Musikstunde

„Sir “ - Fortschritt und Tradition „The World: My Country“ (5)

Von Antonie von Schönfeld

Sendung: 19. Oktober 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: 2018

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V. „The World: My Country“

„The World: My Country“ hat Tippett eines der letzten Kapitel seiner Autobiographie überschrieben - und so begegnet er uns auch, in seiner Musik wie in dem, was er schreibt - weltoffen und interessiert. Ich bin AvS, willkommen zu einer weiteren Begegnung mit dem britischen Komponisten!

Während der Vorbereitung zu dieser SWR2-Musikstundenwoche bin ich es immer wieder gefragt worden: Wer ist Michael Tippett? Das kann man natürlich nicht in einen Satz zu fassen, also antworte ich, etwas lahm: Einer der wichtigsten britischen Komponisten des letzten Jahrhunderts, neben Benjamin Britten. ‚Ah, Britten!!‘ kommt es dann immer. Sogar eine Musik-interessierte schottische Freundin von mir erinnert sich an Tippetts Sendungen und Musik-Essays in BBC Radio 3 - aber von seiner Musik hat sie kaum eine Vorstellung.

Sie befindet sich damit in bester Gesellschaft: Wenn ich Artikel in britischen Zeitungen über Tippett aus den vergangenen Jahren durchsehe, dann klingen schon die Überschriften ähnlich unspezifisch und Britten ist meist mit von der Partie. Da heißt es: „Michael Tippett – ein Visionär im Schatten seines Rivalen“ oder „Britten und Tippett – zwei Arten von Engländern“. Woanders finde ich: „Tippett, ein Komponist vieler Stile“ und auf die Spitze treibt es die Frage: „How great was Tippett?“ - „Wie bedeutend war Tippett?“

Um es gleich vorwegzunehmen: Im entsprechenden Artikel im „Telegraph“ wird dann herausgearbeitet, warum Tippett sehr wohl zu den bedeutendsten englischen Komponisten des letzten Jahrhunderts zählt. -Wenn es wiederum heißt, er sei ein „Komponist vieler Stile“, dann wird damit eines der Probleme angesprochen, warum sich Tippett im Gegensatz zu Britten als Komponist nicht leicht einordnen lässt:

Brittens Musiksprache ist wiedererkennbar. Hans Werner Henze hat einmal gesagt, Britten sei bereits mit „seinem eigenen Stil auf die Welt gekommen“.

- Bei Tippett ist das anders. In seiner Musik finden wir ausgesprochen unterschiedliche Stile: Dazu gehören genauso spätromantische Klänge mit breiten Streichern und kräftigem Blech, mit Harmonien, die mit schmerzlich-süßen Dissonanzen versetzt sind und dazu gehören auch barocke Techniken, Kontrapunkt und Fuge. Tippett hat ein Faible für vitale Rhythmen, die er gern übereinanderlegt oder gegeneinander verschiebt und manches klingt nach Blues, Jazz und auch mal Pop. Kaum eine Gattung lässt Tippett dabei aus, kaum ein Genre, in dem er nicht komponiert hat. Das reicht von den intimen Chören seines Oratoriums „A Child in Our Time“ über die komplexe, harsche, über weite Strecken dissonante Musik in seiner Oper „“ bis zu dem unbeschwerten Gestus im Finale seiner ersten Klaviersonate. - Wiedererkennen? Schwierig!

Musik 1 Michael Tippett 4´35 CD1<8> 4. Satz: „Rondo giocoso con moto“ aus: „Sonata Nr.1“ Steven Osborne, Klavier CDA67461, LC 7533

„Rondo giocoso con moto“ – Steven Osborne mit dem Finale aus der ersten Klaviersonate von Michael Tippett.

