalb der Komposition. Diese diagonalen Einschübe vom rechten oder linken unteren Bildrand sind auch Bildbestandteil bereits beschriebener Werke, worin sie vorrangig zur Erzeugung von Räumlichkeit beitragen.464 Die Binnengestaltung beider Versionen ist eine vielteilige Komposition aus vielen einzelnen, für Hagedorns Abstraktion relevant gewordenen Formen (3.2.6). Die Konzentration darauf, die Darstellung wie von einem Horror vacui getrieben mit unzähligen Formen und Farbflächen zu befüllen, zitiert das kompakte Bildgefüge Munchs. Hinsichtlich der Konzentration auf die Farben Blau, Gelb, Rot und auf Erdtöne, orientierte sich Hagedorn an der Farbpalette des Vorbildes. In selbiger Frontalität, direkt am vorderen Bildrand agierend, tritt auch Hagedorns Kopf dem Betrachter gegenüber, womit einmal mehr Hagedorns eigene Genese, in der das Portrait von hoher Bedeutung ist, einen Widerhall erfährt. Die Physiognomie ist markiert von drei Kreisformen aus Hagedorns Repertoire. Ein Auge ist in Anlehnung an die konzentrischen Kreise, das andere Auge entsprechend der Messgeräteform gestaltet. Der Mund jedoch ist, eingebettet in einen umfassenden dünnen Kreis, eine Kugel. In diesem Kapitel wurden Arbeiten beschrieben, welche den im Bildraum schwebenden, sich zwischen Dialogpartnern befindlichen Kugeln die Funktion von Dialogtransmittern zuweisen. In beiden Versionen von „Hommage to Munch“ gestaltete Hagedorn den, in Anlehnung an das Vorbild, einen lauten Schrei artikulierenden Mund, als Kugel. Die Kugel transportiert damit Sprache, oder Stimme nicht durch den Raum, sondern agiert am Ursprung der Sprache, im Kopf beziehungsweise im und als Mund und sendet die Artikulation lediglich aus.

464 So tragen vor allem die am unteren Bildrand platzierten diagonalen Einschübe in den Arbeiten „Chantress“ (Abb. 212) und „Inversion on White“ (Abb. 214) zur Bilddynamik und Räumlichkeit bei, ebenso die schräg gestellte Karte in der linken Bildhälfte in „Hommage to L.“ (Abb. 216). 215

Sprache ist die bedeutendste symbolische Funktion, über die der Mensch verfügt.465 Hagedorn hatte ihr mit der Visualisierung in Form von Kugeln eine ebenbürtige, idealtypische Form zugewiesen. In dem er menschliche Artikulation in reine Geometrie überträgt, verortet er den Menschen neu in der Natur, der dieser entwachsen zu sein scheint.

3.2.6 Weitere bildstrukturierende Elemente der Hagedorn’schen symbolischen Abstraktion

“My elements are the vocabulary of symbols developed over the years, a vocabulary finite but capable of expansion, out of which I create and reorder my visual universe.”466 Karl Hagedorn, 1991

Das Gesamtwerk Karl Hagedorns erhält eine wiedererkennbare Syntax sowie eine künstlerische Handschrift durch ein Formenvokabular, welches Hagedorn im Laufe seiner Werkgenese erarbeitet, formuliert und mit Inhalten besetzt hatte. Während die Kreise und die Kugeln durch ihr Stellvertreterdasein für den Menschen oder für Teile des Organismus eine beachtenswerte Sonderstellung in diesem Formenvokabular einnehmen, so werden diese Formen durch weitere Einzelbestandteile im Gesamtbildkomplex unterstützt. Durch sie gelang es Hagedorn, sein künstlerisches und motivisches Ziel, den Menschen in die Bildumgebung aus technischen, maschinellen oder organischen Versatzstücken zu integrieren, zu realisieren.467 Wolfgang Horn hatte geschrieben, dass die Formen in Hagedorns Malerei stets realen Hintergrund haben, deren Entschlüsselung aber der Entdeckerfreude des Betrachters obliegt.468 Diese individuellen Interpretationen dürfen nicht eingeschränkt werden, jedoch soll im Folgenden der Versuch einer Aufschlüsselung unternommen werden, welche die Sehindividualität des Betrachters nicht begrenzen, sondern viel mehr potenzieren soll. Hagedorns Vokabular setzt sich zusammen aus einzelnen, in seinen Bildern immer wiederkehrenden Zeichen, die in ihrem innerbildlichen Bedeutungsgehalt

465 Vgl. hier auch die Ausführungen zur Sprache bei Lewis Mumford, Kunst und Technik, in: Ernst, Taschenbuchreihe. Bd. 31, S. 146. 466 Karl Hagedorn zitiert aus: Leonardo, S. 283. 467 Vgl. Kat. Kunsthalle, S. 17. 468 Vgl. Wolfgang Horn: Karl Hagedorn – Mensch und Maschine, in: Bode, Europäische Wurzeln, S. 59. 216

Analogien zu Piktogrammen aufweisen. Künstler wie Wassily Kandinsky, Alexander Rodtschenko oder El Lissitzky, später A.R. Penck, Joseph Beuys oder Sigmar Polke haben ihren Bildformen bestimmte Bedeutungen eingeschrieben oder bezogen Zeichen und Symbole in ihre Kompositionen ein. Während das Piktogramm ein möglichst einfach gestaltetes Symbol mit einer allgemeinverständlichen, sprachunabhängigen Inhaltlichkeit ist, kann es, nach seinem Einbezug in die Kunst, in ein Spannungsfeld zwischen deutlicher Lesbarkeit und höchst komplexer Codierung geraten.469 Hagedorns Einsatz seiner bildstrukturierenden Elemente bewegt sich zwischen den genannten Polen. Indem er teils Formen nutzt, die auch außerhalb der Kunst einen Symbolwert besitzen, erhält nun der Betrachter eine Lese- und Interpretationshilfe.

3.2.6.1 Die Konstruktionslinie

Zahlreiche Kompositionen verfügen über farbige, unterschiedlich lange, gestrichelte Linien. Diese umranden einzelne Farbflächen führen aus dem blockhaften Binnengemälde hinaus an den Bildrand oder verbinden einzelne Bildelemente miteinander. Diese gestrichelte Linie ist im Ingenieurwesen dem technischen Zeichner, dem Konstrukteur oder dem Ingenieur bekannt als die Anzeige in einer technischen Zeichnung für eine Sollbruchstelle.470 Ist diese Linie in einer technischen Zeichnung schmal, so verweist sie auf verdeckte Kanten oder Umrisse, ist sie breiter, so kennzeichnet sie Oberflächenbehandlungen (Abb. 225).471

469 Vgl. Marion Ackermann/Pirkko Rathgeber: Piktogramme – Die Einsamkeit der Zeichen. Eine Einführung, in: Marion Ackermann (Hg.): Piktogramme – Die Einsamkeit der Zeichen. Kat. Aust. Trient 2006, S. 15-31. 470 Innerhalb des technischen Zeichnens nehmen unterschiedliche Symbole normierte, genau festgelegte Aufgaben wahr. Strichlinien treten dabei in unterschiedlicher Ausformung auf, diejenige Form, auf welche Hagedorn zurückgreift, transportiert die Bedeutungen verdeckter Kanten oder Umrisse, es wird damit etwas angezeigt, das im fertiggestellten Konstrukt nicht sichtbar ist. Neben der verbindenden Eigenschaft, die den Strichlinien in Hagedorns Werken zugewiesen werden kann, visualisiert er im technischen Verständnis versteckte Bereiche, was seiner Intention, das Körperinnere, welches ebenfalls nicht sichtbar ist, darzustellen. Vgl. Ulrich Kurz/Herbert Wittel: Technisches Zeichnen. Grundlagen, Normung, Darstellende Geometrie und Übungen. 24., neu bearb. Aufl. Wiesbaden 2009, S. 53-56. 471 Alle Strichlinien der technischen Zeichnung sind schematisch dargestellt auf der Internetseite www.technisches-zeichnen.net von Markus Sebastian Agerer unter dem URL: http://www.technisches-zeichnen.net/technisches-zeichnen/grundkurs-01/linienarten.php (Stand: 30.11.2016). 217

In der Schneiderei, hier gilt es, Hagedorns Arbeiten zur Thematik der Mode und Schneiderei für die Sammlung Strobel (2.4.1 und 3.1) „Hommage a la Couture“ oder „Couture“ (Abb. 47) zu bedenken, kennzeichnet die gestrichelte Linie im Schnittmuster den Rand, an dem entlang die Schnittschablone ausgeschnitten wird oder es ist eine Kennzeichnung für den Steppstich (Abb. 226).472 Hagedorn setzt diese Linienart trennend, über die Konstruktion hinaus verweisend oder optisch verbindend ein. Durch die Rückbezüge auf einen technischen oder handwerklichen Ursprung integriert Hagedorn diese Herkunft und diese Anmutung in seine Werke (Abb. 227). Sie wirken somit selbst wie am Reißbrett entstandene, nach strengen technischen Vorgaben erstellte Konstruktionszeichnungen.

3.2.6.2 Pipetten, Nadeln und Stacheln

Eine Pipette ist ein Laborgerät zum Dosieren verschiedener Flüssigkeiten.473 Ein Stachel existiert zumeist in Flora und Fauna, lässt jedoch auch an Nadelspitzen und somit an eine Spritze denken. Mit einer Spritze kann, im Gegensatz zur Pipette Flüssigkeit auch in widerstandsfähiges Gewebe injiziert oder daraus extrahiert werden. In Hagedorns Werken wie beispielsweise das benannte „Enter Time Center“ (Abb. 184), scheinen diese schmalen, schlanken in ihrer Form meist konisch zulaufen Gebilde von außen in ein festes Gefüge einzutreten. Hagedorn symbolisiert dieses Eintreten auf mehreren Bedeutungsebenen. In einer Arbeit wie „Enter Time Center“ kann bereits auf Grund des Titels an das feine, zumeist spitze, Werkzeug des Uhrmachers verwiesen werden, der von außen in das perfekte Gefüge des Uhrwerks eindringt. Genauso muss einbezogen werden, dass Leiterplatten für elektronische Geräte mit ebensolchen feinen Werkzeugen und schmalen Lötkolben angefertigt werden.474

472 Die gestrichelte Linie gleicht auch der Verarbeitung des Steppstichs, der von Hand oder mit einer Nähmaschine genäht werden kann. Die Markierung auf Nähmaschinen sieht ebenfalls so aus, genauso die Umrisskanten auf Schnittmusterbögen, vgl. hierzu: Schnittbögen, in: Freya Jaffke: Nähen, Sticken, Schneidern für Erwachsene. Stuttgart 1996, Beilage I und II. 473 Mess- und Vollpipetten sind Volumenmessgeräte aus Glas, sind geeicht und dienen dem genauen Abmessen von Flüssigkeiten, vgl. Renate Hauschild: Chemie spielend lernen: Laborgeräte, Periodensystem, Atombau, Grundwissen Stoffkunde. Lichtenau 1999, Tafel 13. – Vgl. Gerhart Jander: Einführung in das anorganisch-chemische Praktikum. 14., neu bearb. Aufl. Stuttgart 1995, S. 318-320. 474 Vgl. Gerald Zickert: Leiterplatten. Stromlaufplan, Layout und Fertigung: ein Lehrbuch für Einsteiger. München 2015, S. 96. 218

In der weiteren Auslegung dieser Arbeit als ein offengelegtes Gehirn markieren diese schmalen Bildbestandteile einerseits die Reizeinwirkung auf das Gehirn von außen, so wie die künstlerisch erdachte Möglichkeit einer Operation am Gehirn. Blickt man auf die inhaltliche Ebene der Kreisform als Zielscheibenmotiv (3.2.5.4.1), so kann Hagedorn eine kraftvolle Einwirkung von außen, sei es auf das Gehirn, sei es auf den Organismus, symbolisiert haben. Ist das Gehirn ohnehin Sammelpunkt jedweden Einflusses, so ist der Mensch gerade in der sich verstärkenden medialen Welt stetes Ziel vermehrter, teils aggressiver Einflüsse von außen. Das Bildelement in der Anmutung einer Pipette, Nadel oder eines Stachels hat innerhalb Hagedorns Werk seinen formalen Ursprung in der bereits eingangs beschriebenen Zeichnung „The Spearing“ (Abb. 32). Das zerstörerische Moment der Speere wird feinsinnig abstrahiert in den späteren Werken, die unsentimentale Härte der Reizüberflutung sowie der Vorstellung vom Menschen als eine Angriffsfläche jedweder Einflüsse wird jedoch keineswegs gemindert.

3.2.6.3 Die S-Form

Zunächst erscheint in vielen Werken im oberen Bilddrittel eine Form, die an ein im Winkel von neunzig Grad gebogenes Rohr erinnert. Gemeinsam mit einer der Kreisformen und zumeist in Verbindung mit einem von ihr weg weisenden Pfeil, lässt dieses Formenkonglomerat den Betrachter an die Konstruktionsform eines Haartrockners denken (3.2.5.2.2). In subtiler Handhabung verbindet Hagedorn seine technisch-mechanischen Interessen mit seinem medizinisch-organischen Interessensfeld, da diese Formenverbindung als die Verbindung von Gehirn und Rückenmark interpretiert werden muss. Aus der kurzen, um neunzig Grad nach unten abgebogenen Form wurde schließlich eine lange, nach unten gezogene S-Form, die flächig wie in „Inversion on White“ (Abb. 214) oder vollplastisch modelliert wie ein metallisches Rohr gestaltet sein kann; letzteres findet seinen Höhepunkt in der Arbeit „Alba“ (Abb. 202). Schematische Querschnitts-zeichnungen des Gehirns werden in medizinischen Lehrbüchern zumeist mit einem Ansatz des aus dem Gehirn austretenden Rückenmarks abgebildet. Hagedorns Einsatz des gebogenen Rohres oder der verlängerten S-Form rekurriert auf diese Darstellungsformen evoziert durch die Integration in die geometrisch-abstrakte Komposition den optischen Anklang an

219

eine menschliche Figur und an technisches Gerät gleichermaßen. Substituiert wird der Bezug zum menschlichen Bildprotagonisten zudem von den auf eine Person oder menschliche Tätigkeit verweisenden Bildtitel. Letztendlich bleibt Hagedorn durch dieses Gestaltungsprinzip auch in seinen Werken mit dem höchsten Abstraktionsgrad der klassischen Bildform des Portraits treu, welches die Ausgänge seiner Malerei manifestiert. Aufgrund des bereits seit frühester Kindheit geprägten Interesses an mechanischen Funktionsweisen muss auf die Formenverwandtschaft der S-Form zur Pleuelstange (Abb. 228) verwiesen werden, wie er sie in Verbindung mit der Schwungscheibe von der elterlichen Sägemühle gekannt hatte. Formal gesteigert wird diese Darstellung in der Arbeit „Euphrosyne“ (Abb. 151a).

3.2.6.4 Das Röhrchenkonstrukt

Das sogenannte Röhrchenkonstrukt ist ein Motiv in der Bildwelt Hagedorns, welches höchst komplex ausgestaltet, wie in der Arbeit „Controller“ (Abb. 171) oder stark vereinfacht, wie in „Chantress“ (Abb. 212) vorkommen kann. Dieses Bildelement vereint verschiedene Interessensgebiete Hagedorns und formuliert unterschiedliche Darstellungsabsichten. Die stets vier nebeneinanderliegenden schmalen Röhrchen können vollplastisch, ähnlich einer Zigarrenform modelliert sein. Sie verbinden entweder einen farbigen Bereich mit dem benachbarten Farbfeld, oder sie grenzen, deutlich stilisiert, an das andere Farbfeld an. Seinen Platz innerhalb der Komposition findet das Röhrchengebilde zumeist schräg unterhalb der gebogenen S-Form und es liegt diagonal zu Mittelachse. In der Bildinterpretation hinsichtlich neuromedizinischer Aspekte fände das Röhrchenkonstrukt seine Platzierung auf Höhe der Position der lumbalen Wirbel des Menschen. An dieser Stelle des Rückenmarks treten die Nervenbahnen des Sympathicus aus dem Rückenmark aus, während die Nervenbahnen des Parasympathicus bereits vom Sakralmark aus in alle Organe verlaufen. Antagonistisch bilden diese das vegetative Nervensystem und tragen zum Funktionieren aller Organe bei.475 Damit kann in medizinischer Interpretation das

475 Abb. 251 belegt in schematischer Darstellung den Austritt des Nervus vagus aus dem unteren Drittel des Rückenmarks (rote Linien) über den der Parasympathikus die nervöse Versorgung der Eingeweide (rechts in Form von Magen und Darm dargestellt) übernimmt. Die schematische Darstellung gleicht in stilisierter Form den Röhrchenkonstrukten Hagedorns optisch sowie in ihrer Verortung innerhalb der Kompositionen. Vgl. Thomas, Nervensystem, S. 31 und S. 34f. 220

Röhrchenkonstrukt ein Verweis auf die austretenden Nervenbahnen sein und gleichermaßen erscheint es wie ein vergrößerter Ausschnitt auf die einzelnen Wirbel und Bandscheiben der Wirbelsäule selbst (Abb. 229). Zusätzlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die DNS, der Träger aller Erbinformationen, schematisch als eine Doppelhelix dargestellt wird, deren beide Bahnen von schmalen Röhrchen miteinander verbunden werden. Diese symbolisieren die vier organischen Basen.476 Hagedorn fügt den Menschen in eine geometrisch abstrakte Komposition ein, einzig durch die formale Konzentration auf das Gehirn, markiert durch eine der Kreisformen, und mit Hilfe der S-Form als Hinweis auf das Rückenmark und dem Röhrchengebilde, als Hinweis auf die Komplexität der Nervensysteme. Die Gesamtkomposition schließlich kann vordergründig jeglichen Verweis auf menschliche Figürlichkeit negieren, wie in der Bildanlage von „Controller“ (Abb. 171) oder die menschliche Figürlichkeit auf den ersten Blick evozieren, durch ein festes Gefüge wie in „Chantress“ (Abb. 212). Zudem entbehrt auch das das Röhrchengebilde nicht der technischen Konnotation, indem es einen Informationseintritt von außen in ein System markiert. Dies geschieht auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst ist an den alltäglichen Informationseintritt zu denken, der auf den Menschen einströmt und der für den Menschen fordernd, überfordernd und überlebenswichtig zugleich ist. Im technischen oder elektronischen Verständnis ruft das Röhrchenkonstrukt weniger den Gedanken an ein tatsächliches Vorbild in Form eines Bauteils hervor, sondern vielmehr verweist es in freier malerischer Umsetzung hinsichtlich der Elektronik auf die Informationsübertragung in computergesteuerten Systemen oder hinsichtlich der Technik, beispielsweise auf Kolben im Sinne ihrer kraftwandelnden Funktion.477 Hagedorn platziert das Röhrchenkonstrukt, ob definiert oder stilisiert, als einen symbolischen Verweis auf die in ein System ein- und austretenden Energien. Aus

476 Bereits 1953 konnte festgestellt werden, dass die Form der DNS derjenigen einer Doppelhelix entspricht, geformt aus der fortlaufenden Aneinanderreihung von vier organischen Basen, Adenin, Thymin, Cytosin und Guanin. Vgl. Melinda Gormley, Genetics and Engineering, in: Slotten, Oxford, S. 442. – Vgl. Hagemann, Genetik, S. 38f. 477 Der Kolben wandelt die Energie, welche während des Verbrennungsvorgangs im Zylinder frei wird, in mechanische Kraft oder Arbeit um. Vgl. Mahle GmbH (Hg.): Kolben und motorische Erprobung. 2., überarb. Aufl. Wiesbaden 2015, S. 1-25. 221

der Gesamtheit des Motivs ergibt sich ein medizinischer oder ein technischer Kontext, in dem das Röhrchenkonstrukt agiert. In Hinblick auf die Inspiration, die Hagedorn der Musik entnommen hatte (3.2.7.2), erinnert das Röhrchenkonstrukt auch an die Ventile eines Blechblasinstruments (Abb. 230), in einer Arbeit wie „Parade“ (Abb. 230a) kommt dies im Besonderen zum Tragen, da das vierteilige Konstrukt in erster Linie auf der im Nachfolgenden zu beschreibenden Pilzform basiert. Auch diese dienen der Umwandlung des Inputs, der einströmenden Atemluft in das Instrument, in Töne.

3.2.6.5 Die Pilzform

Ein häufig erscheinendes Motiv, singulär oder gruppiert, ist eine einem Pilz ähnelnde, stilisierte Form. Ihre Motivgrundlage findet diese Form zum einen innerhalb der Eisenbahnsymbole, andererseits erneut aus der schematischen Darstellung medizinischer Gegebenheiten. Innerhalb der Eisenbahnsymbole gibt es sogenannte Zp9-Lichtsignale (3.2.4.3). Diese bedeuten dem Zugpersonal entweder ein Signal zur Abfahrt des Zuges oder die Durchführung einer Bremsprobe. Unter Anbetracht des technischen Bezugs, der den Bildkompositionen Hagedorns inhärent ist, funktioniert dieses Zeichen als solches als ein Bezugspunkt und muss ikonographisch als ein Marker für Durchlässigkeit (Abfahrtssignal) oder als ein stoppendes Element (Bremsprobe) betrachtet werden. In technischen Zeichnungen kann diese Form auch als Visualisierung der Kräfte am Kolben auftreten, was erneut den Gedanken an Kraftübertragung und damit an die Durchlässigkeit hervorruft (Abb. 231). Mit Blick auf die Neurologie stellt dieses Zeichen eine optische Verbindung zu den schematischen Darstellungen von Synapsen dar. Die elektro-chemischen Verbindungen, die die Nervensysteme des menschlichen Organismus steuern, bilden wichtige Motivgrundlagen und steigern den Bedeutungsgehalt der Werke Hagedorns. Im Vergleich zu den Funktionen des Zp9-Lichtsignals, agieren auch Synapsen im Nervensystem „befördernd“, indem sie Reize übertragen.478

478 Sobald eine Erregung als elektrisches Signal in einer Nervenzelle ankommt, werden dort Transmitter freigesetzt, welche das Aktionspotential durch eine Membran leiten. Schließlich wird eine Informationskaskade ausgelöst. Ein erneuter Beleg dafür, dass Karl Hagedorn die „Pilzform“ als ein Bildelement nutzte, welche eine verbindende oder eine informationsübertragende Funktion innerhalb der Kompositionen einnimmt. Vgl. Thomas, Nervensystem, S. 44f. – Vgl. Engel, Neurowissenschaften, S. 115-134. 222

Hagedorn setzte die Pilzform als Mittelpunktform in seinen Kreisgebilden ein, wie es in der Arbeit „Vertical Atomism“ (Abb. 203) oder in beiden Varianten von „Hommage to Munch“ (Abb. 223+223a) gegeben ist, oder er platzierte sie frei im Bildgefüge, wie in „Ace“ (Abb. 194) oder „Controller“ (Abb. 171). Durch seinen Rückbezug einerseits zur (Bahn-)technik und andererseits zur Medizin, visualisiert damit auch das bildstrukturierende Element „Pilzform“ die Verbindung der beiden prägenden Interessensfelder Hagedorns.

3.2.6.6 Der C-Bogen

Die eine Kunstepoche prägende Ornamentform der Rocaille479 trägt den Bedeutungsgehalt eines Naturbezugs als eine diametrale Reaktion auf die künstliche Formenüberfrachtung des Barock. Betrachtet man sich die seit „Hommage to L.“ in Hagedorns Werk vorhandenen, zumeist zu mehreren gruppierten kurzen Geraden mit einem gebogenen Ende, so erscheinen diese wie eine abstrahierte, stark stilisierte Ausführung des C-Bogens, der für das Rokokoornament formbestimmend war.480 Auf einen ornamentalen Bezug wurde bereits in der Beschreibung der Arbeit „Hommage to L.“ (Abb. 216) verwiesen, auch in Zusammenhang mit der Vereinigung von Ornamentik und moderner Abstraktion in den Werken Frank Stellas. Es wurde im Zuge dieser Interpretation auf das, an die Darstellungsprinzipien des italienischen Futurismus angelehnten, Moment der Visualisierung von Bewegung und Gleichzeitigkeit innerhalb eigentlich statischer Malerei verwiesen. Im Besonderen muss an dieser Stelle erneut der organische Bezug betont werden, der den Werken Hagedorns stets werkimmanent bleibt. Bereits in „Iokaste“ (Abb. 41) erscheinen deutliche Rippenbögen in der Darstellung des weiblichen Aktes. In Arbeiten wie „Dimorphous Composition“ (Abb. 221) oder „La Passagiata“ (Abb. 157) erscheinen diese Bögen schließlich als eine abstrakt-malerische Interpretation von Rippenbögen. Belegt wird diese Vermutung durch Zeichnungen aus dem Jahr 1978 (Abb. 232+232a), in welchen diese Bögen, gestaffelt an die bereits als Wirbelsäule deklarierte Bogenform angeheftet werden.

479 Das relevanteste Ornament des Rokoko setzt sich zusammen aus Randformen, welche auf unterschiedlicher Motivik (Erdformen, Muscheln, Rollierungen, Grottenwerk) basieren. In S- oder, vor allem, C-Form sind diese Ränder aneinander oder gegeneinander gesetzt und formen so die Form der Rocaille. Vgl. Art. „Rocaille“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 6. Leipzig 2004, S. 180. 480 Vgl. Bauer, Rocaille, S. 7. 223

Im Jahr 1944 hatte Victor Vasarely, in Gedanken an das erschütternde, im Zuge des Zweiten Weltkrieges gesehene menschlich-körperliche Leid, die Zeichnung „Ossuary“ (Beinhaus), (Abb. 233) angefertigt. Sie zeigt ein Skelett im Bruststück, die Betonung liegt auf ornamental ausgestalteten, überhöht dargestellten Rippenbögen.

3.2.6.7 Buchstaben, Zahlen, Wörter, eingeschriebene Bildtitel

Ein weiteres relevantes Gestaltungselement, welches Hagedorns Formenvokabular schließlich vervollständigt, ist der Einbezug von einzelnen Buchstaben, Buchstabenreihen, einzelnen Zahlen, Zahlenreihen und den zumeist innerhalb der Abbildung eingeschriebenen Bildtiteln. Eine Arbeit wie Ballas „Numbers in Love“ (Abb. 234) oder Picabias „Impétuosité Française“ (Abb. 235) und die schriftbasierte Kunst des Dada und teilweise der Pop Art integrieren Zahlen, Buchstaben und deren Kombinationen in ihre Bildkompositionen. Hagedorns Einbezug alphabetischer wie numerischer Zeichen in die Bildkomposition ist keine Innovation, da dieser sowohl innerhalb der europäischen Kunstgeschichte als auch innerhalb der Kunst des 20. Jahrhunderts in den USA vielfältige Ausdrucksformen findet.481 Bindet Hagedorn diese Zeichen in seine Motive ein, so funktionieren sie einerseits als Verweis auf Technik hinsichtlich der Konstruktion oder als Verweis auf Informationstechnik, Datenverarbeitung oder Datenerzeugung, beispielsweise in Form von Codereihen oder Zahlenreihungen für elektronische Schaltungen. In Verbindung mit dem Menschen symbolisieren Zahlen oder Buchstaben in Hagedorns Werk entweder Informationseingang oder –ausgang, im Sinne auf den Menschen einströmender Informationsmenge jeglicher Art oder im Sinne von Sprache oder anderweitiger sprachbasierter Äußerungen, die er absondert, wie es in der Arbeit „Chantress“ (Abb. 212) symbolisiert ist.

