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Vom zur Mailänder Scala

Ein Interview mit Hartmut Haenchen, der am 21. März 70 Jahre alt wird

Beim Interview am 8. Februar 2013 (Prof. Bürger, Prof. Haenchen, Dr. Geck).

er Dirigent Hartmut Haenchen hat einen SLUB: Herr Haenchen, warum schenken Sie der Schenkungsvertrag mit der SLUB geschlos - SLUB Ihren umfangreichen künstlerischen Vorlass? Dsen, um die Dokumente seines künstleri - HH: Dirigieren ist ein Erfahrungsberuf. Ich möchte schen Wirkens dauerhaft für Forschung und Praxis gern, dass diese Erfahrungen an einer solch promi - zur Verfügung zu stellen. Schon als Schüler und nenten Stelle bewahrt werden. Dann können andere Student hat er sich mit den musikalischen Quellen schon früher davon profitieren. Ich bereite dazu der Bibliothek beschäftigt, heute ist er auf den Kon - gerade auch ein Buch vor. zert- und Opernbühnen der Welt zu Hause. Die SLUB: Erinnern Sie sich an Ihren ersten Besuch der SLUB widmet ihm eine Ausstellung (vom 22. Bibliothek? Februar bis 5. Mai) und eine Matinee am 17. März. HH: Es muss 1956 gewesen sein. Mit der Pubertät Thomas Bürger und Karl-Wilhelm Geck befragten kamen Zweifel in mir auf, ob das, was mein verehrter ihn am 8. Februar – bei seinem Besuch der SLUB Kreuzkantor Rudolf Mauersberger in Sachen Alter zwischen zwei Proben an der Mailänder Scala – zu Musik tat, wirklich die einzige Wahrheit war. Um seinem Werdegang und zu seinen weiteren Plänen. dies zu hinterfragen ging ich damals in jeder freien BIS – Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen [2O13] Nr. 1 // 53

Minute in die Landesbibliothek auf die Marienallee Weise Ihres Dirigierens beeinflusst? (immer eine „Weltreise“ von der Eisenacher Str. oder HH: Dass ich Gesang studiert habe, war ein bewuss - von Cossebaude), um zunächst die wichtigsten theo - ter Umweg, um Dirigent werden zu können. Ganz retischen Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts zu einfach: ich fiel durch die erste Aufnahmeprüfung lesen. Es gab ja damals kaum Reprints und auch kein durch, weil ich kein Beethoven-Klavierkonzert spie - Internet. Und ich wurde neugierig auf die originalen len konnte, sondern nur Bachs f-Moll-Konzert. Also Handschriften der Komponisten dieser Zeit. wich ich aus auf Gesang. Da wurde ich sofort ge- SLUB: Wann und wie fiel Ihr Entschluss, Dirigent zu nommen, weil ich eine sehr lange, virtuose a cappel - werden? la-Arie aus dem 17. Jahrhundert gesungen habe und HH: Rudolf Mauersberger ermutigte mich (immer perfekt in der Intonation war. Es waren also mehr kritisch), Teilproben des Chores zu machen, als ich die musikalischen als die stimmlichen Qualitäten, 13 Jahre alt war – deswegen wurde ich auch auf die die überzeugten. Da ich auch mein Examen als Quellen neugierig –, unterstützte mein Klavierspiel Gesangspädagoge gemacht habe, erlangte ich so- und meinen Drang zu komponieren und hörte sich wohl für die Opernarbeit als auch für das Phrasie - das alles geduldig an. Wenig später gab es nur Eines: rungsverständnis von Sinfonik nach meinem Gefühl Du wirst Dirigent. Deswegen habe ich mit 15 Jahren einen enormen Vorteil. dann schon als Kantor in Cossebaude vor genau 55 SLUB: Der heutige Bundespräsident Joachim Gauck

