201707_Umschlag_außen.indd 1 Marc Engelhardt Die Flüchtlingsrevolution Fraser Nancy Sorge im Kapitalismus cares? Who Sigmar Gabriel, Jürgen Habermas, Europa neu denken 4’17 Lamya Kaddor Das neue deutsche Wir Rudolf Hickel Imperialismus America-First- Grunenberg Antonia System als Lüge Die 6’17

Anne Britt Arps Britt Anne Machismo tötet Franziska Schutzbach Weltuntergangslust Wider die bequeme Michael Lüders Westens des Flecken blinden die und Syrien in Krieg Der 3’17 Wiedemann Charlotte Iranische Paradoxien Elmar Altvater MahnkopfBirgit und Prozent einen des Die Globalisierung Ulrich Menzel Die neuen Grenzziehungen Ost: versus West 5’17

Blätter 7’17 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Demokratie ist kein Die Legende vom Magnus Brechtken Magnus Zuschauersport! Bernie Sanders Albert Speer: Albert guten Nazi internationale deutsche und Blätter für Politik Nadja Ziebarth Nadja PlastikEin aus Meer WichterichChrista Businessfeminismus neue Der Borchert Jürgen ernten Altersarmut wird Wer sät, Kinderarmut Wolfgang Zellner Eine Welt inUnordnung Claus Leggewie die »zweiteMacron und Linke« Hauke Brunkhorst Merkels Abgrund: Am Europa 7’17 21.06.17 11:52 Autorinnen und Autoren dieses Heftes Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Janna Aljets, geb. 1985 in Berlin, Poli- Julia Macher, geb. 1975 in Freiburg, Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power tikwissenschaftlerin, Projektleiterin Historikerin und Germanistin, freie Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl bei der BUNDjugend. Journalistin in Barcelona. Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester Jürgen Borchert, geb. 1949 in Gießen, Thomas Müller-Färber, geb. 1981 in Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor Dr. jur., Sozialrichter am hessischen Bochum, Politikwissenschaftler, Stu- Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan Landessozialgericht und langjähriger dienleiter für Internationale Beziehun- Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Politikberater in Rentenfragen. gen an der Evangelischen Akademie Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Loccum. Magnus Brechtken, geb. 1964 in Ols- Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich berg, Dr. phil., stellv. Direktor des In- Markus Nitschke, geb. 1970 in Walter Kreck Helmut Ridder stituts für Zeitgeschichte in München, Georgsmarienhütte, Politikwissen- Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling apl. Professor für Neueste Geschichte schaftler, Referent für humanitäre Kri- In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose an der Universität München. sen bei Oxfam Deutschland. Adam Krzeminski Rossana Rossandra schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer Hauke Brunkhorst, geb. 1945 in Mar- Georgia Palmer, geb. 1992 in Ber- Jürgen Kuczynski Irene Runge ne/Holstein, Dr. phil., Professor für So- lin, Studentin der Philosophie an der Charles A. Kupchan Bertrand Russell ziologie an der Universität Flensburg. Freien Universität Berlin, Fahrerin bei Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto Foodora. Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen Carla Coburger, geb. 1993 in Ham- Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf burg, Studentin der International Miguel de la Riva, geb. 1991 in Köln, Economics, Politikwissenschaft und Student der Philosophie in Wien, freie Hermann Scheer Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Arabischen Sprache an der Universität Mitarbeit bei „Der Standard“. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl Tübingen, aktiv im Netzwerk Plurale Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Ökonomik. Bernie Sanders, geb. 1941 in New Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer York City, Senator für den US-Bundes- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann Falk Hartig, geb. 1979 in Leisnig, PhD, staat Vermont, 2016 Präsidentschafts- Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Sinologe, Postdoktorand im AFRASO- bewerber in den Vorwahlen der De- E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Projekt der Universität Frankfurt a. M. mokratischen Partei. Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Rami G. Khouri, geb. 1948 in New Egbert Scheunemann, geb. 1958 in Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel York City, Politikwissenschaftler, Di- Berlin (Ost), Dr. phil., Politikwissen- Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer rektor des Issam Fares Institute for schaftler, Autor und Lektor in Ham- Public Policy and International Affairs burg. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka (IFI) an der American University of Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Beirut/Libanon. Marcel Serr, geb. 1984 in Ludwigsha- Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz fen am Rhein, Historiker und Politik- Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Patrick Klösel, geb. 1995 in Bamberg, wissenschaftler, wiss. Assistent am Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Student der International Economics, Deutschen Evangelischen Institut in Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Politikwissenschaft und Philosophie Jerusalem. Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin an der Universität Tübingen, aktiv im György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban Netzwerk Plurale Ökonomik. Christa Wichterich, geb. 1949 in Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal Brühl, Dr. rer. pol., Soziologin, freibe- Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, rufliche Wissenschaftlerin und Publi- Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter freier Journalist in Berlin. zistin. Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler Claus Leggewie, geb. 1950 in Wanne- Wolfgang Zellner, geb. 1953 in Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Eickel, Dr. sc. pol., Direktor des KWI Selb, Dr. phil., stellv. wiss. Direk- Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer Essen, Carl-Ludwig-Börne-Professor tor des Instituts für Friedensfor- Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann an der Universität Gießen, Mitheraus- schung und Sicherheitspolitik an der Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will geber der „Blätter“. Universität Hamburg. Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- Nadja Ziebarth, geb. 1965, Biologin, Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Leiterin des Meeresschutzbüros des Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. BUND. Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere.

201707_Umschlag_innen.indd 1 21.06.17 11:52 Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage des VSA Verlags. Wir bitten um freund- liche Beachtung. Blätter für deutsche und internationale Politik

Monatszeitschrift 62. Jahrgang Heft 7/2017

Herausgeberkreis Katajun Amirpur . Seyla Benhabib Norman Birnbaum . Peter Bofinger Ulrich Brand . Micha Brumlik Dan Diner . Jürgen Habermas Detlef Hensche . Rudolf Hickel Claus Leggewie . Ingeborg Maus Klaus Naumann . Jens Reich Rainer Rilling . Irene Runge Saskia Sassen . Karen Schönwälder Friedrich Schorlemmer . Gerhard Stuby Hans-Jürgen Urban . Rosemarie Will

Begründet von Hermann Etzel . Paul Neuhöffer und Karl Graf von Westphalen Weitergeführt von Karl D. Bredthauer

Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH Berlin

201707_Blätter.indb 1 21.06.17 11:50 INHALT KOMMENTARE UND BERICHTE 7’17 5 Wille und Macht: Von Kohl zu Macron Albrecht von Lucke

9 Kern, Kurz, Strache: Österreich auf Rechtskurs? Miguel de la Riva

13 Spaniens Sozialisten: Wie Phönix aus der Asche? Julia Macher

17 Griechenland: Verordnete Verarmung Egbert Scheunemann

21 Ostafrika: Hunger- katastrophe mit Ansage Markus Nitschke

25 Atomwaffen: Geächtet, nicht gebannt Thomas Müller-Färber

29 Foodora & Co.: Die Revolte der neuen REDAKTION Dienstbotenklasse Anne Britt Arps Georgia Palmer Daniel Leisegang Albrecht von Lucke DEBATTE Annett Mängel Steffen Vogel 33 Israel: Kein Frieden ohne Sicherheit BESTELLSERVICE Marcel Serr Tel: 030 / 3088 - 3644 E-Mail: [email protected] KOLUMNE

WEBSITE 37 Schlacht um Katar www.blaetter.de Rami G. Khouri

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2017

201707_Blätter.indb 2 21.06.17 11:50 ANALYSEN UND ALTERNATIVEN

41 »Stehen Sie nicht abseits: Demokratie ist kein Zuschauersport!« Bernie Sanders

49 Frankreich oder: Die Renaissance der »zweiten Linken« Claus Leggewie

55 Europa am Abgrund: Zwölf Jahre Merkel Hauke Brunkhorst AUFGESPIESST 63 Eine Welt in Unordnung Der Rückzug der USA und 86 Röschen vom die globale Multikrise Winde verweht Wolfgang Zellner Jan Kursko

71 Ein Meer aus Plastik: AUFGESPIESST Die Vermüllung unserer Ozeane Nadja Ziebarth 120 Chinas Panda-Diplomatie 79 Der neue Businessfeminismus Falk Hartig Christa Wichterich BUCH DES MONATS 87 Wer Kinderarmut sät, wird Altersarmut ernten 121 Degrowth: Wie die herrschende Rentenpolitik Von der Theorie unsere Demokratie aufs Spiel setzt zur Praxis Jürgen Borchert Janna Aljets

99 Wider das Einheitsdenken EXTRAS Plädoyer für Pluralismus in der Wirtschaftswissenschaft 39 Kurzgefasst Carla Coburger und Patrick Klösel 124 Dokumente 125 Chronik des Monats 105 Die Speer-Legende Mai 2017 und ihre Konstrukteure 128 Zurückgeblättert Magnus Brechtken 128 Impressum und Autoren

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201707_Blätter.indb 3 21.06.17 11:50 Anzeige

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201707_Blätter.indb 4 21.06.17 11:50 KOMMENTARE UND BERICHTE

Albrecht von Lucke Wille und Macht: Von Kohl zu Macron

In den unzähligen Nachrufen auf Hel- Union alle Ehre: Die alte Sponti-Weis- mut Kohl wurde eine Komponente sei- heit „legal, illegal, scheißegal“ war nes Handelns entweder, vermeintlich offenbar trotz der „Flick-Affäre“ von wohlmeinend, schamhaft beschwie- 1984 bis zum Ende, der Abwahl 1998, gen oder, in negativer Absicht, dras- Kohls heimliche Devise geblieben.3 tisch herausgestellt: nämlich Kohls im- Und schließlich: „Das Private ist poli- menser Wille zur Macht. Dabei ist diese tisch“, diese Urmaxime der 68er hat Dimension von absolut entscheidender außenpolitisch wohl niemand so virtu- Bedeutung für alle seine politischen os beherrscht wie Helmut Kohl. Erfolge – von der deutschen Wieder- Schon vor dem Mauerfall hatte vereinigung bis zur Einheit Europas. Kohl die erforderliche Vertrauensba- Ohne Kohls unbedingten Macht- und sis bei den beiden antagonistischen Gestaltungswillen wäre beides kaum Weltmächten geschaffen, bei George zu erreichen gewesen. Und gleichzei- Bush (dem Älteren) und Michail Gor- tig ist der Umgang mit Macht ein, wenn batschow (den er kurz zuvor noch mit nicht sogar der entscheidende Schlüs- Goebbels verglichen hatte). Nur auf sel zur anhaltenden Schwäche der dieser Basis konnte der Pfälzer 1990 deutschen und europäischen Linken. im Kaukasus Fakten schaffen und die Kohl war in der Tat der „Prototyp des deutsche Einheit besiegeln, dank des Machtpolitikers“ (Bettina Gaus). Was immensen, fast revolutionären Ent- allerdings oft verkannt wird: Er agier- gegenkommens durch Gorbatschow. te dabei stets auf der Höhe seiner Zeit, Kohls „Politik mit der Strickjacke“ war mit ziemlich „modernen“ Mitteln. Als von maßgeblicher Bedeutung für seine Antwort auf die gewaltige Herausfor- außenpolitischen Erfolge. Darin steck- derung durch die 68er und die jugend- te auch der Abschied von einem dezi- lich erstarkte SPD Willy Brandts mo- diert konservativen Stil, was ihm vor dernisierte er die alte Union nach innen allem seine Verächter von rechts zum (erst Kohl machte aus der Adenauer- Vorwurf machten.4 Genau diese Nor- schen Honoratioren- die heutige Mas- malität, diese Durchschnittlichkeit senpartei) wie nach außen, indem er sie Helmut Kohls trieb aber auch die Lin- etwa für die „Neue soziale Frage“ auf- ke bis zur Weißglut, wobei sie dabei schloss.1 Auf die Frage nach dem Ergeb- stets dessen enormes politisches Ge- nis von 68 antwortete denn auch Jürgen schick und sein Gespür für das politi- Habermas einst nur halb-ironisch „Rita sche Gegenüber verkannte. Süssmuth“ – die von Kohl 1987 berufene „Fortuna“ und „virtu“, diese bei- erste Frauenministerin.2 den Zentralbegriffe der Machiavel- Spätestens mit der Spendenaffäre listischen Machttheorie brachte nach machte Kohl seinem Ruf als 68er der 1945 wohl niemand – trotz seines gro- ßen Vorgängers Konrad Adenauer – 1 Der Begriff stammt von Heiner Geißler, wie vie- le „junge Wilde“ der 60er und 70er Jahre, von 3 Albrecht von Lucke, Kohl-Finsternis, in: „Blät- Bernhard Vogel über Kurt Biedenkopf bis zu ter“, 1/2000, S. 9-12. Richard von Weizsäcker, eine Entdeckung und 4 „Kohls Körper ist der Körper der Bundesrepub- (zumindest anfangs) Zögling Helmut Kohls. lik“, so der schon klassische Vorwurf von Karl- 2 Vgl. „Der Spiegel“, 21/1988, S. 133. Heinz Bohrer, in: „Merkur“, 3/1998.