481 Zahlensymbolik begleitet alle Phasen der Menschheitsgeschichte. Zahlen beschreiben die kosmische Ordnung, wofür vor allem die griechische Zahlenmystik eine Grundlage bildete. Symbolische Funktion übernehmen innerhalb der Kunst vor allem die Drei, Vier, Sieben, Acht und die Zwölf. Vgl. Art. „Symbolik der Formen und Zahlen“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 7. Leipzig 2004, S. 153-156. 224

3.2.6.8 „Psychogram“ als Prospekt der bildstrukturierenden Elemente Hagedorns Mit dem Triptychon „Psychogram“ (Abb. 236) schaffte Hagedorn ein belebtes Konglomerat aus allen vorgenannten Formen, die dieses und seine weiteren Werke bestimmen sollten und die in ihrer Gesamtheit sein symbolisches Formenvokabular bilden. Hagedorn selbst hatte dieses Bild als ein relevantes Schlüsselwerk bezeichnet, welches diejenige Formenwelt in sich zusammenführt, die er zum Entstehungszeitpunkt erarbeitet hatte.482 Er hatte das Werk 1978 fertiggestellt, aber bis 1980 immer wieder farbliche Veränderungen vorgenommen.

Bildbeschreibung „Psychogram“ In der Mitteltafel konzentrierte Hagedorn eine komplexe Kreisform, welche in einer festgefügten Umgebung aus einer unregelmäßig begrenzten gelben Fläche und einem festen, breitrandigen Kreisgefüge sitzt, welches an die Gestaltung von „Enter Time Center“ (Abb. 184) erinnert. Nach oben und zur linken Seite hin treten verschieden gestaltete Formen der Kategorie „Pilzform“ (3.2.6.5) aus diesem Gebilde aus und nach unten hin schwingt sich eine große S-Form (3.2.6.3), welche zur rechten Seite hin von vier, gefächerten, vereinfachten C-Bögen (3.2.6.6) flankiert wird. Die organischen Verweise auf die Kreisform, den Pilz in Interpretation als Synapse, die S-Form als Wirbelsäule und den C-Bogen als Rippen, auf den Menschen sind damit bildzentral und stellen den figürlich nicht sichtbaren Menschen in das Zentrum der Darstellung. In der zentralen Binnenkreisform erscheint zudem eine Eins, womit diese Konzentration auf die menschliche Anwesenheit und deren Relevanz akzentuiert wird.

Vorbereitende Studien zu „Psychogram“ In einer Vorzeichnung zu „Psychogram“ aus dem Jahr 1977 (Abb. 237) erscheint die linke Tafel über die gesamte Bildfläche hinweg durchgestaltet und vermengt lineare, graphische Elemente, welche zusammen wie ein zugrunde liegendes Gitternetz agieren, mit organischen, biomorphen und frei erdachten Formen.

482 Vgl. Leonardo, S. 282. 225

In der Ausführung auf Leinwand erscheint nun die linke Bildtafel als ein zartes, aber dynamisches Spiel aus Farben und Formen, das Räumlichkeit verleihende, lineare Netz fehlt, die Objekte scheinen jetzt zu schweben. In genauerer Betrachtung setzt sich die Vielzahl dieser kleinteiligen Objekte aus den Kreisformen der benannten Kategorien, aus zarten Varianten der S-Form und der Schlauchform zusammen. Dazwischen erscheinen biomorphe Formen, die an stilisierte Darstellungen von Herzen oder Mägen denken lassen. Alles scheint vor einer Folie aus vielgestaltigen Farbflächen in schwebender Dynamik miteinander zu agieren. Somit bleibt auch hier der Mensch evident, im Vergleich zur Mitteltafel jedoch in verminderter Form. In seiner Vorzeichnung hatte Karl Hagedorn der gesamten Bildfläche und damit dem gesamten Bildgeschehen ein strukturierendes Netz an vertikalen, horizontalen und diagonalen Linien verliehen, welches der eigentlichen Darstellung Halt verleiht. Durch den Verzicht auf dieses Netz im endgültigen Gemälde erhält die komprimierte Formenzusammenschau Leichtigkeit und eine surreale, weil raumlose, Anmutung. Damit erscheint „Psychogram“ wie ein stilistischer Rückgriff auf „12 A.M. d.s.t.“, wobei es jedoch weitaus weniger arabesk ist als der Vorgänger aus dem Jahr 1967. Die rechte Bildtafel ist determiniert von einem gelben und einem blauen Schenkel eines gleichseitigen Dreiecks, welche gemeinsam wie ein überdimensionaler Zirkel erscheinen, genauso aber auch an eine Leiter oder an eine Staffelei483 denken lassen. Die Binnengestaltung zwischen den beiden Schenkeln ist im oberen Drittel sehr kompakt, während die beiden unteren Drittel in großen hellen Formen nach unten hin auslaufen und sich mit dem hellen Bildgrund vereinen. An der Spitze des Dreiecks befinden sich zwei Kreisformen, welche die Kategorien der konzentrischen Kreise und der Messgeräteform vermengen. Über alle Bildtafeln hinweg wiederholen sich die definierten wie die undefinierten, freien Formen. Sie bevölkern den Bildraum und evozieren einerseits durch ihren organischen Bezug, andererseits durch ihre Dynamik stets den Bezug zum nicht sichtbaren, jedoch deutlich spürbaren Menschen.

483 Hagedorn selbst verweist in seiner Erinnerung an „Psychogram“ auf die Staffelei als Motiv. Vgl. Leonardo, S. 283. Damit greift er schließlich noch einmal zurück auf das Selbstportrait an der Staffelei (Abb. 35). Nicht zuletzt ist auch das Motiv der Staffelei, genauso in seiner Interpretation als Leiter oder Zirkel ein Verweis auf den figürlich eliminierten Menschen, der damit bildimmanent bleibt. 226

Bereits in der 1971 entstandenen Zeichnung „Ex Vortex“ (Abb. 238) nimmt Hagedorn die dichte Formenfülle von „Psychogram“ vorweg. Jedoch erscheint „Ex-Vortex“ im Vergleich zum organisch determinierten „Psychogram“ noch wie ein phantasievolles technisches Konstrukt. Ein deutlicher Vorgriff auf die rechte Bildtafel ist die 1978 entstandene Arbeit „Axiom“ (Abb. 239). Im Gegensatz zu der freien Gestaltung in der rechten Bildtafel ist vor allem die Binnengestaltung zwischen den beiden Schenkeln in „Axiom“ stark verdichtet und weist von geometrischen Farbflächen, über feine, ornamental anmutende Gebilde bis hin zu großen, modellierend gestalteten Formen eine breite Formenvariation auf, die vor allem im oberen Drittel aus dem Dreieck auszubrechen scheint. Ein Axiom ist ein Grundsatz, welcher theoretisch als gegeben angesehen wird und keines Nachweises bedarf.484 In Hinblick auf die Darstellung ist das Dreieck motivprägend, was den Verweis auf die Mathematik gibt, die auf Axiomen basiert. Zum einen wird der Axiombegriff auf die Geometrie des Euklid485 zurückgeführt, zum anderen sind geometrische Formen innerhalb der Abstraktion Hagedorns von hoher motivischer Relevanz. In Rückbezug auf Hagedorns neurowissenschaftliches Interesse, evoziert der der Bildtitel „Axiom“ morphologisch den Gedanken an ein „Axon“, eine Nervenfaser, die ein Fortsatz der eigentlichen Nervenzelle ist und Impulse von dieser ableitet.486 Somit kann die Darstellung als ein Teil, oder als ein mikroskopischer Blick in eine solche Nervenbahn interpretiert werden, welche Reizinformationen jeglicher Art übertragen. Ein Psychogram ist eine Studie der psychischen Verfassung eines Menschen, welche nach Erfassung graphisch visualisiert wird.487 Mit „Psychogram“

484 Vgl. Art. „Axiom“, in: Der große Brockhaus. 16., v. neubearb. Aufl. 12 Bde. Bd. 1. Wiesbaden 1952, S. 555. 485 Vgl. Diego de Brasi: Art. „Euklid“, in: Peter von Möllendorff/Annette Simonis/Linda Simonis (Hgg.): Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik (= Der Neue Pauly. Supplemente 8). Stuttgart 2013, S. 206-209. 486 Die Axone sind Bestandteil der Synapse und für den Informationstransport zuständig. Vgl. Thomas, Nervensystem, S. 36 und S. 38. 487 Ein Psychogramm ist eine „Seelenbeschreibung“. Um eine solche zu erstellen, werden zunächst alle zugänglichen Daten einer Person evaluiert und in einer Graphik anschaulich dargestellt, sodass bestenfalls Aussagen über die Persönlichkeit und den Charakter dieser Person getroffen werden können. Wenn Hagedorn also die Zusammenschau seiner bildstrukturierenden Elemente mit „Psychogram“ betitelt, so ist diese Arbeit die Zusammenschau seiner Zeichen-, Symbol- und Darstellungswelt. Vgl.: Art. „Psychographie“. In: Lexikon der Psychologie. 5 Bde. Bd. 3. Heidelberg, Berlin 2001, S. 340. 227

konzentrierte Karl Hagedorn das von ihm erarbeitete Vokabular in einen raumlosen, nicht definierbaren Bildraum, frei von Bedeutungsgehalt im Sinne eines Bildgeschehens, aber aufgeladen mit den vielschichtigen Bedeutungsebenen der einzelnen Formen, die im Vorfeld in diesem Kapitel der vorgelegten Arbeit aufgezeigt worden sind. Dieses Werk, an dem er mehrere Jahre gearbeitet und es nach der Fertigstellung 1978 zwei Jahre später erneut farblich überarbeitet hatte, ist eine malerische Konkordanz seiner bildstrukturierenden Elemente. Angelehnt an Paul Klee488 fügt Hagedorn mit „Psychogram“ sein aus unterschiedlichen Einflusszonen erarbeitetes Vokabular zusammen,489 nicht um etwas abzubilden, sondern um das menschliche Element, mannigfaltig interpretierbar, sichtbar werden zu lassen.

3.2.7 Entwicklungslinien im Spätwerk – Sport und Musik als Motivinspirationen

Bedeutung des Sports Sport ist ein Teil der Menschheitsgeschichte, in den Kulturen des Alten Ägypten wie in der griechischen und römischen Kultur ist der Sport tief verankert.490 Der heute reguläre Begriff „Sport“ sowie das neuzeitliche Verständnis von Sport kommen aus England. Die moderne Entwicklung des Sports geht einher mit der fortschreitenden Industrialisierung, die ihren Ausgangspunkt ebenfalls im Vereinigten Königreich hatte, worin sich ein erster Anknüpfungspunkt an die Werkintention Hagedorns finden lässt, der sich für die positiven Auswirkungen des technischen Fortschritts interessiert hatte. Das Leistungsdenken, die Entwicklung von Routinen und Technisierung finden sich sowohl in den sich durch die Industrialisierung neu strukturierenden Arbeitsprozessen, als auch innerhalb des Sports, in dem der Wettkampfgedanke immer stärker geworden war,

488 Inwieweit sich Hagedorn mit den Auffassungen und den Werken Paul Klees auseinandergesetzt hatte, dafür existieren keine Belege, jedoch hatte er für den Werkkatalog „Europäische Wurzeln – Amerikanische Blüten“ selbst ein Zitat Klees gewählt, welches diese Intention Klees belegt. Klee hatte seinem Schaffen die Absicht zugrunde gelegt: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Vgl. zu Klees Ästhetik: G. di San Lazzaro: Paul Klee. Leben und Werk. München 1958, S. 107-112. 489 Auch Curt Heigl hatte in seinem Vorwort im Katalog zur Ausstellung in der Nürnberger Kunsthalle auf diesen Bezug zu Paul Klees Theorie verwiesen. „Psychogram“ wurde dort gezeigt und befindet sich heute im Besitz des Neuen Museums in Nürnberg. Es soll angenommen werden, dass Retrospektive 1981 zur Überarbeitung an „Psychogram“, aber auch zu dessen endgültiger Fertigstellung, beigetragen hatte. Vgl. Kat. Kunsthalle, S. 8. 490 Vgl. Julius Bohus: Sportgeschichte. Gesellschaft und Sport von Mykene bis heute. München, Wien, Zürich 1986, S. 9 und S. 126. 228

was mit der Ausrichtung der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit 1896 einherging.491 Durch die ideologische Zweckentfremdung des Sports im Nationalsozialismus erfuhr der Sport erstmals eine negative Konnotation, welche durch die Zeit des Kalten Krieges hindurch angehalten beziehungsweise eine neuen Dimension erfahren hatte, da dieser bisweilen in den Sportstätten eine Ausweitung erfuhr.492 In den USA wurden durch europäische Siedler ab dem 17. Jahrhundert Ballsportarten populär. In der Gesellschaft der USA ist Sport fest verankert und bildet einen Teil des Wertesystems. Dies bezieht sich nicht nur auf die eigene sportliche Aktivität des Individuums, sondern vor allem auch auf die passive Ausübung des Sports, als Fan.493 Hagedorn, der sich in den USA integriert und das gesellschaftliche Leben aufmerksam verfolgt und nach Möglichkeit daran teilgenommen hatte, reflektierte die Begeisterung für den Sport in einigen Werken.

Inspiration Musik Ebenso lebensprägend und damit kulturübergreifend wie die sportliche Betätigung, begleitet die Musik die menschliche Existenz. Im Gegensatz zum Sport gehört die Musik zu den Künsten, deren lange vorherrschende hierarchische Struktur sie anführte. Mit einer im 19. Jahrhundert einsetzenden Synthese und damit einhergehenden Gleichwertigkeit der Künste, fand auch eine gegenseitige Inspiration statt, sodass musikalische Klangformen bildkünstlerische Umsetzung fanden oder Künstler zu Kompositionen inspirierten. Eine Potenzierung der bildnerischen Darstellung von Musik setzte im 19. Jahrhundert ein. Der Hierarchiewandel zeichnete sich bereits früher ab, so werden die um 1802 entstandenen „Vier Zeiten“ von Philipp Otto Runge zusammen mit dem Begriff der Komposition in den Kontext der Musik gestellt, auch wenn Runge nicht direkt von einer musikalischen Komposition inspiriert war. Vielmehr hatte er Parallelen zwischen einer musikalischen und einer

491 Im Zuge der Vorbereitungen zu den Olympischen Spielen 1916, die in Berlin stattfinden sollten, wurden in Deutschland Gesetze den Sport- und dessen Spielstätten betreffend, verabschiedet und ein Sportorden ins Leben gerufen. Vgl. Carl Diem: Gedanken zur Sportgeschichte. Stuttgart 1965, S. 87-100. 492 Vgl. Bohus, Sportgeschichte, S. 148-151 und S. 156-158. 493 Vgl. Felix Maier-Lenz: Us vs. All. Sport, Identität und Nationalismus in den USA. Phil. Diss. München 2011, S. 41-48. 229

malerischen Komposition erkannt, die durch Variation eines Themas schließlich eine mögliche Abstraktion birgt, womit er einen zeitlich weiten Vorgriff auf später einsetzende Abstraktionstendenzen nahm.494 Die Musik war der Malerei, vor allem hinsichtlich abstrakter Tendenzen, stets überlegen, da die Musik immateriell und nicht-mimetisch arbeitet. Ihre Schöpfungsvielfalt bezieht die Musik aus den nahezu grenzenlosen Möglichkeiten jeglichen tonerzeugenden Instruments oder Geräts, was vor allem mit der Entwicklung der Neuen Musik (3.2.5.4.4) ab dem frühen 20. Jahrhundert erneut erweitert worden ist. In vergleichbarer Weise, wie bildende Künstler von musikalischen Kompositionen inspiriert werden, existiert derselbe Effekt vice verso. Claude Debussy und Igor Strawinsky erhielten Inspiration aus moderner Malerei und Werke wie Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ wandeln bildnerische Vorlagen in Klang oder Bühnenaktion ab.495 Hagedorns Auseinandersetzung mit Musik wird demzufolge auch in Verbindung mit der malerischen Interpretation von Musik von Wassily Kandinsky, František Kupka, Paul Klee und Stuart Davis gesetzt.

3.2.7.1 Sport als Bildthematik in Hagedorns späten Werken

Die antike Kunst kennt zahlreiche Darstellungen sportlicher Betätigung, vor allem das idealschöne Bildnis des Athleten. Diese Bildideen werden erst mit der Renaissance wieder aufgegriffen, was in der barocken Malerei bereits wieder reduziert wird, abgesehen von Darstellungen verschiedener Eissportarten in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts.496 Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bilden sich, auch bedingt durch die nun einsetzende Gründung der Sportvereine und durch die intensive Förderung von Sport in England, neue Sportarten aus und finden verstärkt Beachtung durch die Malerei.497

494 Vgl. Karin von Maur: Vom Klang der Bilder. München, London, New York 1999, S. 10f. 495 Zu den reziproken Inspirationen von Musik und Bildkunst vgl. Ebd., S. 138-148. 496 Vgl. Art. „Sport“. In: Lexikon der Kunst. Bd. 6. Leipzig 2004, S. 813-815. 497 So malte bereits 1821 Theodor Gericault das Bild „Pferderennen in Epsom“, 1821, Öl auf Leinwand, 122x92cm, Musée du Louvre, Paris, Frankreich. 230

Sportive Bildinhalte ab dem 20. Jahrhundert Um 1817 wurde das erste Patent auf ein Fahrrad angemeldet und ab dem späten 19. Jahrhundert war das Radfahren bereits populärer Bestandteil des Spektrums der Sportarten. So zeigte Jean Metzinger in einer Serie aus Studien und Ölgemälden im Zeitraum von 1912 bis 1914 eines der ersten Motive eines Radrennfahrers (Abb. 240). Indem er den Betrachter direkt an den Rand der Rennstrecke positioniert, erfährt dieser nicht nur die Dynamik und Kraft des Rennfahrers, sondern Metzinger schafft auch eine neue Idee von Kunst, indem er geometrische Formen mit den Darstellungsmöglichkeiten verknüpfte, die einen Bewegungsablauf visualisieren. Diese kubofuturistische Malerei basiert auf den Bildideen Braques und Picassos, sie greift die Prinzipien des zwei Jahre vorher entstandenen „Akt eine Treppe herabsteigend“ (Abb. 218) von Duchamp auf. Während in den Werken des italienischen Futurismus der Sport vor allem hinsichtlich seiner Dynamik und technisierten Schnelligkeit Eingang in die Bildmotivik gefunden hatte, thematisieren Künstler der Neuen Sachlichkeit den Sport aus gesellschaftskritischer Sicht.498 Arvid Fougstedt zeigte 1920 zwei Boxer, die einem einzelnen Zuschauer aus einer höheren Gesellschaftsschicht zur Unterhaltung dienen und auch Sonia Delaunay zeigte bereits 1926 eine farbenfrohe Läufergruppe in Trikots mit auffälligen Startnummern. Im selben Jahr thematisierte Anton Räderscheidt mit einer nackten Tennisspielerin (Abb. 241) nicht nur diese Individualsportart, sondern verweist in seiner Bildkonstellation auf den Voyeurismus und das Ausgesetztsein der Frau.499 Auch Léger hatte die Motivik des Sports aufgegriffen und zeigte Athleten beim Schwimmen und beim Radfahren. Möglicherweise vergleichbar einem Zeitgeist500 verhaftet, hatte sich auch Willi Baumeister in den Jahren 1926 und 1931 mit dieser Thematik in Zeichnungen auseinandergesetzt.501 In Parallelität mit seiner bereits erwähnten

498 Hier beispielsweise auch Karl Hubbuch: „Die Schwimmerin von Köln“, 1923, aquarellierte Bleistiftzeichnung, 66,3x48cm, Städtische Kunsthalle Mannheim. Die dominante Brückenkonstruktion in diesem Bild visualisiert eine technische Übermacht, die Schwimmerin selbst verweist auf ein Dilemma, nach dem sich diese Schwimmer durch waghalsige Sprünge in den Rhein ein schmales Zubrot für diese vermeintliche Attraktion verdienten. Vgl. Michalski, Neue Sachlichkeit, S. 96. 499 Ebd., S. 120. 500 Zur gesellschaftlichen und künstlerischen Relevanz des Sports vor allem in der Zwischenkriegszeit vgl. Joann Skrypzak: Sporting Modernity. Artists and the athletic body in Germany 1918-1934, in: Laurinda S. Dixon (Hg.): In Sickness and Health: Desease as metaphor in Art in Popular Wisdom. Cranbury 2004, S. 188. 501 Vgl. Ponert, Baumeister, S. 27. 231

Auseinandersetzung mit der Thematik Mensch und Maschine versuchte Baumeister den sportiv tätigen Körper analog zu einem mechanisierten Ablauf darzustellen.502 Im Gegensatz zu Hagedorn, der nach einer positiven, visionären Symbiose des Menschen mit der Technik suchte, verweist Baumeister auf den entindividualisierten Menschen.503 In der frühen Arbeit „Cyclist“ zeigt Lindner einen Rad fahrenden Jungen, der jeglicher sportiver oder vergnüglicher Anmutung entbehrt (Abb. 242). Er trägt ein weiß-blaues Trikot, orangefarbene Hose und Schuhe, dazu rote Strümpfe und Handschuhe. Trotz der starren Darstellung scheint der Radfahrer in voller Fahrt direkt auf den Betrachter zuzufahren. Da der Betrachter einen niedrigen Standpunkt einnimmt, verstärkt sich dieser Eindruck noch. Obwohl stark betont, sind die Körperumrisse des Radfahrers fließend und weich und bilden damit einen Kontrast zum klar strukturierten Hintergrund. Das Rad selbst erscheint technoid und ist stark vereinfacht abgebildet. Die Komposition ist trotz einer gewissen Dynamik steif und vermittelt dem Betrachter Beziehungslosigkeit und Kühle.

Sport als Motiv in Hagedorns Malerei – „Siren“ Mit der Arbeit „Dimorphous Composition“ (Abb. 221) inkludierte Hagedorn erstmals die Thematik des Sports. Betrachtet man ausschließlich den linken Bildteil, so findet dieser sich wieder in der Arbeit „Siren“ (Abb. 158) aus dem Jahr 1984. Trotz des weit vorangeschrittenen Abstraktionsprozesses wird der Betrachter direkt der dem Bild eingeschriebenen Figürlichkeit gewahr. Während Lindner einzig durch den zwar figürlich trägen, jedoch in leicht gebückter Haltung, an einen Rennradfahrer erinnernden und frontal auf den Betrachter zusteuernden Radfahrer, Bewegung andeutet, geschieht dies bei Hagedorn durch ein scheinbares Ineinandergreifen der einzelnen Bildelemente. Die gebogene, hier rosafarben kolorierte Linie (3.2.6.3), welche bereits in „Hommage to L.“ (Abb. 216) die Sprache transportierenden Kugeln im Bildraum verbunden hatte, kann im Bildvergleich zu Lindners „Cyclist“ als ein Fahrradlenker interpretiert werden. In Rückbezug auf die vorangegangene Interpretation als Verbindungselement, wie dies mechanisch ein Schlauch oder organisch ein

502 Vgl. zu Baumeisters Sportbildern auch die Einträge aus dem Tagebuch 1933-1937, in: Adriani, Baumeister, S. 103-108. 503 Vgl. Hadwig Goez: Post für den Professor. Ein Brief an Willy Baumeister, in: Ackermann, Piktogramme, S. 57. 232

Blutgefäß sein können, so verbindet der Fahrradlenker ebenfalls den Fahrer mit dem Fahrrad und ist das maßgebliche Steuerungselement des Fahrrades. Die drei hellen, dem roten Kreis vorgelagerten Kreisflächen und Kugeln formen den Oberkörper des Radfahrers, der Sprachbezug der Kugel entfällt in dieser Arbeit, der den Kreisformen implizierte Verweis auf menschliche Figürlichkeit bleibt jedoch relevant. Die weiße Form im Mittelgrund erinnert in diesem Zusammenhang an ein muskulöses und kräftig tretendes Bein des Radfahrers. Dabei lassen die schwarz- weißen Flächen, die auch in den Werken Kandinskys auftreten, an Start- und Ziellinien denken. Bereits Max Beckmann hatte diese schwarz-weiße, stets mit dem Sport zu konnotierende Form in seiner Arbeit „Rugbyspieler“ (Abb. 222) aus dem Jahr 1929 eingesetzt. In eindringlicher, komprimierter und hochdynamischer Komposition visualisiert Beckmann den spannenden Moment im Spiel, kurz bevor der Ball über die Malstange in das gegnerische Malfeld geworfen wird. Genau wie in Beckmanns Arbeit bündelt bei Hagedorn die in der oberen Bildmitte angebrachte schwarz-weiße Line alle Bewegung und Kraft, die beiden Bildern immanent ist. Stellt man „Siren“ dem Bild „Rugbyspieler“ gegenüber, so erscheint „Siren“ wie eine Abstrahierung dessen. Die aufsteigend gezackte Anordnung der Arme und Beine wiederholt Hagedorn mit den diagonal vor dem flächigen Bildgrund gelagerten hellen, voluminösen Formen. Hagedorn beschließt das schmale Hochformat nach oben und nach unten mit Kreisflächen und Kugelformen, was einerseits die Bildaufbauten aus „Chantress“ (Abb. 212) oder „Inversion on White“ (Abb. 214) bestätigt und andererseits in Beckmanns Gemälde eine Entsprechung durch den Ball am oberen wie durch die kreisrunde Öffnung des Megaphons am unteren Bildrand findet. Beckmann legte vor das Megaphon noch das flugblattartige Spielprogramm, Hagedorn lehnt vor die untere Kugel eine Karte, wie in „Dimorphous Composition“ oder eine Form, die an eine Medaille am Band erinnert wie in „Siren“. Auch wenn eine Äußerung Hagedorns zu den Werken Beckmanns fehlt,504 eine Bezüglichkeit zwischen diesen beiden Werken wird durch das Moment des Changierens zwischen Statik und Bewegung,

504 Über diese Gegenüberstellung hinaus muss bedacht werden, dass Beckmann die zeitgenössischen Neuerungen Légers adaptiert und in sein Werk aufgenommen und zudem die Forderung Cézannes umgesetzt hatte, die Natur gemäß der Formen des Zylinders, der Kugel und des Kegels zu erfassen. Durch diese geistige Verwandtschaft gliedert sich Beckmanns Arbeit ebenfalls in die Einflusssphäre ein, welcher Karl Hagedorn sich ausgesetzt hatte. Vgl.: Stephan Lackner: Max Beckmann Köln 1991, S. 21. 233

durch die Steigerung der Kontraste sowie durch den gedrängten Bildaufbau evident.505 Die Arbeit zeigt, dass es Hagedorn gelungen ist, die menschliche Figur in ihrer äußeren Erscheinung malerisch aufzulösen und in ein für sein Werk typisch gewordenes Geflecht aus Formen zu integrieren Mit dem vorgestellten bildnerischen Mittel der Kreisform und dem Einbezug von durch die Disziplin Sport inspirierter Formenvariationen, generiert Hagedorn einen erneuten Verweis auf den Menschen, da der Sport eine menschliche Erfindung ist, beziehungsweise vom Menschen ausgeübt wird. Der Bildtitel „Siren“ kann den Betrachter an eine Sirene denken lassen, die mit lautem Gerät verbunden werden kann, welches die Fans und Zuschauer nutzen. Berücksichtig man die Nähe des Wortes Siren zu den mythologischen Wesen der Sirenen, so kann folgende gedankliche Verknüpfung entstehen. Die Sirenen sind lockende Wesen, deren betörenden Gesang Seeleute verfallen seien.506 Sport kann eine vergleichbare Faszination und Anziehungskraft auf Personen als Fans ausüben, der mögliche Sieg ist dabei die anziehendste Realität für den Sportler selbst. Ein realer Rückbezug hinsichtlich der Thematik aber ist der Name „Siren“, den ein US-amerikanischer Fahrradhersteller trägt.507 Die Thematik des Radfahrers und des Radsports greift Hagedorn erneut im fünfzehn Jahre später entstandenen Werk „Prolog“ (Abb. 243) auf, welches sich in der Bildanlage stark an „Siren“ anlehnt. Der Prolog ist die Bezeichnung für das Auftaktrennen von Radsportturnieren und dient damit als ein Beleg für diese Bildinterpretation.

