Erich Mühsam, Die Bohème Und Anarchismus SEITE 37
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1 Bohème - Leben als Experiment - Texte zur Ausstellung in der Warenannahme von FAUST Texte von: Kathrin Beumelburg, Bernd - Uwe Elsner, Harald Kother, Monika Pabsch, Gabi Paetzold, Andree Schinke, Emilio Sherman, Karl-Heinz Völz, Wolfgang Zimmermann Idee / Konzeption und Koordination: Bernd-Uwe Elsner Herausgeber: AFKA, FAUST, IIK, KIK Redaktion: Kathrin Beumelburg, Bernd-Uwe Elsner, Gabi Paetzold, Wolfgang Zimmermann Layout: Mehdi Parvizian IIK Verlag - FAUST Wilhelm-Bluhm-Str.12 30451 Hannover Tel.: 0511/455001/440484 NEUE ADRESSE: IIK ZUR BETTFEDERNFABRIK 1 D - 30451 HANNOVER TELEFON: 0511 / 440484 INTERNET: www.iik-hannover.de FAX: 0511 / 2617376 E-MAIL: [email protected] ISBN 3-9805271-3-1 Titelbildentwurf: Kathrin Beumelburg / Mehdi Parvizian (c) Alle Rechte der hier veröffentlichten Texte liegen bei den AutorInnen. Hannover, März 1997 CIP- Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bohème-Leben als Experiment/ Hg.: IIK und FAUST Texte von diversen AutorInnen Red.: Dr. Gabi Paetzold ISBN 3-9805271-3-1 Hannover 1997 2 INHALTSVERZEICHNIS Vorwort / Danksagung SEITE 4 Einblick - Überblick – Ausblick SEITE 5 1. Emilio Sherman: Das Wilhelminische Zeitalter (Historischer Überblick) SEITE 10 2. Monika Pabsch: Frauenleben im Kaiserreich SEITE 17 3. Bernd-Uwe Elsner: Cafés - Kabarett - Frank Wedekind SEITE 31 4. Wolfgang Zimmermann: Anarchismus - Erich Mühsam, die Bohème und Anarchismus SEITE 37 5. Harald Kother: Psychoanalyse - Otto Gross: Leben und Werk in Grundzügen SEITE 50 6. Kathrin Beumelburg: Libertinage - Franziska zu Reventlow / Else Lasker-Schüler SEITE 57 7. Gabi Paetzold: Offizielle Kunst und Avantgarde – Die Berliner Bohème 1885 - 1915 und die bildenden Künstler SEITE 77 8. Andree Schinke: Alternative Projekte – Lebensreform SEITE 89 9. Karl-Heinz Völz: Die Kosmiker - Ludwig Klages und der Kosmiker-Kreis SEITE 96 10.Verzeichnisse - Allgemein- und Spezialliteratur SEITE 107 3 Vorwort Ende 1995 fand bei FAUST in der Warenannahme eine Veranstaltungsreihe statt. Anläßlich der Kunstausstellung entwickelte sich ein Gespräch über die Quellen von Sozio- und Interkultur. Es entstand das Interesse, die wenig beachtete Bohème als Ganzes zu begreifen und exemplarisch vorzustellen. Im Laufe der Monate wurde ein Gesamtkonzept für ein Projekt mit folgenden vorläufigen Prämissen entwickelt: Leben als Experiment - Bohème - München, Berlin, Ascona Die Bohème existierte als europäische Bewegung der Künstler, und Intellektuellen gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Seitdem es Kultur und Gesellschaften gibt, sind auch deren Gegner zu finden, die Normen und Moralvorstellungen ablehnen und versuchen, alternative Wege zu gehen. Die europäische Bohèmebewegung der 90er Jahre ist eine internationale, interkulturelle und soziokulturelle Quelle unserer modernen alternativen Bewegungen von Politik, Kultur in Theorie und Praxis. Die Zentren der Bewegung lagen in Paris, London, Berlin, München-Schwabing, Wien, Ascona. Namen wie Frank Wedekind, Else Lasker-Schüler, Franziska zu Reventlow, Erich Mühsam, Otto Gross, Ludwig Klages, Gustav Gräser sollen hier stellvertretend für diese gegenkulturelle