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so sehr zur Deckung wie Helmut Kohl bald 20 Jahre vergangen und eines ist 1989/90. Er hatte das Glück des Tüchti- dramatisch gewachsen: die Machtfer- gen: Als die Gelegenheit sich bot, griff ne der Linken, die sich nicht zuletzt in Kohl beherzt zu und agierte dabei mit ihrer Spaltung manifestiert. enormer politischer Klugheit, gerade Als vor zehn Jahren, am 16. Juni nicht deutsch-großspurig auftrump- 2007, die Linkspartei gegründet wur- fend. Und während Kohl die gestalte- de, verbanden viele damit auch die rische Freude an der historischen Jahr- Hoffnung auf eine neue Partei als Teil hundertchance regelrecht aus jedem eines neuen Bündnisses „jenseits der Knopfloch platzte, stand die Linke, Union“, wie es Willy Brandt bereits wie so oft in der deutschen Geschichte, nach dem Machtverlust an Helmut sprach- und machtlos daneben. Kohl 1982 gefordert hatte. Heute da- gegen wiederholen sich die ritualisier- ten Grabenkämpfe, wie die jüngsten Der schwarze Machtbogen: Parteitage von Linkspartei und SPD von Adenauer über Kohl bis Merkel gezeigt haben. „Getrennt marschie- ren, gemeinsam schlagen“, lautete von Die Konsequenz der linken Machtab- Beginn an das Erfolgsrezept der Union. stinenz: Faktisch zieht sich heute ein „Miteinander streiten und gemeinsam schwarzer Machtbogen vom Beginn verlieren“, könnte man das Rezept des der Bonner Republik bis zu ihrer Berli- Scheiterns der deutschen Linken nen- ner Gegenwart, von Konrad Adenauer nen. über Helmut Kohl bis zu Angela Mer- Speziell Teile der Linkspartei sehen kel, „Kohls Mädchen“. Von den in- in der SPD heute in fataler Tradition zwischen 68 bundesrepublikanischen noch immer den Hauptfeind. „Manche Jahren stellte die CDU 48 Jahre lang unserer Debatten, die ich seit 25 Jah- den Kanzler oder die Kanzlerin – und ren kenne, wirken auf mich wie selbst wer wollte ernsthaft daran glauben, verstärkende Resonanzen in der Filter- dass sich daran am 24. September et- blase, in der Echokammer“, kritisierte was ändert? der linke Berliner Bürgermeister und Erfolg konnte die Linke dagegen im- Kultur- und Europasenator Klaus Le- mer nur dann haben, wenn sie ihrer- derer auf dem jüngsten Parteitag diese seits entschieden nach der Macht griff. Haltung. Allerdings hat die neu-mitti- Darin unterschied sich ironischerwei- ge SPD es der Linkspartei an diesem se der Machtmensch Gerhard Schrö- Punkt auch sehr leicht gemacht. Be- der nicht vom Geistesmenschen Willy reits Schröders demonstrative Freude Brandt. Hätte Brandt nicht 1969 die an der Macht („Regieren macht Spaß“) hauchdünne Mehrheit mit der FDP ent- und spätestens seine Agenda-Politik schlossen genutzt – mit Walter Scheel, haben die Frage aufgeworfen, für wen aber gegen den Rat vieler in seiner und wofür die SPD regiert – wenn nicht Partei –, wäre es wohl nie zur sozial- aus bloßem Selbstzweck. liberalen Ostpolitik als einer wichti- Und dennoch gilt: Bloßes „Schul- gen Voraussetzung der deutschen Ein- terklopfen über die eigene Großartig- heit gekommen. Und auch dass Hel- keit, frei von jedem gesellschaftlichen mut Kohl 1998 – nach 16jähriger Kanz- Widerspruch“ (Lederer) ist in der Tat lerschaft – sein Amt verlor, ist wesent- wohlfeil, da politisch folgenlos. Das al- lich dem ausgesprochenen Machtwil- lerdings hat auf der Linken eine viel len der ehemaligen Protagonisten der längere Tradition. Die Selbstberau- 68er-Generation in Grünen und SPD schung an gesinnungsethischer Kom- geschuldet – und einer geschlossenen promisslosigkeit bei gleichzeitiger Ak- Haltung von Gerhard Schröder und zeptanz der eigenen Machtlosigkeit Oskar Lafontaine. Seither aber sind kritisierte bereits Max Weber vor nun

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bald hundert Jahren als „sterile Aufge- hasst. Das gilt nicht nur für Griechen- regtheit“.5 Dem setzte er eine denkbar land, Spanien und England, selbst einfache Definition dessen entgegen, in Frankreich war Abgrenzung von was Politik bedeutet: nämlich das Deutschland für alle Präsidentschafts- „Streben nach Machtanteil oder nach kandidaten wahlentscheidend.“6 Beeinflussung der Machtverteilung, Auch Helmut Kohl sah in den letzten sei es zwischen Staaten, sei es inner- Jahren sein europäisches Erbe durch halb eines Staates zwischen den Men- seine Nachfolgerin gefährdet und sich schengruppen, die er umschließt“. In selbst wiederholt zur Intervention ver- dieser Vorstellung ist Macht und ihre anlasst.7 Kohls Maxime bestand stets Erlangung alles andere als böse oder und gerade in der Pflege der kleinen gar verwerflich, sondern integraler Staaten. Merkel und Schäuble halten Bestandteil des Politischen, ja sogar jedoch, und zwar trotz des Drucks des dessen Kerngeschäft. Dem Machtpoli- IWF, an ihrem Veto gegen jede Schul- tiker Kohl war dies von Beginn an klar. denstreichung für Griechenland fest, Von Kohl lässt sich allerdings noch jedenfalls bis zum Wahltag, also aus etwas anderes lernen: nämlich die offensichtlich wahltaktischen Grün- Notwendigkeit, die Macht nicht als den. Selbstzweck, sondern zur Erreichung eines nachvollziehbaren Zieles ein- zusetzen. Diese „sachliche Leiden- Hoffnungsträger Macron und Corbyn schaft“ (Weber) stand bei Kohl – jeden- falls mit Blick auf Europa – außer Fra- An diesem Punkt, nämlich der Europa- ge. Angela Merkel wird erst noch be- Frage, besteht daher die wohl größte weisen müssen, dass ihre Politik tat- Herausforderung für die deutsche und sächlich von Leidenschaft in der Sa- europäische Linke, aber auch ihre viel- che, also von echter Überzeugung von leicht größte Chance. Der neue franzö- Europa, motiviert ist – und nicht ganz sische Präsident Emmanuel Macron primär vom bloßen, durchaus inhalts- hat jedenfalls gezeigt, dass man trotz losen Machterhalt. Aus Merkels und harter antieuropäischer Stimmung Schäubles Europapolitik ist jedenfalls einen hochengagierten Pro-Europa- bisher keineswegs eindeutig hervor- Wahlkampf führen und sogar gewin- gegangen, dass sie in der Adenauer- nen kann. schen und Kohlschen Tradition steht, Tatsächlich sind in den vergange- im Gegenteil: „ first“ er- nen Wochen zwei neue Hoffnungsträ- scheint allzu oft als die oberste Devise. ger aufgetaucht, die in etlichen Posi- „Wir wollen ein europäisches tionen unterschiedlicher kaum sein Deutschland, kein deutsches Europa“, könnten, die aber eines verbindet – dieser Satz Thomas Manns war bisher eine erstaunliche Leidenschaft und der Leitspruch aller deutschen Kanz- Überzeugung in der Sache. Jeremy ler. Heute jedoch droht aus der Vision Corbyn ist es gelungen, aus vermeint- eines europäischen Deutschlands im- lich aussichtsloser Situation8 für seine mer mehr deutsche Dominanz zu wer- Labour-Partei 40 Prozent der Stimmen den – mit fatalen Folgen. Tatsächlich zu holen. Und Emmanuel Macron hat „hat sich das Bild der Deutschen in mit der von ihm postulierten „Revolu- Europa in der Ära Merkel besorgnis- erregend verschlechtert. Je selbstbe- 6 Antje Vollmer und Peter Brandt, Raus aus der Gefangenschaft der Merkel-Politik!, in: „Der wusster die Bundesregierung in Brüs- Tagesspiegel“, 5.6.2017. sel dominiert, umso mehr ist sie ver- 7 Zuletzt mit: Aus Sorge um Europa: Ein Appell, München 2014. 8 Im Kanon der allgemeinen Fehleinschätzung 5 Max Weber, Politik als Beruf, München und Michael Krätke, Corbyns Versagen, Mays Kal- Leipzig 1919. kül, in: „Blätter“, 6/2017, S. 9-12.

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tion“ tatsächlich ernst gemacht, indem meintlich aussichtsloser Situation noch er erst sich die Präsidentschaft und an- offen gestaltet werden. Das aber setzt schließend seiner Bewegung die abso- dreierlei voraus: einen von sich selbst lute Mehrheit der Sitze im Parlament und seiner Sache überzeugten, glaub- gesichert hat. Nun wird Macron bewei- würdigen Kandidaten, ein klar kontu- sen müssen, dass er mit dieser bona- riertes Programm – und eine echte Re- partistischen Machtfülle trotz der au- gierungsalternative. An all dem man- toritär-neoliberalen Versuchung sein gelt es derzeit in Deutschland – und vor New-Deal-Versprechens wahrmacht. allem an letzterem, ob der machtfernen Corbyn und Macron haben damit vor Zerstrittenheit der deutschen Linken. allem eines gezeigt: Politik, die wirk- Hinzu kommt aber noch ein weite- lich etwas bewegen will, darf sich nicht res: Sowohl in Großbritannien als auch auf die Rolle des Zuschauers reduzie- in Frankreich haben wir es mit Aufbrü- ren, sondern sie muss sich mit Leiden- chen einer neuen, jungen Generation schaft für eine Sache engagieren und zu tun. Und in beiden Fällen war es der die Macht erlangen wollen, um die Ernstfall, der die Jungen politisierte: eigenen Ideale konkrete politische Pra- in Großbritannien der Brexit, den Tau- xis werden zu lassen. Dann kann man sende der Jungen durch Wahlenthal- der rechten, protektionistischen Do- tung mit herbeiführten, um am nächs- minanz sogar die Vision eines offenen ten Morgen geschockt in einem ande- und gerechten Europas entgegenset- ren Land aufzuwachen; und in Frank- zen, wie Macron es zu tun verspricht. reich das Versagen der Regierung Hol- Gewiss, die aktuelle Lage in der lande, insbesondere gegenüber der Bundesrepublik ist mit der in Großbri- massiven Arbeitslosigkeit. tannien und Frankreich nur schwer zu Auch hier ist die Lage in Deutsch- vergleichen. Angela Merkel ist nicht land völlig anders. Als Nutznießer der Theresa May, die sich vor der Wahl als europäischen Krise wirkt das Land vor heillos überfordert entpuppte und als allem um eines bemüht – um konserva- einstige „Remainerin“ mit der Forde- tive Verteidigung des Status quo, not- rung nach einem harten Brexit ebenso falls auch gegen die Interessen sei- unglaubwürdig wirkte wie mit ihrem ner europäischen Nachbarn, aber da- „Enough is enough“ nach den Terror- mit letztlich zu seinem eigenen Nach- anschlägen als einstige Innenministe- teil. Deshalb brauchen wir gegen rin, die Tausende von Polizisten weg- die „schwarze Pädagogik Wolfgang gespart hatte. Ebenfalls anders als in Schäubles“ (Vollmer und Brandt), sei- Deutschland haben in Frankreich in ne verheerende Austeritätspolitik, die den letzten Jahren und Monaten so- Deutschland in den Augen vieler zum wohl die Sozialdemokraten als auch Feind Europas gemacht hat, endlich die Konservativen ihre Glaubwür- eine solidarische Alternative. Um dies digkeit verspielt; nur das machte Ma- zu begreifen, benötigt die Bundesrepu- crons Durchmarsch letztlich möglich. blik hoffentlich keinen Ernstfall. Da- Und während Merkel ersichtlich weder gegen bedarf es aber vermutlich, wie Theresa May noch François Hollande in Frankreich und Großbritannien, gleicht, ist Martin Schulz offensichtlich einer neuen Generation, die die euro- nicht der Rebell Jeremy Corbyn und päische Sache so zu ihrer eigenen Sa- schon gar nicht der Charismatiker Em- che macht wie einst Helmut Kohl und, manuel Macron. keineswegs zufällig, dessen Genera- Eines aber haben die Wahlen in tionsgenosse Jürgen Habermas. Und es Frankreich und vor allem in England bedarf einer geeinten Linken, die end- doch gezeigt: Angesichts der immen- lich begreifen muss, dass es die inter- sen Volatilität der Wählerinnen und nen Widerstände zu überwinden gilt – Wähler kann eine Wahl selbst aus ver- um der gemeinsamen Sache willen.

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Miguel de la Riva Kern, Kurz, Strache: Österreich auf Rechtskurs?

„So wie es war, so kann es nicht blei- gen gekommen und über vorgezogene ben“ – mit diesen Worten läutete der Neuwahlen spekuliert worden. neue Shootingstar der österreichischen In ihre jüngste Krise geriet die Koali- konservativen Volkspartei, Sebastian tion nach dem unerwarteten Rücktritt Kurz, am 12. Mai das Ende der Großen des konservativen Vizekanzlers Rein- Koalition ein. Statt bloß „Köpfe auszu- hold Mitterlehner am 10. Mai. Stets da- tauschen“ oder „den 17. Neustart aus- rum bemüht, den kompromissberei- zurufen“, wollte Kurz die Richtungsent- ten Sacharbeiter zu geben, scheiter- scheidung des Wählers. Nun kommt es te dieser an der eigenen Partei, in der zu vorgezogenen Neuwahlen am 15. Ok- eine Gruppe rechter Hardliner seine tober. Damit dürfte die Regierungs- Arbeit immer wieder sabotierte. Das zusammenarbeit der beiden großen Fass zum Überlaufen brachte ÖVP-In- Parteien bis auf Weiteres beendet sein. nenminister Wolfgang Sobotka, der Ein erneutes Zusammengehen von wenig später tönte, Kern habe als SPÖ und ÖVP nach der Wahl ist un- Kanzler „versagt“.2 Dass offene Pro- wahrscheinlich. Zu tief sind die Grä- vokationen gegen den Koalitionspart- ben zwischen ihnen geworden, zu ner auch dem eigenen Parteichef scha- sehr wirkt auch das Land den häufigen den, wurde offenbar billigend in Kauf Großen Koalitionen und dem damit genommen. Kommentatoren sprechen assoziierten Stillstand überdrüssig. von einem „schäbigen, intriganten Dies deutete sich bereits bei der Prä- Machtkampf“. 3 sidentschaftswahl im Dezember 2016 Nach Mitterlehners Rücktritt riss an:1 Die Kandidaten der beiden gro- Kurz das Heft des Handelns an sich. ßen Parteien erzielten miserable Er- Der sozialdemokratische Regierungs- gebnisse, mit Norbert Hofer (FPÖ) und partner hingegen schien von den Er- Alexander Van der Bellen (Grüne) be- eignissen überrumpelt und geriet in stritten Kandidaten kleinerer Parteien die Defensive. Taktische Fehler räumt die Stichwahl. Nun scheint diese Ent- sogar Kern selbst ein: 4 Ihr Plan, einer wicklung abgeschlossen: Das von der Neuwahl nur unter der Bedingung zu- Zusammenarbeit der beiden Großpar- zustimmen, dass Kurz bis dahin Vize- teien dominierte System der Zweiten kanzler würde und so im Koalitionsall- österreichischen Republik ist am Ende. tag die Aura des Unverbrauchten ein- Außenminister Sebastian Kurz büßt, ging nicht auf. Kurz zierte sich, brachte mit seinen klaren Worten folg- und als der Neuwahlantrag bereits lich auch nur ein in Regierung wie Öf- von allen anderen Parteien unterstützt fentlichkeit schon lange verbreite- wurde, fügte sich die SPÖ notgedrun- tes Unbehagen zum Ausdruck. Immer gen. Stattdessen setzte Kurz Wolfgang wieder war es in der rot-schwarzen Regierung zu Krisen und Neuanfän- 2 „Kurier“, 8.5.2017. 3 Isolde Charim, Der derzeitige Zustand der ÖVP, in: „Wiener Zeitung“, 13./14.5.2017. 1 Vgl. Balduin Winter, Österreich als Menetekel, 4 Im Interview mit „Der Standard“, in: „Blätter“, 6/2016, S. 21-24. 3./4./5.6.2017.