„Checkmate“ Indem Karl Hagedorn das Element des Sports in seine Motivik integriert findet er zu einer neuen Form der abstrahierten Figur. Trotz eines nach wie vor hohen Abstraktionsgrades wird die Figur wieder sichtbarer, für den Betrachter greifbarer.

505 Vgl. zu der Arbeit „Rugbyspieler“ von Max Beckmann, ebd., S. 78. 506 Vgl. Hans von Geisau: Art. „Seirenes“. In: Hans Gärtner/Walther Sontheimer/Konrat Ziegler: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly’s Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 5. München 1975, Sp. 79f. In Bezugnahme auf den betörenden Gesang der Sirenen (Seirenes) als deren vornehmstes Attribut, sei auch auf den nachfolgend (3.2.7.1) angeführten Einflussbereich der Musik auf einige Werke Hagedorns verwiesen. Die Arbeit „Siren“ soll an dieser Stelle unter dem Einflussbereich des Sports betrachtet werden. 507 Vgl. die offizielle Internetseite des US-amerikanischen Fahrradherstellers Siren Bycicles unter dem URL: https://www.sirenbicycles.com/ (Stand: 01.10.2016). 234

In kompositorisch wie farblich stilisierter Ausführung fügte Hagedorn in dem 1984 gemalten Bild „Checkmate“ (Abb. 244) einen erneuten sportlichen Rückbezug in seine Bildwelt ein. Die Bildthematik ist in dieser Arbeit nicht die Fokussierung auf einen Leistungsträger wie in „Dimorphous Composition“, „Siren“ oder „Prolog“. Vielmehr findet auch hier der Rückbezug auf „Hommage to L.“ statt, denn Hagedorn setzt erneut zwei Personen in Interaktion. Die linke Bildfigur agiert vor einem Hintergrund, der ein festes Gefüge aus zahlreichen, variierenden geometrischen Formen, Mustern und Farbflächen ist. Sieht man von dem oberen Teil aus vier Kreisformen ab, so manifestiert sich hier der figürliche Eindruck in erster Linie durch die, sich klar vom Bildhintergrund abhebenden weißen und angewinkelten Formen, die den Betrachter den Eindruck von sich in Bewegung befindlichen Beinen vermitteln. Die Figur auf der rechten Bildseite agiert außerhalb des Raums der linken Figur. Zum unteren Bildrand hin fehlt ihr jegliches Raumgefüge im Hintergrund auf Höhe des Oberkörpers ist sie hinterfangen von einem mehrgliedrigen Kreissegment, das wie ein Pendant zu dem blockhaften Gefüge erscheint, welches die linke Bildfigur umfasst. Durch die erneut in das Bild integrierte Interaktion übernehmen auch hier die Kugeln ihre Trägerfunktion für die Visualisierung und den innerbildlichen Transport von Sprache und zwischenmenschlichem Austausch. Der sportliche und damit menschlich-verbindende Aspekt erschließt sich in diesem Fall über den Bildtitel „Checkmate“, - schachmatt. Dies kann einerseits ein direkter Hinweis auf das Schachspiel sein, der durch das Schachbrettmuster im linken Bildteil potenziert wird, aber genauso auf eine Interaktion verweisen, in der eine der beiden Personen im übertragenen Sinn „schachmatt gesetzt“ wird, wie es ein umgangssprachlich geprägter Begriff für „jemanden handlungsunfähig machen“ oder „besiegen“ ist. Letztere Interpretationsmöglichkeit wird gestützt durch die linke, kniende, also bereits schachmatt gesetzte Figur. Willi Baumeister hatte in einer Reihe von Zeichnungen auch über die konzentrierte Paarbeziehung beim Schachspiel reflektiert, wie das beispielsweise die Arbeit „Schachspieler“ (Abb. 244a) aus dem Jahr 1927 zeigt. Die Darstellung ist klarer und geometrischer als die Arbeit Hagedorns, die Verknüpfung von Fläche, Form, Figur und Handlung sind jedoch vergleichbar, ebenso die schwebende, sich in der Bildmitte konzentrierende Komposition.

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„La Passagiata“ Die sportiv inspirierte Motivik findet eine Verdichtung und formale Fortführung in der Arbeit „La Passagiata“ (Abb. 157). Auch wenn ein Spaziergang eine sehr vereinfachte, unangestrengte Aktivität ist, so impliziert auch der Spaziergang letztendlich Bewegung. Duchamp zeigte mit „Akt, eine Treppe hinabsteigend“ (Abb. 218) eine Idee vom Wesen der Bewegung an sich. Im Gegensatz dazu übernimmt Hagedorn in „La Passagiata“ zwar das Prinzip der sich wiederholenden Formen, um die einzelnen Zeitstufen der Bewegung zu zeigen, dennoch wirkt seine Darstellung zweier Figuren in „La Passagiata“ mechanisch, ohne das weiche Fließen aus Duchamps Arbeit. Vielmehr sind also die statischen und kraftvollen Bewegunsabläufe in den Werken des italienischen Futurismus ein Vorbild. Umberto Boccionis Skulptur „Urformen der Bewegung im Raum“ (Abb. 219) visualisiert die Bewegung, ihre Phasen und ihre immateriellen Auswirkungen im Raum.508 Hagedorn greift das Prinzip des bewegten Körpers und der Abbildung der, von diesem Körper ausgeführten, Bewegung durch die wiederholte, sich überlagernde Darstellung einzelner Formen. Hagedorn nutzte in „La Passagiata“ erneut die zweipolige Komposition aus „Hommage to L.“. Das schmale Querformat zeigt in der rechten Bildhälfte die Anmutung einer sich in schnellem Schritt befindlichen Person. Kenntlich gemacht ist eine körperlich-menschliche Erscheinung lediglich durch das gelb kolorierte, unregelmäßige Farbfeld, welches den Betrachter den Eindruck eines Torsos mit zwei Beinen vermittelt, der Torso verfügt über eine gerade Rückenlinie und über einen stark nach vorne gewölbten Bauch, die Person ist damit im Profil, nach links gewandt, dargestellt. Ein Bein setzt auf dem Boden auf, das andere ist gerade nach hinten weggestreckt, alleine diese Beinhaltung ist ein Verweis auf einen schnellen Lauf. Zwischen den Beinen der Figur befindet sich ein dreiviertelförmiges Kreissegment, welches den Bewegungsablauf des Beinanhebens optisch unterstützt. Die Geschwindigkeit wird durch die hinter dem Rücken der Person wellenförmig bis an den rechten Bildrand verlaufenden Farbflächen, die

508 Umberto Boccioni suchte innerhalb der Bildhauerei nach einer neuen Definition des Verhältnisses von Skulptur und Raum. Er stellte dabei die Bewegung und den zeitlichen Ablauf der Bewegung in das Zentrum seiner Überlegungen. Seine Skulptur scheint die gegenseitige Durchdringung von Figur und Raum zu visualisieren. Vgl.: Martin/Grosenick, Futurismus, S. 48. 236

alternierend in Weiß, Grün und Blau koloriert sind, markiert. Auf der linken Bildseite befindet sich ebenfalls eine Figur. Sie verleugnet in der Kopfpartie ihre Herkunft aus den vorangegangenen Werken „Dimorphous Composition“ (Abb. 221) und „Siren“ (Abb. 158) nicht, zeigt sich jedoch schulterabwärts in einer neuen Ausformung. Sie verfügt über zwei vom Körper weggestreckte Arme und ab Taillenhöhe vernimmt der Betrachter eine nach links angewinkelte, in Blau und Grün kolorierte Form als ein Bein. Diese Beinform findet zweifache Fortsetzung in grauen, plastisch modellierten Flächensegmenten, eine erneuter Hinweis auf Gleichzeitigkeit innerhalb der Darstellung. In der Gesamtschau befinden sich auf der Bildfläche damit zwei Personen, die in schnellem Schritt hintereinander herlaufen. Eingebettet sind sie in ein für die Bildstukturen Hagedorns verbindlich gewordenenes Hintergrundgeflecht aus geometrisch und biomorph inspirierten Formen. Die Kopfpartie der linken Figur ist erneut eindeutig mit der Hilfe von Kreisen und Kugeln gestaltet. Aufgrund ihrer Haltung mit zwei ausgestreckten Armen, könnte der Eindruck entstehen, die Figur wendet sich im Gehen zurück zur rechten Figur und spricht mit ausladender Geste, wobei die um den Kopf gruppierten Kugeln erneut als bildinterne Träger gesprochener Sprache, in welcher sich die beiden Protagonisten austauschen oder die sie sich zurufen, dienen. Hagedorn behält auch in „La Passagiata“ die Formenvielfalt sowie die Intergration der menschlich anmutenden Figuren in den Bildgrund bei. Sein Bestreben, die äußere Erscheinung des Menschen aufzulösen, ihn aber dennoch innerhalb seines, für sein Spätwerk verbindlich gewordenen, Abstraktionsgrades sichtbar werden zu lassen, ist ihm auch in dieser Arbeit gelungen. Dennoch erlauben der virtuose Einsatz seines erarbeiteten Formenvokabulars und die Ausgewogenheit der Formen- sowie der Farbkomposition die parallele Interpretation als ein rein abstraktes Bild. Neben der Integration organischer Elemente, wie den Rippenbogen, die an Adern und Sehen erinnernde Schlauchform sowie die Kreise und Kugeln, finden sich auch hier wieder mechanisch basierte Elemente, wie das gewundene Rohrsystem am mittigen unteren Bildrand, der Einsatz der Konstruktionslinie (3.2.6.1) und die teilweise metallisch anmutende Farbgestaltung einzelner Formen, deren Grundlage sich im Werk Fernand Légers findet.

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Eine formale Weiterfühung dieser festen Bildgefüge findet in einer Reihe von späten Werken statt, welche die klare, aus der Farbfeldmalerei inspirierte, Gegeneinanderstellung von Farbflächen durch Vereinfachung der Formen, durch Dämpfung der Farben und schließlich wieder durch eine, in dieser Werkphase erneut potenzierte, Auflösung des Menschen verstärkt. Die Arbeit „À votre santé“ (Abb. 245) aus dem Jahr 2002 spricht von diesen Tendenzen. Das hochformatige Bild rekurriert erneut mit der schwebenden Formenanordnung, die auf „12 A.M. d.s.t.“ (Abb. 15) und auf „Psychogram“ (Abb. 236) basiert. Der musikalische Anklang in diesem Werk ist an dieser Stelle als ein Verweis auf die Musik als eine weitere Bildthematik in Karl Hagedorns späten Arbeiten gesetzt.

3.2.7.2 Reduktion der Bildstrukturen und Musik als Impulsgeber für Hagedorns späte Werke

Die Werke František Kupkas wurden bereits in Bezug auf Hagedorns Einsatz der Kreisformen (ab 3.2.5.1) in die Analyse mit einbezogen. Ab etwa 1911 setzte Kupka in seiner Malerei einen Verweis auf die Musik. Er arbeitete mit dem Rückbezug auf die Klangwelt hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte und Fragestellungen. Eine Verbindung von Musik und Kunst lehnte er zwar ab,509 jedoch bezieht er sich auf formelle Aspekte, welche die Musik für seine Werke anbot, allen voran die nicht existente Figuration.510 Die Auflösung der äußeren Form des Menschen, dessen Verschmelzung mit den abstrakten Formen sowie dessen Integration in eine technisch-mechanisch inspirierte Bildumgebung kulminierte in Hagedorns Werken beispielsweise in einer Arbeit wie „Alba“

509 Kupka verweigerte symbolistische Analogien zwischen Musik und Kunst. Er erkannte an, dass Musik zwar vor dem inneren Auge des Zuhörers Bilder evoziert, aber er wollte mit seiner von der Musik inspirierten Malerei nicht auf Metaphern wie „Musikalität des Farbspiels“ eingehen, Farben und Töne gleichen sich in seinem Verständnis nicht. Vgl. Laurence Lyon Blum: Amorpha, in: Anděl/Kosinsky, Kupka, S. 115. 510 Apollinaire hatte für diese Werke, welche den Einfluss der Musik deutlich zeigen, den Begriff „Orphismus“ geprägt, eine Kategorie, welcher vor allem auch die Werke Robert Delaunays zuzuordnen sind. Kupkas Arbeiten sind in dessen Nähe angesiedelt, den Begriff „Orphismus“ aber lehnte er für sich zunächst ab. In einem späteren Rückblick hatte er sich aber schließlich doch mit dieser Bezeichnung identifizieren können. Zur Klärung dieser Begrifflichkeiten und dieser Ambivalenz Kupkas vgl. Dorothy Kosinsky: Die Rezeption Kupkas: Identität und Andersheit, in: Ebd., S. 99-104. 238

(Abb. 202) zu der Idee eines Maschinenmenschen. Der Maschinenmensch,511 für viele eine furchterregende Vorstellung, ist bei Hagedorn getragen von der positiven Sicht auf den technischen Fortschritt.

„Arcana“ – Werkbeschreibung und Bildvergleiche Hagedorns Idee der Integration des Menschen in den Kosmos gelang ihm schließlich in der Arbeit „Arcana“ (Abb. 96) aus dem Jahr 1990, in der sowohl organische als auch mechanische Bezüge völlig zugunsten von Form und Farbe aufgelöst zu sein scheinen. Zudem führte Hagedorn in Werken, die in der Umgebung der Arbeit „Arcana“ enstanden sind, ein, die Bildhintergründe bestimmendes Formengeflecht zu gesteigerter Abstraktion und damit Vereinfachung, sodass diese Werke die Verblockung von Kompositionen wie „Chantress“ (Abb. 212) fortführen und simplifizieren. Die Komposition der Arbeit „Arcana“ folgt dem für Hagedorn typischen Schema der dicht gedrängten Zusammenschau von Formen und Farben vor einem undefinierten Hintergrund. Teilweise sind die Formen scharf gegeneinander abgetrennt, greifen aber auch ineinander oder überlagern sich. Die Härte der klaren Abgrenzung der Flächen wird gemildert durch den Farbauftrag innerhalb der Flächen. Hagedorn behandelt die einzelnen Flächen malerisch, indem er den Pinselstrich sichtbar macht, die Farbe teilweise leicht pastos aufträgt und in den einzelnen Flächen mit Schattierungen arbeitet. „Arcana“ erscheint arabesk und rückt Hagedorns Arbeit erneut in die Nähe von Stuart Davis, aber auch, zumindest formal, an das in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA entstandene Pattern Painting.512 Die Arbeit „Colonial Cubism“ (Abb. 246) von Stuart Davis, dessen Geometrisierung und Stilisierung der Objekte ebenfalls in die Rezeption Légers zu klassifizieren ist, ist von einem vergleichbar verblockten Darstellungsmodus

511 Intendiert ist mit der Bezeichnung „Maschinenmensch“ eine Sichtweise auf einen, von der, vom Menschen selbst geschaffenen Technik determinierten Menschen, die jegliche humane Charakteristika eliminiert. In diesem Zusammenhang sei jedoch auch auf die Filmfigur „Maschinenmensch“ in dem Film „Metropolis“ verwiesen; es ist anzunehmen, dass Hagedorn aufgrund seiner Begeisterung für den Film, dieses Werk kannte. Fritz Lang (Buch und Regie): Metropolis. Deutschland 1927. 153 Minuten. 512 Das Pattern Painting ist in den siebziger Jahren als eine neue Formulierung von Spontaneität innerhalb der Malerei entstanden. Ornamentik und Dekoration stehen hierin im Vordergrund, weshalb Hagedorns Malerei auch lediglich in formaler Nähe zu dieser Kunstrichtung gesehen werden soll. Vgl. Art. „Pattern Painting“. In: Wolfgang Stadler (Hg.): Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst. 12 Bde. Bd. 9. Freiburg 1989, S. 101. 239

wie „Arcana“ determiniert. Beide abstrakte Bildgefüge agieren in der Bildebene vor einem undefinierten Hintergrund, zu den Bildrändern hin lösen sich einzelne Formen aus dem zentralen Gebilde, wodurch Dynamik entsteht. Während sich die einzelnen Formen in Davis‘ Gemälde in Bewegung befinden und sich auch diagonal überschneiden, so ist Hagedorns Komposition linear aufgebaut. Beide Werke aber reduzieren den Formenkanon auf geometrische, biomorphe und annähernd figurative Symbole unter dem gänzlichen Verzicht von Buchstaben oder Zahlen. Die Komposition von „Arcana“ breitet sich von oben rechts auf dem Bildgrund aus, wobei sie zum linken Bildrand hin sanft in den Bildhintergrund ausläuft, der das zur Bildmitte hin immer kompakter werdende Formengebilde trägt. Die Formen, aus denen das Gemälde besteht, sind zweierlei Natur. Es gibt die weich auslaufenden, unbegrenzten Farbflächen und diejenigen Flächen mit klaren Begrenzungen gegeneinander. Hierin weicht Hagedorn von Davis ab, dessen Bildgefüge auf zwar unregelmäßig, aber dennoch klar begrenzten Formen basiert. Hagedorn bedient sich klassischer geometrischer Formen, wie Dreieck, Kreis, schmale Quer- oder Hochrechtecke und kleine Quadrate. Viele Formen sind angeschnitten, oder haben keine geometrische Grundlage. Weiterhin sind stark stilisierte Verweise auf das Formenvokabular Hagedorns (ab 3.2.6) integriert, der Pfeil, die Messgeräteform, die formentleerte Kreisform, die hier vergleichbar des chinesischen Yin-und-Yang-Symbols anmutet, das in einem roten Kreis mit nach unten führender Line eingebettet ist. Auf der linken Seite befindet sich eine Form, die den Gedanken an eine stark stilisierte, gebückte Figur evoziert, ein erster Hinweis auf die stete Anwesenheit des Menschen in Hagedorns Werken. In der rechten Bildhälfte ist die geometrisch strukturierte Arbeit von drei dünnen, weich geschwungenen Linien durchzogen, welche das starre Konstrukt dynamisch durchbrechen, ebenfalls organische Weichheit in die Arbeit integrieren und ein Rückbezug auf die weichen Linien in der oberen linken Bildhälfte in „Alba“ sind, die dort der konstruierten Figur Dynamik und Bewegung verleihen und gleichzeitig auf die Schlauchform, welche in anderen Kompositionen verbindenden Charakter besaß. Die Darstellung bietet zunächst kaum Interpretationsmöglichkeiten. Diese Hermetik wird begünstigt durch den Titel. Ein werkinternes Paradoxon, denn Hagedorn gibt mit den direkt in die Abbildung integrierten Werktiteln einen

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direkten Verweis auf Inhalt und Bildgeschehen. Der Titel „Arcana“ bedeutet in der englischen Sprache „Geheimnisse“ - gewissermaßen nutzte Hagedorn somit einen Kunstgriff, denn alles bleibt offen und wird gleichzeitig verhüllt. Hinsichtlich Hagedorns Vorstellung eines aufgelösten und in den (Bild-)kosmos, integrierten Menschen, lässt der Bildtitel „Arcana“ an den Begriff „Arcanum“ denken. „Arcanum“ ist ein Überbegriff für einen Bestandteil der hermetischen Lehre der Alchemie.513 Dieser Konnex mag zu frei interpretiert sein, dennoch existiert eine Verbindung, die Hagedorn auf die Theorien des Paracelsus aufmerksam gemacht haben könnte, die zudem einen Interpretationsansatz dieses und weiterer Werke mit sich bringt, welche den eingangs benannten Kontext zur Musik mit den Werken Kupkas und Davis‘ verifiziert. Vorangegangen war im Zuge der Beschreibung der Arbeit „Hommage to L.“ (Abb. 216) bereits auf die Bekanntschaft des Ehepaares Hagedorn mit der Schriftstellerin Louise Varèse hingewiesen worden (3.2.5.4.4), der Witwe des Komponisten Edgard Varèse.514 1983 fand in New York ein Konzert zum 100. Geburtstag des Komponisten statt.515 Hagedorn war fasziniert von den Klangexperimenten und hörte diese Musik fortan intensiv. Varèses Verbindung

513 Innerhalb dieser Lehren existiert der Begriff „Homunkulus“. Im Zusammenhang mit alchemistischen Lehren erscheint dieser Begriff bei Paracelsus und auch in pseudoparacelsischen Schriften, vgl. Karl Möseneder: Paracelsus und die Bilder. Über Glauben, Magie und Astrologie im Reformationszeitalter. Tübingen 2009, S. 144. Paracelsus hatte sich mit der Herstellung solcher Homunkuli befasst, im Verständnis kleiner Puppen, welche zu heilenden Zwecken eingesetzt werden sollten. Angesichts Hagedorns Vorstellung von einem Menschen im (Bild-)kosmos kann das Bild „Arcana“ als Visualisierung dieser Idee betrachtet werden. Indem Hagedorn die Figur dekomponiert und gänzlich in einer geometrischen Formenordnung aufgehen lässt, zeigt er nicht den Endpunkt menschlichen Daseins, sondern vielmehr einen veränderten Fortbestand von Leben, was man mit der heilenden, also lebensverlängernden Wirkung der paracelsischen Puppen verbinden könnte. In der Kreisform mit dem schmalen Halsfortsatz in der Komposition von „Arcana“ könnte in diesem Kontext eine Phiole erkannt werden; der Vergleich mit einem Holzschnitt von Nicolaus Hartsoeker (Abb. 247), welcher ein Spermium mit darin bereits angelegtem Homunkulus darstellt, liegt demnach nahe. Varèse hatte die Vorstellung vertreten, dass geistige Gesundheit der Freiheit der Phantasie entspringt, was sich wiederum mit der Intention in dem von ihm notierten Paracelsus-Zitat spiegelt. Vgl. David Huckvale: The occult arts of music. An esoteric survey from Pythagoras to pop culture. Jefferson 2013, S. 93. 514 Varèse, der naturwissenschaftlich und musikalisch ausgebildet war, hatte diese Disziplinen in seiner Musik verknüpft, was eine Parallele zu den Interessensfeldern Karl Hagedorns darstellt. Vor allem für die Fortentwicklung der elektronischen Musik hatte Varèse seit 1928 intensive Studien betrieben. Sie wurde in den Studios des Konzerns Philips realisiert und in einem von Le Corbusier entwickelten Pavillon aufgeführt. Die Verbindung von Varèse und Le Corbusier ist eine weitere Verbindung zu Hagedorn. Vgl. Jean-Noël von der Weid: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main und Leipzig 2001, S. 107-114. – Vgl. Ernst Thomas: Art. „Varèse, Edgard“. In: Riemann Musik Lexikon. Personenteil L-Z. Mainz 1961, S. 837f. 515 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo und Richard Galef an die Verfasserin, die beide darauf hingewiesen haben, dass Hagedorn dieses Konzert besucht habe. 241

von Technik und Musik entsprach Hagedorns Verbindung von Technik und Malerei.516 Eine der wichtigsten Kompositionen von Edgard Varèse jedoch trägt den Titel „Arcana“.517 Varèse reiste oftmals zwischen den Kontinenten und verwob die diversen Einflüsse in seinen Werken wie in seinen Forschungen zur elektronischen Musik. Wie Hagedorn war Varèse Immigrant, beide konnten der Position zwischen den Polen der europäischen Moderne und der amerikanischen Gegenwart Inspiration entnehmen,518 somit greift auch im Besonderen die Komposition „Arcana“ auf europäische Musiktraditionen zurück.519 Auf die erste Seite der Partitur hatte Varèse ein Zitat von Paracelsus520 vermerkt und darunter notiert: „Paracelsus der Große – König der Alchemie“. Und weiter: „Dies ist eine Widmung an Paracelsus, keine Hommage. Die Phantasie gibt dem Traum Formen“. Hagedorn verehrte Varèses Musik, die Interessen der beiden Künstler sind vergleichbar und sie waren beide von der Positivität des technischen Fortschritts überzeugt. Durch Hagedorns Kenntnis dieser Musik besteht die Möglichkeit, dass Hagedorn durch die Auseinandersetzung mit Varèses Werk auf die Lehren des Paracelsus aufmerksam geworden war, weitaus relevanter jedoch ist die Überlegung, inwiefern für Hagedorn die Musik Varèses, in erster Linie die Komposition des Stückes „Arcana“ eine Inspiration war.