Tippett wird 1905 geboren und sein allerletztes Stück, ein kurzes Lied, komponiert er mit neunzig. Seine Kritiker haben es schwer mit ihm: Mit der pastellfarben-pastoralen Musik, wie wir sie von manchen seiner britischen Zeitgenossen kennen, hat Tippetts Musik nicht viel zu tun. Er kann weder mit den Reihentechniken der Zweiten Wiener Schule um Schönberg etwas anfangen, noch mit der Avantgarde der seriellen Musik in den 50er Jahren. Tippett gehört überhaupt keiner Kompositionsschule an und er hat im eigentlichen Sinne auch keine Schüler. Vorbilder gibt es viele, Stravinsky, Bartok, Purcell, Beethoven. Es scheint, als lerne und probiere er als Musiker sein

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ganzes produktives Leben lang, immer im Austausch mit anderen und offen für das, was in der Welt passiert. Auch in der musikwissenschaftlichen Literatur ist der rote Faden eher eine Art von ‚Anti-Einordnung’. Tippetts Biograph Ian Kemp spricht von seiner „unity of pluralities“, von seiner „Einheit der Pluralität“. Und in einer stilistischen Untersuchung wird gefragt „Neues Material – oder altes Material in neuem Kontext?“ - Wir sollten einfach weg von diesem Klassifizieren, vielleicht macht Ihnen ja diese SWR2 Musikstundenwoche Lust und Sie hören sich weiter durch Tippetts Musik, von Lied zu Klaviersonate zu Concerto zu Oper. Es gibt einige neue Aufnahmen mit Tippetts Werken, u.a. die beiden ersten Sinfonien mit dem BBC Scottish Symphony Orchestra, und viele der älteren aus den 90er Jahren bekommt man antiquarisch.

Auf eine Aussage über seine Musik aber stößt man immer wieder, ganz gleich ob in CD-Kritiken, Werkbeschreibungen oder persönlichen Statements: Tippetts Musik sei ‚direkt und unmittelbar’, und nie sei da so etwas wie ein ‚Schleier der Vermittlung zwischen Musik und Hörer’, seine Musik sei ‚präsent’. Das mag generalisiert sein und doch ist etwas dran: Ganz gleich, ob Klaviersonate, Opernarie oder ein a cappella- Chorstück wie „Dance, Clarion Air“, das Tippett zur Krönung von Elisabeth II. schreibt, mit dem ersten Klang hat er uns:

Musik 2 Michael Tippett 3´43 <1> “Dance, Clarion Air” Madrigal für fünfstimmigen Chor a cappella Christ Church Cathedral Choir Ltg. Stephen Darlington NI 5266, LC 5871

„Dance, Clarion Air“ - ein fünfstimmiges Madrigal von Michael Tippett, a cappella gesungen vom Christ Church Cathedral Choir, die Leitung hatte Stephen Darlington.

Zur selben Zeit wie dieses Madrigal für die Königin schreibt Tippett seine Oper: „“, sie ist sein erstes großes Werk für das Musiktheater. Schon

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mit dem Titel deutet Tippett an, dass er sich auf Shakespeares „Midsummer Nights Dream“ bezieht, auf den „Sommernachtstraum“. Von da führt eine Verbindung zu Purcell: Der hat diese Geschichte seiner „Fairy Queen“ zugrunde gelegt. Und eine weitere Verbindung führt zu Mozarts „Zauberflöte“: Wie bei Mozart stehen sich in Tippetts „Midsummer Marriage“ ein königliches und ein bürgerliches Liebespaar gegenüber. Auf dem Weg zu einer glücklichen Verbindung aber müssen sie erst eine Reihe von Hindernissen überwinden. -Das gelingt natürlich und dabei spielt Magie eine große Rolle.

Noch bevor „The Midsummer Marriage“ im Royal House in Covent Garden uraufgeführt wird veröffentlicht Michael Tippett eine Suite mit den “Ritual Dances“ aus der Oper, den „Kultischen Tänzen“:

Musik 3 Michael Tippett 4´10 <6+7> „Prelude“ (2´28) „Transformation and Preparation” (1´37) aus: “Ritual Dances from Midsummer Marriage“ BBC Symphony Orchestra Ltg. Sir Andrew Davis apex 857389098 2, LC 6019

“Prelude” und “Vorbereitung und Transformation“ für den Ersten Tanz aus den „Ritual Dances“ aus der Oper „The Midsummer Marriage“ von Michael Tippet.