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Brandstetter als Vizekanzler durch. re Überleben, „um die Existenz als Der farblose und rhetorisch schlichte solche“, wie selbst ihre neue General- Justizminister, als Parteiloser von den sekretärin Elisabeth Köstinger sagt.5 Konservativen ins Kabinett geholt, hat Es nimmt daher wenig wunder, dass keine andere Ambition, als die Koali- sich die Partei nun ihrem letzten Hoff- tion abzuwickeln. nungsträger regelrecht zu Füßen leg- Zudem startete das von Kern ange- te. Seiner Partei mutete Kurz viel zu: kündigte freie Spiel der parlamentari- Noch am Tag vor Mitterlehners Ab- schen Kräfte nicht: Geschickt sicher- gang sagte er, dass er sie im „derzeiti- te Kurz zu, die SPÖ nicht zu überstim- gen Zustand“ nicht übernehmen wolle, men, und schob ihr damit den Schwar- und hielt sie danach tagelang hin. Dem zen Peter des Koalitionsbruchs zurück. Parteivorstand legte er eine Liste mit Überdies fand ein Regieren mit wech- sieben unverhandelbaren Bedingun- selnden Mehrheiten auch bei den Op- gen vor, die auf eine Stillstellung von positionsparteien keine Unterstüt- Föderalismus und Demokratie inner- zung. Ohnehin hat Österreich schlech- halb der Partei hinauslaufen – die alt- te Erinnerungen an eine ähnliche Kon- gedienten Funktionäre stimmten ihrer stellation: In einer Sitzung des Natio- Entmachtung notgedrungen zu. Kurz nalrats am 24. September 2008 ver- hat sich weitgehende Durchgriffsrech- teilten die Parteien mit wechselnden te ausbedungen, die auch statutarisch Mehrheiten vier Tage vor einer Wahl verankert werden sollen: Personalho- milliardenschwere „Wahlzuckerl“, die heit bei Wahllisten, dem Generalse- das Budget bis heute belasten. kretariat und Regierungsämtern, Frei- In der Regierung hat sich so trotz des heit bei inhaltlicher Linie und Koali- Neuwahlbeschlusses und einiger per- tionsvereinbarungen. soneller Rochaden wenig geändert: Zudem wird Kurz nicht als Spitzen- Um die letzten gemeinsamen Vorha- kandidat seiner Partei, sondern mit der ben – etwa eine Bildungsreform – wird „Liste Sebastian Kurz – Die neue Volks- wie eh und je zäh gerungen. partei“ antreten. Offenbar sucht er die Frische und Unabhängigkeit einer Be- wegung, ohne auf die Mobilisierungs- Eine neue Volkspartei? kraft seiner ÖVP verzichten zu wollen. Für die Liste sollen auch Personen aus Dabei waren es eigentlich die Konser- Wirtschaft und Zivilgesellschaft ge- vativen, die zuletzt unter Druck stan- wonnen werden, im Gespräch ist etwa den. Für die ÖVP kam Mitterlehners die ehemalige Höchstrichterin Irmgard Abgang einem Déjà-vu gleich, han- Griss, die in der ersten Runde der Bun- delte es sich doch nicht um die erste despräsidentschaftswahl einen Ach- kurzfristig anberaumte, emotionale tungserfolg erzielte. Rücktrittsrede eines Volksparteichefs, Die ÖVP, wie man sie bisher kannte die nicht mit Kritik an der eigenen und wie sie die österreichische Nach- Partei spart. In zehn Jahren hatte die kriegsgeschichte prägte, ist damit am ÖVP damit ihren vierten Obmann ver- Ende. Hatten in der Partei bisher Lan- schlissen, die strukturellen Probleme deshauptleute und Interessenverbände der Partei wurden unübersehbar. Seit („Bünde“), das Sagen, scheint sie nun dem Ende der Regierung von Wolfgang ganz auf ihren Obmann zugeschnit- Schüssel – der mit Jörg Haiders FPÖ ten. So erscheint der erst 30jährige (später BZÖ) koaliert hatte – im Jahr Kurz, der noch 2010 im Rathauswahl- 2007 blieb den Konservativen nur die kampf für die Junge Volkspartei mit Rolle des Juniorpartners in Großen Ko- dem „Geilomobil“ durch Wien kurvte, alitionen. Bei abnehmendem Stimm- anteil ging es der Partei nun ums schie- 5 „Die Presse am Sonntag“, 4.6.2017.

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gegenwärtig als der mächtigste Ob- Ankündigung, die Staats- und Abga- mann der ÖVP-Geschichte. Doch wird benquote von 43,4 auf 40 Prozent zu sich zeigen müssen, ob er sich auch senken. Das entspräche einer Steuer- langfristig durchsetzen kann. Weil die entlastung von 12 bis 14 Mrd. Euro, Partei im Falle seines Scheiterns wohl einer für den Kleinstaat gewaltigen, am Ende wäre, werden sich die Kon- mit keiner Reform je erreichten Sum- servativen mit offenem Widerspruch me. Neben der Verschlankung der bis zur Wahl bedeckt halten. Abzuwar- Verwaltung soll das Geld vor allem ten bleibt aber, ob die gedemütigten durch Kürzung „fehlgeleiteter Sozial- Funktionäre aus Ländern und Bünden leistungen“ eingespart werden – näm- auch nach dem Urnengang ruhig blei- lich solchen für Ausländer.8 ben, wenn liebgewonnene Posten und Kurz sieht die größten inhaltlichen Positionen zu räumen sind. Schnittmengen denn wohl auch mit der rechtspopulistischen FPÖ. Da ein erneutes Regieren mit der SPÖ un- Scharf rechts der Mitte wahrscheinlich geworden ist, könn- te er versuchen, mit der Neuauflage Obwohl schon seit langem als nächs- einer schwarz-blauen Koalition Wolf- ter Spitzenkandidat vorgesehen,6 tritt gang Schüssel zu beerben, den letzten Kurz einstweilen als unverbrauchte ÖVP-Obmann, der Kanzler wurde und Lichtgestalt an. Inhaltlich hält er sich seiner Partei den Spitzenplatz bei Na- noch bedeckt, ein detailliertes Wahl- tionalratswahlen bescherte. Schüssel programm will er erst Anfang Septem- gilt als Entzauberer der FPÖ, die seit ber vorstellen. Im Windschatten der ihrer Regierungsbeteiligung zeitweise koalitionären Streitereien hat Kurz in in Korruptionsskandalen und Spaltun- den letzten Jahren jedoch konsequent gen versank. In der ÖVP werden schon eine Botschaft aufgebaut und sich ein jetzt Stimmen laut, die an die Sank- Profil scharf rechts der Mitte zugelegt. tionen der EU gegen den damals ers- Bei Flucht und Integration gibt ten Mitgliedstaat mit einer Regierung er den Hardliner: Der Außenminis- unter Beteiligung von Rechtspopulis- ter rühmt sich als Schließer der Bal- ten erinnern und insistieren, bei einer kanroute und fordert nach australi- möglichen Neuauflage handele es sich schem Vorbild, Bootsflüchtlinge „auf um eine innerösterreichische Ange- einer Insel an der europäischen Gren- legenheit.9 Anders als Schüssel – der ze“7 zu internieren und von dort ab- 2000 als Drittplatzierter den Juniorses- zuschieben. Kurz spricht von „NGO- sel in einer Großen Koalition ausschlug Wahnsinn“, wenn Hilfsorganisationen und sich von der stärkeren FPÖ zum Flüchtlinge retten. Er zollt Viktor Or- Kanzler küren ließ – müsste Kurz da- bán als Beschützer der EU-Außengren- zu jedoch auf Anhieb den Spitzenplatz zen Respekt und setzte ein Verbot von einfahren: Denn die FPÖ unterstreicht Koranverteilungen und Burkas durch. ihre Ambition auf das Kanzleramt nun- Zugleich hat sich Kurz das Image des mehr deutlich. Zwei Jahre lang war sie wirtschaftlichen Modernisierers ver- in den Umfragen stärkste Kraft. passt, der Standortinteressen gegen Was kann einen solchen rechten verkrustete Strukturen – wie die in Ös- Durchmarsch noch aufhalten? Auf das terreich sehr stark institutionalisier- Wagnis einer Mehrheit jenseits von te Sozialpartnerschaft – durchsetzt. Konservativen und Rechtspopulisten Wie tief neoliberal dieses Modernisie- will sich die SPÖ bislang nicht einlas- rungsprojekt ist, zeigt seine jüngste sen. Sie müsste dazu in einem Dreier-

6 Vgl. Claus Heinrich, Österreich: Neutral und 8 „Der Standard“, 6.6.2017. rechts?, in: „Blätter“, 2/2017, S. 17-20. 9 So der zweite Nationalratspräsident Karlheinz 7 „NZZ am Sonntag“, 5.6.2016. Kopf in „Der Standard“, 18.5.2017.

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201707_Blätter.indb 11 21.06.17 11:50 12 Kommentare und Berichte

bündnis regieren: mit den Grünen, die FPÖ war schon immer gegen die „Alt- sich als einzige linke Kraft positionie- parteien“; Grüne und Neos werben für ren, und mit den Neos, die den Platz sich als „Bürgerbewegungen“. der liberalen Reformer besetzen. Das zeigt: Die Ereignisse der letzten Stattdessen scheint man sich aber Wochen markieren nicht nur das Zer- auch eine rot-blaue Koalition offen hal- brechen einer Regierung, sondern eine ten zu wollen. Ausgerechnet der sozial- bedeutende Zäsur. Zentrale Elemen- demokratische Wiener Bürgermeister te der überkommenen Ordnung der Michael Häupl, der das Rathaus noch Zweiten österreichischen Republik ste- 2015 mit einem weltoffenen Wahl- hen zur Disposition. Das betrifft zum kampf gegen die FPÖ verteidigte,10 einen die bündisch-föderale Struk- trat jüngst eine Debatte über eine Mit- tur der beiden großen Parteien, die in gliederbefragung los. Sie soll der SPÖ einem Land ohne Länderkammer vom eine Koalition mit den Freiheitlichen Gewicht etwa des deutschen Bundes- erlauben. Die bestehende Beschluss- rates eine wichtige Funktion hat. Was lage, nach der Koalitionen mit der FPÖ die ÖVP kahlschlagartig abschaffte, ist auf allen Ebenen ausgeschlossen sind, auch in der SPÖ bedroht: Obwohl Kern wollten die Genossen schon lange mit in Abgrenzung zu Kurz zuletzt die Nä- einem offeneren „Kriterienkatalog“ he seiner Genossen suchte, agierte erneuern. Ohnehin fischte die SPÖ in auch er in der Vergangenheit mit sei- der Vergangenheit ebenso wie Kurz im nem Team als starke Leaderfigur über Lager der FPÖ, hat Kern doch Flücht- seiner Partei. So wurde sein „Plan A“, lingsobergrenzen, einen Beschäfti- ein groß angelegtes, neues Programm, gungsbonus für Österreicher und die von keinem Gremium vorher begutach- restriktive Integrations- und Sicher- tet. Wie Kurz kam auch er nach einer heitspolitik der ÖVP umgesetzt. schweren innerparteilichen Krise an So wahrscheinlich eine Regierungs- die Macht, was ihm Freiräume sichert. beteiligung der FPÖ also wirkt, könnte Zum anderen scheint die dauer- ihr eine Konfrontation zwischen Kern hafte Zusammenarbeit von Sozialde- und Kurz schaden: So fällt sie in neu- mokraten und Konservativen in Gro- en Umfragen hinter ÖVP und SPÖ zu- ßen Koalitionen beendet, die seit dem rück.11 Konservative und Sozialdemo- Zweiten Weltkrieg weitaus häufigs- kraten konkurrieren mit den Rechten te Regierungsform in Österreich. War um deren Kerninhalte. Daher sucht die die Regierungskoalition darum bis- FPÖ gegenwärtig noch nach einer neu- her einigermaßen vorhersehbar, kön- en inhaltlichen Linie, mit der rechte nen die Wähler nun einen bedeuten- Wähler bedient werden, ohne bürger- den Machtwechsel herbeiführen: Al- liche zu verschrecken. le Konstellationen sind offen, mit Kurz In jedem Fall wird der kommende und Kern stehen an der Spitze der bei- Wahlkampf ein besonderes Schauspiel den großen Parteien zwei starke Lea- bieten. Denn mittlerweile sind wirklich der mit klar unterschiedenen Moderni- alle gegen das Establishment: Neben sierungsprojekten. Kurz gilt das auch für Kern, der immer Österreich erlebt so die Aufkündi- noch den Klartext redenden Antipoliti- gung seines einstigen politischen Kon- ker mimt, „der regiert und in Opposi- senses. Konkordanz und Ausgleich – tion zum System zugleich steht“.12 Die die traditionellen Werte der Zweiten Republik – sind desavouiert, die Politik 10 Vgl. Raphaela Tiefenbacher, Die FPÖ nach wird polarisierender. Das der Großen Wien: Durchmarsch nur vertagt?, „Blätter“, Koalitionen überdrüssig gewordene 11/2015, S. 17-20. Land könnte das lang herbeigesehnte 11 „Der Standard“, 26.5.2017. 12 Robert Misik, Christian Kern. Ein politisches Ende des Stillstandes nun bekommen – Porträt, Wien 2017, S. 67. fragt sich jedoch, zu welchem Preis.

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Julia Macher Spaniens Sozialisten: Wie Phönix aus der Asche?

Drei Mal hat man bisher in Spanien ver- Mariano Rajoy durch Enthaltung zum sucht, Ministerpräsidenten per Miss- Präsidenten gemacht hatte, zwin- trauensvotum abzusetzen. Erfolg hat- gen, sich ein weiteres Mal auf die Sei- ten die Herausforderer in vierzig Jah- te des ungeliebten Premiers zu stellen, ren Demokratie bisher nicht. Auch das und die Rolle von Podemos als einzig von der linken Protestpartei Podemos wahrer Oppositionspartei – und Re- initiierte Misstrauensvotum gegen den gierungsalternative – unterstreichen. von Korruptions- und Justizskandalen Durch die Enthaltung der Sozialdemo- verfolgten konservativen Premier Ma- kraten ist diese Strategie zwar nicht riano Rajoy Mitte Juni war von Anfang obsolet, aber dennoch empfindlich ge- an zum Scheitern verurteilt. Sicher war schwächt: Zum Sturz des konservati- Podemos-Anführer Pablo Iglesias nur ven Ministerpräsidenten ist die PSOE die Unterstützung von 82 der 350 Ab- zwar auch unter Pedro Sánchez noch geordneten, neben der seiner Partei nicht bereit, aber sie schärft ihr Profil die der katalanischen Linksrepublika- als linke Oppositionspartei. ner, der baskischen Bildu und der va- lencianischen Compromís. Ihnen stand das „Nein“ der Regierungspartei Par- Die Wiederkehr des »Nein-Mannes« tido Popular (PP) und der konservativ- liberalen Ciudadanos sowie der kana- Nach seinem erzwungenen Rücktritt rischen und asturianischen Regional- Ende Oktober hatten die meisten Par- parteien gegenüber. teikollegen Pedro Sánchez, den zwei- Dennoch liefert das Ergebnis eine fach gescheiterten Präsidentschafts- aufschlussreiche Momentaufnahme aus kandidaten, bereits abgeschrieben. Er dem spanischen Parlament. Denn mit hatte sogar sein Mandat zurückgege- 98 Abgeordneten ist der Block der Ent- ben, auf einer tränenreichen Presse- haltungen beachtlich – und größer konferenz, wenige Stunden bevor die als erwartet. Die sozialdemokratische PSOE Rajoy nach einer fast einjährigen PSOE hat sich erst unter ihrem im Mai Blockade durch Enthaltung zum Mi- gewählten, neuen alten Generalsekre- nisterpräsidenten machte. Doch dann tär Pedro Sánchez zu einer Enthaltung begann sein Comeback: Sánchez kün- durchgerungen. Unter seiner Vorgän- digte an, bei den Urwahlen seiner von gerin Susana Díaz hätte die PSOE dem einer Interimsverwaltung geführten Antrag vermutlich eine Absage erteilt. Partei erneut kandidieren zu wollen. Das war durchaus Teil des Kalküls. Als eine Art sozialdemokratischer Don Denn Pablo Iglesias, das kühl berech- Quijote reiste er durch die Provinz, nende und radikal auftretende Enfant warb an der Basis um Unterstützung für terrible des spanischen Parlaments, sein „Nein ist Nein“. Bei den Urwahlen hatte das Misstrauensvotum als me- Ende Mai setzte er sich bei einer his- dienwirksames Instrument zur Bloß- torisch starken Wahlbeteiligung mit stellung der PSOE konzipiert: Es soll- über 50 Prozent überraschend deutlich te die Partei, die den Konservativen gegen seine andalusische Konkurren-