516 Varèse arbeitete früh mit elektronischen Instrumenten. Er war, ebenso wie Hagedorn, von dem positiven Nutzen neuester technischer Entwicklungen für die Kunst und für den Menschen überzeugt. Vgl. Elena Ungeheuer: Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung im 20. und im 21. Jahrhundert, in : Jörn Peter Hiekel/Christian Utz (Hgg.): Lexikon Neue Musik. Kassel 2016, S. 79f. 517 Edgard Varèse: Arcana. 1 Satz. Komponiert zwischen 1925 und 1927. Uraufführung 1927 in Philadelphia, Academy of Music mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Leopold Stokowski. 15 Minuten. „Arcana“ gehört zu den wichtigsten Werken der jüngeren Musikgeschichte. Die Komposition beinhaltet Überlegungen zu den Möglichkeiten einer Verwandlung der Elemente. Vgl. Weid, Musik des 20. Jahrhunderts, S. 110. 518 Vgl.: Sabine Feist: Edgard Varèse: Ecuatorial, in: Albrecht Riethmüller (Hg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert. 1925-1945. Laaber 2006, S. 170-176. 519 Vgl.: Helga de la Motte-Haber: Aus der neuen Welt. Die Rezeption der amerikanischen Musik in Europa, in: Matthias Brzoska/Michael Heinemann (Hgg.): Die Musik der Moderne. Laaber 2001, S. 316f. 520 Varèse hatte dort notiert: „Ein Stern existiert, der ist höher als alle anderen. Es ist der Stern der Apokalypse. Der zweite ist dessen Aszendent. Der dritte der Stern der Elemente, davon bestehen vier, sodass sechs Sterne bestehen. Neben diesen gibt es noch einen anderen Stern, die Imagination, aus welcher ein neuer Stern und ein neuer Himmel entstehen werden.“ Edgard Varèse hatte zudem dem Paracelsus den Beinamen „Paracelsus the Great – monarch of Arcana“ verliehen. Vgl. Nanz, Varèse, S. 319. Varèse hatte sich intensiv mit den Lehren des Paracelsus auseinandergesetzt, vgl. Weid, Musik des 20. Jahrhunderts, S. 110. 242

Parallelen zu den musikalisch inspirierten Werken von Paul Klee und Wassily Kandinsky Hagedorn hatte sich mit dem künstlerischen Schaffen Paul Klees auseinander- gesetzt,521 inwiefern er dessen direkt auf Partituren bezogene Werke kannte, ist nicht zu belegen.522 Die Theorie der Farbklänge, die Kandinsky, der ebenfalls von der experimentellen Musik, vor allem von Arnold Schönberg beeinflusst, seinen Werken zugrunde gelegt hatte, war Hagedorn jedoch bekannt.523 Es ist hingegen nicht nachweisbar, ob Hagedorn die Überlegungen Kupkas, Musik und Malerei in Einklang zu bringen, rekapituliert hatte. Das Orchesterwerk „Arcana“ besteht aus einem weichen aber dennoch kraftvollen Unterbau, der im Gemälde mit den dichten roten, grünen und blauen Formen auf der grauen Fläche gleichgesetzt werden kann. Der Unterbau des Musikstückes wird unrhythmisch von hellen oder fast grellen Partien unterbrochen, die sich scharf dissonant absetzen; in Hagedorns Bild markieren dies die gelben Formen. Varèses „Arcana“ ist blockhaft geschichtet, teilweise statisch. Es folgt keinem Thema und es ist geprägt von permanenten Tempiwechseln. Auch Hagedorns Arbeit folgt keiner Leserichtung, viel mehr springt das Auge von Fläche zu Kante, wie bei einer abstrakten Skulptur. Dabei arbeitete Hagedorn aber weder lautmalerisch noch mimetisch.524 Paul Klee war auf der Suche nach einem malerischen Ausdruck, der Farbe, Form und Bewegung in Abstraktion zusammenführte, was er selbst polyphone Malerei nannte.525 Klees „Polyphonie“ (Abb. 248) aus dem Jahr 1932, greift eine ähnliche Palette wie Hagedorns „Arcana“ auf, wenngleich auch um ein Vielfaches gedämpfter. Während Hagedorn, dem musikalischen Vorbild geschuldet, polygonale Farbflächen nutzte, hatte Klee seine Interpretation in eine simple Geometrie aus Quadraten und Rechtecken transformiert, welche das zeitliche

521 Das ist ein unterstützendes Indiz hinsichtlich Karl Hagedorns Wahl des Zitates von Paul Klee in Bode, Europäische Wurzeln. 522 Paul Klee hatte sich nicht nur von Musik künstlerisch inspirieren lassen. Selbst musikalisch ausgebildet, wollte er als Maler ebenso schöpferisch, kompositorisch tätig sein, wie ein Komponist, vgl. Stefan Tolksdorf: Der Klang der Bilder. Paul Klee. Ein Leben. Freiburg im Breisgau 2004, S. 18. 523 Freundliche Mitteilung von Diana Cavallo an die Verfasserin. 524 Bereits seit der Neuzeit wurde dafür plädiert, dass Musik selbst nicht die Natur nachahmen, sondern sich diese aneignen und interpretieren solle. Eben dies wurde ab dem 19. Jahrhundert auch für die Malerei oder Illustration nach oder zu Musikstücken postuliert (Hegel), vgl. zu dieser historischen Entwicklung Motte-Haber, Musik und bildende Kunst, S. 75-80. 525 Vgl. Maur, Klang, S. 9. 243

Element der Musik in ein räumliches Element der Malerei überführt. Während Klee den Gedanken an die Musik durch ein Flirren, durch ein Klingen, seines Farbteppichs hervorruft, so generiert Hagedorn die Verbindung zur Musik durch seine dissonante Komposition.526 In Betrachtung der Lehren Kandinskys sind Parallelen zu Hagedorns Einsatz der Farben in dieser Arbeit zu ziehen. Die angesprochenen, den Ablauf dissonant unterbrechenden Partien, die Hagedorn in der Farbe Gelb visualisiert, sind analog zu Kandinskys Kategorisierung dieser Farbe mit hellen, scharfen Tönen. Die den musikalischen Unterbau zitierenden Formen in rot, blau und grün, finden bei Kandinsky ihre Entsprechungen in ihrer Analogie zu tiefen, ruhigen sowie klaren Tönen. Das den Ausklang oder die Pause markierende Grau oder Weiß bestimmte Hagedorn zum raumlosen Bildgrund, welcher den dem Musikstück „Arcana“ eigenen Verzicht auf Anfang und Ende visualisiert.527 Hagedorn folgte mit seiner dichten aber darin vielförmigen Komposition, wie das auch in den anderen, an Musik erinnernden Arbeiten erscheint, den permanenten Tempi- und Stimmungswechseln in Varèses Musik; im Verständnis der Arbeiten Klees528 ist dies eine direkt aus der Musik hervorgegangene malerische Komposition, die alle bildnerischen Mittel vereint und, gleich der nicht- mimetischen Musik, in eine Abstraktion überführt.

Parallelen zu Kupkas Überlegungen zur Verbindung von Musik und Malerei Kupka hingegen verfolgte nicht die Intention, ein Musikstück malerisch zu interpretieren, vielmehr suchte er nach Darstellung einer Kinetik auf musikalischen Grundlagen.529 Dies gelang ihm vor allem in Werken wie „Fuge in zwei Farben (Amorpha)“ (Abb. 249). Eine Vorstellung von Bewegung auf musikalischer Basis realisierte er mit sich durchdringenden Kreisformen, welche, bereits rekurrierend auf sich selbst als Kreise, eine kosmische Dimension erhalten

526 Zu der Bedeutung der musikalischen Dissonanz für die Malerei, unter anderem bei Kandinsky und Marc, sowie in der Musik seit Arnold Schönberg vgl. Ebd., S. 38-42. 527 Zu den Klang-Farbe-Entsprechungen Wassily Kandinskys vgl.: Zimmermann, Kandinsky, S. 403 und S. 420f. In Gesprächen mit Hagedorns Witwe Diana Cavallo wurde bestätigt, dass Hagedorn die Werke aber auch die Theorien Kandinskys kannte, jedoch kann der tatsächliche Kenntnisstand dieser Kunsttheorien nicht belegt werden. Die Beziehungen, die Kandinsky zwischen Malerei und Musik festgelegt hatte, basieren auf dessen eigener Fähigkeit zu Synästhesie. Kandinskys Parallelen sind zu diesem Zeitpunkt nicht neu, jedoch sind seine Theorien für die Kunst des 20. Jahrhunderts von höchster Relevanz. 528 Vgl. Tolksdorf, Klee, S. 198. 529 Vgl. Maur, Klang, S. 46. 244

und durch die inhärente Dynamik eine Ausbreitung im Raum ermöglichen. Die sich wiederholenden Variationen der Kreise und die kontrapunktisch gegeneinander gesetzten Farben verbinden seine Werke mit den grundlegenden Prinzipien der Musik.530 Kupka war zudem sehr interessiert an Jazzmusik, deren Rhythmen einfach und synkopisch sind und die er in eine schlichte Geometrie zu übertragen wusste.531 Arbeiten Kupkas, wie „Hot Jazz I“ (Abb. 250) sind von derselben kompositorischen Idee getragen wie Hagedorns „Arcana“ oder die anderen verblockten Gemälde mit musikalischen Bezug, wie „Chantress“ oder „À votre santé“. Die Nähe zur Musik und zu bühneninspirierten Werken Hagedorns zeigt sich zudem in Arbeiten wie „Chantress“532 (Abb. 212), „À votre santé“ (Abb. 245), „On Stage“ (Abb. 251), „Parade“ (Abb. 230a) und „Hommage to L“ (Abb. 216). Auch das späte „Dramatis Personae“ (Abb. 252) evoziert Bühnennähe, indem es, wie der Titel impliziert, ein dichtes, nebeneinander gereihtes Gedränge von abstrahierter Figürlichkeit zeigt. Vor allem „Chantress“ wurde bereits in Bezug zu den Arbeiten von Stuart Davis gesetzt, welcher ebenfalls, wie Kupka, von den Rhythmen der Jazzmusik malerisch inspiriert worden ist.

Vergleiche zu zeitparallel entstandenen Werken musikalischer Inspiration Einige Jahre vor „Arcana“, in zeitlicher Nähe zu „Chantress“ ist Armin Martinmüllers „Hommage à Froberger, Opus 225-lamentation“ (Abb. 253) entstanden. Analog zu Kandinskys Klang-Farb-Bezügen setzt er hochrechteckige Quadrate vor einen sehr dunklen Hintergrund. Wie in „Arcana“ weist das Bild zur Mitte hin eine Verdichtung der Formen auf, die sich zu den Rändern hin vereinzeln und auch farblich verblassen. Martinmüllers wie Hagedorns malerische Umsetzungen von Kompositionen weisen damit einen Bezug zu den Möglichkeiten der Klang-Farbe-Transkription

530 Vgl. Laurence Lyon Blum: Kupka, Amorpha, S. 115. 531 Vgl. Serge Fauchereau/Dorothy Kosinsky: Kupka. Barcelona 1989, S. 23-25. 532 Hinsichtlich der Arbeit „Chantress“ in der Interpretation einer dargestellten Sängerin, sei noch anzumerken, dass Varèse seine gesamte künstlerische Laufbahn hindurch Chöre geleitet und sich intensiv mit Chormusik, also dem Gesang, auseinandergesetzt hatte. Außerdem hatte er in seinen Kompositionen nicht danach gesucht, etwas zu entwickeln oder zu variieren, er suchte nach Umwandlung. Hier sollte berücksichtig werden, dass Hagedorn das Bildmotiv von „Chantress“ im späteren „Inversion on White“ (Abb. 214) umgekehrt hatte, was sich bereits im Bildtitel ankündigt. Möglicherweise ist dies einer späten Auseinandersetzung mit den kompositorischen Zielen Varèses geschuldet. Vgl. Weid, Musik des 20. Jahrhunderts, S. 110. 245

auf, die in der Musik seit 1926 Überlegungen zu einer Übertragung der Notenschrift in eine Farbschrift hervorbrachte und vor dem Hintergrund einer Parallelität musikalischer und künstlerischer Entwicklungen stand.533 Martinmüllers Beispiel zeigt, dass Hagedorns malerische Umsetzung der Partitur Aktualität besitzt, welche vor allem auf dem in der Musik seit etwa 1950 geprägten Begriff der „Musikalischen Graphik“ beruht.534 Der Künstler Arman hatte nur zwei Jahre vor Hagedorns „Arcana“ eine kleine, unbetitelte Bronzeskulptur geschaffen (Abb. 254), welche maschinenähnliche Anklänge aufweist, aber vor allem musikalische Elemente beinhaltet, welche der Betrachter als Zitate und Versatzstücke von Musikinstrumenten erkennt, welche er zum grundlegenden Material seiner Werke bestimmt hatte.535 In Rückbezug auf die Inspiration Hagedorns durch die Kompositionen Varèses sei auf die Verbindung zu den Prinzipien des Futurismus hingewiesen. Die Futuristen hatten die Emanzipation des Geräusches, den sogenannten Bruitismus, gefordert,536 was Varèse in der revolutionären Klangkomposition von „Arcana“ umgesetzt hatte. Berücksichtigt man die latenten Einflüsse hinsichtlich der Visualisierung von zeitlichen Bewegungsabläufen im Raum, die den Intentionen des Futurismus entspringen und die Hagedorn in einigen Werken umgesetzt hatte, entspricht dies einerseits der Neuinterpretation von zeitlichem Ablauf innerhalb einer Komposition, was Varèse ebenfalls mit „Arcana“ realisiert hatte und andererseits generiert dies eine gemeinsame Rezeptionslinie der Prinzipien des Futurismus durch Edgard Varèse und Karl Hagedorn.537 Die malerische Interpretation von Musik ist auch der künstlerischen Einflusssphäre entsprungen, welcher Hagedorn bis in sein spätes Werk hinein verbunden geblieben ist.

533 Vgl.: Maur, Klang, S. 116-120. 534 Zur musikalischen Graphik vgl. Maur, Klang, S. 114-120. 535 Auch wenn Armans Prinzip nicht in erster Linie dasjenige der Musikalität ist, so liegt seinen Werken, die auf serieller Reihung beruhen, alleine dadurch eine Nähe zur seriellen Musik zugrunde. Der Bezug zu Hagedorns Werk ist nicht direkt greifbar, jedoch durch die Konzentration auf die Produkte und auf die Wirklichkeit des vom technischen Fortschritt determinierten 20. Jahrhunderts dennoch gegeben. Vgl.: Joachim Büchner: Retrospektive Arman, in: Bernhard Holeczek (Hg.): Arman. Parade der Objekte. Retrospektive 1955 bis 1982. Kat. Ausst. Hannover 1982, S. 8. Sowie (Abb. 254). 536 Zu der futuristischen Geräuschmusik vgl.: Martin/Grosenick, Futurismus, S. 40. Vor allem Luigi Russolo und Carlo Carrà haben sich innerhalb des Futurismus ebenfalls mit den wechselseitigen Beziehungen zwischen Musik und Malerei auseinandergesetzt, vor allem unter Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu den Lichtwellen der Farbe in möglicher Analogie zu den Schallwellen der Töne. 537 Vgl.: Ernst Thomas: Art. „Varèse, Edgard“. In: Riemann Musik Lexikon. Personenteil L-Z. Mainz 1961, S. 838. 246

4. Der Versuch einer kunsthistorischen Verortung der Werke Karl Hagedorns

Das abschließende Kapitel der vorgelegten Arbeit rekapituliert die gewonnenen und dargestellten Erkenntnisse zu Karl Hagedorns Leben und Werk, welche abschließend unter Berücksichtigung seiner kunsthistorischen Umgebung und seiner künstlerischen Vorbilder betrachtet werden sollen. Den für ihn ungleich werkprägenden Interessen aus Medizin und Technik seien gesonderte Zusammenfassungen gewidmet, verbunden mit den für Hagedorns wie für die zeitgenössische Kunst relevanten Aspekten.

4.1 Kunsthistorische und zeithistorische Betrachtungen

Die ersten künstlerischen Äußerungen Hagedorns, seine heute nicht mehr erhaltenen Kinder- und Jugendzeichnungen538, gehören zeit-kunsthistorisch der Neuen Sachlichkeit an. Ein Rückbezug zu diesem Stil lässt sich über sein späteres Vorbild Richard Lindner knüpfen, dessen Malerei in Teilen inhaltlich, vor allem aber stilistisch, auf diese Epoche rückgreift.539 Die Realitätsnähe der Neuen Sachlichkeit, welche bei Lindner auf eine verklausulierte Weise relevant ist, steigerte das andere Vorbild Hagedorns, Fernand Léger, mit seiner unsentimentalen Beziehung zu den Dingen zu einer innerbildlichen Wirklichkeit, die von Technik und fortschreitender Industrialisierung geprägt ist.540 Hagedorn schöpfte aus beiden künstlerischen Tendenzen Inspiration für sein eigenes Werk. Er bediente sich Lindners klarer Farbigkeit und dessen Fokus auf die Beziehung zwischen den Menschen, jedoch auf eine dem Werk Lindners diametral entgegengesetzte Art. Denn während Lindner die Diskrepanz zwischen den Menschen darstellt, fokussiert Hagedorn auf deren Nähe und Interaktion. Die klare Farbigkeit, die voneinander abgesetzten Farbflächen, übernimmt Hagedorn aus Lindners plakativer Malerei, jedoch näherte er sich dem geglätteten, dem Hard-Edge entlehnten, unpersönlichen Farbauftrag Lindners nie zur Gänze an.

538 Sowohl Hagedorn selbst schreibt als auch seine Witwe sprechen von seiner frühen zeichnerischen Betätigung ab dem Kindesalter. 539 Lindner stellte neben der Isolation des Großstadtmenschen auch menschliche Abgründe, wie beispielsweise den Voyeurismus dar, sieht man hierin eine Rückbezug zur Neuen Sachlichkeit, so kann man an George Grosz denken, der postulierte „Der Mensch ist ein Vieh“, vgl. Schmied, Neue Sachlichkeit und Magischer Realismus, S. 8. 540 Ebd., S. 15. 247

Hagedorn akzeptierte Légers Maschinenbegeisterung, jedoch weder im verherrlichenden Sinne der Futuristen noch überhöhend, wie es Carl Grossberg in seinen Traumbildern zeigt, der die Funktion seiner Maschinen und Fabriken einer Darstellung zwischen Surrealität und dem Interesse am Detail unterordnet.541 Vielmehr bringt Hagedorn die Maschine in Einklang mit dem Menschen. Dabei löste er die Dinge aus ihrem realen Bezug, stellt sie isoliert dar, was den Betrachter vor die Frage der Interpretation stellt, welche dann zumeist mehrschichtig möglich ist: ist es eine Maschine, eine technisch gezeichnete Konstruktion, ein Maschinenmensch oder eine künstlerisch interpretierte Darstellung aus einem technischen oder medizinischen Lehrbuch? Der Bezug zur Malerei Konrad Klaphecks, der seine überhöhten Maschinenportraits wie Hagedorn beziehungslos in einen statischen Raum stellt, ist hinsichtlich der Akzeptanz der Rolle der Maschine und der Technik im modernen menschlichen Dasein berechtigt. Die durchaus sozialkritischen wie auch ironisch-sexuellen Anklänge in Klaphecks Arbeiten bleiben bei Hagedorn jedoch außen vor. In einem Jahrhundert der stetigen Veränderung, des Umbruchs und in einem künstlerischen Umfeld in dem vieles möglich wurde, war es durchaus schwierig, zu einer eigenen und neuartigen Bildaussage zu finden. Noch schwieriger war es, in diesem überhitzten Klima der Kunstwelt als Künstler Fuß zu fassen, was Hagedorn jedoch gelang, wie es seine kommerziellen Erfolge sowie seine Ausstellungstätigkeiten und die Sammlungsbestände der Museen belegen. Hagedorn hatte sich mit seiner Malerei in einem Spannungsfeld zwischen verpönter Figürlichkeit und ins arabeske abgleitender Abstraktion wiedergefunden. Jedoch war es ihm gelungen, aus beiden Extremen positive Werte zu extrahieren und zu einer eigenständigen Gestaltungsform zusammenzufügen. Sein Werk speist sich aus den künstlerischen Erkenntnissen der klassischen europäischen Moderne und erhält Aktualität durch Hagedorns Akzeptanz des Wandels in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Technik und künstlichen Erzeugnissen, vorrangig in den USA, und von einer anderen Auffassung vom Nutzen der Technik für den Menschen. Nach den beiden Weltkriegen konnten in den Produktionsstätten und hinsichtlich der Entlohnung soziale Verbesserungen eingeführt werden, durch die wiederum die

541 Vgl. Michalski, Neue Sachlichkeit, S. 196f. 248

Massenproduktion erleichtert und, damit verbunden, der Massenkonsum ermöglicht worden ist; welcher sich schließlich zur einer Konsumpflicht gewandelt hatte.542 Zudem verbesserten543 und vereinfachten sich vor allem in der Zeit ab 1945 die Produkte um ein Vielfaches und wurden erschwinglicher, sodass eine Vielzahl an Geräten nicht nur den Weg in die Privathaushalte fand, sondern auch für einen solchen obligatorisch geworden sind, da sie zu einer Erleichterung des täglichen Lebens beitragen. Hagedorn hatte solche Entwicklungen seht begrüßt und bereits frühzeitig in seine Abstraktion einzubinden gewusst. Zu den Klassizismen und Realismen der ab 1970 einsetzenden Postmoderne nimmt Hagedorn keinen formalen Bezug, genauso wenig zu den neoexpressionistischen Tendenzen der siebziger und achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Dennoch kann seine Fokussierung auf die, wenngleich stark abstrahierte, Präsenz und Relevanz des Menschen, diesen künstlerischen Intentionen zugerechnet werden.544 Die stete geistige und in Teilen auch abstrahiert figürliche Anwesenheit des Menschen schreibt Hagedorns stark in den Bildtraditionen der klassischen europäischen Moderne verhafteten Malerei einen zeitgenössischen Aspekt ein, hinsichtlich der genannten postmodernen Tendenz, den Menschen in den Mittelpunkt der künstlerischen Betrachtung zu rücken.

4.2 Medizin und Kunst

Evident geworden ist Karl Hagedorns Interesse an den organischen Abläufen im Inneren des menschlichen Körpers, im Besonderen an den Funktionen des Gehirns in Verbindung mit den Nervensystemen. Bildnerische Äußerungen zu medizinischen Themen sind innerhalb der bildenden Künste seit der Antike existent. Spätere Darstellungen von Gewalteinwirkungen, wie die Thematiken der Darbringung des Hauptes Johannes des Täufers, die bildliche Umsetzung der Enthauptung des Holofernes durch Judith oder das Martyrium Christi sowie dasjenige der Heiligen, tangieren hinsichtlich der betonten Körperlichkeit ebenfalls diesen Motivkomplex. Durch alle Epochen hindurch haben sich Künstler Bildthematiken gewidmet wie der leidende Kranke, Krankheitsbilder, vor allem Hautkrankheiten, da diese äußerlich sichtbar und

542 Vgl. Mumford, Mythos der Maschine, S. 703-710. 543 Ebd., S. 710. 544 Vgl. Charles Jencks: Die Postmoderne. Der neue Klassizismus in Kunst und Architektur. Stuttgart 1987. 249

damit darstellbar waren, zudem die Heimsuchung von Seuchen, vor allem die Pest. Dieses Genre wird erweitert von der Darstellung von Arztbesuchen in Verbindung mit den zur jeweiligen Zeit möglichen chirurgischen oder kurativen Eingriffen am erkrankten Menschen; ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Geburt. Auch das Leiden und nicht zuletzt das Sterben zu Hause bilden eine Thematik, beispielsweise bei Edvard Munch. Dazu kamen bildnerische Auseinandersetzungen mit den Zuständen in Hospitälern (Abb. 255) oder Nervenheilanstalten, medizinische Geräte und Apotheken (Abb. 226), bis hin zu Studentenportraits im Hörsaal bei Anatomiestudien (Abb. 257). Jegliche künstlerische Auseinandersetzung mit Medizin, Krankheit und Heilung ist nachvollziehbar, denn Krankheit und deren mögliche Behandlung sowie Prävention betrifft den Menschen unmittelbar. Vor allem die in allen Epochen relevanten Darstellungen des Arztes und seiner Tätigkeiten trugen zur Bildung dessen Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, zumindest in der Patientenöffentlichkeit, bei. Die Arbeit der Mediziner, die Wirkweisen ihrer Heilmethoden, neue Erkenntnisse und Fortschritte auf den Gebieten der Chirurgie und Transplantation fanden Beachtung bis in die Ikonenmalerei hinein (vgl. 3.2.4.1).545 Maler wie Leonardo da Vinci, Michelangelo oder Tizian teilten das Interesse der Bildhauer an anatomischen Studien.546 Mit dem Kubismus war eine neue Sicht auf die Figur einhergegangen und seit Sigmund Freud ergänzten die Psychologie und die Traumdeutung die malerische Auseinandersetzung mit der Medizin. Künstler wie Max Ernst waren stark angeregt von der Psychoanalyse, Paul Klee integrierte die Thematiken des Traumes poetisch in sein Werk. Ab spätestens 1600 wandelten sich Raum- und Körperbewusstsein, die medizinische Forschung konzentrierte sich fortan stark auf die pathologische Erforschung des Inneren des menschlichen Leibes; herausragende anatomische Einzeldarstellung entstanden. Zur Mitte des 18. Jahrhunderts hin schwand die öffentliche Begeisterung an diesen Darstellungen und die anatomische Abbildung wurde wieder einzig zu medizinischen Forschungszwecken genutzt. In die

545 Vgl. Hans Schadewaldt/Léon Biret/Charles Maillaut/Ilza Veith: Kunst und Medizin. Köln 1971, S. 10f. 546 Das seit der Renaissance stetig fortentwickelte Wissen hinsichtlich der menschlichen Anatomie geht einher mit der Entwicklung der Körperdarstellung innerhalb der Malerei und der Bildhauerei. Vgl. Reginald Marsh: Anatomy for Artists. New York 1945. (Nachdruck 1970), Preface. 250

Betrachtung der Kunstgeschichte und in die bildende Kunst selbst, konnte die anatomische Abbildung somit zunächst kaum Einzug halten.547 Doch die bereits angesprochene Ornamentik adaptierte schließlich Knochen- oder Knorpelformen. Vorbilder für deren Verzweigtheit und Verästelungen können im System der Muskelfasern und Blutgefäße wiedererkannt werden. Dennoch bleibt die künstlerische Darstellung des Menschen zunächst eine dessen äußerer Erscheinung und diese Darstellung ist wiederum untrennbar mit dem jeweiligen Ausdruck konnotiert, den der Künstler dem dargestellten Körper einschreibt. Organisches jedoch kann nicht, wie eben die Figur, mit Ausdruck belegt werden und erscheint damit für die bildende Kunst zunächst als irrelevant. Über die Zerstückelung der menschlichen Figur gelangte Hagedorn schließlich zu einer Eliminierung deren äußerlicher Erscheinungsform, die sich im Gesamtwerk in zwei Partien einteilen lässt. Somit existiert eine aus geometrischen Versatzstücken formulierte Figurendarstellung, wie in Arbeiten wie „La Passagiata“ (Abb. 157) oder „Visitation“ (Abb. 172), welche in „Alba“ (Abb. 202) nahe an die tatsächliche Figürlichkeit heranreicht. Parallel dazu erreichte Hagedorn eine gänzliche Eliminierung dieser äußeren Form, indem er, statt derer, Kreisformen einsetzte, welche nur noch auf Hirnfunktionen oder auf Sinnesorgane des Menschen verweisen. Zunächst noch ausgehend von körperhafter jedoch gewaltfreier Zerstückelung wie in „Mannequin Fragment“ (Abb. 135) oder „Duo“ (Abb. 138), zeigte er in „The Hand of my Aunt“ (Abb. 34) den Einblick in das Körperinnere. Mit der stilisierten Darstellung eines Gehirns in „Blue Hat“ (Abb. 39) verweist er direkt auf sein neurowissenschaftliches Interesse. Während Kupka mikroskopische oder röntgenologische Aufnahmen als Impulsgeber für die eigene Abstraktion nutzte, so rekurrierte Hagedorn innerhalb seiner Bildkompositionen auf das physiologische Funktionieren und Ineinandergreifen innerhalb des Organismus, welches er in direkter Parallelität mit dem mechanischen oder technischen Funktionieren einer Maschine gleichgesetzt hatte. Neben den Kreisformen verweist auch sein weiteres Formenvokabular auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem Wirkungsfeld Medizin.