Jahren mein erstes Konzert dirigiert. Eben in der schrieb Ihnen vor zehn Jahren, sie seien aus dem Praxis Erfahrungen gesammelt. Dafür bin ich all Osten herausgedrängt worden. Warum haben Sie denen dankbar, die ja alle viel, viel älter waren als ich, verlassen? dass sie mir die Chance gegeben haben. HH: Die Stasi beobachtete mich schon seit meinem SLUB: Welche Rolle spielt der Kreuzchor in Ihrem 16. Geburtstag wegen Verbreitung von Flugblättern Leben? gegen die so genannte Wahl. Spätestens nach dem HH: Der Kreuzchor hat mir mein musikalisches Eklat als Chefdirigent des Mecklenburgischen Basis-Wissen gegeben, war eine gute Schule in sozia - Staatstheaters, wo ich mich geweigert habe, eine zer - ler Haltung und auch für das Durchsetzungsvermö - stückelte Sinfonie für eine Parteiveranstaltung zu gen. Mauersberger war das Vorbild: „Krankheit ist dirigieren, war klar, dass ich in diesem Lande keine Schlamperei“. Hart zu sich selbst sein habe ich da feste Arbeit mehr bekommen werde. Es blieb mir gelernt. keine andere Wahl, als mich selbst „freizukaufen“. SLUB: Wenige wissen, dass Sie in der ersten Phase SLUB: Wie funktionierte das Freikaufen? Ihrer Profikarriere auch als Baritonsolist tätig waren. HH: Offiziell wurde es Austausch genannt, im Klartext Inwieweit hat die Sängerperspektive die Art und musste ich 20 % meiner Einkünfte an die DDR zahlen. 54 // BIS – Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen [2O13] Nr. 1

SLUB: Und warum kehren Sie immer wieder zurück HH: Sie ist die Basis all der vielen modernen Werke nach Dresden, warum wohnen Sie und Ihre Familie und der großen romantischen, die ich ebenfalls diri - hier? giere. HH: 20 Jahre haben wir in Amsterdam gelebt, einen SLUB: Das Internetportal YouTube präsentiert die Koffer haben wir immer in Dresden gelassen. Hier Gleichung „Black Metal ist Wagner“. Als Basis dient sind meine Wurzeln und hier habe ich für die weni - Ihre Interpretation des „Walküren“-Vorspiels mit gen Tage, die ich hier bin, ein schönes Zuhause, wo dem Nederlands Philharmonisch Orkest. Können Sie ich auch den nötigen Abstand zu falschen politi - dem Vergleich etwas abgewinnen? schen Entscheidungen in der Stadt bewahren kann. HH: Nein, da ich mich nie mit Black Metal wirklich SLUB: Welche Erinnerung haben Sie an die Wiederer - beschäftigt habe. öffnung der ? SLUB: Sie haben im Laufe Ihrer Karriere immer HH: Ich werde nie vergessen, wie das erste C in der schwierigere Aufgaben bewältigt, man denke an Freischütz-Ouverture erklang. Für mich war die Ein - Ihren Mahler-Zyklus oder Wagners „Ring“. Worin ladung, eine der Eröffnungspremieren zu dirigieren, besteht für Sie die größte Herausforderung? einfach überwältigend. Und ich denke gern an diese HH: Man wird seine Ziele nicht erreichen, aber je denkwürdige Inszenierung von Ruth Berghaus höher sie gestellt sind, umso weiter kommt man. Die

zurück, die vielfach vor ausverkauftem Haus gespielt Herausforderung besteht in dem möglichst genauen wurde, was heute für ein solches Stück in Dresden Quellenstudium und die gewonnenen Erkenntnisse schwer vorstellbar ist. Und ich denke an die wunder - emotional für ein großes Publikum wahrnehmbar zu baren Solisten der Staatskapelle wie Peter Damm, machen. dem die Soli auf den Leib geschrieben waren, und an SLUB: Welche Ihrer vielen Aufnahmen empfehlen Sie Soloflötist zurück, die in dieser Oper unseren Lesern ganz besonders? große Aufgaben hatten. HH: Die 18 Haydn-Sinfonien (Berlin Classics), die SLUB: Sie haben weltweit mehrere Tausend Auffüh - eben erschienenen Aufnahmen von Mahlers 1. und rungen von Opern und Konzerten in über 100 Städten 8. Sinfonie (ica), Der Ring des Nibelungen als geleitet. Wie schafft man das physisch und psy - SACD bei Et’cetera und als Zeugnis meiner Suche chisch? nach Werken aus den Schätzen der SLUB „La Gara HH: Da hilft nur eines: An Rudolf Mauersberger degli Dei“ von Heinichen im April bei Berlin Clas - denken: Disziplin. Und natürlich hilft die Familie, sics als Anfang einer Editionsserie. Strauss’ Alpensin - die mich großartig unterstützt. fonie (Laserlight) würde ich gern noch nennen. SLUB: Sie sind mit der sogenannten „Alten Musik“ SLUB: Welchen Förderern sind Sie noch heute dank - groß geworden. Welche Bedeutung hat die vorklassi - bar? sche Musik für Sie? HH: Meiner Mutter, Rudolf Mauersberger, Rudolf BIS – Das Magazin der Bibliotheken in Sachsen [2O13] Nr. 1 // 55