Britten und Tippett beschäftigen sich etwa gleichzeitig mit ihren ersten Opern, gehen dabei aber völlig unterschiedliche Wege. Auf der einen Seite Brittens dramatische Geschichte um den Fischer Peter Grimes. Sie spielt in einem Dorf an der englischen Ostküste, also in der Welt, die wir kennen. In Tippetts „Midsummer Marriage“ dagegen bewegen sich moderne Charaktere in einem seltsam magischen Raum. Von „Peter Grimes“ ist das Publikum begeistert, mit Tippetts übernatürlicher Welt aber tun sich die Opernbesucher schwer.

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Magie aber ist das, was Tippett interessiert. Er liest William Blake und William Butler Yeats und hat selbst ein Faible für Mystik. Die Oper seines Freundes bewundert er sehr, doch für ihn ist „Peter Grimes“ „Englischer Verismus“. „The Midsummer Marriage“ dagegen ist eine „Quest“-Oper, hier geht es um Aufgaben, die auf dem Weg zu einem Ziel bewältigt werden müssen und letztlich um die Suche nach dem eigenen Ich. Neben den Sängern treten auch Tänzer auf, ein ausgelassenes Ballett, zu dem das Orchester schwelgerisch-lyrisch die Geschichte von Aufklärung und Liebe ausmalt. Das Libretto schreibt Tippett selbst und er greift hier Themen rund um Träume und innere Bilder auf. Traumdeutung und die Kraft aus dem Inneren sind für den C.G. Jung-Schüler essentiell, im Leben und in seiner Musik. Den ersten der „Kultischen Tänze“ hat er überschrieben „Die Erde im Herbst“:

Musik 4 Michael Tippett 4´00 <8> The First Dance: „The Earth in Autumn“ aus: “Ritual Dances from Midsummer Marriage“ BBC Symphony Orchestra Ltg. Sir Andrew Davis apex 857389098 2, LC 6019

Der „Erste Tanz: Die Erde im Herbst“ aus der Oper „The Midsummer Marriage“ von Michael Tippett geht sehr leise zu Ende. Andrew Davis hat das BBC Symphony Orchestra geleitet.

Tippetts „Midsummer Marriage“ ist längst eine für Musiker und Publikum attraktive Oper geworden. Die deutsche Erstaufführung war schon Anfang der siebziger Jahre am Karlsruher Staatstheater, in den 90ern konnte man sie in München erleben und in England steht sie regelmäßig auf dem Spielplan.

In allen seinen fünf Opern schreibt Tippett das Libretto selbst, immer geht es um den Blick auf menschliches Verhalten in Traum und Tragik, um Konflikte und doch letztlich Hoffnung. „King Priam“ - deren deutsche Erstaufführung ebenfalls in Karlsruhe stattgefunden hat - „King Priam“ führt nach Troja, „“ zeigt

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Bezüge zu Shakespeares „Tempest“, „“ spielt vor dem Hintergrund der Rassenunruhen in den USA und Tippetts letztes Bühnenwerk „New Year“ aus den 80er Jahren schließlich zeigt eine düstere Vision modernen Lebens, doch auch hier wendet sich die Handlung am Ende wieder hin zu Hoffnung. Das mag ein biographischer Grundzug bei Michael Tippett sein: Das Bedürfnis, sich aus Konflikten herauszuarbeiten, daran zu reifen und seinen Platz im gesellschaftlichen Umfeld oder ganz einfach im Leben zu finden. Im wirklichen Leben ist ihm das gelungen und als Pazifist, Homosexueller und politisch Linker hat er vor allem in jungen Jahren seine Erfahrungen in der Position des Außenseiters sammeln können.