547 Zur Entwicklung der anatomischen Abbildung vgl. Putscher, Geschichte der medizinischen Abbildung, S. 59-76. 251

Hagedorns Begeisterung für organische Funktionsweisen ist eine Reflexion auf den medizinischen Fortschritt seiner Zeit.548 Während die formale Kenntnis eines Organs nur schwerlich in ausdrucksvolle Malerei übertragen werden kann, so ist die abstrahierte Umsetzung der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse formal, ornamental und motivisch tatsächlich als reizvoller zu betrachten. Waren also kunsthistorische Darstellungen des Körpers stets von einer Verbindung der Äußerlichkeit des Leibes mit dem Ausdruck der dargestellten Persönlichkeit verknüpft, so verzichtet Hagedorn in seinen Werken auf diese überkommene Tradition und konzentriert sich stattdessen auf physiologische Funktionsweisen. Den künstlerischen Ausdruck hingegen schöpfen seine Werke aus der Aktualität, aus der Zukunftsgewandtheit, aus einer Abstraktion, die Hagedorn basierend auf den formalen Grundlagen der Kunst der europäischen Moderne selbst fortentwickelt hatte und nicht zuletzt auf der körper-, technik- und fortschrittsbejahenden Farbigkeit und Vitalität seiner Malerei. Vor allem die positive Sicht auf Körperlichkeit in Verbindung mit (medizin-)technischem Fortschritt, generiert sich auch aus Hagedorns vollständigem Verzicht auf die Darstellung von Krankheit, Verletzung, Degeneration oder gewaltsamen Eingriff auf seine Organismen. Er stilisiert und abstrahiert die körperlichen Prozesse der Nervensysteme, des Kreislaufs und die Gehirnleistung, indem er sie in einen technischen Zusammenhang stellt. Der organische Ablauf könnte demzufolge in jedem Bild auch ein technischer oder elektronischer Ablauf sein, was einen weiteren Beleg für Hagedorns positive wie visionäre Sicht auf die reale künftige, heute bisweilen eingetretene, Verknüpfung von menschlichem Körper mit Technologie bedeutet. Betrachtet man die Werke Hagedorns vor dem Hintergrund aktueller Überlegungen zu einer Verknüpfung von Biologie und Kunst, so könnten sie diese um den innerhalb dieser Betrachtungen bislang weitgehend ausgeklammerten Bereich der Abstraktion erweitern. Die biologische Metapher bezieht sich innerhalb der Kunst zunächst auf das schöpferische, also wachsende oder gebärende Moment des künstlerischen Schaffens, wie es auch Kandinsky für seine

548 Zur Entwicklungsgeschichte der medizinischen Disziplin der Neurowissenschaften vgl. Mark F. Bear/Barry W. Connors/Michael A. Paradiso: Neuroscience – Exploring the Brain. 3. Aufl. Trentin 2007, S. 4-25. 252

Arbeit beansprucht hatte.549 Demzufolge wurde auch das Kunstwerk selbst, aus naturwissenschaftlicher Deutung heraus, als ein Organismus zu beschreiben versucht. Insbesondere sind jedoch der Biologie entlehnte und in Kunstwerke integrierte Formen und Organismen auf ihre Bedeutung innerhalb der Komposition und hinsichtlich ihres metaphorischen Gehalts herauszustellen.550 Betrachtet man also Hagedorns Versuch, den Menschen, organisch fragmentiert, in eine abstrahierte Komposition zu integrieren und auch seine einzelnen bildstrukturierenden Elemente vor diesen Überlegungen, so evoziert Hagedorn eine biologische Metapher, indem er innerhalb seiner Abstraktion bildliche Indizien auf die Präsenz des Menschen gibt und naturwissenschaftliche, insbesondere medizinische Aspekte künstlerisch transformiert.

4.3 Technik und Kunst

Seit der Industriellen Revolution veränderten sich Gesellschaft sowie Technik grundlegend und schneller als in allen Epochen und Jahrhunderten zuvor. Künstler reagierten auf die Umwälzungen mit elementaren, die Kunstgeschichte bestimmenden Werken. Aus einer anfänglichen Ablehnung heraus waren alsbald Arbeiten und Stile entstanden, welche diesen Veränderungen äußerst positiv begegnen sollten. Eine Arbeit wie Adolph von Menzels „Im Eisenwalzwerk“ (Abb. 42) spricht bereits von großer Bewunderung und intensivem Studium der realen Begebenheiten durch den Künstler. Technische Abläufe und Konstrukte faszinierten den Menschen jedoch bereits weitaus länger, so seien bereits aus dem dritten Jahrhundert vor Christus sogenannte Automaten bekannt gewesen, Konstruktionen, die vor allem der Unterhaltung einer privilegierten Schicht dienten, das Interesse daran und deren unterschiedliche Ausführungen wurden bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein über alle Jahrhunderte hinweg beibehalten und verfeinert, besonders ab dem 18. Jahrhundert spezialisierte sich deren Ausführung zunehmend.551

549 Vgl. Kathrin Heinz: Wassily Kandinkys Bildpotenz. Künstlerische Schöpfung als Zeugungsakt, in: Anja Zimmermann (Hg.): Biologische Metaphern. Zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Wissenschaft in Neuzeit und Moderne. Berlin 2014, S. 71-92. 550 Vgl. Anja Zimmermann: Biologische Metaphern. Zu einem Denkstil der Moderne zwischen Kunst, Kunstgeschichte und Biologie, in Ebd., S. 9-32, besonders S. 15-23. 551 Vgl. Funken, Maschine, S. 15-17. 253

Spätestens seit 1912 ist eine vermehrte künstlerische Adaption technischen Fortschrittes zu verzeichnen,552 die sich in Stilen wie dem Futurismus oder dem Konstruktivismus äußert und beispielsweise auch im Dada eine exponierte Position einnimmt.553 Dieses geistige Umfeld erweckt den Gedanken an die Werke Marcel Duchamps, welche von einer durchaus libidinösen Mechanik getragen sind sowie an die Maschinenmetaphern Francis Picabias, der seinen Konstrukten weibliche Vornamen verleiht.554 Picabias Arbeiten fußen auf einer ähnlich simplen Mechanik wie die der, für Hagedorn so prägenden, Dampfmaschine und er legt in seine Arbeiten ein changierendes Moment der Bedeutungen und Lesbarkeiten555 wie es auch für die Arbeiten Hagedorns festgestellt worden ist, die in unterschiedlichen Interpretationsansätzen sowohl als technologische Konstruktionen als auch als schematisch dargestellte organische Abläufe interpretiert werden können. Max Ernst bediente sich der Maschinenmetaphorik und integrierte diese früh in seine Bildsprache, worin er die Anklänge des Maschinellen, Technischen immer wieder mit dem Menschen oder mit körperlichen Aspekten verbunden hatte.556 In diesem Kontext müssen zudem die phantastischen Maschinen Yves Tinguelys benannt werden. Wie Hagedorn war es Tinguely nicht an einem möglichen Funktionieren seiner Maschinen im Sinne einer messbaren Produktionsleistung gelegen, sondern vielmehr an der Darstellung des Ablaufs, der diesen Maschinen inhärenten Kraft und der Visualisierung von Dynamik. In weitaus stärkerem Maße als Hagedorn integrierte Tinguely zudem die Faktoren der Paradoxie und des Zufalls, sowie eine annähernd gesellschaftskritische Reflexion über Leistungs- und Konsumverhalten, was Hagedorn entweder ausblendet oder wesentlich positiver konnotiert.557 Mit dieser positiven Wertung fügt Hagedorn sein Werk ein in das amerikanische Verständnis von der Verbindung von Mensch, Maschine und

552 Joachim Umlauf stellt die Technikbegeisterung der Avantgarde exemplarisch anhand des malerischen Werkes Robert Delaunays und anhand des literarischen Werkes Blaise Cendrars‘ vor. Vgl. Joachim Umlauf: Mensch, Maschine und Natur in der frühen Avantgarde. Blaise Cendrars und Robert Delaunay. Würzburg 1995, S. 59 und S. 98. 553 Zu der Technikrezeption in den einzelnen Dada-Stilen vgl. Funken, Maschine, S. 40-42. 554 Hier darf durchaus an eine Rückverbindung an die Bezeichnung technischer Konstruktionen mit Vornamen gedacht werden, wie beispielsweise der Webstuhl „Jenny“, das Automobil „Mercedes“, oder die Schreibmaschine „Monika“ aus dem Hause Adler. 555 Vgl. Funken, Maschine, S. 47. 556 Ebd., S. 68. 557 Vgl. Mumford, Mythos der Maschine, S. 711. 254

Kunst, das von einem seit den zwanziger Jahren uneingeschränkten, nahezu sakral überhöhten Glauben an den technischen Fortschritt determiniert war.558 Hagedorn übte mit seinen Werken keine greifbare Sozialkritik an der fortschreitenden technischen Übermacht, dieses Moment ist für den Betrachter dennoch spürbar, und zwar genau dann, wenn dieser die technische Interpretation dieser Bildkonstruktionen für sich beansprucht. Sofern der Rezipient einen organisch-medizinischen Ablauf dargestellt sieht, fallen derlei kritische Aspekte aus. Entscheidet sich der Betrachter für die Interpretation einer organisch konnotierten Maschine, so muss er sich die Frage stellen, inwiefern die Maschine Teil dieses Organismus und Teil dessen Denkens und Handelns geworden ist.

Letztendlich führte Hagedorn mit der Fokussierung auf Medizin und Technik in der Kunst alle gestalterischen und schöpferischen Möglichkeiten des Menschen zusammen. Während Kunst an sich immer bestrebt ist, zu einem neuen Ausdruck zu finden, so wie es auch für Hagedorn ein Ziel war, so ist die Technik eine stete Bemühung, die Produktivität zu steigern; Basis dieses Potenzierungswillens ist die organisch-physische Produktivität des Menschen.

4.4 Rekurs, Aktualität und Vision als Determinanten des Gesamtwerks

Karl Hagedorns stilistische und anteilig den Umgang mit den bildnerischen Mitteln betreffende Rückbezüglichkeit auf eine Bildsprache, die in der europäischen klassischen Moderne verwurzelt ist, darf nicht als eine Attitüde oder Abkehr von der zeitgenössischen Kunst bezeichnet werden. Die Begegnung in Paris mit der Moderne und die folgende Vertiefung in diese Werke waren ihm Befreiung und Wegbereitung zugleich. Spätestens aber nach der Emigration in die USA wurde sein Stilwille evident und er baute seine spätere Abstraktion bewusst, wenngleich nicht immer linear, auf diesem Fundament auf. Hagedorn war nicht gewillt, sich in einer überkommenen Stilistik auszudrücken, es entsprach nicht seiner künstlerischen Intention, sich einer Rückgewandtheit oder einer Verklärung der Traditionen hinzugeben. Sein Rekurs auf die Ausdrucksformen seiner künstlerischen Vorbilder ist vielmehr ein klares Bekenntnis zu seiner eigenen

558 Vgl. Wieland Schmied: Precisionist View und American Scene: Die 20er Jahre, in: Achille Bonito Oliva (Hg.): Europe-America, the different avant-gardes, Mailand 1976, S. 62.

255

Schule. Mit den Möglichkeiten, die er in den Kompositionen und Inhalten seiner deutlich sichtbar bleibenden Altvorderen erkannte und für sein eigenes Werk nutzbar machte, fand er schließlich einen äußeren Rahmen, eine Bühne, für die Inszenierung seiner eigenen inhaltlichen Bildkonzeptionen. Die tatsächliche Aktualität seiner Arbeiten zeigt sich nicht in Hagedorns kunsthistorisch-zeitparalleler Verknüpfung, sondern in seiner Akzeptanz und vor allem in seiner persönlichen Sichtweise auf die moderne Relation von Technik und Mensch. Seine positive Sicht auf eine unabdingbare Verknüpfung des Technischen mit dem Organischen, seine erdachten, pseudo-funktionalen Apparate sind beseelt von einem Einhergehen dieser beiden Pole in Harmonie. Dieser Sichtweise stellt er jedoch keinerlei Gesellschafts- oder Sozialkritik gegenüber, er will nicht auf mögliche Konsequenzen aufmerksam machen, welche die Parallelitäten von Gehirn und Computer mit sich bringen. Hagedorn verweist demnach nicht auf eine Zukunft mit Überwachung, permanenter Reizüberflutung, allgegenwärtigen Zugriff auf persönliche Daten sowie deren Speicherung und auch nicht auf eine Beherrschung des menschlichen Alltags durch Computertechnologien. Hierin ist die Ambivalenz in Hagedorns Werken angesiedelt. Indem sie frei von Kritik sind, fungieren sie nicht als aufklärerischer Spiegel für die Gesellschaft. Hagedorns organisch-technologische Konstrukte bleiben dennoch aktuell und visionär. Ihre Aktualität gründet auf Hagedorns Wahrnehmung und künstlerische Umsetzung der Entwicklungen seiner Zeit. Zudem sprechen die Werke Zeugnis über Hagedorns Empfinden für eine Zukunft, in welcher der Mensch mit seinen informationstechnologischen Produkten eine Symbiose eingeht, so wie es die heutige Lebensrealität ist. Die von Hagedorn selbstgewählte Definition seines Arbeitens als eine symbolische Abstraktion, soll dahingehend befürwortet werden, als dass er einen hohen, wenngleich keinen vollständigen Grad der Abstraktion erreicht hatte. Seine Abstraktion begründet sich im Verzicht auf das Naturalistische und Illustrative. Durch den Bedeutungsgehalt, den Hagedorn seinen Werken einschreibt, grenzt sich seine Abstraktion gegen Ornament und Dekoration ab, sie ist nicht arabesk, wenn gleich er sich ornamentaler Gesetzmäßigkeiten durchaus bedient hatte. Im besten Sinne und Verständnis abstrakter Kunst integrierte Hagedorn die Erkenntnisse aus Technologie und Wissenschaft, die isolierte Darstellung von Farben und Formen, Sinneswahrnehmungen und Assoziationen.

256

Die Symbolik seiner Werke nimmt keinen Bezug auf Definitionen hinsichtlich der Farb- oder Zahlensymbolik, sie lehnt sich nicht an die Bereiche des Attributes oder der Allegorie. Hagedorns Symbolik basiert auf seinem selbst erarbeiteten Formenvokabular, auf seinen bildstrukturierenden Elementen sowie auf seinen individuell festgelegten symbolischen Gehalt von Kreis und Kugel. Durch diese eigenständige Definition seiner Symbole, rückt Hagedorns bildnerisch- kompositorische Symbolik in die Nähe des linguistischen Gebrauchs des Begriffs Symbol, welcher sich in dem Verweis auf eine optische Ähnlichkeit zwischen dem stilisierten Zeichen und derjenigen Sache, auf die es verweist, manifestiert.559 Die künstlerisch-visionäre Leistung Hagedorns ist determiniert von seiner zukunftsorientierten Sichtweise auf die Symbiose von Mensch und Technologie, die er mit den tradierten Mitteln der klassischen Moderne zu visualisieren vermochte.

559 Vgl. Pelz, Linguistik, S. 41-43. 257

Anhang 1 – Interviewmitschriften Wie aus den Kapiteln 2.6.1 und 2.7.1 hervorgeht, wurden Interviews mit Personen aus Karl Hagedorns privatem und professionellem Umfeld geführt. Die Interviewpartner hatten eine elektronische Sprachaufzeichnung abgelehnt, sodass die Verfasserin während der Interviews Mitschriften angelegt hatte, welche mit diesem Anhang dokumentiert werden. Die einzelnen Interviewpartner haben ihr Einverständnis zur Veröffentlichung der Niederschriften der Verfasserin erteilt. Neben den vereinbarten Interviewterminen haben vor allem zwischen der Künstlerwitwe Diana Cavallo-Hagedorn und der Verfasserin weitere persönliche Treffen und Telefonate stattgefunden. Anmerkungen in eckigen Klammern […] sind ergänzende Anmerkungen der Verfasserin.

Das Interview mit der Künstlerwitwe Diana Cavallo-Hagedorn Die Gespräche mit der Witwe Karl Hagedorns, Diana Cavallo-Hagedorn, fanden in der Zeit vom 25.07. bis zum 03.08.2012 statt. Die Interviews waren erzählerische Interviews und wurden in englischer Sprache geführt, die Mitschrift erfolgt in deutscher Sprache.

Als Karl Hagedorn 1953 Ostdeutschland verlassen hatte, wurde seine erste Station in Westdeutschland die Stadt Augsburg. Dort traf er auf den Künstler Georg Bernhard, der bereits viele Mosaiken und Wandmalereien im Auftrag der katholischen Kirche ausgeführt hatte. Hagedorn half Bernhard zunächst, bekam aber bald eigene Aufträge. [Was Georg Bernhard anders geschildert hatte]. Dies führte zu Auseinandersetzungen mit Bernhardt, der sich für den besseren Künstler hielt. [Auch das wird von Bernhard nicht bestätigt, da Hagedorn laut Bernhard ausführender Mitarbeiter war, jedoch keine gestalterischen Aufgaben übernommen hatte]. Karl Hagedorns erste Ehefrau war eine Dame russischer Herkunft, nur ihr Vorname ist bekannt, Natascha. Er lernte sie in Augsburg kennen, wo sie auch heirateten. Sie verließ Deutschland zusammen mit ihm, jedoch wurde sie von ihrer Mutter begleitet. Die Mutter wurde zu ihrer wichtigsten Bezugsperson. Die Ehe mit Hagedorn scheiterte. Ein wichtiger Kontakt in der Heimat war damals für Karl Hagedorn der Hamburger Künstler Otto Illies, der von Hamburg nach Quedlinburg gezogen war. Karl Hagedorn war Oberrealschüler in Quedlinburg und der Künstler Illies war ein künstlerischer Mentor für ihn. Illies hatte eine große graphische Sammlung unter anderem mit graphischen Arbeiten von Lyonel Feininger. Durch die ganze DDR-Zeit hindurch wurde nichts über deren Verbleib herausgefunden und damit eine Beschlagnahme durch das sozialistische Regime verhindert. Nach Ende des Kalten Krieges erfuhren schließlich die Söhne Feiningers, dass die Arbeiten erhalten geblieben waren und es wurde ein Gerichtsverfahren über deren weiteren Verbleib angestrengt. Sie sollten in Deutschland verbleiben und wurden dem, nach dem Mauerfall gegründeten, Feininger-Museum in Quedlinburg übergeben. Durch Hagedorns Verbindung einerseits zu Quedlinburg und andererseits zu Illies nahm er später Kontakt zur Direktorin des Feininger-Museums, Frau Dr. Ingrid Wernecke, auf. Bereits 1990 gab es ein Treffen (Karl Hagedorn unternahm direkt nach dem Fall der Mauer eine Reise in seine alte Heimat). Auf das Treffen folgte ein Briefwechsel.

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Folgende Briefe sind im Nachlass erhalten: Kopie eines Schreibens vom 22.06.1990, von Karl Hagedorn an Frau Dr. Ingrid Wernecke. Hagedorn schreibt, noch aus Deutschland, über seine Begeisterung für Feiningers Farben- und Formenwelt. Er beschreibt Frau Dr. Wernecke gegenüber, dass ihm die vierzig Jahre, in welchen er nicht mehr in seine Heimat reisen konnte, wie eine lange Wanderung vorkamen, von der er nun nach Hause kehren durfte. Er machte Dr. Wernecke den Vorschlag, in Zukunft einmal im Feininger-Museum auszustellen. Kopie eines Schreibens vom 06.07.1990 von Karl Hagedorn an Frau Dr. Ingrid Wernecke. Hagedorn schreibt nun aus New York und sendet Bildmaterial sowie ein Exemplar eines Heftes der Firma IBM, worin ein Artikel mit seinen Arbeiten illustriert war. Kopie eines Schreibens vom 09.12.1995 von Karl Hagedorn an Frau Dr. Ingrid Wernecke. Hagedorn schreibt Dr. Wernecke nach der Rückkehr seiner Deutschlandreise wieder aus New York und wohl im Anschluss an ein Telefonat. Er berichtet ihr von seiner Graphikmappe „Ixtlan“.560 Schreiben vom 03.11.1997 (erster Entwurf) und vom 05.11.1997 (zweiter Entwurf). Anlässlich seines 75. Geburtstages macht Hagedorn den Vorschlag, eine Retrospektive im Feininger-Museum zu zeigen. Zeichnungen, Gouachen, handkolorierte Graphik, kleine Ölbilder.

Karl Hagedorn kam im Jahr 1959 in den USA (New York) an. Sein erster Aufenthaltsort sollte die Zwillingsstädte Minneapolis/St. Paul (Bundesstaat Minnesota) werden. Wollte man damals in die Vereinigten Staaten immigrieren, brauchte man so genannte (freiwillige) Sponsoren. Deren Aufgabe war es, sich um die Neuankömmlinge zu kümmern, jedoch nicht in finanzieller Hinsicht, und ihnen somit den Start in der neuen Umgebung zu erleichtern. Der Immigrant musste seinen ersten Aufenthaltsort dort nehmen, wo seine Sponsoren lebten. Im Falle Karl Hagedorns waren das zwei Brüder. Sie waren tätig bei der 3M- Company, dem Hersteller von Scotch Tape (Tesa Film) sowie Pflastern und Klebebändern. Zudem waren sie Mitglieder des World Council of Churches. Karl Hagedorn reiste mit dem Schiff in die USA und landete wie alle Immigranten in New York (Ellis Island) an. Er hatte einen kurzen Aufenthalt in New York, welchen er dazu nutzte, sich das Museum of Modern Art anzusehen. Die Stadt hatte ihn sofort in ihren Bann gezogen. Die ersten Begegnungen mit der dort ausgestellten Kunst, die Dynamik der Stadt und die ersten Eindrücke einer bislang für ihn unbekannten Großstadt im eigentlichen Sinne waren für ihn derart prägend, dass er beschloss, hierher zurückkehren zu müssen. Jedoch führte ihn seine erste Station nur wenige Stunden später weiter nach Minnesota. Auch die Zugfahrt durch das weite Land beeindruckte Hagedorn tief. Trotz allen künstlerischen Bestrebens musste Hagedorn zunächst essentielle Dinge bewältigen: das Erlernen der englischen Sprache, eine Anstellung finden, Geld verdienen, den Lebensunterhalt bestreiten. Er fand eine Anstellung als

560 Diese Mappe hatte Karl Hagedorn ursprünglich als eine Schenkung an das Museum of Modern Art in New York vorbereitet, welche jedoch von dem Haus nicht angenommen worden war. Die Motivik von „Ixtlan“ war ihm jedoch sehr wichtig, sodass er sie gerne ausgestellt wissen wollte. 259

Gebäudereiniger in einem Krankenhaus. Er fiel dem Klinikchef durch seine besonders gründliche Arbeit auf (Diana Cavallo benennt dies als eine deutsche Tugend) und dieser schlug Hagedorn kurze Zeit später vor, den Schneepflug fahren zu lernen, um die Freiflächen rings um das Krankenhausgebäude von Schnee (der in Minneapolis reichlich vorhanden ist) zu befreien. Da Hagedorn auch plante, einen Führerschein zu erwerben, konnte er mit dem Schneepflug Fahrpraxis sammeln. Die Betriebsanleitung für den Schneepflug und die Lehrbücher für den Führerschein halfen ihm beim Erlernen der englischen Sprache. Der Chef des Krankenhauses erwies sich erneut als Hilfe als Hagedorn, nachdem er einige Sprachpraxis erworben hatte, einen Beruf ergreifen wollte, in den er sein künstlerisches Talent einbringen konnte. Er fand mit Hilfe des Chefs eine Anstellung in einer Werbeagentur. Diese machte Graphiken für den Catholic Digest. Bald wechselte Hagedorn in die Redaktion der Zeitschrift und wurde zum Art Director ernannt. Diese Tätigkeit beinhaltete die Leitung der Gesamtherstellung auf der graphischen Ebene und vor allem war er in dieser Position für die Illustrationen des Magazins zuständig. Einen weiteren Namen machte sich Karl Hagedorn in Minneapolis als Portraitmaler. Als in St. Paul der Film „The Heartbreak Kid“ gedreht wurde, brauchte man für das Filmset ein Portrait der Hauptdarstellerin Sibel Shepard. Man suchte einen guten Portraitmaler und Karl Hagedorn wurde empfohlen. So fertigte er das Portrait der bekannten Schauspielerin an, welches auch in einer Einstellung des Films zu sehen ist. Ende der sechziger Jahre kam er über seinen Freund Winfried Raabe in Kontakt mit dem Arzt Gianfranco Ayala. Dieser kaufte ein Triptychon aus Hagedorns Atelier. Ein Cousin Ayalas, ein Kunstsammler, kaufte ebenfalls Arbeiten. Diese Verkäufe und vor allem darauf, als Empfehlung, folgende, weitere Verkäufe brachten Hagedorn Geld ein, sodass er sein Erspartes aufstocken konnte. Karl Hagedorns Ziel war es, baldmöglichst nach New York zu gehen und dort selbstständig als Maler zu arbeiten. Dafür gedachte er, zunächst Geld zu sparen, damit er sich in New York auch ohne einen Broterwerb auf seine Malerei würde konzentrieren können Im Jahr zwischen 1967 und 1968 war der deutsche Künstler Emil Schumacher (*1912 in Hagen, † 1999 Ibiza) als Gastprofessor an der Minneapolis School of Art tätig. Gleich nachdem er diese Lehrtätigkeit annahm, hegte er Pläne, das Institut zu verlassen, da ihm der Lehrbetrieb als zu unprofessionell erschien. Es hatte sich wohl so verhalten, dass eine Person aus der Schulleitung die Idee hatte, den ebenfalls deutschstämmigen Karl Hagedorn zu bitten, mit Emil Schumacher zu sprechen und ihn zum Bleiben zu bewegen. Schumacher und Hagedorn kannten sich vorher jedoch nicht. Dennoch sollen ein Treffen und ein Gespräch stattgefunden haben. Der Ausgang des Gesprächs ist unbekannt, aber Hagedorn und Schumacher pflegten bis zu Schumachers Tod im Jahr 1999 Kontakt per Telefon. Auch Karl Hagedorn konnte kurze Zeit später, im Jahr 1971, eine Lehrtätigkeit in Minneapolis/St. Paul übernehmen, indem er von Paul Smith gebeten wurde am Departement for Studio Arts and Art History zu unterrichten. Er sei als Lehrer für graphische Techniken eingestellt worden. [Der Besuch an der Hamline University der Verfasserin brachte jedoch zu Tage, dass es bereits einen Lehrer für diese Techniken gab und dass Hagedorn malerische und zeichnerische Techniken unterrichtet habe]. Im Jahr 1972 entschied sich Karl Hagedorn, zum ersten Mal nach seiner Emigration eine Reise durch Europa zu unternehmen. Er plante, etwa neun Monate bis hin zu einem Jahr durch Deutschland, Frankreich und Spanien zu 260

reisen. Hagedorn schaute nie im Zorn zurück auf seine deutsche Heimat, deshalb darf die Reise auch nicht als Abschluss oder Versöhnungsbesuch gewertet werden. Dennoch markiert die Europareise einen Wendepunkt in Hagedorns Biografie. Sie bildete gleichermaßen den Abschluss seiner Zeit in Minneapolis und rüstete ihn für den seit langem geplanten Umzug und Neustart in New York. Vom ersten Tag seiner Ankunft in den USA an wusste Hagedorn, dass er seinen Werdegang als Künstler erst in der so wichtigen Kunstmetropole New York werde beginnen können. Um die wichtigen Jahre in Minneapolis abschließen zu können und auch um die europäischen Wurzeln nicht zu vernachlässigen, plante er die für ihn sehr wichtige Europareise vor seinem Umzug nach New York ein. Nachdem er in Deutschland vor allem die Städte München und Köln besucht hatte, führte ihn die Reise in Spanien nach Barcelona, Toledo, Madrid und Sevilla. In Italien begegnete er erstmals der Kunst von Cimabue, di Paolo, Sassetta und Uccello, Künstler, deren Werke ihm seine gesamte künstlerische Schaffensphase im visuellen Gedächtnis bleiben sollten. Die Europareise erwies sich auch dahingehend als bedeutend, dass er mit dem Abstand der Jahre und den Erfahrungen aus der Neuen Welt die (alte), europäische Kunst vor einem neuen Hintergrund und mit einer geschulten Auffassung wahrnehmen und so für sich und sein zukünftiges Schaffen professionell verwerten konnte. Wie er es bereits bei seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten beschlossen hatte, realisierte Hagedorn im Jahr 1973 seine Pläne und zog nach New York, um dort seine künstlerische Karriere anzustoßen. In New York selbst hatte er keine Kontaktperson. Jedoch war er bekannt mit Alice Barber, einer Malerin aus New York, die nach Minneapolis umgezogen war, unglücklicherweise kurz bevor Hagedorn nach New York wollte. So lernten sie sich noch in Minneapolis kennen. Jedoch hatte Alice Baber in New York ein exzellentes Netzwerk aus Kontakten in Kunst und Kultur. Dazu war sie die Ehefrau des Künstlers Paul Jenkins. Dieser gehörte zum Künstlerstamm der Galerie Gimpel und Weitzenhoffer. Der Inhaber der Galerie, Max Weitzenhoffer, entstammte einer Öl-Dynastie aus dem Bundesstaat Oklahoma. Er verfügte daher über die nötigen finanziellen Mittel, eine Kunstgalerie betreiben zu können. Ein besonderes Interesse an Kunst war bei ihm nur wenig ausgeprägt, in erster Linie gründete er seiner Frau Frances zuliebe eine Galerie. Sie war eine angesehene Kunsthistorikerin, die unter anderem bei der Erstellung von John Rewalds Katalog, der die Gemälde von Cezanne enthält, mitbeteiligt war. Gimpel war eine alteingesessene Galerie aus London. Gimpel and Weitzenhoffer veranstalteten 1973 eine „New Talent Show“ und riefen im Vorfeld zu Bewerbungen auf. Karl Hagedorn war zwar zu diesem Zeitpunkt nicht mehr jung und eigentlich auch kein neues Talent mehr. Jedoch war er neu in New York und er hatte den Mut, sich zu bewerben. Er wurde angenommen, in der Show ausgestellt und hatte somit fortan eine Galerievertretung in New York. Es ist aber vielleicht auch davon auszugehen, dass seine Kontaktpersonen Barber und Jenkins nicht ganz unbeteiligt an der Kontaktvermittlung waren. Sein erstes Atelier in New York bezog Hagedorn in der Broome Street (Broome St., Ecke Crosby St., Stadtteil Soho) für 325.- Dollar Miete im Monat. Das Studio gehörte vorher James Rosenquist. Dieser erlebte zu dieser Zeit seinen Durchbruch als Künstler der Pop Art und war dabei, sich ein größeres Atelier zu suchen. Es kam Hagedorn sehr entgegen, ein günstiges Studio gefunden zu haben, in dem er auch leben konnte. Schließlich plante er, falls er, die nächsten Jahre von seinen Ersparnissen zu leben. Auch um sich in erster Linie dem Fortgang seiner künstlerischen Arbeit widmen zu können. Er schloss einen Mietvertrag über vier 261