Neuhaus, Heinz Bongartz, Kurt Masur, Arvid Jan - Dazu ein paar bibliophile Besonderheiten oder eine sons, und vor allem, das mag kostbare Handschrift von . merkwürdig klingen, meiner Lehrerin für Liedinter - SLUB: Eine kostbare Handschrift von Richard pretation, Lotte Böttger, da habe ich jede Minute ein Strauss? „Aha“-Erlebnis gehabt. HH: Sie werden diese am 17. März bei der gemeinsa - SLUB: Was würden Sie heute anders machen? men Matinee mit der Sächsischen Akademie der HH: Dazu muss ich eine Geschichte erzählen: Als Künste erhalten, mehr verrate ich noch nicht. ich das Gewandhausorchester nach vielen Jahren SLUB: Nach über 50-jähriger Dirigententätigkeit, was dirigierte, kam der Solocellist zu mir und sagte: Ich machen Sie aktuell und was haben Sie in den näch - war bei Ihnen im Kinderchor in Halle. Das war herr - sten Jahren vor? lich. Dann haben Sie das Amt niedergelegt, weil HH: Ich komme gerade von den Proben zum Flie - Ihnen die Bach-Motetten verboten wurden. Was genden Holländer an der Mailänder Scala und fliege dann kam, war einfach furchtbar: Kampflieder usw. übermorgen erneut nach Mailand. Danach dirigiere Sie haben nach Ihrem Gewissen richtig gehandelt. ich Die Walküre in Amsterdam, es folgen Wagner- Wir haben Sie verloren und uns fehlte ein ganzes Aufführungen in Helsinki, Valencia und Neapel. Stück unserer musikalischen Entwicklung. Ich SLUB: Im Wagner-Jahr darf eine Frage zu Richard

würde heute versuchen, zwischen meinem Gewissen Wagner nicht fehlen. Warum ist er Ihnen besonders und den Folgen für Andere besser abzuwägen. wichtig? SLUB: Wenn künftig junge Musiker oder Wissen - HH: Wagner hat die Künste wieder zusammenge - schaftler mit Ihren Quellen in der SLUB arbeiten, was führt, als Gesamtkunstwerk. Es gibt wohl keinen werden sie dort finden? Komponisten, über den mehr geschrieben wurde. HH: Zunächst eine sehr umfangreiche Partitur- Mein Buch über ihn 1999 habe ich „Die Unverein - Bibliothek von circa 3.000 Bänden, die weitgehend barkeit von Macht und Liebe“ überschrieben. In mit allen Dingen, die man in Musik schriftlich aus - Wagners beinahe feministischem Weltbild können drücken kann, bezeichnet sind. Inklusive aller Quel - nur die Frauen die Welt verändern. len-Befunde, die über Partituren hinausgehen. Dazu SLUB: Was ist für Sie Glück? eine umfangreiche Orchester-Material-Bibliothek, HH: Eine gute Partitur beim Lesen vollständig zu komplett eingerichtet und spielfertig von etwa 600 hören. Werken für Kammerorchester und 40 Opern sowie SLUB: Lieber Herr Haenchen, wir danken Ihnen für etwa 200 sinfonischen Werken. Dazu tausende von dieses Gespräch. Karteikarten, wo ich meine Notate gemacht habe und eine umfangreiche Sammlung von Zeitdoku - Mit Hartmut Haenchen sprachen Thomas Bürger und menten wie Programme, Plakate, Fotos, Texte usw. Karl-Wilhelm Geck.