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201707_Blätter.indb 13 21.06.17 11:50 14 Kommentare und Berichte

tin Susana Díaz durch: gegen alle Pro- Wahlen, in denen eine dritte Parla- gnosen und gegen die Eliten der Partei. mentswahl drohte, forcierte die An- Díaz, die das Plazet der ehemaligen dalusierin dann seinen Rücktritt. Mit Ministerpräsidenten Felipe González einer Rückkehr des demontierten Pe- und José Luis Rodríguez Zapatero und dro hätte sie vermutlich als Letzte ge- die explizite Unterstützung der Tages- rechnet. Nun ist Sánchez endgültig aus zeitung „El País“ und der mit ihr ver- ihrem Schatten getreten. bundenen Mediengruppe vorweisen konnte, kam lediglich auf 40 Prozent. Sánchez’ klarer Sieg ist auch ein Symp- Sánchez’ Sinneswandel tom für die Stimmung an der Basis, für die die aus Staatsräson betriebene Der neue alte Generalsekretär versucht De-facto-Unterstützung der Regierung eigene Akzente zu setzen, etwa in der Rajoy wenig glaubhaft ist. Die Reaktio- turnusgemäß wiederaufköchelnden nen auf den Triumph zeigen, wie sehr Katalonien-Debatte. Wie das Gros der das Nachkrisen-Spanien auch über die spanischen Parteien lehnt auch Sán- Parteien hinaus in „Establishment“ chez ein Unabhängigkeitsreferendum und „Basis“ gespalten ist: Während „El ab.2 Allerdings hält er eine Anerken- País“ in einem ungewöhnlich schar- nung von Katalonien als eigene Nation fen Leitartikel den „Brexit der PSOE“ für möglich und will eine verfassungs- prognostizierte, feierten die sozialen ändernde Kommission einberufen. Netzwerke Pedro Sánchez als „Helden Eine mögliche Anerkennung Spaniens des Widerstands“.1 als „plurinationaler Staat“ wäre eine Ohne einen Blick auf persönliche deutliche Erweiterung der bisher be- Befindlichkeiten lässt sich die Ge- wusst schwammig gehaltenen Formel schichte vom Fall und Wiederaufstieg von Spanien als „Nation der Nationali- des Pedro Sánchez nicht verstehen. täten“. Die Forderungen der Hardliner Sánchez ist der politische Ziehsohn unter den Unabhängigkeitsbefürwor- von Susana Díaz. Die mächtige anda- tern würde sie nicht befriedigen, aber lusische Regionalchefin hat ihn als zumindest Bewegung in eine Debatte telegene, schwiegermutterkompatible bringen, in der seit Jahren die gleichen Option aufgebaut, ohne eigenes poli- Positionen aufeinanderprallen. tisches Profil. Vertrauten soll sie Sán- In seinem Strategiepapier „Por una chez mit einem „Er macht, was wir sa- nueva socialdemocracia“ („Für eine gen“ vorgestellt haben. Nach den dop- neue Sozialdemokratie“) setzt Sán- pelten Parlamentswahlen im Dezem- chez deutliche Schwerpunkte bei Kli- ber 2015 und Juni 2016 – mit historisch maschutz und erneuerbaren Energien. schlechten Werten für die Sozialisten Dazu gehören regelmäßige Treffen mit – ging die Beziehung zwischen bei- Vertretern von Umweltschutzorganisa- den zunehmend in die Brüche. Díaz, tionen und die Einrichtung eines eige- deren Regierung in Andalusien von nen Bereichs „Ökologische Transi- der liberalen Bürgerpartei Ciudadanos tion“. Leiten soll ihn Cristina Narbona, gestützt wird, gefiel es gar nicht, dass Umweltministerin während der ersten Sánchez bei der Suche nach alternati- Amtszeit des Ministerpräsidenten Ro- ven Mehrheiten zunächst zu Podemos dríguez Zapatero. Ökologie ist der Be- schielte und nach dem gescheiterten Versuch einer Regierungsbildung mit 2 In einer politischen Erklärung hat der katala- nische Regionalpräsident Carles Puigdemont Ciudadanos immer mehr zum Mann für den 1.10.2017 ein „Unabhängigkeitsrefe- des „Nein bleibt Nein“ wurde. In den rendum” angekündigt. Der rechtliche Rah- quälenden Monaten nach den Juni- men des geplanten „Referendums” ist noch unklar. Die Zentralregierung will eine solche Befragung unterbinden, weil sie gegen die 1 El Bréxit del PSOE, in: „El País“, 22.5.2017. Verfassung verstoße.

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201707_Blätter.indb 14 21.06.17 11:50 Kommentare und Berichte 15

reich, in dem Sánchez dezidiert gewillt die sie bei den letzten beiden Parla- ist, ein Erbe aus dieser Ära anzutreten. mentswahlen an Podemos verloren Ansonsten geht er mit den sozialdemo- hat bzw. die sich der Wahl enthielten. kratischen Ministerpräsidenten hart Diese sechs Millionen Stimmen kön- ins Gericht. Felipe González habe zwar ne man sich nicht zurückholen, indem seinerseits den spanischen Sozialstaat man nach rechts rücke, sondern nur, und José Luis Rodríguez Zapatero Bür- wenn man wieder zu einer klassischen gerrechte erfolgreich ausgebaut. Da- Linkspartei werde, so Sánchez-Berater rüber hinaus sei es ihnen jedoch nicht Manuel Escudero.5 gelungen, ein erfolgreiches Projekt zu „Somos la izquierda“ („Wir sind die entwickeln, ein Manko, das vor allem Linke“) lautet programmatisch das ab der Krise 2008 zu Tage trat. Motto zum kommenden 39. Parteitag. Dem „dritten Weg“ erteilt Pedro Im dazugehörigen Videospot sieht man Sánchez in seinem Strategiepapier eine in schönster Podemos-Manier einen deutliche Absage. Er sei ein grober his- Zusammenschnitt von Demo- und Pro- torischer Fehler gewesen, weil er in der testbildern, dazu tönt es sonor „Wir Praxis eine Annäherung an den Neo- haben euren Ruf gehört“. Wenige Ta- liberalismus bedeutet habe: „Die ex- ge nach Veröffentlichung des Spots zessive Mäßigung der sozialdemokra- schmeichelte der Generalsekretär: tischen Regierungen, ihre Bündnisse „Ich fühle mich den Podemos-Wählern mit den Konservativen […) und der ge- sehr nahe.“ Bei seiner Charmeoffensi- ringe Handlungsspielraum der Sozial- ve unterscheidet Sánchez allerdings demokraten in den europäischen Ins- genau zwischen Basis, also den poten- titutionen“ hätten zur Erosion der So- tiellen Linkswählern, und ihrer Füh- zialdemokratie geführt. Sánchez kriti- rung. Die Thesen und Umgangsformen siert die „vom Neoliberalismus durch- des Parteichefs Iglesias und seiner Rie- gesetzte Austeritätspolitik“.3 ge teile er nicht unbedingt.6 Der Ärger Sánchez’ Sinneswandel ist durchaus über den impertinenten jungen Her- beachtlich. Noch 2015 warf der PSOE- ausforderer, der nach dem ersten Erfolg Chef in einem Interview mit „El País“ frech das Amt des Vizepräsidenten for- Labour-Führer Jeremy Corbyn vor, derte, sitzt bei Sánchez tief. „die Globalisierung nicht verstanden Die Annäherung an die Podemos- zu haben“, und lehnte jede Kritik an Wählerschaft zeigt, dass die PSOE aus der Ähnlichkeit der Maßnahmen kon- den verpassten Chancen gelernt hat servativer und sozialdemokratischer und den Konkurrenten auf der Linken Regierungen ab.4 mittlerweile ernst nimmt. Der Stab um Sánchez hat die Lesart übernommen, nach der Podemos in erster Linie ent- Die Rückeroberung der Jungwähler stand, weil die spanische Sozialdemo- kratie nicht imstande war, den „sozia- Natürlich steckt hinter dem ideologi- len Schmerz der Krisenopfer“ zu ver- schen Wandel auch wahltaktisches stehen.7 Sie deckt sich mit den Analy- Kalkül. Mit der Mischung aus klassi- sen der Wahlforscher. Die Wähler von schen sozialdemokratischen Themen, linker Rhetorik und einem zeitgemä- 5 Escudero: „Podemos no es el enemigo. Ellos ßen Schwerpunkt in Sachen Klima- son nuestros hijos“, in: „Cinco días“, 10.5.2017. schutz und Energiewende will sich 6 Pedro Sánchez se lanza a por el votante de un Podemos que descarta grandes trasvases de die PSOE die Wähler zurückerobern, electorado, 3.6.2017, www.eldiario.es. 7 Neben Pedro Sánchez wird diese Lesart auch 3 Pedro Sánchez, Por una nueva socialdemocra- von Josep Borrell vertreten. Vgl. „Los dirigen- cia, 2/2017, S. 4 f., http://sanchezcastejon.es. tes deberían abstenerse de intentar influir 4 Sánchez se confiesa más próximo al reformiso en los militantes. Son mayorcitos”, 8.5.2017, de Valls que a Corbyn, in: „El País“, 26.10.2015. www.eldiario.es.

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201707_Blätter.indb 15 21.06.17 11:50 16 Kommentare und Berichte

Pablo Iglesias‘ Formation stammen hin gering, die Erinnerungen an den überwiegend aus einer linksliberalen, Modernisierungsschub und die Auf- städtischen Mittelschicht. Sie sind mit bruchsstimmung unter Felipe Gonzá- einem Anteil von 35 Prozent der unter lez nicht relevant und die Partei durch 34jährigen erheblich jünger als die die Krisenerfahrung – der wirtschaft- Wähler der PSOE.8 Diese Klientel traf lichen und politischen des Zweipar- die Krise 2008 besonders abrupt: Auch teiensystems – diskreditiert. Spanien die überdurchschnittlich gute Ausbil- ist somit nicht nur zwischen links und dung garantierte kein Auskommen. rechts, sondern auch zwischen jung Die traditionellen Parteien hatten für und alt tief gespalten. diese Lebensrealitäten nicht die pas- senden Rezepte. Darüber hinaus hat- ten Korruptionsskandale das Vertrau- Podemos in der Defensive en in das politische System Spaniens tief erschüttert. Viele derjenigen, die Aussichtsreicher für die PSOE scheint im Dezember 2015 und Juni 2016 ihr das Werben um die Wechselwähler, je- Kreuzchen bei Podemos machten, nah- ne etwa anderthalb Millionen Spanier, men sogar erstmals an Parlaments- die laut dem Meinungsforschungsins- wahlen teil; viele von ihnen hatten sich titut Sigma Dos im Dezember 2015 von im Zuge der Empörtenbewegung von der PSOE zur linken Alternative wech- 2011 politisiert. selten. Profitieren könnte die PSOE da- In Großbritannien konnte Jeremy bei von den momentanen Befindlich- Corbyn mit klassischen Linksbekennt- keiten beim Konkurrenten. Podemos nissen die jungen Wähler für sich mo- hat viel von seiner Anfangsverve ver- bilisieren. Pedro Sánchez wird das loren, der Flügelstreit zwischen der schwerer fallen, denn in Spanien hat pragmatischen Fraktion um Inigo Erre- dieses Klientel in Podemos eine poli- jón und der eher fundamentalistischen tische Heimat gefunden. Bei den nach Führungsspitze um Pablo Iglesias hat Francos Tod Geborenen sind die emo- die Partei nachhaltig geschwächt. Der tionalen Bindungen zur PSOE ohne- Hoffnungsträger von einst, der einen Großteil seines Erfolgs aus dem Ver- 8 CIS, Barómetro de abril 2016, Estudio Nr. 3134. sprechen einer „neuen Politik“ zog, wirkt inzwischen wie eine ziemlich gewöhnliche Partei. Letzte Umfragen prognostizieren tatsächlich eine Ab- wanderung der Wähler – zu Pedro Sán- chez’ PSOE.9 Ob die PSOE die Begeis- terung über den Neuanfang am Ende tatsächlich in Wahlerfolge ummünzen kann, wird indes maßgeblich von ihrer zukünftigen Performance als Opposi-

© rednuht/Flickr 2.0) BY (CC tionspartei abhängen.

9 Laut einer Befragung der Agentur GAD3 im Auftrag der konservativen Tageszeitung Vor der Krise „ABC“ könnte Podemos bei Neuwahlen 15 Abgeordnete an die PSOE verlieren (Vgl. El ist nach der Krise PP baja, pero sigue primero, y el PSOE recupe- ra un millón de votos de Podemos, in „ABC“, Das Online-Dossier zu 10 Jahren 5.6.2017, www.abc.es). Nach einer Studie der globaler Finanz- und Wirtschaftskrise: Meinungsforscher von Metroscopia, im Auf- trag von „El País“ würden 10 Prozent der Po- 10 »Blätter«-Beiträge für 5 Euro demos-Wähler heute die PSOE unterstützen, vgl. Sánchez arrebata votos a Podemos, crece Ciudadanos y baja el PP, in: „El País“, 4.6.2017.