Jahre ab. Die Miete war so niedrig, da die Stadt ein Programm ins Leben gerufen hatte, welches zum Inhalt hatte, Künstler in die Nachbarschaften zu holen, sodass sich die Wohnviertel verbesserten. Das Gesetz zu diesem Programm nannte sich J-51 und es legte fest, dass Künstler keine Grund- und Gebäudesteuern für zehn Jahre zahlen mussten. Solche Gesetze und Verbesserungen entstanden in der Zeit als Rudolph Giuliani Bürgermeister in New York war und damit begann, die Stadt und deren (kriminelles) Image zu verbessern und Kriminalität zu verringern. Die einzigen Kontakte Hagedorns zu anderen Künstlern waren in den ersten amerikanischen Jahren der zu Emil Schumacher (noch in Minneapolis) und dann in New York der Kontakt zu Paul Jenkins (und dessen Frau Alice Barber). Nicht lange nach seinem Umzug nach New York lernte Hagedorn im Januar 1974 auf einer Party die Schriftstellerin Diana Cavallo kennen. Karl Hagedorn begann also, seine künstlerische Arbeit im Soho der siebziger Jahre, man sprach damals von „the gritty Soho“ (düster). Nach der Hochzeit mit Diana Cavallo im Jahr 1984 fasste man den Entschluss, die gemeinsame Unterkunft und das Atelier zusammenzulegen. Sie sahen sich in Lower Manhattan um. Dort lebte damals niemand, es war ein reiner Business-Stadtteil. Karl zögerte lange, das Studio in Soho aufzugeben und war zunächst unglücklich über den Umzug. Aber sie fanden eine Wohnung am Broadway (176 Broadway, Broad St und Maden Lane), welche viele Vorzüge zu bieten hatte, unter anderem viel Platz und ein abtrennbarer Bereich, welcher als Atelier genutzt werden konnte. Karl begann jeden Morgen zwischen 8 und 10 Uhr einen Spaziergang an der Esplanade zu unternehmen, um anschließend zu malen. Diana Cavallo ist Mitglied bei P.E.N.561 Der Verband veranstaltete einmal im Monat eine Cocktailparty, dort gingen die beiden immer hin, da es eine gute Plattform war, um Kontakte zu knüpfen. Dort entstand auch der Kontakt zu Albert Russo. Einige Jahre später, 1992, erschien einer seiner Gedichtbände und es wurde vereinbart, dass Hagedorn die englische Ausgabe illustrieren sollte. Karl gefiel die Idee, dass seine Zeichnungen auf diese Weise einem breiten Publikum zugänglich gemacht wurden, jedoch sah er diesen Auftrag nicht unter monetären Gesichtspunkten.562 Hagedorn hatte in New York die Gelegenheit, Richard Lindner persönlich zu begegnen, dessen Werk für Hagedorn zeitlebens von Bedeutung war. Die Frau von Ludwig Königsberger, Hagedorns in Augsburg ansässiger Kriegskamerad, arbeitete in München für ein Magazin. Als Karl auf seiner Europareise 1972 die Familie Königsberger besuchte, betrachtete er alte Ausgaben dieses Magazins aus den zwanziger Jahren und entdeckte darin eine Zeichnung von Richard Lindner. Hagedorn, nahm die Ausgabe mit nach New York, mit dem Plan, sie irgendwann einmal Richard Lindner überreichen zu können, falls er Zugang zu ihm erhalten würde. Bei einem Besuch des Guggenheim Museums traf Hagedorn zufällig auf Richard Lindner und dessen Frau. Hagedorn nutzte die Gelegenheit, Lindner anzusprechen und ihm von dem Magazin mit der darin enthaltenen Zeichnung zu erzählen. Lindner war sehr überrascht und gleichzeitig hocherfreut. Er soll gesagt haben, dass er sich zunächst nicht mehr an diese Zeichnung erinnern könne, sie aber „pretty good“ fand. Lindner soll Hagedorn zudem gefragt haben, warum dieser so viele Jahre in

561 P.E.N. ist ein Autorenverband, gegründet 1921 in London. Die Abkürzung steht für Poets, Essayists, Novelists und die Abkürzung ist ein Verweis auf das englische Wort „pen“ („Stift“). Vgl. In: URL: http://www.pen-international.org/ (Stand: 21.08.2012). 562 Albert Russo: Future yes (engl.) oder Dans la nuit bleu-fauve. Gedichtband. englisch- französische Doppelausgabe. Paris 1992. 262

Minneapolis/St. Paul verbracht habe, ehe er nach New York übersiedelte. Als Hagedorn ihm von den musealen und anderen Erfolgen rund um seine künstlerische Arbeit in den Twincities berichtet hatte, habe Richard Lindner mit „not bad“ anerkennend geantwortet haben. Für Karl Hagedorn war das Treffen mit Lindner sehr wichtig, da er der Künstler war, dem er formal sehr nahe stand. Der starke Einfluss der USA auf das eigene Werk, insbesondere die Weite des Landes und das Tempo der Stadt New York hatte beider Werke determiniert. Genau wie Lindner sollte auch Hagedorn immer ein Außenseiter bleiben. Die Lichter der Stadt und die rasante Fortentwicklung bedeutete für beide Künstler gleichermaßen eine Energie, die es in Europa nicht gab. Auch ein Treffen mit dem wichtigen Kunsthändler Leo Castelli, bei dem Hagedorn dem Hauptgaleristen der Popkünstler seine Werke vorstellen durfte, war für Hagedorn von hoher Relevanz. Der renommierte Castelli hatte die Qualität der Werke bestätigt. Allein die Tatsache, dass der einflussreiche Händler sich diese Zeit genommen hatte, ehrte Hagedorn. Seine erste Solo-Ausstellung hatte Hagedorn im Walker Art Center/Minneapolis. Das Housatonic Museum in Connecticut wollte eine Schau mit ihm machen, jedoch kam diese nicht zustande, der Direktor verstarb überraschend. Für das Museum of Modern Art erstellte Hagedorn die Radierungen für die Mappe „Ixtlan“, aber auch diese geplante Schenkung konnte nicht realisiert werden, das Haus lehnte die Schenkung ab. 1979 fand bei Gimpel und Weitzenhoffer eine Einzelausstellung mit Hagedorns Werken statt, danach jedoch veranstaltete die Galerie keine weiteren Soloschauen mehr. Parallel zu dieser Schau zeigte auch das Goethe-Institut New York eine Ausstellung mit Hagedorns Arbeiten, ein Werk ging in den Bestand des Instituts über. Kuratiert wurde diese kleine Ausstellung von Dr. Christoph Wecker. Es war ein großer Zwiespalt für Karl: diese Galerie genoss einen sehr guten Ruf, deshalb sah er auch davon ab, sich eine andere Galerievertretung zu suchen. Die Galerie machte es ihren Künstlern zur Bedingung, keine weitere Galerievertretung in New York zu haben, die ebenfalls Unikate ausstellte (Exklusivität). Um dies zu umgehen, zeigte Hagedorn schließlich in weiteren Galerien Papierarbeiten und Graphik, so beispielsweise in der Jack-Gallery in Soho. Die Marlborough-Gallery in New York hatte eine Auswahl seiner graphischen Blätter im Bestand und sie stellten sie auf der Kunstmesse The Armory Show aus. Eva Cohon, Chicago, Martin Summers und die Virginia Lust Gallery hatten alle ein paar Arbeiten. Mit Eva Cohon hatte es große Probleme gegeben. Die Verkäufe waren gut angelaufen. Hagedorn hatte Arbeiten, welche sie in Kommission hatte, angefordert, was ein übliches Vorgehen ist, da es die Arbeiten des Künstlers sind, die die Galerie nicht erworben hat. Daraufhin entstand ein Streit, erst nachdem ein Rechtsanwalt eingeschaltet worden war, gab Cohon die Werke zurück. Die Geschäftsverbindung war damit beendet. Virginia Lust hingegen versuchte, Arbeiten in das Newark Museum zu vermitteln. Sie sendete Kataloge und einen Kunstkalender dorthin, in dem eine Arbeit Hagedorns abgebildet war. In einem Schreiben vom 14.12.1992 antwortete Joseph Jacobs, der Kurator für Malerei und Skulptur am Newark Museum, dass die Arbeiten wunderbar seien, man momentan aber keine Ankäufe tätigen könne. Zunächst machte Karl Hagedorn eine Ausbildung im elterlichen Betrieb, ein Sägewerk. [Es konnte von anderen Interviewpartnern nicht bestätigt werden, ob es sich um eine tatsächliche kaufmännische Ausbildung gehandelt hatte. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Karl Hagedorn seinen Vater ab dem Jugendalter 263

bei seinen Reisen und Geschäftstätigkeiten unterstützt, jedoch keine Ausbildung im eigentlichen Sinne durchlaufen hatte]. Anschließend wurde er zum Kriegsdienst einberufen. Jedoch hatte er durch den Familienbetrieb die Möglichkeit, immer wieder Fronturlaub zu erhalten, was ihm womöglich das Leben rettete. Er wurde beim Militär im Funkdienst (Telegraphie) verwendet. Sobald er an der Front etwas freie Zeit hatte, zeichnete er ohne Unterlass. Portraits von Kameraden und einheimischen Kindern oder Landschaften. Auch in Stalingrad, wo er auf Nepomuk Zöllner traf. Als Karl in die USA emigrierte konnte er die Zeichnungen nicht mitnehmen. Von daher vertraute er sie Zöllner an, der nach dem Krieg in München Arzt wurde. Während seiner Reise 1972 nach Europa, wollte Zöllner ihm die Arbeiten zurückgeben. Karl Hagedorn freute sich sehr, dass dieser die Arbeiten über all die Jahre aufbewahrt hatte. Die Zeichnungen befinden sich heute im Besitz des Philadelphia Museum of Art [Philadelphia-Gruppe]. Nach Kriegsende trat Hagedorn seinen Heimweg aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien zu Fuß an. Auf dem Weg in Richtung Ungarn geriet er zusammen mit seinem Kameraden Ludwig Königsberger in britische Gefangenschaft und wurde bald den Amerikanern übergeben. Relativ bald wurde er freigelassen und konnte nach Hause nach Gernrode. Bald darauf wurde das Abkommen von Jalta563 geschlossen und Gernrode fiel in die russische Besatzungszone. Der Vater wurde inhaftiert, denn da er das Sägewerk besaß, galt er den Russen als Kapitalist. Jedoch suchte der Sohn Karl Vertreter der Besatzer auf und teilte diesen mit, dass die Eltern in der Mühle auch russische Mitarbeiter beschäftigten. Daraufhin wurde der Vater freigelassen. Bereits kurz darauf wollte Karl Hagedorn in den Westen fliehen. Jedoch hatte der Vater einen Herzinfarkt erlitten, einerseits wegen der Inhaftierung, andererseits, weil russische Offiziere in das Haus der Familie Hagedorn einquartiert worden waren. Jedoch konnte das Sägewerk in Besitz der Familie bleiben, unter der Bedingung, dass sie Reparationsleistungen aus der Produktion nach Russland abtreten sollten. So hatte der Vater seinen Sohn gebeten, beim Wiederaufbau des Sägewerks zu helfen und dieser blieb er noch weitere sieben Jahre. Während dieser Zeit gab es immer wieder Gespräche über eine mögliche Flucht. Hagedorn konnte sich aber auch nicht vorstellen, seine Familie zurückzulassen. Mit den Geschehnissen des 17. Juni 1953 aber sah die Familie die Zeit gekommen, dass es zumindest für den Sohn keine tatsächliche Zukunft in der mittlerweile gegründeten DDR geben würde. Die Eltern jedoch fühlten sich zu schwach für eine riskante Flucht. Hagedorn, der sein Ziel, Künstler zu werden, niemals aus den Augen verloren hatte, ergriff diese Möglichkeit und verließ die DDR. Eine Flucht zu Fuß sollte ihm gelingen, sein Zielort in der BRD sollte Augsburg sein, da er dort hoffte, seinen Kriegskameraden Ludwig Königsberger aufzufinden. Dies war ihm tatsächlich gelungen. Königsberger war zwar kein Künstler, aber er fertigte nebenbei kleine Holzschnitzereien an und war mit dem Augsburger Künstler Georg Bernhard bekannt. Er hatte Hagedorn empfohlen, sich bei Bernhard vorzustellen. Hagedorn fand also eine erste Bleibe in Augsburg und fand eine Anstellung in der Werkstatt Bernhards. Auf Empfehlung Bernhards bewarb Hagedorn sich an der Akademie der Bildenden

563 Konferenz von Jalta, auch Krim-Konferenz, mit den Vertretern der alliierten Mächte Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (Vereinigtes Königreich) und Josef Stalin (UdSSR) in der Zeit vom 04.-11.02.1945. Auf dieser Konferenz wurde die Teilung des besiegten Deutschlands in alliierte Besatzungszonen beschlossen, aus der die spätere doppelte deutsche Staatsgründung resultierte. Vgl. Karl Dietrich Bracher: Geschichte Europas seit 1917. Die Krise Europas. Bd. 6. Berlin 1998, S. 244f. 264

Künste in München, wo er fortan die Malereiklasse von Professor Kaspar besuchen sollte. Der Lehrer war ebenfalls eine Empfehlung Bernhards, der bereits vorher bei Kaspar studiert hatte. Dieser soll selbst nicht der beste Maler gewesen sein, jedoch ein hervorragender Kritiker. Auf eigene Aussage hin, lernte viel von ihm. Eine Besonderheit war es, dass Karl Hagedorn durch seine Vorgeschichte älter als seine Mitstudenten war, gerade für ihn war die treffsichere Kritik von Kasper sehr wichtig. Prägend war für ihn auch die kunsthistorische Ausbildung an der Universität. So lebte er in Augsburg und fuhr für das Studium regelmäßig nach München. Die Ausstellungen und Galeriekontakte in Deutschland waren ihm sehr wichtig. Er stellte dort jährlich aus, war hier bekannter als in den USA. Das lag mitunter auch daran, dass seine New Yorker Galerie Gimpel und Weitzenhoffer ihn kaum mehr ausstellten. Da die Galerie nicht mit dem nötigen Elan betrieben worden war, ließ auch das Ausstellungsprogramm oftmals zu wünschen übrig. Hagedorn fühlte sich immer noch dem alten Direktor der Galerie, Bob Endo, gegenüber verpflichtet, dieser verstarb jedoch bald, tragischer Weise an der Krankheit AIDS. Hagedorn wollte sich jedoch nicht von dieser renommierten Galerie abwenden, da sie einen sehr guten Namen in New York hatte und er diese Galerievertretung dennoch als gute Referenz betrachtete. Dazu ist anzumerken, dass Karl Hagedorn dennoch aus seinem Atelier heraus Verkäufe tätigen und von diesen Erlösen auch gut leben konnte. Dazu gesellte sich, dass er seine künstlerische Karriere nicht unter kaufmännischen Gesichtspunkten vorantreiben wollte, sondern sich vielmehr seiner künstlerischen Entwicklung an sich widmen wollte. Dennoch war es ihm gelungen, auch in Deutschland eine beachtliche Reihe an Galerievertretungen aufzubauen. Karl Hagedorn wurde zunächst von dem Augsburger Galeristen Hans-Jörg Rehklau vertreten. Rehklau jedoch war Bernhards Schwager. Als Bernhard erfahren hatte, dass Hagedorn dort ausgestellt werden sollte, Bernhard selbst wurde auch von dieser Galerie vertreten, kam es zum Bruch zwischen Karl und dem Künstlerkollegen Bernhard. Rehklau indes, wurde zu einem wichtigen Galeristen für Hagedorn in Deutschland. Ende 1978 besuchte Wolfgang Horn, Kurator der damaligen Kunsthalle Nürnberg, New York. Bei einem Galerienrundgang entdeckte er Arbeiten von Karl Hagedorn im Schaufenster von Gimpel und Weitzenhoffer und fragte den Galeriedirektor Bob Endo gezielt nach diesen Werken und nach dem Künstler. Endo veranlasste seine Mitarbeiterin Sigrid Freundorfer, einen Brief an die Nürnberger Kunsthalle zu verfassen und alles für einen möglichen Ankauf oder für eine Ausstellung vorzubereiten. Doch noch während der laufenden Verhandlungen machte sich Freundorfer mit einer eigenen Galerie selbstständig und Hagedorn übernahm selbst die Organisation der Ausstellung. Er flog unter anderem zweimal nach Nürnberg und schließlich kamen ein Ankauf mehrerer Werke und eine große Einzelausstellung mit 100 Bildern zustande. Freundorfer erfuhr davon und forderte eine fünfzigprozentige Beteiligung an den Verkaufserlösen ein, da sie der Meinung war, den Kontakt hergestellt zu haben. Hagedorn, Bob Endo und Wolfgang Horn waren über dieses Verhalten empört, sodass Freundorfer nicht beteiligt wurde. Auch noch später, nach Karls Tod, war Freundorfer der Ansicht, sie sei für den Verkauf und für die Zusammenarbeit mit der Kunsthalle verantwortlich gewesen. Sie hatte kurz nach Karl Hagedorns Tod einen harschen Brief an Diana geschrieben, in dem sie ihre Auffassung wiederholte. Die Künstlerwitwe jedoch ließ dies unbeantwortet. Die Ausstellung in der Nürnberger Kunsthalle war der Beginn einer regen Ausstellungstätigkeit in Deutschland und der Grundstein für die Hagedorn- 265

Sammlung des Hauses, die sich heute im Besitz des Neuen Museums Nürnberg befindet. Durch den Direktor der Kunsthalle, Curt Heigl, kam der Kontakt mit Ali Rasekshaffee zustande. Er hatte eine Galerie in Bad Saulgau, später in Ravensburg. Der gebürtige Iraner besuchte Karl Hagedorn in New York und kaufte auch direkt einige Arbeiten an. Zunächst wurden Hagedorns Werke in einer Gruppenausstellung in der Galerie gezeigt, eine Soloschau war in Planung, ebenso ein Katalog. Jedoch stellte sich bald heraus, dass Rasekshaffee Kunst nicht in erster Linie als Ausstellungsobjekt sondern vielmehr als Handelsgut betrachtete. Eine Haltung, die Karl nicht teilte. So verzögerte sich das Ausstellungsvorhaben zunächst, weil Karl Hagedorn den Galeristen erst noch näher kennen lernen wollte. Im Laufe der achtziger Jahre kamen einige familiäre Probleme auf die Galeristenfamilie zu, die daraufhin die Galeriegeschäfte vernachlässigt hatte. Während eines Besuches in Ravensburg, war Hagedorn in Verhandlungen mit einer anderen Galeristin vor Ort, Doris Hölder, getreten. Als Ali Rasekshaffee davon erfahren hatte, war die Zusammenarbeit beendet. Im Jahr 1998 fassten Karl und Diana den Entschluss, von New York nach Philadelphia zu ziehen. Diana kam ursprünglich aus Philadelphia und ihre Mutter lebte noch dort. Diese war inzwischen über neunzig Jahre alt und benötigte Hilfe und Pflege. Dianas Schwestern waren beide selbst krank, sie litten an Multipler Sklerose. Für Karl Hagedorn war es zu keinem Zeitpunkt eine leichte Entscheidung gewesen, New York zu verlassen, aber er war sich der familiären Verpflichtung seiner Frau sehr bewusst. Zudem hatte inzwischen die Galerie Gimpel und Weitzenhoffer ihr Geschäft aufgegeben und Karl Hagedorn stand letztendlich ohnehin vor einer Neuorientierung in den USA. Anfang des Jahres 2000 war der Umzug nach Philadelphia komplett beendet und das Ehepaar Hagedorn hatte ein Appartement im William-Penn-House in der Chestnut Street, sehr zentral in Philadelphia gelegen, bezogen. Sie hatten die gemeinsame Wohnung und ein Stockwerk tiefer hatte Karl ein Atelier. Zur Mitte des Jahres 2000 ließ Karl Hagedorn im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung eine Gastroskopie machen, die erschütternde Diagnose war ein bereits fortgeschrittener Speiseröhrenkrebs. Daraufhin hatte Diana ihre Anstellung an der Universität von Philadelphia komplett aufgegeben, das sie nun neben ihrer Mutter und den Schwestern auch einen pflegebedürftigen Ehemann hatte. Trotz der erschütternden Diagnose versuchte Karl Hagedorn, sich und seine Kunst in Philadelphia zu etablieren, aber auch, weiterhin zu malen. Auch in Deutschland waren Veränderungen eingetreten. Seine bisherigen Galeristen hatten geplant, aus Altersgründen ihre Galerien auf absehbare Zeit zu schließen. Hagedorn, der seit der Ausstellung in der Nürnberger Kunsthalle gerne eine Galerievertretung in Nürnberg gehabt hätte, lernte in den neunziger Jahren den Galeristen Klaus Bode in Nürnberg kennen, wo er seit Mitte der neunziger Jahre auch ausstellen konnte. Schließlich vereinbarte Karl, dass die Bode Galerie alle, noch bei den anderen deutschen Galerien befindliche Werke übernehmen sollte. Somit löste er nicht nur die Problematiken, welche die geplanten Geschäftsaufgaben mit sich bringen könnten. Er konzentrierte seine Überseevertretung auf nur eine Galerie, was ihm in seinem Alter und später seinen gesundheitlichen Zustand betreffend, sehr entgegen gekommen war. Karl Hagedorn wollte sich von seiner Krankheit nicht entmutigen lassen und setzte seinen Plan, in Philadelphia eine Galerievertretung zu finden, fort. Durch einen Bekannten entstand ein Kontakt zur Newman Gallery. Eine in Philadelphia sehr renommierte Galerie seit 1865, die in erster Linie klassische Kunst vertrat, 266

jedoch auf der Suche nach einem zeitgenössischen Künstler war, dessen Arbeiten sich in das klassische Umfeld einbetten ließen. Karl Hagedorns Werk erschien dafür als prädestiniert und so entschloss man sich zur Zusammenarbeit. Die Galerie hatte ein wohlhabendes Publikum und sie verkauften die Werke in den ersten beiden Jahren sehr gut. Jedoch fand nie eine Einzelausstellung statt, da das im Programm der Galerie nicht vorgesehen war. Die Anschläge auf das World Trade Center vom 11.9.2001 veränderten Karl Hagedorns Sichtweise auf den Umzug nach Philadelphia drastisch. Das Studio und damit auch die gemeinsame Wohnung des Ehepaares am Broadway lag so nahe an den Zwillingstürmen, dass das Gebäude, in dem Karl und Diana Hagedorn gelebt hatten, ebenfalls dieser Zerstörung anheimfiel. Durch den Umzug wurde das Werk und mit großer Wahrscheinlichkeit auch das Leben der beiden gerettet. Karl Hagedorns gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich schließlich. Er lebte nach seiner Diagnose zwar noch fünf Jahre, verbrachte diese aber zumeist zu Hause im neuen Appartement. Sein Lebenselixier war nach wie vor die Malerei, der er sich fast täglich widmete. Seinen achtzigsten Geburtstag jedoch verbrachte er in Deutschland, es war seine letzte Reise dorthin. 2005 verstarb Karl Hagedorn in Philadelphia. Seit Karl Hagedorns Tod hatte es sich seine Witwe Diana zur Lebensaufgabe gemacht, das Werk in Ausstellungen und an Galerien zu vermitteln. Unter anderem konnte sie die Silberstiftzeichnungen zunächst im Philadelphia Museum of Art ausstellen und schließlich kaufte das Museum diese 2008 an. Unermüdlich ist sie in Kontakt mit Händlern und Galerien. Kurz bevor Karl Hagedorn verstarb soll er zu Diana gesagt haben: „I hope that my work will help you having a good life after my death”.

Das Interview mit dem Ehepaar Dr. Winfried und Kay Raabe und Frau Dr. Sigrid Bachmann Am 9. August 2012 konnte ein Gespräch mit dem Ehepaar Winfried und Kay Raabe sowie mit Sigrid Bachmann in Minneapolis/St. Paul stattfinden. Alle drei Interviewpartner sind Wegbegleiter Hagedorns während seiner Zeit in den Twincities. Dr. Winfried Raabe ist ein deutscher Arzt, der bereits früh in die USA emigrierte für ein Forschungsprojekt, dann aber blieb. Er ist mit der Amerikanerin Kay Raabe verheiratet. Dr. Sigrid Bachmann ist ebenfalls eine Immigrantin aus Deutschland.