Der Bogen der gesellschaftlichen Anerkennung, den er schlägt, ist weit: Während des Zweiten Weltkriegs wird er als Kriegsdienstverweigerer zu drei Monaten Beugehaft verurteilt, gut dreißig Jahre später schlägt Queen Elizabeth ihn für seine Verdienste um die Musik zum Ritter. Und dazwischen schreibt er im Auftrag der BBC eine Suite auf den Geburtstag von Prince Charles. Im dritten Satz daraus, „Prozession und Tanz“, verwendet Tippett auch Material aus seiner Oper „Midsummer Marriage“ und in der folgenden Aufnahme mit der English Northern Philharmonia steht er selbst am Dirigentenpult:

Musik 5 Michael Tippett 2´58 CD2 <3> 3. Satz: “Procession and Dance” aus: „Suite für the Birthday of Prince Charles” English Northern Philharmonia /Ltg. Sir Michael Tippett PCL2108-B, LC

„Prozession und Tanz“ aus der „Suite for the Birthday of Prince Charles“ von Michael Tippett, der hier die English Northern Philharmonia selbst geleitet hat.

Anfang der 50er Jahre gibt Michael Tippett seine Stelle als Musikalischer Direktor an Morley College in London auf. Über zehn Jahre hat er das Musikleben an diesem College geprägt. Er hat hier viele selten gehörte Werke vor allem der Alten Musik und der zeitgenössischen Musik aufgeführt, von Monteverdi über Tallis, Dowland und

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Henry Purcell zu Stravinsky, Hindemith und Britten. Von Purcell gibt er viele Werke neu heraus zusammen mit dem deutschen Musikwissenschaftler Walter Bergmann, mit dem er über Jahre zusammenarbeitet. Bergmann ist wie so viele andere Musiker ursprünglich als Flüchtling vor dem Nazi-Regime nach England gekommen.

- Tippett ist umtriebig und längst eines der prägenden Mitglieder im englischen Musikleben. Er leitet noch eine Reihe von Konzerten für das College beim Festival of Britain, dann zieht er sich hier aus der Arbeit zurück. Allein von seinen Kompositionen kann Tippett noch nicht leben. Doch als Freier Mitarbeiter bei der BBC ist er inzwischen etabliert und verdient ganz gut Geld. Daneben schreibt er Auftragswerke und übernimmt immer wieder die künstlerische Leitung für verschiedene Musikfestivals wie das St. Ives Festival of the Arts in Cornwall und Anfang der 70er Jahre das Internationale Musikfestival in Bath. Hier arbeitet er mit dem Dirigenten Colin Davis zusammen, der sich wiederum später für Tippetts Musik einsetzt.

Eine feste Stelle aber wird er nicht mehr annehmen, sein Hauptinteresse gilt jetzt dem Komponieren. Tippett wohnt auf dem Land, hier kommt er immer wieder zur Ruhe und hier lernt er, wie er sagt, „die inneren Dinge zu nutzen“. Er will Bilder aus sich heraus evozieren, aufsteigen lassen, hören. Und wo kann man das besser als auf langen Spaziergängen durch die englischen South Downs, diese leicht wellige Landschaft, wo der Blick über heckenumsäumte Wiesen ins Weite gehen kann. In dem kleinen Porträtfilm „A composer of our Time“ (in Anlehnung an Tippetts Oratorium „A Child of our Time“) kann man ihm dabei folgen.

Die Verbindung zur Natur mag ihm auch Themen eingegeben haben wie in „Hurl of the wind“, ein Satz für hohe Stimmen und Kammer-Ensemble aus der Kantate „Crown of the Year“. Tippett hat diese Kantate als Auftragskomposition zum hundertjährigen Bestehen der renommierten Badminton School geschrieben.

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Musik 6 Michael Tippett 3´05 <13> IX. Satz: “Hurl of the wind” aus: „Crown of the year” Christ Church Cathedral Choir Medici String Quartet Instrumental-Ensemble Ltg. Stephen Darlington NI 5266, LC

„Hurl of the wind“ - ein Ausschnitt aus der Kantate „Crown of the year“ von Michael Tippett. Stephen Darlington hat den Christ Church Cathedral Choir geleitet zusammen mit einem Instrumentalensemble.