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201707_Blätter.indb 16 21.06.17 11:50 Kommentare und Berichte 17

Egbert Scheunemann Griechenland: Verordnete Verarmung

Während Angela Merkel nach außen – auf eine Schuldenerleichterung aber und im Wahlkampf – die Europäische mindestens bis nach der Bundestags- Union zur Schicksalsfrage erklärt, neh- wahl warten. men im Innern der EU die Auseinander- Um die Absurdität der bisherigen setzungen wieder zu. Im Brennpunkt „Rettungsversuche“ zu verstehen, hilft steht dabei erneut der Umgang mit zunächst ein Blick auf die bloßen Sum- Griechenland. Die Koalition um Minis- men, die bisher zwischen Gläubigern terpräsident Alexis Tsipras stimmte am und Griechenland geflossen sind: Ad- 19. Mai für ein weiteres Sparpaket, das diert man alle drei bisherigen Hilfspa- als Voraussetzung für neue „Hilfen“ kete, wurde Griechenland ein Kredit- von Griechenlands Gläubigern gefor- rahmen von 368,6 Mrd. Euro gewährt dert wurde. Athen ist darauf angewie- – eine gewaltige Summe, gemessen am sen, weil Rückzahlungen fällig werden, griechischen BIP von 176 Mrd. Euro die aus eigener Kraft nicht gestemmt im Jahr 2015.1 Allerdings wurde die- werden können. Dagegen gab es mas- ser Kreditrahmen bis 2015 nur im Um- sive Proteste vor dem griechischen Par- fang von 215,9 Mrd. Euro ausgeschöpft, lament – Ausdruck einer zunehmend und davon sind weniger als fünf Pro- verzweifelten Gesellschaft. zent, nämlich 10,8 Mrd. Euro, wirklich Doch das ficht die Kanzlerin und Fi- in den griechischen Staatshaushalt ge- nanzminister Wolfgang Schäuble nicht flossen – wohlgemerkt als rückzahlba- an, sie halten an der Austeritätspolitik re, verzinsliche Kredite. Der weit über- fest. Derweil spricht sich Außenminis- wiegende Teil floss entweder in Zins- ter Sigmar Gabriel für eine Schulden- zahlungen, in die Schuldentilgung erleichterung für Griechenland aus bzw. in die Umschuldung – das heißt in – eine Position, die mittlerweile euro- einen Risikotransfer von privaten Ban- paweit zunehmend Zustimmung fin- ken hin zu öffentlichen Trägern (EU, det und schon lange von einem der ent- EZB, IWF, ESM) – oder, jedenfalls teil- scheidenden Gläubiger, dem IWF, be- weise, in die Finanzierung von Anrei- fürwortet wird. Tatsächlich zeigen die zen für private Gläubiger, sich am Um- vergangenen Jahre wie auch die ver- schuldungsprogramm zu beteiligen. heerende gegenwärtige Situation, dass Umgekehrt hat Griechenland im Zeit- die erdrückende Schuldenlast unbe- raum von 2010 bis 2015 aber 52,3 Mrd. dingt vermindert werden muss, damit Euro an Zinsen an seine Gläubiger ge- in Griechenland endlich die lang er- zahlt, vor allem an EU, EZB und IWF. sehnte wirtschaftliche Erholung ein- Bis 2018, wenn das dritte Programm tritt. Diese scheitert bislang am Be- ausläuft, werden es sogar 70,1 Mrd. harren der Gläubiger auf einer sinnlo- Euro sein. Der Saldo des Kapitalflusses sen Kürzungspolitik. Während sie den war und ist für Griechenland also ne- griechischen Staat sanieren sollte, hat gativ – trotz aller „Hilfen“. Damit wird sie stattdessen das Land immer weiter in die Krise gestürzt. 1 Vgl. Egbert Scheunemann, Griechenlands Das ändern auch die Beschlüsse der Staatsbetriebe im Zwangsverkauf. Vom aus- sichtslosen Versuch, die griechischen Staats- Eurogruppe vom 15. Juni nicht: Athen schulden durch Privatisierungserlöse zu sen- erhält zwar weitere Kreditgelder, muss ken, Rosa-Luxemburg-Stiftung Athen 2016.

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201707_Blätter.indb 17 21.06.17 11:50 18 Kommentare und Berichte

deutlich, dass es sich letztendlich um ein weiterer Sozial- und Stellenabbau die Ausbeutung des griechischen Staa- wie auch die Privatisierung staatlichen tes handelt: Diese 70,1 Mrd. Euro Zin- Eigentums, also das Veräußern oder sen entsprechen etwa 40 Prozent des Verpachten von Immobilien und Infra- gesamten griechischen BIP des Jahres struktureinrichtungen. Von den Priva- 2015. Die griechische Bevölkerung hat tisierungen und Haushaltskürzungen quasi die ersten fünf Monate des Jahres erhoffen sich die Gläubiger Service- 2015 nur für die Begleichung der Zins- und Effizienzgewinne, eine Stärkung ansprüche der Gläubiger gearbeitet – der internationalen Wettbewerbsfä- und der Staat hatte danach keinen Cent higkeit Griechenlands sowie steigende weniger Schulden. So ist es letztendlich Steuereinnahmen, die zur Rekapitali- die Bevölkerung, die für die Krise auf- sierung griechischer Banken, zur Til- kommen muss. Das wird vor allem dann gung der Staatsschulden, aber auch für deutlich, wenn man die von den Gläubi- Investitionen genutzt werden sollen. gern gestellten Bedingungen betrach- All dies soll eigentlich dazu führen, tet, die Ursache für den negativen Sal- dass Griechenland „bis 2018 wieder auf do sind. eigenen Beinen steht“, wie Minister- präsident Alexis Tsipras angekündigt hat. Die vergangenen neun Jahre zei- Kollabierende Sozialsysteme gen jedoch, dass das Gegenteil der Fall ist. Weil die Gewährung der Kredit- Diese Bedingungen, die vor allem EU, spielräume an die Durchführung einer EZB und IWF seit 2010 an die Vergabe rigiden Sparpolitik geknüpft war und von Krediten gegenüber der griechi- ist, kam es in Griechenland (zusätzlich schen Regierung geknüpft haben, sind forciert durch die internationale Ban- der zentrale Auslöser für die massiven ken- und Finanzmarktkrise) zu einem Proteste gegen die andauernde Auste- beispiellosen Zusammenbruch der ritätspolitik. An ihnen wird am deut- Wirtschaft: So ist das BIP seit Krisenbe- lichsten sichtbar, welche Opfer die ginn um gut 25 Prozent gesunken, die griechische Bevölkerung für die ver- Arbeitslosigkeit auf bis zu 27 Prozent sprochene Rettung bringen musste und gestiegen und die Staatsschulden sind noch immer bringen muss. um 30 Prozentpunkte auf 176,9 Prozent Dabei geht es in erster Linie um mas- (2015) des BIP gewachsen. sive Haushaltskürzungen vor allem im Das Kollabieren der Sozialsyste- Sozialbereich, wie dem Gesundheits- me führte zu massiver medizinischer und Rentensystem, um einen rigorosen Unterversorgung, Armut und Obdach- Abbau der Zahl der Beschäftigten im losigkeit. So mutet es fast zynisch an, öffentlichen Dienst sowie um eine teil- wenn die EU-Kommission vor dem weise drastische Kürzung der Entgelte Hintergrund dieser verheerenden der verbliebenen Staatsbediensteten. Folgen ihrer Politik betont, sie wol- Auch das jüngst verabschiedete le Griechenland helfen, nachhaltiges Sparpaket steht in dieser Kontinuität: Wachstum, finanzielle Stabilität, neue Um frisches Geld aus Europa zu erhal- Wettbewerbsfähigkeit und niedrige ten, sollen die Renten nochmals um bis Arbeitslosigkeit zu erlangen – mit der zu 18 Prozent gekürzt werden sowie Intention, den Schwächsten der Ge- außerdem der jährliche Steuerfreibe- sellschaft mit Fairness zu begegnen.2 trag von 8636 auf 5700 Euro sinken. Mit Die Apologeten der Austeritäts- Rentnern und Geringverdienern sind politik verweisen in aller Regel auf damit auch diesmal, wie so oft in den die „griechischen Krankheiten“ – wie vergangenen Jahren, die schwächs- ten Glieder der Gesellschaft am här- 2 European Commission, Financial assistance to testen betroffen. Gefordert wird zudem Greece, Brüssel 2016.

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mangelnde internationale Wettbe- siert, so dass dem griechischen Staat werbsfähigkeit der Volkswirtschaft, die sprudelnde Einnahmequellen abhan- staatsbürokratische Ineffizienz oder denkamen. Die – in oft dubiosen Priva- den Schlendrian bei der Steuereintrei- tisierungsverfahren – gezahlten Sum- bung – als Ursachen der Krise. All dies men können nur als Schleuderprei- trifft sicherlich bis zu einem gewissen se bezeichnet werden. Die Gewinne Grade zu und kann erklären, warum für die neuen Eigner, oft Staatsbetrie- sich die griechische Volkswirtschaft be anderer Länder, sind immens, ge- über lange Jahre weit weniger gut ent- nauso wie die Verluste für den griechi- wickelt hat als etwa die deutsche. Es schen Staat. So ging der Betrieb von 14 erklärt aber nicht den schockartigen der insgesamt 37 griechischen Regio- Wirtschaftszusammenbruch, schließ- nalflughäfen an die deutsche Fraport lich haben sich diese „Krankheiten“ AG. Zwar erhielt der frühere staatliche nicht schlagartig verstärkt. Eigner dafür neben zukünftiger Pacht Vielmehr sind die rigiden Sparpro- und Gewinnbeteiligung auch einmalig gramme schuld am Zusammenbruch 1,23 Mrd. Euro. Allerdings entgehen der griechischen Wirtschaft, was in- Griechenland dadurch in den nächsten zwischen selbst vom IWF eingestan- 40 Jahren auch beträchtliche Gewin- den wird. Denn nicht nur die nackten ne. Zudem sollen betriebliche Risiken Zahlen in puncto Wirtschaftswachstum für das Unternehmen durch den Staat und Arbeitslosigkeit sind alarmierend, umfangreich entschädigt werden, et- sondern auch die dahinterliegenden wa im Falle von Streiks oder bei not- Strukturen und Entwicklungen. Im- wendigen Reparaturmaßnahmen. mer mehr junge Griechen verlassen das Für einen Schnäppchenpreis von le- Land auf der Suche nach Arbeit. Dabei diglich rund 368,5 Mio. Euro wurde zu- bräuchte es gerade sie, um das ruinier- dem im letzten Jahr der sehr profitable te Land wiederaufzubauen. Diejeni- Hafen von Piräus, der größte des Lan- gen, die bleiben, flüchten sich dagegen des, an die staatseigene chinesische zum Teil in den oft aussichtslosen Ver- Cosco-Group veräußert. such, mit Hilfe von Subsistenzwirt- Wie bereits die bisherigen betref- schaft zu überleben. Dabei werden sie fen auch die anvisierten zukünftigen außerdem von den massiv gestiegenen Privatisierungen in hohem Maße na- Einkommensteuern für landwirtschaft- türliche Monopole, etwa die Netze liche Betriebe ausgebremst. der Energie-, Wasser- oder Gasversor- gung. Das birgt besondere Risiken für die griechische Bevölkerung, denn Gescheiterte Privatisierungen diese muss bei Monopolen in privater Hand mit erheblichen Preissteigerun- Vollkommen gescheitert ist auch der gen und Serviceverschlechterungen Versuch, der Staatsverschuldung mit- rechnen. Außerdem kann die arbeiten- tels Privatisierungserlösen beizukom- de Bevölkerung zum Opfer von Sanie- men. Bis Ende 2015 wurden nur etwa rungs- und Kostensenkungsprogram- 3 Mrd. Euro eingenommen und bis men werden, etwa in Form von Entlas- 2018 sollen es nur 6 Mrd. Euro sein – sungen oder Lohnkürzungen. winzige Summen, gemessen an den Eines liegt angesichts der anhalten- griechischen Staatsschulden von 314 den griechischen Misere auf der Hand: Mrd. Euro im Jahr 2015 und an den im- Eine derartige Sparpolitik, die zu solch mensen Zinsen, die Griechenland an katastrophalen Ergebnissen geführt seine Gläubiger zahlt. hat, muss fundamental falsch sein. Groteskerweise wurden bislang vor Es ist wirtschaftswissenschaftlich allem profitable, teilweise sogar hoch (und übrigens auch rein logisch) völ- profitable Staatsunternehmen privati- lig unbegreiflich, wie schockartig ver-

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abreichte rigide Sparprogramme eine Damit könnten beispielsweise Pro- Volkswirtschaft, die sowieso schon in gramme umgesetzt werden, die die Ef- einer schweren Krise steckt, auf Wachs- fizienz von defizitären Staatsunterneh- tumskurs bringen sollen. So kann in men und der staatlichen Verwaltung der Wirtschaftsgeschichte kein ein- steigern und diese grundlegend mo- ziger Fall angeführt werden, bei dem dernisieren – mit der Folge verlässli- eine solche Politik nicht immer tiefer in cher Mehreinnahmen durch den Staat die Krise geführt hätte statt aus ihr he- und damit verbunden tatsächlicher raus. Deutschland, das sich seit Jahren neuer Unabhängigkeit von privaten In- als Zuchtmeister geriert, hat nach dem vestoren und den großen Gläubigern. Wirtschaftseinbruch von 2009 eine Nicht – um nur ein Beispiel zu nennen – genau gegenteilige Politik expansi- die Privatisierung der griechischen ver Nachfragestärkung betrieben und Staatsbahn ist die Lösung, sondern ihre damit großen Erfolg gehabt – was die Modernisierung, zum Beispiel nach Haltung des deutschen Finanzminis- dem Muster der staatseigenen Deut- teriums umso grotesker oder, böse ge- schen Bahn. sagt, perfider erscheinen lässt. Bei alle- Zusätzliche Einnahmen könnte das dem wird klar, dass Griechenland nie- Land allerdings darüber erhalten, dass mals ohne eine fundamentale Schul- es die profitablen Trassen- wie Strom- denerleichterung auf die Beine kom- netze für private Bahnanbieter bzw. men wird. Die Forderung des IWF, die beispielsweise Ökostromproduzenten griechischen Staatsschulden mehre- öffnet, ohne sie zu veräußern. Damit re Jahrzehnte lang zins- und tilgungs- könnten die Staatsfinanzen saniert frei zu stellen, ist als erster Schritt völlig oder Sozialeinkommen gestärkt wer- richtig – denn schon das käme einem den, anstatt sie wie bisher immer nur massiven Schuldenschnitt gleich. rigide zu kürzen. Das wären Refor- Worauf die Gläubiger dabei „ver- men, die ihren Namen tatsächlich ver- zichten“ würden, wäre nicht etwas, dienten und hoffnungsvolle Perspek- was sie je gegeben hätten, sondern al- tiven für die Binnennachfrage böten – lein die weitere Ausbeutung der grie- im Gegensatz zu den bisherigen Kür- chischen Bevölkerung durch die Ein- zungsorgien. Auf diese Weise könnte treibung von Zins und Zinseszins – sich die Regierung von Alexis Tsipras denn zu nichts anderem sind die grie- aus der Abhängigkeit von den Gläubi- chischen Staatsschulden über die Jah- gern befreien und in der Tat wieder auf re der Umschuldungen geworden: zu eigenen Beinen stehen. akkumulierten, exponentiell wach- Dass die harte, im Ergebnis kontra- senden Zinseszinsen. Oder anders aus- produktive Linie gegenüber Griechen- gedrückt: Die Griechen zahlen schon land vor allem von Deutschland gefah- seit Jahren „zurück“, was sie nie be- ren wird, kann wohl nur mit dem Ver- kommen haben. Was der griechischen such eines Wählerfangs an deutschen Wirtschaft und damit der griechischen Stammtischen erklärt werden, an Bevölkerung wirklich helfen würde, denen die Mär vom „faulen Griechen“ wäre dagegen das „frische Geld“, von immer noch Hochkonjunktur hat. Wem dem immer gesprochen wird, das aber dagegen in Zeiten einer strauchelnden letztendlich nie tatsächlich in den grie- EU wirklich an einem starken und soli- chischen Haushalt geflossen ist. darischen Zusammenhalt Europas ge- Allein die über 50 Mrd. Euro an Zin- legen ist, der muss sich für ein Ende des sen, die Griechenland seit 2010 an sei- bisherigen Spardiktats aussprechen. ne Gläubiger zahlen musste, wären ein Hic Rhodus, hic salta: In der Frage des gigantisches Konjunkturförderungs- Schuldenschnitts für Griechenland programm geworden und hätten die kommt es zum Schwur darauf, wer ein Staatseinnahmen massiv verbessert. wirklicher Europäer ist.