Winfried Raabe und Karl Hagedorn hatten sich Mitte der sechziger Jahre durch den gemeinsamen Bekannten Dr. Gianfranco Ayala kennen gelernt. Dr. Sigrid Bachmann hatte Karl Hagedorn Ende der sechziger Jahre durch einen gemeinsamen Freund kennen gelernt. Dies war Herbert Scherer, der Kunstgeschichte an der University of Minnesota unterrichtete. Sowohl Karl Hagedorn als auch Sigrid Bachmann interessierten sich für Kunstgeschichte und so lernten sie sich über Scherer in der Bibliothek des kunsthistorischen Instituts kennen. Bachmann und Hagedorn gingen einmal zusammen Eislaufen, dabei stürzte Hagedorn und renkte sich die Schulter aus. Bachmann rief einen mit ihr befreundeten Arzt zu Hilfe und das war wiederum Gianfranco Ayala. Einen besonderen Reiz stellte für Hagedorn Raabes Tätigkeit als Neurowissenschaftler dar, Hagedorn, der neben seiner Begeisterung für technischen Fortschritt ein intensives Interesse an diesen Vorgängen im menschlichen Organismus hatte, konnte in den Gesprächen mit Raabe vieles über 267

die Funktionsweisen von Gehirn und Nervensystemen erfahren. Auch die Gespräche mit Bachmann waren für Hagedorns Interessenfeld von höchster Relevanz. Karl Hagedorns Witwe Diana Cavallo vertritt nachhaltig die Ansicht, dass sich Hagedorn nie um finanzielle oder um buchhalterische Aspekte rund um seine künstlerische Tätigkeit gekümmert habe. Natürlich habe er sich gefreut, wenn seine Galeristen etwas verkaufen konnten. Zudem pflegte er eine rege Verkaufstätigkeit aus dem New Yorker Atelier am Broadway heraus, ohne die Galeristen daran zu beteiligen. Ein Modell, welches in den USA üblich war und ist. Jedoch ist Cavallo der Ansicht, dass Hagedorn nicht oder nur beiläufig über die Verkäufe Buch führte, da seine hauptsächliche Intention nicht der Verkauf seiner Werke war, sondern die Ausübung seiner Malerei und die Realisierung seiner bildnerischen Ideen. In der Ehe kümmerte sich demnach Cavallo um alle finanziellen Angelegenheiten. Im Gespräch mit Winfried Raabe ergab sich eine konträre Einschätzung. Er hatte Hagedorn als bewussten Geschäftsmann und Kaufmann kennen gelernt, der stets um seine Verkäufe und den finanziellen Status wusste und dem diese kaufmännischen Aspekte seiner Tätigkeit auch wichtig waren. Raabe führt diese Haltung auch auf Hagedorns elterlichen Hintergrund zurück, schließlich war er in einem Unternehmen, dem Sägewerk, welches seine Eltern betrieben hatten, aufgewachsen und er hatte seinen Vater intensiv unterstützt. Zum besseren Verständnis der Tatsachen für die Verfasserin, wurden in diesem Interview erneut die Modalitäten der Immigration in die USA angesprochen, auch wenn hier vieles bereits in den Gesprächen mit der Witwe des Künstlers in Erfahrung gebracht werden konnte. Jedoch sind Raabe und Bachmann selbst Immigranten und zudem sind sie Zeitgenossen Hagedorns bevor dieser seine spätere Ehefrau Diana Cavallo kennen gelernt hatte. Wer in die USA einreisen und dauerhaft bleiben wollte brauchte demnach so genannte Sponsoren. Der World Council of Churches war ein Vermittler solcher Sponsoren, für diese war es ein Ehrenamt, sich ein Jahr lang um den Einreisenden zu kümmern. Fand man einen solchen Sponsor, konnte man die Green Card erhalten. Für Karl Hagedorn hatten sich also zwei Brüder bereit erklärt, ihm ein Jahr lang bei seiner Integration zur Seite zu stehen. Das Brüderpaar arbeitete in Minneapolis bei der 3M- Company. Diese weltbekannte Firma ist vergleichbar mit Tesa, dort werden Klebstoffe und Pflaster hergestellt. Nach der Einreise über Ellis Island und New York wurde Hagedorns erster Aufenthaltsort in den USA die Twincities Minneapolis/St. Paul im Bundesstaat Minnesota. Er lebte zunächst auf der Summit Avenue und zog später um in ein kleines Haus auf der Grand Avenue. Um seine Bleibe und seinen Lebensunterhalt verdienen zu können aber natürlich auch, um überhaupt in den USA bleiben zu können, brauchte Karl Hagedorn einen Arbeitsplatz. Zum Zeitpunkt seiner Einreise sprach er noch kein Englisch, also war an eine Arbeit, die seinen in der Geschäftsleitung des elterlichen Sägewerkes entsprach, zunächst nicht zu denken. Genauso wenig konnte er sich einzig auf seine künstlerische Tätigkeit konzentrieren, damit konnte er sich zunächst noch keinen Lebensunterhalt erwirtschaften. Karl Hagedorn sei bereit gewesen, jede Art von Anstellung anzunehmen und wurde so in die Putzkolonne des Städtischen Krankenhauses aufgenommen. Durch seine sehr gewissenhafte („deutsche“) Arbeitseinstellung und Ausführung der ihm aufgetragenen Tätigkeiten, war er alsbald der Klinikleitung aufgefallen. So schlug der Klinikleiter vor, dass Karl Hagedorn lernen sollte, den Schneepflug zu fahren und damit den Parkplatz vor der Klinik und die Wege rund um das Gebäude vom Schnee zu befreien. Eine 268

arbeitsreiche und sehr wichtige Aufgabe, denn Minneapolis hat schneereiche Winter. Karl freute sich über das Vertrauen. Die Auseinandersetzung mit dem neuen Gerät und das Studium der englischsprachigen Betriebsanleitung erweiterten seinen englischen Wortschatz. Außerdem ermutigte ihn das Fahren des Schneepflugs dazu, einen Führerschein zu erwerben. Nur kurze Zeit später begann er seine Anstellung beim Catholic Digest, wo er bald die Stelle des Art Directors übertragen bekam. Dort war Hagedorn verantwortlich für das Layout der Hefte und für die Illustrationen zu den Texten. Längere Zeit war das seine einzige Einnahmequelle und er konnte sich intensiver um seine Malerei kümmern. Durch die Arbeit beim Catholic Digest wurde ein wichtiger Auftrag an Karl herangetragen: die Gestaltung eines Glasfensters in einer Kirche an der Summit Avenue. Die Kirche ist heute noch erhalten und das Fenster ebenfalls. Auf die Frage hin, ob Karl Hagedorn von seiner künstlerischen Arbeit gesprochen hatte, bestätigte Sigrid Bachmann, dass dies sein Hauptthema, sein Lebensinhalt gewesen sei. Er wollte Fall zeigen, dass und wie er seine Malerei weiterentwickelte, sprach über seine künstlerischen Intentionen und über die Motive, die er realisieren wollte. Bachmann war sehr interessiert an Kunst und Kunstgeschichte, sie teilte mit Hagedorn das große Interesse am Kunstfilm und am surrealistischen Film (hier auch der Vermerk, dass Hagedorn im Besonderen an Salvador Dalís Film „Ein andalusischer Hund“ interessiert war). Außerdem habe Hagedorn von seinem Interesse an Mythologie, im Besonderen wohl von einer Auseinandersetzung mit dem Mythos von Ikarus und Daedalus berichtet. Bachmann und Raabe zeigten sich gleichermaßen beeindruckt, wie sehr Karl Hagedorn die Malerei zum Lebensinhalt bestimmt hatte. Raabe sprach an, dass Hagedorn nie ohne Skizzenbuch das Haus verlassen hatte. Die Freundschaft zwischen Raabe, Bachmann und Hagedorn basierte auf der gemeinsamen deutschen Herkunft, auf dem Interesse an Kunst, welches alle teilten. Karl Hagedorn, als der Ältere, hatte auch immer wieder von seiner Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg gesprochen, immer voller Dankbarkeit, diesen überlebt zu haben. Zu dem Zeitpunkt als die genannten Personen sich kennen gelernt hatten, war Hagedorn bereits von seiner Frau, die er noch in Augsburg geheiratet hatte, geschieden. Auch hier wurde davon berichtet, dass die Ehefrau sich in erster Linie um ihre Mutter gekümmert habe, die das gemeinsame Leben maßgeblich zu bestimmen gedachte. Zudem seien sowohl Ehefrau als auch Schwiegermutter gegen Hagedorns Konzentration auf die künstlerische Arbeit gewesen, ein Aspekt, der Hagedorns Zukunftsplänen diametral entgegengesetzt war. Auf die Frage hin, ab wann sich Karl Hagedorn dafür entschieden habe, nach New York zu gehen, antwortete Bachmann, dass dies von Beginn an für Hagedorn festgestanden habe, seinen späteren künstlerischen und Lebensweg in New York, dem Weltzentrum der Kunstentwicklung, zu begehen. Die Aussicht, nach New York zu gehen, war Triebfeder für alle Tätigkeiten und Überlegungen, die seine Existenz, seine Kunst und seine Pläne betrafen. Dennoch legte er fest, zunächst so lange in Minneapolis/St. Paul zu bleiben, bis er die nötigen finanziellen Mittel aufbringen konnte, einige Jahre in New York ohne Broterwerb leben zu können. Raabe komplettierte den Bericht durch die Aussage, dass für Hagedorn in Minneapolis dasjenige heranreifen konnte, was er für nötig erachtet hatte, um eines Tages nach New York zu gehen und um dort zu bestehen. Bachmann ist zudem der Meinung, dass es für einen Künstler zu dieser Zeit keine andere Option außer eine Zukunft in New York gegeben habe. Minneapolis bot 269

damals für einen jungen Künstler keinerlei Möglichkeiten, ein Werk nachhaltig zu etablieren, zu promoten und schließlich zu verkaufen, sofern man über die Regionalität hinaus wollte. Raabe: Karl spürte Anfang der 70er Jahre sehr wohl, dass seine Zeit für den Umzug gekommen war. Er hatte sich in jeder Hinsicht auf den Umzug und auf die Stadt vorbereitet, hatte ein Jahr lang immer wieder Wochenend-Fahrten dorthin unternommen, um NY kennen zu lernen. Und 1972/73 war auch der Zeitpunkt gekommen, dass er so viel angespart hatte, dass er zumindest das erste halbe Jahr bis Jahr in NY auch ohne Job überleben können würde. Dennoch bestätigten die Interviewpartner, dass Minneapolis/St. Paul einen hervorragenden Ausgangspunkt für Hagedorn in den USA darstellte. In diesen kleineren Städten konnte er relativ schnell eine sehr gute Reputation erreichen und vielfältige Ausstellungstätigkeiten realisieren, wie beispielsweise die frühen Ausstellungen und die daraus resultierenden guten Kontakte zum Walker Art Center oder der gute Kontakt zu einer Galerie in St. Paul, wo er ausstellen konnte. Ein besonders wichtiger Abschnitt bedeutete die Lehrtätigkeit an der Hamline University, wo er eine Vertretungsdozentur für ein knappes Jahr übernommen hatte. Dort habe er graphische Techniken unterrichtet. [Der Inhalt der Lehrtätigkeit konzentrierte sich jedoch auf die Zeichnung, wie aus dem späteren Gespräch mit Leonardo Lasansky beim Besuch an der Hamline University hervorgegangen war (2.6.2.4)]. Die Berufung an das Department bedeutete für Hagedorn eine fachliche Bestätigung für sein künstlerisches Tun. Dennoch habe es auch Momente gegeben, in denen Hagedorn kritisch auf sein künstlerisches Schaffen, beziehungsweise auf seine künstlerische Zukunft blickte. Er habe dann gesagt, er sei für den künstlerischen Durchbruch „…nicht jung oder tot genug“. Über Karl Hagedorns Umzug und die ersten Jahre in New York konnte in Erfahrung gebracht werden, dass er sein erstes Studio in Soho in der Broome St. sehr schnell gefunden habe. Er reiste vor dem endgültigen Umzug einige Male nach New York, um ein Gefühl für die Großstadt zu entwickeln. Man ließ den Kontakt zu Karl nicht abreißen und telefonierte regelmäßig. Es fanden auch Besuche des Ehepaares Raabe bei Hagedorn in New York statt. Karl Hagedorn bemühte sich unermüdlich darum, sein Werk in den Galerien vorzustellen, so war schließlich auch der Kontakt zu Galerie Gimpel and Weitzenhoffer entstanden, die ihn ihre New Talent Show aufgenommen hatten. Auf die Frage hin, warum Karl Hagedorn der sich als sehr untätig erweisenden Galerie so lange treu geblieben war, antwortet Raabe, dass Hagedorn der Galerie, in erster Linie dem damaligen Direktor Bob Endo sehr dankbar war für die rasche Aufnahme in das Galerieprogramm und dass der Name einen guten Klang hatte, ein gewisses Renommee versprochen hatte.

Das Interview mit Philip Larson Am 10. August 2013 konnte in Minneapolis ein Gespräch mit Philip Larson, dem ehemaligen Assistenzkurator am Walker Art Center, geführt werden. Der Kontakt wurde über das Ehepaar Raabe vermittelt. Neben der Tätigkeit am Walker Art Center unterrichtete Larson auch am Minneapolis College for Art and Design. Larson hatte im Jahr 1969 für ein Jahr lang in München gelebt.

Philip Larson erinnert sich, Karl Hagedorn im Jahr 1971 zum ersten Mal in Minneapolis getroffen zu haben. Es sollte eine Ausstellung zum Thema Graphik im Walker Art Center geben, der damalige Chefkurator war Martin Friedman. 270

Larson war direkt von Hagedorns graphischen Arbeiten beeindruckt und hatte sechs Arbeiten in die Ausstellung im Walker Art Center aufgenommen. Weiterhin waren Werke von George Morrison zu sehen, ein Künstler, der ebenfalls in den Twincities bekannt war. Larson hatte es beeindruckt, dass Hagedorn seine druckgraphischen Werke gänzlich selbst herstellte. Zudem berichtete er, dass es in diesen Jahren schwierig war, entsprechendes Papier zu erwerben, sodass Karl Hagedorn auch die Technik des Papierschöpfens erlernte hatte. Larson ist der Ansicht, dass sich Hagedorns Kunst in zwei Linien entwickelte, dies waren Arbeiten im Stile Kandinskys und sehr verdichtete Motive, die typisch für ihn werden sollten. Die Meinung der Verfasserin zu den künstlerischen Vorbildern Karl Hagedorns wusste Larson zu bestätigen. Larson hatte zudem Hagedorns Begeisterung für surrealistische Tendenzen und für den Dadaismus unterstrichen sowie den Versuch einer bildnerischen Verbindung von mechanischer Welt und menschlicher Formen. Auch Larson berichtete, dass Hagedorn den deutschen Künstler Emil Schumacher kennen gelernt hatte, als dieser in Minneapolis lehrte. Auf die Frage hin, mit welchen Problemen Karl Hagedorn in der Etablierung seines Werkes zu kämpfen hatte, erzählte Larson von Hagedorns Ansicht, dass Kunst nicht in erster Linie konzeptionell sein sollte. Er wollte vielmehr die Malerei und eine neue Auffassung von figürlicher Darstellung und deren Abstraktion im Mittelpunkt sehen. Larson sieht darin den Schlüssel zu Hagedorns Erfolgen auf dem deutschen Kunstmarkt, da dort zur selben Zeit mit dem Bekanntwerden von Künstlern wie Georg Baselitz, Gerhard Richter und Markus Lüpertz Malerei und eine neue Figürlichkeit in den Mittelpunkt rückten. Larson erinnerte sich daran, dass Karl Hagedorn vor allem durch sein systematisches Denken aufgefallen war. Er habe sich sehr planvoll verhalten, sowohl hinsichtlich seiner Motiventwicklung als auch hinsichtlich der Etablierung seiner Werke auf dem Kunstmarkt sowie in der Ausstellungsumgebung. Wenn er etwas Neues begann, so wusste er immer über alle dazugehörigen Faktoren genau Bescheid. Es war ihm ein absolutes Anliegen, alles was ihn und seine Pläne betraf, genau zu überprüfen und im Griff zu haben. Er war durch und durch ein Businessmann und auch ein versierter künstlerischer Techniker. Karl Hagedorn habe sich als Einzelkünstler versucht, bezog sich auf keine Strömung und auf keine Gruppe. Das machte es ihm zunächst schwer, auf sich aufmerksam zu machen und sich zu etablieren. Auch nach der Übersiedelung nach New York haben Hagedorn und Larson Kontakt gehalten. Immer wieder sah sich Hagedorn mit dem Problem konfrontiert, dass Galeristen und Kuratoren Schwierigkeiten mit seiner Malerei hatten, da sie nicht aus einer bestimmten Richtung kam, dass Karl Hagedorn keiner der aktuellen Strömungen angehörte. Umso beeindruckender sei der Grad an Bekanntheit, den Hagedorn dennoch erzielt hatte.

Das Interview mit Richard Galef Am 16. August 2012 fand in New York ein Interview mit Richard Galef statt. Galef war als Designer tätig und kannte Karl sehr gut, denn sie waren in der Broome St fast Nachbarn. Seine Frau Susann war Immobilienmaklerin und sehr eng mit der New Yorker Galerienszene vernetzt, da sie unter anderem Räume zur Miete an Galerien vermittelte, beispielsweise die Galerieräume der Larry Gagosian Gallery. Der Kontakt zu Richard Galef kam über Diana Cavallo zustande. 271

Karl Hagedorn und Richard Galef hatten sich über Alice Baber kennen gelernt. Galef und Baber waren zu diesem Zeitpunkt ein Paar, Hagedorn kannte Baber bereits aus Minneapolis, wo sie zunächst sporadisch an der University of Minnesota unterrichtete. Als Karl Hagedorn schließlich nach New York umgezogen war, hatte Alice Baber zeitgleich eine Gastprofessur an der University of Minnesota für ein Jahr angenommen und übersiedelte für diesen Zeitraum gänzlich nach Minneapolis. Diese Überschneidung war unglücklich für Hagedorn, da Baber in New York sehr viele Kontakte hatte und sie ihn natürlich viel leichter in die Szene hätte einführen können, wenn auch sie vor Ort gewesen wäre. Richard Galef war als Designer ebenfalls sehr gut vernetzt. In seinem Studio in der Broome St hatte er, wie es der Zeit entsprach, viele Partys gegeben. Diese Partys wurden als eine Art Kontaktbörse genutzt und die Gastgeber luden ihre Gäste ein, um sie miteinander bekannt zu machen. Durch solche Partys lernten sich auch die Künstler untereinander kennen, was sehr wichtig für die Gemeinschaft in Soho war. Galef erinnert sich beispielsweise an gern gesehene Partygäste wie Sonja und Robert Delaunay, Helen Frankenthaler, Clement Greenberg oder Joan Mitchell. Ebenso wie Diana Cavallo kannte auch Richard Galef Louise Varèse, Edgard Varèses Ehefrau. Auf die Frage hin, wie sich Hagedorns erste Jahre in New York gestaltet hatten, erinnerte sich Galef daran, dass Hagedorn genau wusste, dass er sehr aktiv sein musste, um in der überbordenden New Yorker Kunstszene überhaupt Fuß fassen zu können. Er war voller Tatendrang und versuchte sich stets über alles zu informieren und ging vor allem auch zu allen wichtigen Veranstaltungen. So gab es zum Beispiel die „Tuesday Nights“. An diesen Abenden hatten die Galerien an der Madison Avenue lange geöffnet. Man ging von Galerie zu Galerie, lernte die Direktoren und deren Programm kennen und hatte als Künstler die Möglichkeit, selbst Kontakte zu knüpfen. An einem solchen Abend hatte Hagedorn von der bei Gimpel and Weitzenhoffer geplanten „New Talent Show“ erfahren. Galef wusste, wie wichtig es für Hagedorn war, bei Gimpel and Weitzenhoffer aufgenommen worden zu sein. Aber er merkte auch kritisch an, dass diese weitaus mehr für Hagedorns Werk hätten tun können. Auf die Frage hin, warum sich Hagedorn dann nicht von dieser Galerie getrennt hatte, führte auch Galef das Renommee dieser Galerie, bedingt durch den guten Namen, sowie Hagedorns Dankbarkeit gegenüber Bob Endo, dem Direktor der Galerie, der ihn in das Programm aufgenommen hatte, an. Der bekannte Kunstkritiker John Russel (The New York Times) wurde durch die New Talent Show auf Karl aufmerksam und schrieb, dass er „zwar nicht mehr jung, aber ein neues Talent für New York“ sei. Galef wusste auch, entsprechend zu Diana Cavallos Anmerkungen, von Karl Hagedorns für den Kunstfilm sowie für Musik, im Besonderen auch klassische sowie Jazzmusik, zu berichten. Galef hatte bestätigt, dass Karl Hagedorn die Konzertreihe anlässlich des Geburtstages von Edgard Varèse in New York besucht hatte. Auf die Frage hin, ob es Künstlerkollegen gab, mit denen Hagedorn befreundet war oder im Austausch stand, erwiderte Galef, dass Hagedorn auf einer der benannten Partys den konstruktivistischen Künstler Ilja Bolotowski kennen gelernt hatte. Man tauschte sich regelmäßig aus und schätzte die Arbeit des jeweils anderen. Ilja Bolotowski aber kam schließlich durch einen tragischen Sturz in einen Fahrstuhlschacht ums Leben. (Die tragische Szene in seinem Studio: man musste den Fahrstuhl immer wieder zurück nach oben schicken, sobald man mit ihm nach unten gefahren ist. Einmal hatte sein Sohn das 272

vergessen. Ilja wollte abends sein Studio verlassen, bemerkte nicht, dass der Fahrstuhl nicht da war und fiel in den Schacht).

Das Interview mit John Ittman und Nora Lambert Am 31. Juli 2012 konnte während des Besuchs im Philadelphia Museum of Art auch ein Gespräch mit John Ittman (Kurator am Department für Druckgraphik und Zeichnung) und mit dessen Assistentin Nora Lambert. Der Grund für den Besuch war das Studium der vierzehn Silberstiftzeichnungen der Philadelphia Gruppe.

Ittman berichtete, dass diese Zeichnungen das Interesse des Departments geweckt hatten, weil sie zum einen eine fast vollständig erhaltene Werkgruppe darstellten und weil sie zum anderen über eine turbulente Zeit hinweg in einem einwandfreien Zustand aufbewahrt werden konnten. Und gerade die Tatsache, dass sie vor der Zeit der akademischen Ausbildung Hagedorns entstanden waren, spricht maßgeblich für diese Arbeiten. Denn sie beinhalten eine besondere Frische, einen ungetrübten Blick auf das Motiv und eine frappierende Sicherheit und Direktheit in der Ausführung. Bereits im Jahr 2004 hatte der damalige Assistenzkurator Michael R. Taylor nach einem Briefwechsel Hagedorn im Atelier besucht. Dem Engagement Diana Cavallos ist es zu verdanken, dass der Kontakt auch nach Hagedorns Tod aufrechterhalten werden konnte und schließlich das Konvolut der Philadelphia- Gruppe in den Bestand des Museums übergehen konnte. Weiteren Schenkungen oder gar Ankäufen gegenüber sei das Haus nicht abgeneigt. Bei den Silberstiftzeichnungen wisse man, dass Karl Hagedorn zu dem Entstehungszeitpunkt noch nicht viele künstlerische Vorbilder gesehen hatte, auf die er sich inhaltlich oder formal beziehen konnte. Dennoch lassen sich Verbindungen in der Kunstgeschichte finden. Seine Art der Stiftführung und der Liniensetzung weisen aber dennoch Verbindungen zu der Zeichenkunst des 19. Jahrhunderts auf, ein Vergleich, der die Annahemen der Verfasserin unterstützt (vgl. Kapitel 3.2.2). Auch die weiteren, von der Verfasserin vorgeschlagenen künstlerischen Vorbilder, wie Fernand Léger, Richard Lindner oder Stuart Davis, hatte John Ittman im Gespräch bestätigt und darüber hinaus auf die Ideen des Futurismus hingewiesen, die ebenfalls in seinen Arbeiten wieder zu finden sind. Auf die Frage hin, für wie relevant Ittman die wissenschaftliche Bearbeitung des Werkes Hagedorns einschätze, antwortete dieser, dass er eine Bearbeitung für sehr relevant halte, da vor allem zum Zeitpunkt der Bearbeitung noch ausreichend Zeitgenossen befragt werden können und es jetzt noch möglich sei, an die Erfolge Hagedorns anzuknüpfen, sodass sein Schaffen nicht in Vergessenheit gerate. Durch den Ankauf der Silberstiftzeichnungen ist bereits ein Beitrag dazu geleistet worden, was zeigt, dass es sich hierbei um ein wichtiges Gesamtwerk handelt. Besonders in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts wollten und konnten einige Künstler mit den rasanten Entwicklungen vor allem in der Pop Art nicht schritthalten. Heute jedoch stehen diese Künstler wieder im Fokus des öffentlichen Interesses und es ist wichtig, ihnen den ihnen gebührenden Platz in der Kunstgeschichte einzuräumen. Außerdem sei es die Aufgabe des Museums, die Strömungen einer Epoche oder Zeit möglichst breit zu dokumentieren.

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Das Interview mit Professor Dr. Nepomuk Zöllner Am 02. August 2010 konnte ein Gespräch mit Herrn Professor Dr. Nepomuk Zöllner in München stattfinden. Nepomuk Zöllner ist Professor der Medizin an der Universität in München. Er war zusammen mit Karl Hagedorn im Zweiten Weltkrieg als Soldat in Russland eingesetzt gewesen, die dort entstandene Freundschaft hielt bis zu Karl Hagedorns Tod im Jahr 2005.

Karl Hagedorn hatte Zöllner kurz vor Kriegsende einige seiner Silberstiftzeichnungen anvertraut, die Zöllner unversehrt nach Deutschland verbracht und aufbewahrt hatte. Als Hagedorn im Jahr 1953 in die BRD fliehen und Zöllner nach langer Zeit wieder besuchen konnte, hatte dieser ihm die Zeichnungen zurückgeben. Die Zeichnungen haben für Hagedorn einen hohen Erinnerungswert besessen. Die Tatsache, den Zweiten Weltkrieg überlebt zu haben, beschäftige ihn sein gesamtes Leben lang. Die Zeichnungen bedeuteten ihm Erinnerung an diese Zeit, aber auch an die Menschen, die er während der Fronteinsätze gesehen oder kennen gelernt hatte. Heute befinden sie sich im Besitz des Philadelphia Museum of Arts. Der junge Karl Hagedorn musste viel im elterlichen Betrieb arbeiten, das waren auch harte Jahre und die Erinnerungen daran waren gut, aber auch von einer gewissen Bitterkeit getragen. [Ein Aspekt, der in den anderen Interviews nicht zum Tragen gekommen ist]. Eine Übersiedelung in die USA war zu dieser Zeit (1959) nicht unüblich unter den Deutschen. Hagedorn habe sich ganz bewusst für diesen Schritt entschieden. Zweifel wurden nicht laut, aber Zöllner weiß nicht, ob Hagedorn, vor allem in den Anfangsjahren, diesen Schritt nicht auch bereut haben könnte. [Vgl. hier die Überlegungen der Verfasserin zu „The Hand of my Aunt“, Kapitel 3.2.4.1]. Die ersten Jahre in den USA waren sehr schwer. Sprachbarriere und finanzielle Schwierigkeiten, es dauerte, bis er einen Job gefunden hatte. [Konträr zu den Aussagen Cavallos, Raabes und Bachmanns]. Aber es fiel ihm nicht schwer, bald Anschluss zu den Personen in seinem neuen Umfeld zu finden. Zu Hagedorns Lehrauftrag an der Hamline vertritt Zöllner die Meinung, dass die Qualität und Anforderungen solcher Lehraufträge in den USA nicht mit denen in Deutschland zu vergleichen seien, europäische und insbesondere deutsche Standards lägen da weit höher. Die Karriere als Künstler konnte Hagedorn in kleinen Schritten ausbauen und planen. Er freute sich darüber, sich bereits nach wenigen Jahren in den USA an ersten Ausstellungen beteiligen zu können. Finanziell war er immer knapp dran, auch in den späteren Jahren in New York, aber das belastete ihn nicht, zumindest zeigte er das nicht. Hagedorn habe sich nie Gedanken um seinen künstlerischen Nachlass gemacht. Er habe des Öfteren betont, dass es ihn nicht interessiere, was nach seinem Ableben passieren würde. Schließlich auch in Deutschland ausstellen zu können, bedeutete für Karl Hagedorn eine Chance und einen enormen Imagegewinn. Er war ein praktischer, faktischer und pragmatischer Mensch, der sein Leben gut im Griff hatte. Der nicht zu überschwänglicher Euphorie neigte, aber sich dennoch gebührend über wirkliche Erfolge oder Fortschritte freuen konnte. Zöllner vertritt die Ansicht, dass Hagedorn keine Freude am Reisen hatte, sich kaum bewegt habe und habe nur über seine Besuche in Paris und Florenz gesprochen hätte. [Dem stehen der Entschluss zur Flucht aus der DDR, die Emigration in die USA, die Europareise 1972, die später jährlichen Besuche in

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Deutschland und Italien und die Umzüge und Urlaube in den USA diametral gegenüber]. Wenn sich die beiden Kameraden trafen, tauschten sie sich in erster Linie über ihre beiden Lebenssituationen aus und sprachen dann über die Entwicklung in Hagedorns Kunst, die Zöllner sehr aufmerksam verfolgte. Zöllner ist ein Verehrer der Zeichnungen und konnte es nicht nachvollziehen, dass sich Hagedorn so intensiv der Farbe und der Ölmalerei gewidmet hatte. Dennoch erklärte Hagedorn ihm viel über seine Bestrebungen, einen eigenen Grad der Abstraktion zu finden und sie sprachen über die Vereinbarkeit von Technikbezug und organischer Struktur, für letztere war Zöllner als Mediziner wiederum ein Impulsgeber und Berater für Hagedorn. Das letzte Treffen zwischen Zöllner und Hagedorn fand zu Hagedorns letzten Besuch in Nürnberg kurz vor seinem Tod statt. Die beiden Kriegskameraden hatten sich seit Hagedorns Ausstellungstätigkeit in Deutschland regelmäßig bei Hagedorns fast jährlichen Besuchen in Deutschland getroffen. Hagedorn war auf seinen Reisen auch immer nach München gekommen, da er dort neben der Vertretung durch die Galerie Heseler auch einen Freundeskreis pflegte, zudem Zöllner zählte. Zöllner berichtete, dass es kurz nach dem Tod noch eine kleine „Wallfahrt“ mit Freunden nach Gernrode gegeben hatte.