Es ist interessant, dass gerade Tippett immer wieder vorgeworfen wird, seine Musik sei zu intellektuell. Als er beispielsweise seinem früheren Lehrer, dem Dirigenten Malcolm Sargent, seine „Fantasie über ein Thema von Corelli“ schickt mit den Worten, das sei ’ein warmes, lyrisches Stück und er werde es sicherlich gerne dirigieren’, da bekommt er zunächst keine Antwort. Von seinem Verleger bei Schott aber hört er dann quasi um die Ecke, wie Sargent seine Musik kommentiert habe: „I intend to get the intellectuals out of music“ - ‚er wolle die Intellektuellen aus der Musik raushalten’. So Malcolm Sargent. Tippett dirigiert dann selber.

Der Vorwurf des zu Intellektuellen wird Tippett immer wieder gemacht. In einem Artikel zur gesellschaftlichen Stellung von Musik formuliert er seine Auffassung darüber, was Musik, was Kunst überhaupt bewirken soll - oder was sie sein darf. Da heißt es: „Bis zu einem gewissen Punkt ist jede Wertschätzung von Kunst eine Flucht vor der Wirklichkeit - einfach die Welt der Sachlichkeit hinter sich lassen.

Die wichtige Frage dabei lautet: flüchten wohin?“

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Und Tippett kommt zu dem Fazit: „In die wahre innere Welt der Empfindung zu flüchten ist eine der lohnendsten Erfahrungen des Menschen.“

Eine Fuge zu schreiben ist eine intellektuelle Tätigkeit und wir treffen in Tippetts Oevre auch auf schwer verständliche Musik (wozu ich die „Fantasie auf ein Thema für Corelli“ allerdings weniger zähle).

Doch auch wenn Tippett Techniken der polyphonen Musik in seine Kompositionen mitaufnimmt, wenn er seiner Leidenschaft für den Parameter Rhythmus freien Lauf lässt, ob er tonal schreibt oder posttonal: Er nimmt den Hörer mit in seine Musik, so auch im letzten Satz aus seinem „Concerto for Double String Orchestra. Hier spielt er mit dem Verschieben von Akzenten, mit dem scheinbaren Aufheben des Metrums - und die Musik gerät in einen eigenartigen Schwebezustand. Temperamentvoll und - wie ein anderer Dirigent sagt, - „full of joy“, „voller Freude“:

Musik 7 Michael Tippett 7´47 <3> 3. Satz: “Allegro molto” aus: „Concerto for Double String Orchestra“ Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Ltg. Sir Roger Norrington M0038765003

Das Radio Sinfonieorchester Stuttgart des SWR mit dem letzten Satz “Allegro molto” aus dem „Concerto for Double String Orchestra“ von Michael Tippett. Die Leitung hatte Roger Norrington.

„Wenn Michael Tippett noch leben würde, er würde uns immer noch herausfordern mit seiner Musik“, so ist ein Artikel im Guardian 2013 über Michael Tippett überschrieben. Dieser Satz ist aus dem Inhalt herausgenommen, eigentlich geht er weiter: „...er würde uns immer noch herausfordern mit seiner Musik...weit über den Konzertsaal hinaus.“ Das trifft es sicherlich: Tippett wird mit 93 sehr alt und er bleibt

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bis zuletzt wach und interessiert an dem, was um ihn herum passiert. Die Musik ist das eine, Politik, Menschlichkeit, Zeitgeschehen das andere.- Und Tippett bleibt agil: Als junger Mensch ist er viel durch Europa gereist, zu Fuß, mit dem Fahrrad, mit allen Verkehrsmitteln, er spricht Französisch, Deutsch, Italienisch. Amerika aber entdeckt er erst spät im Leben für sich, in den USA wird seine Musik ausgesprochen populär. Tippett fliegt mit sechzig zum ersten Mal über den Atlantik - und ist überwältigt! New York, Denver, Musikfestivals (1974 wird es an der Tufts University ein Festival ihm zu Ehren veranstaltet!), Rundreisen, neue Kontakte, neue Aufträge. Sein ‚Appetit auf Amerika wird’, wie er schreibt, ‚unstillbar’. Sein Appetit auf Reisen bleibt es und er hat das Glück, dass er lange rüstig ist:

Den 80. Geburtstag feiert Sir Michael Tippett mit einer zweiwöchigen Konzert- Rundreise durch Texas, einige Aufführungen dirigiert er selbst, trotz eines Augenleidens. Seinen 85. Geburtstag feiert die BBC mit einem 12-stündigen Non- Stop-Tippett-Musikprogramm - und er selbst geht für zwei Monate auf Australien- und Neuseeland-Tour. Dieses Mal allerdings hört er seiner Musik im Konzert zu. Immer noch bringt er Anregungen und neue Ideen mit nach Hause. Nach einer Reise in den Senegal schreibt Michael Tippett - hoch in den Achtzigern - „The Rose Lake“, seine erklärtermaßen letzte Komposition (nur ein kleines Lied wird später noch folgen). In diesem Orchesterstück beschreibt Tippett das wundersame sich Verfärben dieses senegalesischen Sees ‚Rose Lake’ zur Mittagszeit, wie seine „weißlich grüne Färbung in weißlich rosa übergeht“ und da hören wir zunächst afrikanische Rhythmen:

Musik 8 Michael Tippett 2´35 <1> 1. Satz: “Medium fast” aus: „The Rose Lake” (1995) London Symphony Orchestra Ltg. Colin Davis BMG75605 51304 2, LC5303

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„Medium Fast“ - der Auftakt zu Michael Tippetts letztem Orchesterwerk „The Rose Lake“. Colin Davis hat das London Symphony Orchestra geleitet.

Die junge Musikergeneration wendet sich der Musik von Michael Tippett wieder mehr zu. Der Komponist und Dirigent William Cole beschreibt, warum er für ihn so wichtig ist. „...ich finde Tippetts Musik, seinen Sinn für die Freude im Leben, die durch jeden Takt seiner Musik fließt, absolut betörend. Sie lehrt uns, die Liebe zu feiern, uns für andere Kulturen zu interessieren, für Philosophie und Ideen - letztlich, uns für die Welt um uns herum zu engagieren und daraus zu ziehen, was wir können.“ (...) Wir sollten beginnen, Tippett als den wundervollen, lebensbejahenden Künstler zu feiern, der er bis ins Innerste war.“ Soweit der englische, knapp dreißigjährige Dirigent William Cole. Und wenn ich mir vorstelle, dass Sir Michael Tippett, 1905 geboren, erst 1998 gestorben ist, vor genau zwanzig Jahren, dann wäre ich ihm gerne noch begegnet.

Musik 9 Michael Tippett 9´15 CD2 <8> 3. Satz: „Vivace“ aus: “Concerto for Piano and Orchestra“ (1953-55) Martimo Tirimo, Klavier BBC Philharmonic Ltg. Michael Tippett PCL2108-B, LC

Der letzte Satz „Vivace“ aus dem Klavierkonzert von Michael Tippett. Solist war der zyprianische Pianist Martimo Tirimo und Michael Tippett selbst hat das BBC Philharmonic geleitet.

Und damit geht SWR2-Musikstunde zu Ende, vielleicht hat die Begegnung mit diesem Grandseigneur der britischen Musik des vergangenen Jahrhunderts - neben Benjamin Britten - Sie neugierig gemacht auf mehr. Ich bin AVS und sage: Good bye!

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Literaturangaben:

Michael Tippett Essays zur Musik Schott 1998

Michael Tippett Those Twentieth Century Blues Hutchinson 1991

The Cambridge Companion to Michael Tippett Hg. Kenneth Gloag and Nicholas Jones Cambridge University Press 2013

Ian Kemp Tippett-The Composer and his Music Oxford Paperbacks 1987

Meirion Bowen Michael Tippett Robson Books

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