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Markus Nitschke Ostafrika: Hungerkatastrophe mit Ansage

Als UN-Generalsekretär António Gu- sen – und das, obwohl Afrika beim terres im Februar dieses Jahres vor G20-Gipfel im Juli ganz oben auf der einer Hungersnot in Südsudan, Soma- Agenda steht. Zwar gab es im Früh- lia, Jemen und Nigeria warnte, brach jahr drei große internationale Geber- er damit alle Rekorde: Noch nie zuvor konferenzen in Oslo, Genf und Lon- haben die Vereinten Nationen für vier don, mit Hilfszusagen in jeweils drei- Länder gleichzeitig eine solche War- stelliger Millionenhöhe. Trotzdem nung ausgesprochen. Über 20 Millio- wurde das angepeilte Spendenziel bei nen Menschen seien bedroht. In eini- Weitem verfehlt: Statt der benötigten gen Gebieten im Südsudan war die Ka- 4,4 Mrd. kamen für die vier Hunger- tastrophe zu diesem Zeitpunkt bereits krisen insgesamt nur 1,8 Mrd. US-Dol- eingetreten; in den anderen Fällen lar zusammen. 2 Inzwischen haben die könne das Schlimmste noch verhindert Vereinten Nationen aufgrund der sich werden, so Guterres – zumindest dann, weiter verschärfenden Situation in So- wenn die Geberländer schnell und ent- malia ihren Finanzbedarf noch ein- schlossen handelten. mal nach oben korrigiert – auf 4,9 Mrd. Damit weckt er Erinnerungen an die Dollar. schwere Dürre in Ostafrika von 2011. Damals kamen schätzungsweise über eine Viertelmillion Menschen infolge Finanzierung mit klaffenden Lücken einer Hungersnot in Somalia ums Le- ben. Zuvor hatte die internationale Ge- Die bisherigen Hilfszusagen sind also meinschaft monatelang weggeschaut nur ein erster Schritt: Internationale und Frühwarnungen weitgehend ig- Geber müssen dringend nachlegen. noriert. Als schließlich eine Hilfsak- Gefordert sind in erster Linie die rei- tion anlief, war es bereits zu spät. Das chen Industriestaaten, von denen bis- hat sich allen Beteiligten als „System- lang keiner einen angemessenen Ge- versagen“ der internationalen Hilfe ins samtbeitrag – entsprechend der jewei- kollektive Gedächtnis eingebrannt. ligen Wirtschaftskraft – geleistet hat. „Deswegen schlagen wir heute den Hinzu kommt, dass die von der Alarm, damit wir dieses Mal eine Ka- Trump-Administration vorgesehenen tastrophe tatsächlich noch verhindern Kürzungen im Budget für internatio- können“, so der UN-Nothilfekoordina- nale Hilfe die aktuellen Hilfsplanun- tor Stephen O’Brien.1 gen unberechenbar machen. Traditio- Doch ob genügend Geld zusammen- nell sind die USA der wichtigste Geber kommt, um die erforderliche huma- für das Welternährungsprogramm, die nitäre Hilfe zu finanzieren, ist zwei- amerikanischen Beiträge machen rund felhaft. Denn die bisherige Bilanz der ein Viertel des Gesamtbudgets aus. Geberländer ist äußerst durchwach- Auch bei den aktuellen Hungerkrisen

1 Vgl. United Nations Secretary-General, Full 2 Den Gesamtbedarf für die vier Krisen be- transcript of Secretary-General‘s Joint Press zifferte die UNO auf 5,6 Mrd. US-Dollar. Die Conference on Humanitarian Crises in Ni- 4,4 Mrd. beziehen sich auf Gesundheit, Nah- geria, Somalia, South Sudan and Yemen, rung und Ernährung sowie Wasser-, Sanitär- 22.2.2017. versorgung und Hygieneaufklärung. Vgl. ebd.

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201707_Blätter.indb 21 21.06.17 11:50 22 Kommentare und Berichte

liegen die USA mit Hilfszusagen in Hö- Zwar sind bislang die Preise für Grund- he von fast 550 Mio. US-Dollar an der nahrungsmittel wie Hirse und Mais Spitze, in großem Abstand gefolgt von nicht so stark angestiegen wie bei der Großbritannien und Deutschland.3 Krise von 2011. Das ist unter anderem Sollten die US-Gelder wegfallen, hätte eine Folge der humanitären Hilfe, die das sehr weitreichende Folgen. in den letzten Monaten massiv aus- Gefordert sind aber auch die gro- geweitet wurde. Trotzdem liegen die ßen Schwellenländer, ohne deren Bei- Nahrungspreise noch deutlich über trag der Finanzbedarf nicht gedeckt dem Durchschnitt der letzten fünf Jah- werden kann. Die 51,1 Mio. US-Dol- re. Dass die Krise sich in den nächsten lar, die China beigesteuert hat, sind Wochen entspannt, ist indes unwahr- dabei durchaus eine relevante Grö- scheinlich: Schon in der vorletzten ßenordnung, was man über den bishe- Regenzeit lag die Niederschlagsmen- rigen Beitrag Russlands in Höhe von ge rund 60 Prozent unter dem Durch- nur einer Mio. US-Dollar für die Krise schnitt. Während der letzten Regenzeit im Jemen hingegen nicht behaupten von April bis Juni ist sie noch einmal kann.4 Gelingt es nicht, die benötig- weiter gesunken. Eine Besserung ist ten Gelder zusammenzubekommen, frühestens ab Herbst in Sicht. Deswe- könnte das fatale Folgen zeitigen. gen besteht laut UNO weiterhin das „erhöhte Risiko“, dass in Teilen Soma- lias eine Hungersnot ausbricht.6 Krisenherd Somalia Erschwerend kommt hinzu, dass im- mer mehr Menschen ihre Dörfer ver- Weite Teile Ostafrikas leiden schon lassen, weil sie dort ihre Existenz- jetzt unter einer Dürre: Äthiopien, Eri- grundlage verloren haben, vor allem trea, Kenia, Somalia, Tansania und der ihren Viehbestand. Viele ziehen in Südosten Ugandas. Am größten ist die die größeren Städte oder kommen in Not in Somalia, wo über 6,7 Millionen einer der informellen Siedlungen für Menschen Unterstützung benötigen – Vertriebene unter, in denen die Le- mehr als die Hälfte der gesamten Be- bensbedingungen und Versorgungs- völkerung.5 Für Somalia ist es bereits möglichkeiten jedoch miserabel sind. die dritte schwere Dürre in 25 Jahren. Der Zugang zu vielen Gebieten im Sü- In den letzten Monaten hat sich die Si- den des Landes, in denen die islamis- tuation noch einmal dramatisch ver- tische Al-Schabaab-Miliz präsent ist, schärft: Im ersten Halbjahr 2017 hat ist schwer oder gar nicht möglich. We- sich die Zahl der Personen, die Hunger gen schlechter Hygiene und Mangel leiden, fast verdreifacht, von 1,14 auf an Trinkwasser können sich Krankhei- 3,21 Millionen. Darunter sind, genau ten wie Cholera und Masern rasch aus- wie bei der letzten Dürre, besonders breiten. Die Vereinten Nationen gehen viele Kinder. Laut UNICEF sind 1,4 von 714 000 neuen Binnenvertriebenen Millionen Kinder unterernährt oder seit November 2016 aus, davon allein stehen kurz davor. Mehr als 275 000 131 000 in diesem April. Insgesamt le- Kinder leiden bereits unter schwerer ben derzeit rund 1,8 Millionen Soma- akuter Unterernährung, die eine le- lier in ihrem eigenen Land als Vertrie- bensbedrohliche Gefahr darstellt. bene, darunter ein sehr großer Anteil Kinder, Jugendlicher und Frauen. In 3 Oxfam, Fair Share Analysis: Funding contri- der aktuellen Situation sind Binnenver- buted by G7 members states to UN appeals for Nigeria, Yemen, South Sudan, and Somalia, triebene vermutlich diejenige Gruppe, 18.5.2017. die am stärksten gefährdet ist – nicht 4 OCHA Financial Tracking Service, Stand: 7.6.2017. 6 Vgl. FAO und FSNAU, Somalia Food Security 5 OCHA, Somalia Humanitarian Response Plan Alert, 9 May 2017; OCHA, Somalia Drought Re- Revision, 10.5.2017. sponse Situation Report No. 10, 31.5.2017, S. 2.

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201707_Blätter.indb 22 21.06.17 11:50 Kommentare und Berichte 23

nur wegen Hunger und Krankheiten, ten Sicherheit und Infrastruktur kön- sondern auch wegen zahlreicher ande- nen Hilfsorganisationen viele Gebiete rer Risiken wie Diskriminierung, Aus- nur sehr schwer erreichen, wenn über- beutung, Zwangsrekrutierung, Miss- haupt. Im Februar wurde aufgrund brauch und sexueller Gewalt. dessen in zwei Distrikten im Bundes- Einige tausend Flüchtlinge sind staat Unity die Hungersnot ausgerufen. auch in die großen Camps in den Nach- Zehntausende Menschen hatten sich barländern geflohen, nach Dolo Ado vor Kampfhandlungen in Sumpfgebie- in Äthiopien oder ins kenianische Da- ten in Sicherheit gebracht, wo sie aber daab, das bis vor kurzem weltgrößte von jeder Unterstützung abgeschnit- Flüchtlingslager. Zeitweise lebten hier ten sind. Zwar wurde im Zuge der ak- eine halbe Million Menschen, inzwi- tuellen Hilfsmaßnahmen auch im Süd- schen sind es nur noch knapp 250 000.7 sudan die Verteilung von Nahrungs- Das hängt unter anderem mit der Be- mitteln ausgeweitet, musste aber zwi- mühung der kenianischen Regierung schenzeitlich mehrfach aufgrund von zusammen, die Bewohner zur „freiwil- Kämpfen unterbrochen werden. ligen Repatriierung“ nach Somalia zu bewegen. Auch nachdem der Obers- te Gerichtshof in Nairobi den Regie- Langfristige Hilfe ist nötig rungsbeschluss gestoppt hat, das Da- daab-Camp ganz zu schließen, laufen Die Bedeutung der humanitären Hilfe die Rückführungen nach Somalia wei- wird in Zukunft noch weiter steigen: ter, trotz der aktuellen Dürre. Doch wer Klimaforscher gehen davon aus, dass einmal offiziell nach Somalia zurück- Dürren in Ostafrika künftig häufi- geführt wurde, verliert damit auch sei- ger auftreten und intensiver werden. nen Flüchtlingsstatus in Kenia. Ins- In den letzten 30 Jahren hat sich der gesamt leben in den ostafrikanischen Dürrezyklus aufgrund langfristig stei- Nachbarländern zurzeit immer noch gender Durchschnittstemperaturen über 880 000 somalische Flüchtlinge. und sinkender Niederschlagsmengen Damit handelt es sich um die am längs- schon deutlich verkürzt. Dazu kom- ten anhaltende Flüchtlingskrise in men Wetterturbulenzen wie das Kli- Ostafrika und bis vor Kurzem auch die maphänomen El Niño, das im vergan- Krise mit den meisten Flüchtlingen in genen Jahr eine Dürre in Äthiopien der Region. verursachte, von der über 10 Millionen Inzwischen ist die somalische Kri- Menschen betroffen waren. se allerdings von der Massenflucht aus Entsprechend kommt es neben der dem Südsudan noch übertroffen wor- nach wie vor wichtigen akuten Nothil- den. Über 1,7 Millionen Menschen fe vor allem darauf an, Initiativen zu er- sind von dort mittlerweile vor Kämp- greifen, die die negativen Auswirkun- fen und Hunger geflohen. Anders als gen von Dürren langfristig mindern in Somalia ist hier, ähnlich wie im Je- können, speziell mit Blick auf Men- men und in Nigeria, jedoch keine Dür- schen, die in extremer Armut leben. re, sondern ein brutaler Bürgerkrieg Die kleinbäuerliche und nomadische der Auslöser für die Hungerkrise. Seit Bevölkerung sowie andere marginali- dem Beginn der Kämpfe vor mehr als sierte Gruppen sind von den Folgen der drei Jahren ist die Wirtschaft völlig Dürren am stärksten betroffen. Und zum Stillstand gekommen, mit katas- diese wirken sich nicht nur so lange trophalen Folgen für die Nahrungs- aus, wie die akute Krise andauert, son- mittelproduktion. Wegen der schlech- dern haben langfristige Konsequenzen für die Existenzsicherung. Zu kurze 7 Vgl. UNHCR, Dadaab Bi-Weekly Update, 16.- Intervalle zwischen den Trockenzei- 30.4.2017. ten gefährden die wirtschaftliche Er-