Bewegung genannt werden. Aber nicht die kreativen Taten des Einzelnen allein soll dieses Projekt darstellen, sondern ihr kollektiver kultureller und gesellschaftlicher Aufbruch. Dieser führt von den Experimenten mit dem eigenen Leben, der Lebensweise in den Gemeinschaften zu einer Gegenkultur. Die individuellen und kollektiven Experimente, die Ideen und die kulturellen Ansätzen sind auch heutzutage in der Psychologie, der Politik, der bildenden Kunst, der Literatur, im Theater und in der Alltagskultur wiederzufinden. So entstand innerhalb des Projektes zu Ausstellung, Workshop, Vorträgen und künstlerischen Darbietungen dieses Buch als Begleitwerk. Es soll Interessierte zur weiteren Arbeit anregen. An dieser Stelle sei besonders der LAGS zu danken. Zu danken ist auch allen Mitarbeiterlnnen, ohne die dieses Projekt nicht zustande gekommen wäre. Bernd - Uwe Elsner im März 1997 4 Einblick - Überblick - Ausblick Ziel dieser Broschüre ist, einen ersten Einstieg in die geistes- und kulturgeschichtlichen Bewegungen um die Jahrhundertwende, also vor ca. 100 Jahren, zu bieten. Die komplexe Materie zur Bohème aufzuarbeiten, würde den Rahmen der hier zusammengetragenen Berichte um ein Vielfaches übersteigen. Daher seien die interessierten Leser auf die Literaturliste verwiesen, die weiterführende Quellen anzeigt. Laut Lexika bedeutet Bohème, aus dem Französischen kommend, die Welt der Studenten, Künstler und Literaten. Die Bezeichnung geht auf Bohemien für Böhme, Zigeuner (ein im 15. Jahrhundert aus dem nordwestlichen Indien in Europa eingewanderter Volksstamm) zurück. Im übertragenen Sinne fand dieser Begriff Anwendung für die Mitglieder einer Gruppe von romantischen, antibürgerlichen Literaten und Malern, die sich um 1830 in Paris zur Zeit der Romantik zusammenfanden. Impulse gerade im kulturellen Bereich gingen von Künstlern wie Hugo, Murger und de Balzac aus. Honore de Balzac (1799 - 1850), der in seinem Romanzyklus "Menschliche Komödie" Paris als Lebenszentrum seiner Romanfiguren beschrieb, war wohl der erste Bohemien, der mit zwanzig Jahren aus dem bürgerlichen Leben ausbrach und sich 1831 selbst adelte. Zeitgleich schrieb Victor Hugo (1802 1885), Dichter der französischen Romantik, 1831 den Klassiker "Notre-Dame de Paris", uns bestens bekannt durch die Verfilmung ("Der Glöckner von Notre Dame") mit Gina Lollobrigida und Anthony Quinn in den Hauptrollen. Henri Murger (1822 - 1861) machte die Bohème in seinen 1849 erschienenen "Scènes de la vie de Bohème'' berühmt, in denen er den Randgruppen und Künstlern des Pariser Quartier Latin ein Denkmal setzte. Bereits 1851 wurde sein Werk als "Pariser Zigeunerleben", durch Hugo Hartmann bearbeitet, in Deutschland bekannt. Inhaltlich wurde das Thema von Puccini (185 8 - 1924) in seiner Oper "La Bohème'' 1856 aufgegriffen. Von Paris aus erfaßte diese geistige Bewegung Deutschland, Zentren wurden München und Berlin. Das Leben der frühen Bohemiens spielte sich hier wie da in Lokalitäten ab. In Berlin waren es "Lutter & Wegner" und die "Hippelsche Weinstube", wo sich E.T.A. Hoffmann (1776 - 1822, Dichter der Romantik und Kammergerichtsrat in Berlin), berühmt durch seine Erzählungen, Ludwig Devrient (1784 - 1832, Schauspieler und Freund Hoffmanns) und Christian Dietrich Grabbe (1801 - 1836, Dramatiker) trafen. Hier wurde nächtelang diskutiert und getrunken (Grabbe ging am Alkohol zugrunde). Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr die Bohème mit Wilhelm Bölsche (1861 - 1939, naturwissenschaftlicher Schriftsteller), der sich mit dem Liebesleben in der Natur beschäftigte und den Brüdern Heinrich (1855 - 1906) und Julius Hart (1859 - 1930), ebenfalls Schriftsteller des Naturalismus, in 5 Berlin eine Neubelebung. Gerhard Hauptmann (1862 1946) sympathisierte mit den Kollegen und unterstützte sie wohl auch, doch das ist nicht eindeutig nachgewiesen. Auch dieser Zeit war der "Dämon Alkohol" ein genehmer Begleiter in den Lokalen, untrennbar mit den nächtlichen Diskussionsmarathons verbunden, wie alles, was wider die bürgerliche Konvention war. Die Bohème als Komplex war vielschichtig: ihr gehörten individualistische Anarchisten (in unpolitischem Sinne) ebenso an wie realitätsferne Ekstatiker, Gesellschaftsrevolutionäre und sonstige Weltverbesserer, Naturapostel und andere. Dennoch hatte Karl Marx die Bohème als "Lumpenproletariat" verunglimpft, obwohl er wußte, daß sich diese Geistesbewegung nicht aus unteren Schichten zusammensetzte. Es fällt heute noch schwer, den Bohemien aus Überzeugung von solchen, die aufgrund ausbleibender äußerer Erfolge eine zigeunernde Existenz lebten, zu unterscheiden. Was den einen ein Wahlzustand war, geriet den anderen zum Zwangszustand, der sie vorübergehend einte. Echte Bohemiens setzten sich aber eher noch über die Schranken der sozioökonomischen Gemeinschaft hinweg - die lost generation" hatte nichts zu verlieren. Dementsprechend zeigte sie auch eine ausgesprochene Gleichgültigkeit gegenüber materiellen Werten und bürgerlicher Konvention bis hin zur Ablehnung, ihre Liebe zur Individualität umso stärker betonend. Häufig genug artete diese Lebensführung ins Zügellose aus, den Sturz ins Bodenlose vorwegnehmend. Als ideelle Väter galten zum einen Jean Jacques Rousseau (1712 - 1778), der durch seine Gesellschaftskritik und Forderung nach natürlicher Lebensweise vorbildhaft wirkte, zum anderen aber Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), der das dionysische Prinzip (nach Dionysos, dem griechischen Gott des Weines und des schöpferischen Rausches) dem apollinischen (dem Maßvollen, nach Apoll, dem Gott des Lichts und der Künste) in seiner Abhandlung zur "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" gegenüberstellte. Um 1900 hatten sich in Deutschland zwei Bohème-Mittelpunkte gebildet: Schwabing und Berlin. Hinzu kam das tessinische Ascona in der Schweiz - hier trafen sich die alternativen Lebensreformer auf dem "Monte Verita" in Henri Oedenkovens Landkommune, die er mit Ida Hofmann und den Brüdern Gräser leitete. In den bis dato nur antibürgerlich eingestellten Gruppierungen kam es zur Politisierung aufgrund der bestehenden politischen Realität und der starren sozio-ökonomischen Verhältnisse, die sehr stark materiell geprägt waren und keinerlei Konzessionen an Individualisierungsbestrebungen zuließen. Jegliches Ausbrechen des Einzelnen stigmatisierte ihn, manövrierte ihn in eine Außenseiter-Position, die keine Anbindung oder gar Integration innerhalb der reglementierten Gesellschaft zuließ.