Das Interview mit Georg Bernhard Am 18. November 2013 hatte ein in Augsburg ein Gespräch mit Georg Bernhard stattgefunden. Bernhard war Hagedorns erster Arbeitgeber in Augsburg und hatte ihm das Kunststudium bei Professor Kaspar an der Akademie der bildenden Künste in München empfohlen. Georg Bernhard ist Künstler und lebt und arbeitet in Augsburg.

Neben seiner freien künstlerischen Tätigkeit hat Bernhard eine Werkstatt für Mosaike und Wandmalereien in Augsburg betrieben. Gerade in den Jahren des Wiederaufbaus in Deutschland nach 1945 erreichten ihn viele Aufträge für Altarmosaiken und die künstlerische Ausgestaltung von wiederaufgebauten Kirchen, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden. 1953 verließ Hagedorn die DDR, sein Anlaufziel im Westen war Augsburg, denn dort hatte er einen Kriegskameraden, Ludwigs Königsberger, der als Bildschnitzer tätig war. Natürlich brauchte Hagedorn auch Arbeit. Er konnte auf die Erfahrungen im elterlichen Sägewerk zurückblicken und auf seine bis dahin privat ausgeführte künstlerische Tätigkeit. Da er die DDR und das Elternhaus auch verließ, um sich auf die Professionalisierung seiner künstlerischen Tätigkeit und Ausbildung zu konzentrieren, wollte er von Beginn an in diesem Bereich nach Arbeit suchen. Nur kurze Zeit nach seiner Ankunft in Augsburg suchte er Georg Bernhards Werkstatt/Atelier auf und trat mit den Worten: „Ich bin Karl Hagedorn, ich habe schon viel von Ihnen gehört und brauche einen Job“ (Zitat Hagedorn nach Bernhard) ein. Bernhard konnte ihm keine dauerhafte Anstellung geben, aber von diesem Zeitpunkt an, gehörte Hagedorn zu seinem Team und sobald er einen Auftrag bekam, war Hagedorn an der Ausführung beteiligt. Die künstlerische Planung führte Bernhard alleine durch, daran war Hagedorn nicht beteiligt. [In späteren Artikeln und Berichten heißt es jedoch oft, Hagedorn habe Mosaike oder Wandmalereien entworfen. Hier muss jedoch kritisch bedacht werden, dass Hagedorn keine Ausbildung in diesem Bereich hatte. Deshalb ist stets davon auszugehen, dass Hagedorn in Bernhards Werkstatt sowie durch sein eigenes künstlerisches Interesse und Talent viel Wissen erworben hatte. Hagedorns 275

eigenständiges Werk auf diesem Gebiet beschränkt sich auf das Kirchenfenster in Minneapolis/St. Paul, vgl. 2.6.2.5]. An der handwerklichen Ausführung konnte Hagedorn stets mitwirken. Laut Bernhard war Hagedorn bei der besonders kleinteiligen und mühseligen bis langweiligen Arbeit des Mosaiklegens sehr geduldig. Bernhard beschreibt ihn ohnehin als sehr genügsam, spricht wiederholt von einem ruhigen Wesen. Ca. 1954 hatte es eine kleine Ausstellung im Augsburger Schaetzlerpalais gegeben, an der sich neben Georg Bernhard und Heinz Putz auch Karl Hagedorn beteiligt hatte. Ein erster Auftrag, den Bernhard und Hagedorn gemeinsam ausführten, war das Altarmosaik in der Kirche von Neugablonz (Abb. 258). Bernhard bestätigt die sehr figürlichen, gegenständlichen Anfänge von Hagedorn. Er kritisiert, dass seine spätere Farbigkeit von Lindner übernommen sei. Jedoch muss er anmerken, dass seine Farbflächen stets malerisch durchgearbeitet waren. Bernhard hatte an der Münchner Akademie bei Prof. Kaspar studiert. Bernhard war einer der jüngsten, bereits mit siebzehn Jahren kam er an die Akademie. Prof. Kaspar hatte eine nationalsozialistische Vergangenheit, war aber ein sehr gutmütiger Mensch und guter Zeichner. Hagedorn wollte auch an der Akademie studieren und Bernhard empfahl ihm, ebenfalls die Klasse Kaspar zu besuchen. Hagedorn war zu diesem Zeitpunkt zwar schon ein älterer Student, aber das war in den Nachkriegsjahren nicht ungewöhnlich. Relativ kurz vor seiner Emigration hatte Hagedorn eine russische Frau kennen gelernt. Eine große, dicke und imposante Frau, wie Bernhard sie beschreibt. Nach sehr kurzer Zeit heirateten die beiden, Bernhard war Trauzeuge, obwohl er Hagedorn vor dieser Hochzeit gewarnt hatte. Er hatte den Verdacht, dass sie ihn nur als Sprungbrett in die USA nutzen wollte, da er diesen Entschluss bereits gefasst und kommuniziert hatte. Als sie sich um die Überfahrt bemühten, bekam sie ihre Zusage sogar früher und konnte einige Zeit vor Hagedorn in die USA einreisen. Wenig später kam auch Hagedorn in den USA an und seine Frau brachte dort ein Kind zur Welt. Karl Hagedorn hatte die Vaterschaft jedoch abgelehnt. Hagedorn fasste den Entschluss in die USA auszuwandern, weil er Karriere machen wollte. Ihm war klar, dass er nur dort seine Kunst würde ausarbeiten und nach vorne bringen können. Der Entschluss war sehr bewusst. Im Jahr 1972 hatte in Augsburg die Galerie Rehklau eröffnet und etablierte sich zu einer wichtigen Galerie. Rehklau war der Bruder von Bernhards Ehefrau und Bernhard stellte dort aus. Ab etwa 1978 trat auch Hagedorn mit Rehklau in Kontakt. [An dieser Stelle gibt es Unstimmigkeiten: Bernhard vertritt die Ansicht, er habe Rehklau und Hagedorn miteinander in Kontakt gebracht, ärgerte sich aber dennoch darüber, dass Hagedorn bei Rehklau ausgestellt hatte. Rehklau wurde neben Heseler zu einem wichtigen deutschen Galeristen für Hagedorn. Diana Cavallo vertritt die Ansicht, dass Hagedorn bei einem Besuch in Augsburg selbst den Kontakt mit Rehklau geknüpft hatte. Was auch viel mehr dazu führen würden, dass Bernhard von der Zusammenarbeit der beiden nicht begeistert war]. Rehklau und Bernhard besaßen zusammen einen Weinberg in der Pfalz (Wachenheim an der Weinstraße). Für den Wein hatte immer ein Künstler ein Etikett gestaltet, so auch Hagedorn. Hagedorn hatte viel von der Kriegsgefangenschaft und von seiner Rückkehr nach Deutschland zu Fuß erzählt. Auch von dem elterlichen Sägewerk hatte er viel gesprochen und immer positiv von der Arbeit mit dem Werkstoff Holz erzählt [auch hierin wiederlegt sich Zöllners Aussage, Hagedorn habe mit Verbitterung

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auf die Jahre im elterlichen Sägewerk geblickt, zumal Hagedorn auch selbst das Sägewerk und dessen Mechanik aus Impulsgeber beschrieben hatte]. Auf die Frage hin, wie die Ausstellungslandschaft im Augsburg der fünfziger Jahre gestaltet war, antwortete Bernhard, dass es beispielsweise eine Ausstellung mit Arbeiten von Fritz Winter und Ernst Wilhelm Nay gegeben habe, dass man also durchaus versucht hatte, den zeitgenössischen Strömungen eine Plattform einzurichten. Hagedorn jedoch hatte immer offen über seine Begeisterung für die Positionen der klassischen Moderne gesprochen, denen er währen seiner Parisreise 1956 begegnet war. Die zeitgenössischen Tendenzen standen damit für ihn nicht an erster Stelle. Auch Bernhard berichtet davon, dass Karl Hagedorn sich nicht um geschäftliche Belange gesorgt habe. [Dies deckt sich mit der Aussage Diana Cavallos, steht aber den Aussagen Raabes und Bachmanns diametral gegen über].

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Anhang 3 – Quellenverzeichnis

Interviews Die Mitschriften der geführten Interviews hängen der vorliegenden Arbeit in Anhang 1 an.

Korrespondenz Korrespondenz zwischen Diana Cavallo-Hagedorn und John Ittman (Philadelphia Museum of Art) aus den Jahren zwischen 2006 und 2008 hinsichtlich des Ankaufs der „Philadelphia Gruppe“ durch das Museum im Jahr 2008. Ort: schriftlicher Nachlass des Künstlers in Philadelphia. (= Nachlass).

Kopie eines Schreibens von Karl Hagedorn an Katherine H. Mead, vom 29.12.1976, Ort: Nachlass.

Schreiben von Katherine H. Mead an Karl Hagedorn, vom 12.04.1977, Ort: Nachlass.

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, aus dem Jahr 1978, Ort: Korrespondenzmappe im Buch- und Kunstkabinett Hereth in München. (= Hereth).

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, vom 29.01.1981, Ort: Hereth.

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, vom 19.05.1981, Ort: Hereth.

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, vom 26.10.1981, Ort: Hereth.

Schreiben von Galerie Heseler München an Karl Hagedorn, vom 27.02.1986, Ort: Hereth.

Schreiben von Karl Hagedorn an Curt Heigl, vom 25.08.1986, Ort: Archivkarton „Hagedorn“, Archiv des Neuen Museums in Nürnberg. Archivrecherche am 22.02.2010. (= Archiv NMN).

Schreiben von Karl Hagedorn an Curt Heigl, vom 25.08.1986, Ort: Archiv NMN.

291

Schreiben von Karl Hagedorn an Curt Heigl, im Oktober 1986, Ort: Archiv NMN.

Schreiben von Galerie Heseler München an Karl Hagedorn, vom 11.05.1988, Ort: Hereth.

Schreiben von Alfons Strobel an Karl Hagedorn, vom 01.07.1988, Ort: Hereth. Schreiben von Alfons Strobel an Karl Hagedorn, vom 18.07.1988, Ort: Hereth.

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, vom 24.04.1988, Ort: Hereth.

Schreiben von Ann Temkin an Karl Hagedorn, (Ann Temkin, Kuratorin für Kunst des 20. Jahrhunderts am Philadelphia Museum of Art), vom 19.03.1990, Ort: Nachlass.

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, vom 07.04.1990, Ort: Hereth.

Weitere Korrespondenz zwischen Alfons Strobel, Karl Hagedorn und der Galerie Hesler München, im Zeitraum vom 11.07.1988 bis 10.12.1990, Ort: Hereth.

Lieferschein, ausgestellt von der Galerie Heseler München an die Sammlung Strobel über die Lieferung des Werkes „Hommage a la Couture“ mit Werktitel und Lieferadresse, vom 15.01.1991, Ort: Hereth.

Schreiben von Eva Cohon an Karl Hagedorn, vom 28.02.1991, Ort: Nachlass.

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, vom 04.06.1991, Ort: Hereth.

Schreiben von Karl Hagedorn an die Galerie Heseler München, vom 04.06.1991 und vom 14.10.1991, Ort: Hereth.

Schreiben von Karl Hagedorn an Dr. Ruprecht Stolz, vom 15.04.1991, Ort: Archiv der Galerie Stolz.

Kopie eines Schreibens von Karl Hagedorn an die Galerie Brockstedt, vom 28.09.1992, Ort: Nachlass.

Schreiben von Virginia Lust an Karl Hagedorn, vom 21.10.1992, Ort: Nachlass.

Schreiben von Peter Boswell, (Assistenzkurator am Walker Art Center) an Karl Hagedorn, vom 15.12.1992, Ort: Nachlass.

Kopie eines Schreibens von Silvan R. Novik (Karl Hagedorns Rechtsanwalt) an Eva Cohon, vom 07.05.1993, Ort: Nachlass.

Schreiben von der Mary Ryan Gallery an Karl Hagedorn, vom 30.08.1993, Ort: Nachlass. 292

Schreiben von Karl Hagedorn an Curt Heigl, (worin Hagedorn Heigl bittet, ein Vorwort für den in der Edition Bode erschienen Katalog „Europäische Wurzeln- Amerikanische Blüten“ zu schreiben), aus dem Jahr 1997, Ort: Nachlass.

Schreiben von Karl Hagedorn an Galerie Stolz Köln, vom 14.06.1998, Ort: Archiv der Galerie Stolz.

Verschiedene Korrespondenz zwischen Karl Hagedorn und Ali Rasekshaffee (Galerie Arras, Ravensburg), vom 05.04.1997, vom 23.05.1998, vom 30.07.2000 und aus dem Dezember 2000, Ort: Nachlass.

Telefax von Karl Hagedorn an die Galerie Caldwell and Susan Snyder, vom 25.06.1998. Er kündigte darin den Transport der Werke „Bliss, „Prolog“ und „Configuration in Red“ an, alle Werke aus 1998, Ort: Nachlass.

Schreiben von Hope Wilson, (Assistentin des Chefkurators am Museum of Modern Art in New York) an Karl Hagedorn, vom 25.03.1999, Ort: Nachlass.

Schreiben von Karl Hagedorn an Dr. Thomas Heyden, (Konservator am Neuen Museum in Nürnberg), vom 06.09.2003, Ort: Archiv NMN.

Schreiben von Karl Hagedorn an Dr. Thomas Heyden, vom 07.12.2003, Ort: Archiv NMN.

Schreiben von Lucius Grisebach, (damaliger Direktor des Neuen Museums in Nürnberg) an Karl Hagedorn, vom 28.04.2004 und Rückantwort von Karl Hagedorn (in Kopie) an Lucius Grisebach, vom 13.05.2004, Ort: Nachlass.

Schreiben von Franklin Riehlman an Karl Hagedorn, aus 2005, Ort: Nachlass.

Entwurf eines Schreibens von Karl Hagedorn an die Eva Cohon Gallery, (mit der Bitte um Rücksendung einiger Kommissionswerke), undatiert, Ort: Nachlass.

Kopie eines Schreibens von Karl Hagedorn an die W. Doyle Gallery, (Danksagung Hagedorns für ein Telefonat mit Alasdeir Michael und Ankündigung einer Zusendung von Katalogen), undatiert, Ort: Nachlass.

Kopien von Schreiben von Karl Hagedorn an Frau Dr. Wernecke, (Direktorin der Lyonel-Feininger-Galerie in Quedlinburg) sowie Kopien von Antwortschreiben von Frau Dr. Wernecke an Karl Hagedorn, (Hagedorn stellte in diesen Schreiben sich und seine Erinnerungen an die Werke Lyonel Feiningers, durch Otto Illies, und an Quedlinburg dar), undatiert, Ort: Nachlass. (Vgl. Interviewmitschrift Diana Cavallo).

Kopien von Geburtstagsbriefen von Karl Hagedorn an Wolfgang Horn, undatiert, Ort: Nachlass.

Schreiben vom Verlagshaus Palomar in Bari an Karl Hagedorn, undatiert Ort: Nachlass.

293

Originalaufzeichnungen des Künstlers und Interviews Cavallo, Diana (Co-Autorin)/Hagedorn, Karl: Artist’s Note. The Road to Abstraction: Progressing from Image to Symbol, in: Leonardo. Journal of the international society for the arts, sciences and technology. 24/3 (1991), S. 280- 284. (= Leonardo).

Hagedorn, Karl: Skizzenbuch, Inv.-Nr.: 2001:74, Ort: Statliche Graphische Sammlungen, München. Sammlungsbestand seit 2011.

Hagedorn, Karl: Skizzenbuch, 1977, gewidmet an seine Frau Diana „für die Europareise zur Erinnerung“. Ort: Nachlass.

Hagedorn, Karl: „The Story of my Life“. Autobiographischer, nicht veröffentlichter Lebensrückblick. masch. Philadelphia 2004, Ort: Nachlass.

Notiz von Karl Hagedorn aus dem Jahr 1993 hinsichtlich Kommissionen an die Marlborough Gallery, mit einer Notiz des Kontaktes von Tora K. Reddi, Kuratorin in der Marlborough Gallery, Ort: Nachlass.

“Questions and Answers”. Interviewniederschrift. Interviewpartner: Diana Cavallo-Hagedorn und Karl Hagedorn. Philadelphia 2002. Ort: Nachlass. (= „Questions and Answers“).

Zitat am Beginn des Kapitels 3.2: Handschriftliche Notiz von Karl Hagedorn, möglicherweise anlässlich der Ausstellung in der Villa Dessauer in Bamberg 1991, Ort: Nachlass.

Weitere Aufzeichnungen Cavallo, Diana: Sammlung an Zitaten von Karl Hagedorn und anderen Künstlern, sowie Schriftstellern. masch. Philadelphia 2005. Gedruckt anlässlich der Beisetzung Karl Hagedorns in Philadelphia 2005, Ort: Nachlass.

Cavallo, Diana: Some words on the new Hagedorn paintings. Masch. Philadelphia 2009. Kurze Hinweise zu Arbeiten von Karl Hagedorn „Axiom”, 1978 / “Blue Hat”, 1964 / “The Hand of my Aunt”, 1966 / “The Lute Player”, 1963 / “Self Portrait at the Easel”, 1959 / “Woman on Black”, 1965, Ort: Archiv NMN.

Depotliste „Karl Hagedorn im Neuen Museum“, Ort: Archiv NMN.

Hagedorn, Karl: gezeichnete Landkarte des Gebietes zwischen Prag, Warschau, Kursk, bis etwa dem heutigen Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Russland, Ort: im Besitz von Chris Tsiouiris, Philadelphia/USA, einem Freund Karl Hagedorns.

Kommissionsliste über die in der Eva Cohon Gallery befindlichen Werke zum Stand vom 06.07.1991, Ort: Nachlass.

Kommissionsliste über die in der Galerie Heseler München befindlichen Werke zum 05.09.1991, Ort: Nachlass.

294

Kommissionsliste über die in der Galerie Doris Hölder befindlichen Werke zum 05.07.1997, Ort: Nachlass.

Notiz Karl Hagedorns, welche die Kontaktaufnahme zur Galerie Valentien während der Kunstmesse Art Cologne 1997 belegt, Ort: Nachlass.

Rachl, Georg, Oberleutnant, 2. Kompanie: Gefechtsbericht über den Marsch vom 16.01.1943 bis zum 30.01.1943. Darauf handschriftlich vermerkt: Inf.[anterie] Div.[ivision] 387. NACHR.[ichten] Abt.[eilung] 387, 2te. Funkkomp.[anie]. masch. und handschriftlich, Ort: Nachlass.

Ballett, Film, Kunstfilm, Musik Antheil, Georges (Musik)/Léger, Fernand (Regie): Ballet mécanique. Frankreich 1924. 16 Minuten.

Buñuel, Luis/Dalí, Salvador (Buch und Regie): Ein andalusischer Hund. Frankreich 1929. 16 Minuten.

Duchamp, Marcel (mit Ray, Man/Allégret, Marc), (Buch und Regie): Anemic Cinema. Frankreich 1926. 7 Minuten.

Hecht, Ben/Hitchcock, Alfred Hitchcock (Buch und Regie): Spellbound. USA 1945. 111 Minuten.

Lang, Fritz (Buch und Regie): Metropolis. Deutschland 1927. 153 Minuten. Originalversion verschollen.

Mai, Elaine (Regie): The Heartbreak Kid. USA 1972. 106 Minuten.

Oursler, Tony (Regie): Criminal Eye, USA 1995. Videoinstallation (Farbe, Ton).

Schaaf, Johannes (Regie): Richard Lindner. Deutschland 1977. 44 Minuten.

Schlemmer, Oskar: Triadisches Ballett. Uraufführung am 30. September 1922 in Stuttgart.

Varèse, Edgard: Arcana. 1 Satz. Komponiert zwischen 1925 und 1927. Uraufführung 1927 in Philadelphia, Academy of Music mit dem Philadelphia Orchestra unter der Leitung von Leopold Stokowski. 15 Minuten.

Wiene, Robert (Regie)/Nerz, Louis (Buch): Orlac’s Hände. Österreich 1924. 90 Minuten.

Zeitschriften, Beiträge in Zeitungen, Prospekte, Werbematerial 5th Minnesota Artists‘ Biennial. The Minneapolis Institute of Arts. 16th March to 23rd April 1967. Ausstellungsprospekt. Ort: Nachlass.

Abbildung der Arbeit „Cum tempore“ von Karl Hagedorn auf einer Anzeige für den midwest art mart, in: Twincitian Magazine (September 1964). Ort: Nachlass.

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Auer, James: The Body as machine and vice versa, in: The Milwaukee Journal (18.05.1980). Ort: Nachlass.

Ausstellungshinweis zur Einzelausstellung mit Karl Hagedorns Werken in der Galerie Stolz, Köln, in: Kölner Stadtanzeiger (29.01.1991). Ort: Nachlass.

Bärnthaler, Thomas: Interview mit Barbara Siebeck, in: Süddeutsche Zeitung Magazin (08.2010).

Blochwitz, Michael: Harzer Wurzeln trieben amerikanische Blüten, in: Mitteldeutsche Zeitung (Januar 2002).

Donohoe, Victoria: Two abstract painters. Elegant and homespun, in: The Philadelphia Inquirer (02.11.2003). Ort: Nachlass.

Drawings USA `66. third biennial exhibition. 7th April to 5th June 1966. The Saint Paul Art Center, St. Paul/Minnesota. Ausstellungsprospekt. Ort: Nachlass.

Einladungskarte zur Ausstellung „Recent Paintings“. 18.11. -12.12.1992. Ausstellung in der Virginia Lust Gallery, 61 Sullivan St, New York. Ort: Nachlass.

Guggenberger, Bernd: Zwischen Ordnung und Chaos, in: FAZ (02.02.1991). Ort: Nachlass.

Hagedorns Farbwege, in: Augsburger Allgemeine Zeitung 158 (11.7.184), S. 31.

Hagedorn, Karl, in: SELECT. A monthly magazine published in Minneapolis (April 1960). Ort: Nachlass.

Hagedorn, Karl, Artist, in: Minneapolis Star Tribune Portraits E-I. An Inventory of Its Portrait Collection at the Minnesota Historical Society (14.09.1969). Ort: Minnesota Historical Society, Archiv, Box 86.

Karl Hagedorn at Gimpel and Weitzenhoffer Gallery, in: 1975-1976. New York Art Year Book. Ort: Nachlass.

Halbseitige Anzeige für eine Ausstellung in den Newman Galleries mit einer Kurzbiographie Karl Hagedorns und einer Abbildung des Gemäldes „Inversion on White“ aus 2002, in: American Art Review (August 2003). Ort: Nachlass.

Helfer, Judith: Karl Hagedorn in zwei Galerien, in: Aufbau. America’s largest German language newspaper (09.02.1979). Ort: Nachlass.

Hinweise auf Ausstellungen mit Karl Hagedorn.

Abendzeitung Nürnberg (9.11.2005) und Nürnberger Zeitung (1.12.2005). Ort: Nachlass.

Maucher, Ute: Im Menschen ist alles drin, in: Abendzeitung Nürnberg, (12.11.1998). Ort: Nachlass. 296

Middleton, Sara: Profile: Saint Paul Artist Karl Hagedorn, in: The Twin Citian. A monthly magzine (Juni 1966), S. 67. Ort: Nachlass.

Mut zur Farbe, in: Süddeutsche Zeitung (April 1978). Ort: Nachlass.

Nadelman, Cynthia: Karl Hagedorn, in: Artnews (04.04.1979). Ort: Nachlass.

Newman Galleries Philadelphia. Prospekt der Newman Galleries, S. 1 und S. 5. Ort: Nachlass.

New Memorial Rose Window at St. Paul’s-on-the-Hill, in: St. Paul Pioneer Press (24.11.1969), S. 8. Ort: Nachlass.

Ott, Günter: Der Glaube an die Kraft der Farbe, in: Augsburger Allgemeine Zeitung (12.04.1978). Ort: Nachlass.

Ott, Günter: Hagedorns Farbwege, in: Augsburger Allgemeine Zeitung (11.07.1984). Ort: Nachlass.

Ott, Günter: Im Labyrinth farbiger Flächen, in: Augsburger Allgemeine Zeitung (25.05.1981). Ort: Nachlass.

Picabia, Francis: Zeitschrift 391 5 (März 1917).

Poroner, Palmer: A European Sensibility, in: Artspeak. A bi-weekly gallery review. New York (10.11.1981). Ort: Nachlass.

Pressemitteilung zu einer Ausstellung mit Werken Karl Hagedorns. Consulate General of the Federal Republic of Germany, New York (Mai 1989). Ort: Nachlass.

Russel, John: Karl Hagedorn (Gimpel & Weitzenhoffer), in: The New York Times (07.02.1976). Ort: Nachlass.

Russel, John: Karl Hagedorn, in: The New York Times (07.02.1976). Ort: Nachlass.

Russel, John: Karl Hagedorn’s Wry Paintings at Gimpel, in: The New York Times (06.06.1974). Ort: Nachlass.

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Werbeanzeige für den „mid west art mart“ mit der Abbildung des Gemäldes „Cum Tempore“ von Karl Hagedorn, in: Twincitian Magazine (September 1964), S. B. Ort: Nachlass.

E-Mail-Korrespondenz E-Mail-Korrespondenz der Verfasserin mit dem Künstler James Burpee vom 03. und vom 04.03.2015.

E-Mail-Korrespondenz der Verfasserin mit dem Künstlerverbund im Haus der Kunst München vom 09.07.2016 bis 08.03.2017.

E-Mail-Korrespondenz der Verfasserin mit dem Kupferstichkabinett Berlin vom 24.02.2015.

E-Mail Korrespondenz der Verfasserin mit der Staatlichen Graphischen Sammlung vom 24. und 26.02.2015.

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