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201707_Blätter.indb 23 21.06.17 11:50 24 Kommentare und Berichte

holung. So hatten viele der Haushal- wird. Doch Programme wie diese set- te in Äthiopien, die unter der aktuel- zen finanzielle Ressourcen voraus, len Dürre leiden, schon im letzten Jahr über die nicht alle betroffenen Länder ihre Vieh- und Erntebestände verloren. verfügen. Während die kenianische Im östlichen Somaliland sind nach und Regierung angesichts des Dürre-Not- nach ganze Viehherden verendet. De- stands im Frühjahr aus dem eigenen ren Besitzer haben dadurch ihre Le- Budget 99 Mio. US-Dollar für die Hil- bensgrundlage vollständig verloren fe aufbrachte – und damit fast die Hälf- und hoffen jetzt in Camps für Binnen- te des erforderlichen Gesamtbedarfs8 – vertriebene auf Hilfe. gibt es solche finanziellen Spielräume Deswegen sind Maßnahmen wich- in Somalia nicht. Hier könnte interna- tig, die vor und während einer Dür- tionale Hilfe ansetzen und gerade die re die besonders gefährdeten Bevöl- Länder unterstützen, die dies aus eige- kerungsgruppen gezielt unterstüt- ner Kraft nicht können. Bislang jedoch zen, damit sie Krisen besser überste- ist von solchen Initiativen nichts zu er- hen können. Viele afrikanische Länder kennen. Stattdessen hat die Bundesre- haben das erkannt und in den letzten gierung nun mit handverlesenen Län- Jahren ihre Kapazitäten in diesem Be- dern – den „Reformchampions“ Gha- reich auf- oder weiter ausgebaut. Da- na, Elfenbeinküste und Tunesien – Re- zu zählen nicht nur solche für Katas- formpartnerschaften beschlossen, um trophenvorsorge und Nothilfe im enge- dort die Bedingungen für private In- ren Sinn, sondern auch der Ausbau der vestitionen zu verbessern. Profitieren Trinkwasserversorgung, die Auswei- werden davon am Ende voraussichtlich tung spezieller Programme zur Unter- vor allem deutsche Unternehmen. stützung gefährdeter Gruppen oder die Derweil setzen Länder wie Soma- Verbesserung von Hunger-Frühwarn- lia auf andere Ressourcen: Als der da- systemen. Zudem hat die Regional- malige somalische Präsident Hassan organisation Intergovernmental Autho- Scheich Mohammed im letzten No- rity on Development (IGAD) eine stär- vember angesichts der Dürre die inter- kere Rolle bei der Koordinierung regio- nationale Gemeinschaft zur Hilfe auf- naler Initiativen zur Katastrophenvor- rief, appellierte er gleichzeitig an die sorge und Dürreprävention eingenom- Solidarität seiner im Ausland lebenden men. Und tatsächlich sind heute vie- Landsleute, Geld für die Bekämpfung le Länder in der Region besser gegen der Dürre zu überweisen. Über eine Dürren und deren Auswirkungen ge- Million Somalier leben und arbeiten wappnet als noch vor sechs Jahren. im Ausland, hauptsächlich in den USA, Äthiopien beispielsweise legte an- den Golfstaaten und Europa. Von dort gesichts der El-Niño-Dürre im vergan- aus überweisen sie regelmäßig Geld genen Jahr das größte Hilfsprogramm an ihre Angehörigen und Familien in gegen die Dürrefolgen auf, das es dort Somalia. Diese Rücküberweisungen jemals gab. Zudem existiert in Äthio- aus der somalischen Diaspora sind ein pien ein Programm für Haushalte, die wichtiger Wirtschaftsfaktor in Somalia; unter chronischer Nahrungsmittelun- laut Weltbank machen sie sogar 23 Pro- sicherheit leiden: Im Gegenzug gegen zent des gesamten Bruttonationalein- Arbeitsleistungen erhalten die Teil- kommens aus. In Zeiten von Dürre und nehmer Nahrungsmittel und Bargeld- Hunger werden solche privaten Trans- zuschüsse, um Ernährungsengpässe in fers unverzichtbar – doch eine Hunger- der Trockenzeit besser zu überstehen. katastrophe verhindern können sie al- Kenia verfügt über ein ähnliches Pro- lein nicht. gramm, bei dem die in extremer Armut lebende Bevölkerung im Norden durch 8 Vgl. OCHA, Horn of Africa: A Call for Action, regelmäßige Barzuschüsse unterstützt February 2017, S. 14.

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201707_Blätter.indb 24 21.06.17 11:50 Kommentare und Berichte 25

Thomas Müller-Färber Atomwaffen: Geächtet, nicht gebannt

Die 1980er Jahre scheinen nicht nur Dabei haben sie viele Argumente auf in der Mode, sondern auch sicher- ihrer Seite: Alles spricht für eine atom- heitspolitisch ein Revival zu erfahren waffenfreie Welt. Denn Kernwaffen – zumindest, was Atomwaffen betrifft. töten massenhaft und unterschieds- Derzeit erleben wir eine „nukleare Re- los sowohl Kombattanten als auch Zi- naissance“, die teilweise an die Zeiten vilisten. Sie widersprechen somit den des Kalten Kriegs erinnert. Alle Atom- Grundsätzen des humanitären Völker- waffenstaaten modernisieren ihre nu- rechts. Zudem würde ihr Einsatz mas- klearen Arsenale und bauen diese zum sive soziale, wirtschaftliche und öko- Teil sogar aus. Ein atomarer Schlag- logische Schäden verursachen, unter abtausch – der seit den frühen 1990er denen auch zukünftige Generationen Jahren lange nur noch in abgedrehter noch zu leiden hätten. So befürchten Weltuntergangs-Science-Fiction auf- Forscher verschiedener Fachrich- tauchte – ist wieder zu einer nicht gänz- tungen, dass die Explosion von etwa lich unwahrscheinlichen Bedrohung 50 Atombomben unser Klima so stark geworden. Daran wurde die Weltge- verändern würde, dass es zu einer meinschaft beispielsweise beim verba- neuen Eiszeit kommen könnte. Über- len Schlagabtausch zwischen US-Prä- dies ist das Instrument der nuklearen sident Donald Trump und Nordkoreas Abschreckung alles andere als stabil Machthaber Kim Jong-un erinnert. und verlässlich. In der Geschichte des In dieser bedrückenden Situa- 20. Jahrhunderts gibt es eine Reihe tion kommt aus New York ein starkes von Vorfällen, die aufgrund von Fehl- Gegensignal. Ende März 2017 haben einschätzungen leicht zum Einsatz von sich am Sitz der Vereinten Nationen Atomwaffen hätten führen können (et- rund 130 Staaten zusammengefun- wa die Kubakrise 1962 oder das Mili- den, um ein verbindliches Verbot von tärmanöver Able Archer 1983). Ob das Atomwaffen auszuhandeln. Aktuell sogenannte Gleichgewicht des Schre- läuft die zweite Verhandlungsrunde. ckens wirklich dafür verantwortlich Bis Mitte Juli soll ein völkerrechtlicher war, dass der Kalte Krieg nicht „heiß“ Vertrag vorliegen, der Nuklearwaf- wurde, lässt sich nicht schlüssig bele- fen ausnahmslos und umfassend äch- gen. Vielmehr gibt es eine Reihe guter tet. Die Verhandlungen werden unter- Gründe, an dieser oft behaupteten si- stützt von einer Vielzahl von Nichtre- cherheitspolitischen Grundannahme gierungsorganisationen sowie weiten zu zweifeln.1 Teilen der internationalen Zivilgesell- Auch wenn sich die Verhandlungen schaft. Sie wollen damit ein deutliches aufgrund von Meinungsunterschie- Signal vor allem an die großen Atom- den in Detailfragen noch hinziehen mächte senden, deren nukleare Abrüs- könnten und weitere Verhandlungs- tung – entgegen ihren Versprechen – runden notwendig werden, bezweifelt in jüngerer Vergangenheit kaum Fort- kaum jemand, dass die aktuelle Initia- schritte gemacht hat. Zudem setzen tive für ein Atomwaffenverbot in naher sie auf den großen symbolischen Wert einer völkerrechtlichen Ächtung von 1 Vgl. James E. Doyle, Why Eliminate Nuclear Atomwaffen. Weapons, in: „Survival“, 1/2013, S. 7-34.

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201707_Blätter.indb 25 21.06.17 11:50 26 Kommentare und Berichte

Zukunft Erfolg haben wird. Bald wer- handlungen fernzubleiben. Angesichts den Atomwaffen also nahezu weltweit einer Bevölkerung, die ganz überwie- geächtet sein. gend die vollständige nukleare Abrüs- tung befürwortet, ist die Entscheidung für den Boykott ausgerechnet in Wahl- Das Desinteresse der Atommächte kampfzeiten eine schwere Hypothek.

Doch all diese wichtigen Argumente und der positiv stimmende Ausblick Vage Aussichten auf Abrüstung können leider nicht darüber hinweg- täuschen, dass die Initiative für ein Auch wenn die Atomwaffenkonven- weltweites Kernwaffenverbot vor un- tion von zwei Dritteln der Staatenge- übersehbaren Schwierigkeiten steht. meinschaft getragen wird, bringt sie Die Aussicht, dass mit Hilfe des am deshalb leider auf absehbare Zeit kei- East River verhandelten Verbotsver- nen greifbaren sicherheitspolitischen trags tatsächliche Fortschritte bei Mehrwert. Da alle neun Kernwaffen- der nuklearen Abrüstung und damit staaten dieser Initiative ferngeblieben konkrete sicherheitspolitische Effek- sind, wird durch den Vertrag allein te erzielt werden, ist bestenfalls vage. keine einzige Atombombe abgerüstet. Denn ausgerechnet die Atommächte Genauso wenig ändern sich die zen- boykottieren die Verhandlungen – so- tralen Bedingungen, die Staaten da- wohl Russland und die USA als auch zu veranlassen, Massenvernichtungs- alle anderen sieben Nuklearwaffen- waffen zu erwerben – insbesondere staaten (China, Frankreich, Großbri- reale oder eingebildete Bedrohungen tannien, Indien, Israel, Nordkorea und der nationalen Sicherheit. Alle ande- Pakistan). ren Staaten – die sogenannten nuklea- Mit Ausnahme der Niederlande ren Habenichtse – sind ohnehin schon nimmt zudem kein Nato-Staat an den jetzt durch zahlreiche überlappende Gesprächen teil – auch Deutschland Vertragswerke auf den Verzicht von nicht. Das Gleiche gilt für einige ande- Atomwaffen verpflichtet. Neben dem re Staaten aus Osteuropa und Zentral- Vertrag über die Nichtverbreitung asien sowie dem pazifischen und ost- von Kernwaffen (NVV) reicht die Liste asiatischen Raum wie Australien oder einschlägiger völkerrechtlicher Ver- Südkorea. Sie versprechen sich offen- einbarungen von Exportkontroll-Ab- bar wie die West- und Mitteleuropäer kommen über Regelungen der in Wien Schutz von den Atomstaaten und ge- ansässigen Internationalen Atomener- hen dafür erhebliche Risiken ein. Die gie-Organisation bis hin zu Kernwaf- europäischen Nichtkernwaffenstaa- fenfreien Zonen, die für große Teile der ten haben sich mit ihrer Ablehnung der Welt gelten. Atomwaffenkonvention in eine histori- Die Verhandlungen zum Verbots- sche Zwickmühle manövriert. Gerade vertrag ähneln also aller Euphorie zum für die Bundesrepublik stellt der Boy- Trotz einer Runde überzeugter Vege- kott der Initiative ein Novum dar. Bis- tarier, die feierlich den Fleischverzicht her hat sie bei allen wichtigen multi- vereinbaren. Damit lässt die Initiati- lateralen Abrüstungsinitiativen enga- ve für die Atomwaffenächtung das di- giert mitgewirkt und sich als Vorreiter plomatische Grundprinzip außer Acht, in diesem Feld verstanden. Aus Bünd- demgemäß jene, die von den Ergebnis- nissolidarität mit den Atommächten sen betroffen sind, möglichst auch an und den anderen Nato-Staaten, aber den Verhandlungen beteiligt sein sol- auch angesichts der offenkundigen len. Offenkundig würde nukleare Ab- Schwächen der Verbotskonvention hat rüstung zuallererst die Atommächte sich Berlin dafür entschieden, den Ver- betreffen. Auch im Falle eines Atom-

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201707_Blätter.indb 26 21.06.17 11:50 Kommentare und Berichte 27

waffeneinsatzes wären aller Wahr- wjetunion) – bei den Verhandlungen scheinlichkeit nach neben den Kern- zum Bio- und Chemiewaffen-Überein- waffenstaaten in erster Linie Nord- kommen eine ganz maßgebliche Rolle. amerika, Europa und Ostasien betrof- So wäre etwa ohne die Entscheidung fen – also jene Regionen, in denen die von Präsident Richard Nixon vom No- Verbotsinitiative zwar durch die Zivil- vember 1969, einseitig auf Biowaffen gesellschaft, aber nicht auf staatlicher zu verzichten, deren völkerrechtliche Ebene Unterstützung erfährt. Ächtung kaum denkbar gewesen. Angesichts dieser offenkundigen Die Verhandlungen über das Verbot Schwäche hoffen die Initiatoren, dass von Antipersonenminen und Streumu- die Verbotskonvention zumindest zum nition wiederum fanden ebenfalls oh- Völkergewohnheitsrecht avancieren ne die Großmächte statt und wurden wird – sie sich also zu einer universel- vom starken Engagement der interna- len Rechtsnorm entwickelt. Sie verwei- tionalen Zivilgesellschaft begleitet. sen dabei beispielsweise auf das Ver- Doch auch hier hinkt der Vergleich. bot von Folter oder Sklaverei, das auch Streumunition und insbesondere Anti- für all diejenigen Staaten Geltung hat, personenminen gelten als die „Mas- die dazu keinen Vertrag unterschrie- senvernichtungswaffen der kleinen ben haben. Aber Völkergewohnheits- Leute“, weshalb sehr viele Staaten die- recht entsteht bestenfalls über rela- se Waffen in ihren Arsenalen hatten. tiv lange Zeiträume hinweg und setzt Anders als bei der aktuellen Initiative ein großes Maß an Einigkeit innerhalb zur Atomwaffenkonvention leisteten der Staatenwelt voraus. Diese Bedin- bei diesen beiden Verbotsverträgen gungen sind bislang bei der Atomwaf- daher mittlere und sogar kleine Staa- fenächtung nicht gegeben. Die Grup- ten einen unmittelbaren Beitrag zur pe jener, die betroffen, aber nicht be- Abrüstung. teiligt sind, ist zu groß und viel zu bedeutend. Ächtungskampagne mit Risiken

Hinkende Vergleiche Soll die Atomwaffenkonvention tat- sächlich konkret zur Abrüstung bei- Zwar gab es in der Vergangenheit eine tragen, ist also ein Kurswechsel der Reihe von Völkerrechtskonventionen, Atommächte und ihrer Alliierten er- durch die besonders inhumane Waffen forderlich. Staatliche und zivilgesell- ausnahmslos verboten wurden. Befür- schaftliche Befürworter dieser Initia- worter der derzeitigen Verhandlungen tive versuchen deshalb, diese Akteure in New York verweisen hierbei auf die mit Hilfe politisch-moralischer Kampa- Ächtung von Bio- und Chemiewaffen gnen unter Druck zu setzen. oder die Verbotsverträge für Antiper- Zumindest mittelfristig ist jedoch sonenminen und Streumunition. Doch nicht zu erwarten, dass die Atommäch- abgesehen von der Tatsache, dass die- te aufgrund einer Stigmatisierungs- se Waffen wie Atomwaffen gegen die kampagne ihren Kurs ändern werden. Grundsätze des humanitären Völker- Auch ihre Alliierten in Europa und rechts verstoßen, bestehen bei Entste- Asien werden ihren Boykott kaum auf- hung und Wirkung dieser Konventio- geben. In Zeiten wachsender geopoli- nen deutliche Unterschiede. tischer Spannungen haben Atomwaf- Denn anders als beim aktuellen Ver- fen als ultimative Rückversicherung botsvertrag spielten die beiden Staaten in den Augen vieler einfach schlicht mit den größten offensiven chemischen zu sehr an Bedeutung gewonnen. Egal und biologischen Waffenprogrammen ob mit Blick auf Russland, China oder – die USA und Russland (bzw. die So- auch Nordkorea, nukleare Abschre-

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201707_Blätter.indb 27 21.06.17 11:50 28 Kommentare und Berichte

ckung soll gegen externe Aggressoren wenn die wachsenden Spannungen schützen – eine gewagte Strategie, die unter den NVV-Mitgliedern für eine schnell zu extremer Eskalation führen produktive diplomatische Arbeit nutz- kann. bar gemacht werden können. Doch ge- Zudem birgt das Vorhaben der poli- rade dafür wäre an vorderster Stelle tisch-moralischen Stigmatisierung ei- eine Wiederbelebung der klassischen nige Risiken: So könnten die Bemü- Rüstungskontrolle und Nichtverbrei- hungen um die Atomwaffenächtung tungsdiplomatie zentral. die Spaltung der 190 Mitgliedstaaten des NVV vertiefen. In den vergange- nen Jahren haben sich hier vielfälti- Das Bohren dicker Bretter ge Zwistigkeiten aufgetan, die über den grundsätzlichen Disput zwischen Beide Instrumente beruhen auf der Atomwaffenbesitzern und Nichtkern- Idee, die unmittelbar betroffenen waffenstaaten hinausgehen. Dieser Konfliktparteien in einen Aushand- Vertrag bildet aber derzeit das zentra- lungsprozess zu bringen. Anders als le völkerrechtliche Referenzwerk für beim Verbotsvertrag klaffen hier die nukleare Abrüstung, mag er auch we- Teilnahme an Verhandlungen und gen der De-facto-Legitimierung der die Betroffenheit von Verhandlungs- großen Atommächte unbefriedigend ergebnissen nicht auseinander. Zudem sein. versucht die klassische Abrüstungsdi- Auch steht zu befürchten, dass die plomatie nicht, nukleare Abrüstung in Freude, die sich sicherlich bald über einem großen idealen Wurf zu errei- den errungenen Vertrag einstellen chen. wird, angesichts der geringen realen Vielmehr handelt es sich um das Erfolgsaussichten schnell in Kater- vielzitierte mühselige Bohren von di- stimmung umschlägt. Der Elan und die cken Brettern. Wenn ausreichend Wille große Begeisterung, die diese Initiati- und Ausdauer vorhanden sind, können ve weltweit ausgelöst hat, drohen da- aber durchaus greifbare Abrüstungs- mit verloren zu gehen, und die Resig- erfolge erzielt werden, wie eine gan- nation über die langsame Abrüstung ze Reihe konkreter Beispiele belegt: könnte weiter anwachsen – sehr zum So ist zwar die aktuelle Zahl von mehr Schaden aller Abrüstungs- und Rüs- als 15 000 Atomwaffen weltweit immer tungskontrollvorhaben. noch sehr hoch. Andererseits wurden Schließlich wird im Dienste politisch- die nuklearen Arsenale seit Mitte der moralischer Stigmatisierung oft ein all- 1980er Jahre bereits um fast 80 Prozent zu düsteres Bild der aktuellen Situation reduziert. Und angesichts der Tatsa- gezeichnet. Damit aber werden die tat- che, dass seit Ende des Zweiten Welt- sächlichen Erfolge der klassischen Rüs- kriegs knapp 40 Staaten ernsthaft über tungskontrolle und der Nichtverbrei- die Entwicklung einer militärischen tungsdiplomatie verschleiert. Nuklearfähigkeit nachgedacht und Trotz alledem sind die Bemühungen zum Teil aktive Atomwaffenprogram- um den Verbotsvertrag insgesamt zu me betrieben haben, ist es bemerkens- begrüßen. Denn ohne Zweifel fordert wert, dass es heute „nur“ neun Atom- die Atomwaffenkonvention die eta- waffenstaaten gibt. blierten Strukturen der Weltpolitik zu- Wenn es also gelingt, den derzeit mindest symbolisch heraus. Sie könn- diskutierten Verbotsvertrag für der- te damit ein wichtiger Impulsgeber artige diplomatische Initiativen nutz- für konkrete Abrüstungsbemühungen bar zu machen, dann wären die Ver- sein, auch wenn diese nicht direkt zu handlungen in New York ein wichtiges einer nuklearwaffenfreien Welt füh- symbolisches Vorhaben und alles an- ren. Das wird aber nur dann gelingen, dere als vergebens.

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201707_Blätter.indb 28 21.06.17 11:50 Kommentare und Berichte 29

Georgia Palmer Foodora & Co.: Die Revolte der neuen Dienstbotenklasse

Umweltfreundlich, qualitätsbewusst, öffentliche Debatte findet. An die Stel- hipp: So präsentieren sich die Essens- le von festen Arbeitszeiten treten dabei lieferdienste Foodora und Deliveroo einzelne Aufträge („gigs“) oder kurze ihren Kunden. Eine Flotte von Fahr- Schichten, die ganz nach Bedarf der radkurieren liefert für sie europaweit jeweiligen Unternehmen kurzfristig Gerichte von den laut Eigenwerbung vergeben werden; stabile Mitarbeiter- „besten Restaurants“ ohne eigenen strukturen weichen beständig hoher Lieferdienst direkt nach Hause oder Fluktuation. So werden nicht nur un- ins Büro. Das erfolgt komplett CO2- mittelbar prekäre Arbeitsbedingun- neutral und vor allem in maximal 30 gen geschaffen: Mittelbar erschwert Minuten. Ihren Fahrern wiederum ver- die Kombination aus Prekarisierung sprechen Foodora und Co. Flexibilität, und Digitalisierung auch strukturell guten Lohn und die Aufnahme in ein die gewerkschaftliche Organisierung. junges, dynamisches „Start-up-Team“. Seit einiger Zeit aber bekommt die- ses Bild Risse. Vor etwa einem Jahr gin- Digitale Dienstboten gen Fahrer in Großbritannien zum ers- ten Mal gegen Deliveroo auf die Stra- Die Arbeitsabläufe bei Foodora und ße. Seitdem formiert sich europaweit Deliveroo sind beinahe vollständig di- Widerstand gegen beide Unterneh- gitalisiert. Der Schichtplan wird über men: Von Marseille über Wien bis nach eine Online-Plattform erstellt; über die Leeds entsteht gerade ein loses Netz- Vergabe der einzelnen Schichten ent- werk aus Kampagnen, die für grund- scheidet ein Algorithmus. Wenn Fahrer legende Arbeitsrechte und bessere nicht genügend Arbeitsstunden zuge- Arbeitsbedingungen kämpfen. Auch teilt bekommen – was derzeit die Re- in Berlin fiel vor wenigen Wochen der gel ist –, suchen sie unentgeltlich über Startschuss einer solchen Kampagne dieselbe Plattform oder in WhatsApp- mit dem Namen #deliverunion. Fahrer Gruppen nach freien Schichten. Auch beider Unternehmen organisieren sich die Kommunikation mit dem Büro ver- hier erstmals gemeinsam. läuft teilweise digital und oft anonym. Ihre Kritik: Im Namen der Flexi- Diese Digitalisierung von Kommuni- bilität unterwandern Deliveroo und kation und Organisation macht einen Foodora arbeitsrechtliche Mindest- gemeinsamen Arbeitsraum größten- standards. Hinter ihrem freundlichen teils überflüssig. Auch die Kunden von Image verbirgt sich knallharte Kalku- Foodora und Co. müssen ihren Schreib- lation zulasten der Beschäftigten. Zu- tisch überhaupt nicht mehr verlassen sammen mit Uber, Amazon und Co. und können nach Feierabend auf dem stehen die beiden Start-ups damit für Sofa sitzen bleiben. So verstärkt das eine Entwicklung, die unter Schlag- Angebot der Lieferdienste die Verein- worten wie „Gig-Economy“, „Arbeit zelungseffekte in der Gesellschaft und auf Abruf“ und „Plattform-Kapita- trägt noch dazu zum wachsenden Berg lismus“ zunehmend Eingang in die von Verpackungsmüll bei.

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201707_Blätter.indb 29 21.06.17 11:50 30 Kommentare und Berichte

Um überhaupt für eines der beiden ohnehin schon nicht eben risikoarmen Unternehmen arbeiten zu können, be- Großstadtverkehr werden Fahrer also nötigt man neben einem Fahrrad ein regelrecht dazu angehalten, sich zu- Smartphone der neueren Generatio- sätzlich in Gefahr zu bringen. Insge- nen, denn der Arbeitsalltag wird von samt bedeuten diese Bedingungen für einer App bestimmt. Diese übermit- Fahrer eine hohe psychische und phy- telt den jeweils aktuellen Standort der sische Belastung und große finanzielle Fahrer. Jede Schicht beginnt mit dem Unsicherheit. Log-in in die App; einloggen kann sich nur, wer sich im vorgesehenen Startge- biet befindet. So wird das Smartphone Marke »Start-up« zur digitalen Stechuhr. Während der Schichten ist es wiederum ein Algo- Für Foodora und Deliveroo ist die Digi- rithmus, der die online eingehenden talisierung dagegen Geschäftsmodell. Essensbestellungen den Fahrern zu- App, Webseite und Algorithmen sind teilt. im Wesentlichen das, was sie zur Wert- Die App misst auch die Leistung der schöpfungskette beisteuern. Sie bieten Kuriere. Auf dieser Grundlage erstel- damit eine Plattform, über die Bestel- len Foodora und Deliveroo Statistiken lungen zwischen Restaurants, Fahrern zum Beispiel über Durchschnittsge- und Kunden vermittelt werden. Dafür schwindigkeit – sowohl beim Fahren lassen sie sich bezahlen: Etwa 30 Pro- als auch beim Treppensteigen – und zent des Umsatzes erhalten sie von den die durchschnittliche Anzahl der aus- Restaurants als Provision, eine Liefer- gefahrenen Bestellungen pro Stunde. gebühr in Höhe von 2,50 Euro von den Der Lohn der Fahrer hängt teilweise Kunden. Ihre digitalen Dienstboten be- von ebendiesen Statistiken ab. Wäh- zahlen sie zwar selbst, doch ein Groß- rend Foodora früher am Wochenende teil der Kosten für deren Arbeitsmittel und an Feiertagen regulär einen Euro – Fahrrad und Smartphone – wird wie- mehr pro Stunde bezahlte, gibt es in- derum an die Fahrer ausgelagert. zwischen ein sogenanntes leistungs- Seit der Gründung von Foodora in basiertes Bonussystem. Wer im Mo- München 2014 und von Deliveroo in natsdurchschnitt mehr als 2,2 Liefe- London 2013 schreiben die weltweit rungen pro Stunde schafft und min- agierenden Unternehmen mit diesem destens 20 Stunden pro Monat am Wo- Geschäftsmodell dennoch rote Zahlen. chenende arbeitet, erhält rückwirkend Ähnlich wie im Fall des Fernbusunter- einen Euro zusätzlich für jede in die- nehmens Flixbus1 besteht ihr unter- sem Monat gearbeitete Stunde. Für die nehmerisches Konzept darin, den je- „freien Mitarbeiter“ bei Deliveroo da- weiligen Konkurrenten in einem erbit- gegen gibt es inzwischen überhaupt terten Preisunterbietungswettbewerb keinen festen Stundenlohn mehr, son- vom Markt zu verdrängen2 und sich so dern nur noch etwa fünf Euro je ausge- in Monopolstellung zu bringen. Die- lieferter Bestellung. se Strategie ist nur durch langfristige, Nun hängt die Anzahl der pro Stun- sehr risikoreiche Investitionen über- de ausgefahrenen Bestellungen einer- haupt möglich.3 Investoren aber erwar- seits natürlich nur sehr bedingt mit ten Rendite – und je größer das Risiko, der Leistung der Fahrer zusammen; desto größer auch die Erwartung. schließlich haben sie keinen Einfluss darauf, wie viele Bestellungen ihnen 1 Vgl. Fernbusmarkt: Flixbus der Monopolist, zugeteilt werden. Andererseits ent- www.manager-magazin.de, 16.5.2017. steht durch die Koppelung des Lohnes 2 Diese Strategie ist teilweise schon aufgegan- gen: Der Essenslieferdienst Take Eat Easy zog an diese Anzahl ein enormer Druck, sich bereits 2015 vom deutschen Markt zurück. möglichst schnell zu fahren. In dem 3 Vgl. „Die Zeit“, 8.6.2017.

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201707_Blätter.indb 30 21.06.17 11:50 Kommentare und Berichte 31

Das führt dazu, dass beide Unterneh- tem. Zunächst einmal wird die Forde- men einem doppelten Preisdruck aus- rung nach existenzsichernden Arbeits- gesetzt sind: Einerseits müssen sie ihre bedingungen entschärft, wenn es sich Preise niedrig halten, um im Konkur- bei der Arbeit lediglich um einen „Zu- renzkampf bestehen zu können; ande- verdienst“ handelt. De facto aber ist rerseits brauchen sie (perspektivisch) die Kuriertätigkeit die Haupt- oder so- große Gewinnmargen, um ihre Inves- gar die einzige Einnahmequelle vieler toren nicht zu verärgern. Fahrer.4 Dennoch wird die Flexibilität Dieser doppelte Preisdruck wird an zur Rechtfertigung des geringen Lohns die Fahrer weitergegeben. Das passt herangezogen. Hinzu kommt, dass zur Rhetorik der Unternehmen: Sie ge- auch in puncto Flexibilität die Interes- rieren sich als kleine „Start-up-Teams“, sen der Arbeiter denjenigen des Unter- die um ihr Überleben kämpfen, und nehmens diametral entgegenstehen. suggerieren, die Fahrer seien Teil die- Die Rechnung ist simpel: Gibt es mehr ser „Teams“. Stets freundlich teilen sie Schichten als Fahrer, können sich die- ihren Beschäftigten in regelmäßigen se ihre Arbeitszeit flexibel und selbst- Abständen weitere Verschlechterun- bestimmt einteilen. Ist das Verhältnis gen der Arbeitsbedingungen mit. Die- dagegen umgekehrt, entsteht ein Kon- se „Team“-Rhetorik impliziert, dass kurrenzkampf um Schichten, der dem Lohnkürzungen oder die Abschaf- Unternehmen in die Hände spielt. Um fung von Wochenend-, Feiertags- und eine ausreichende Anzahl an Stun- Regenzuschlägen lediglich kurzfristi- den arbeiten zu können – und damit ge Nachteile seien, die die Fahrer zum ein existenzsicherndes Einkommen Wohle des Unternehmenswachstums zu haben –, müssen die Fahrer dann doch sicher in Kauf nähmen. Schließ- nämlich ständig auf Abruf sein und je- lich machten sie ihren Job ja gerne – de Schicht annehmen, die sie kriegen und wollten ihn nicht verlieren. können. So werden sie aus Unterneh- Mit dieser Kombination aus Zucker- menssicht zu einer flexibel einsetzba- brot und Peitsche setzen Foodora und ren Masse an Arbeitskraft; die Opti- Co. ihre Fahrer nicht nur unter Druck; mierung der Arbeitsabläufe ist damit sie verschleiern auch die fundamental garantiert. Auch hier ist also wieder entgegengesetzte Interessenlage der eine Verlagerung des Unternehmens- Arbeiter auf der einen und der Investo- risikos auf die Arbeiter zu beobachten, ren und Manager auf der anderen Sei- die hinter dem Trugbild der Flexibilität te. Denn während Erstere das Unter- verschwimmt. nehmensrisiko (mit-)tragen, indem sie auf gerechten Lohn „verzichten“ und ihre Arbeitsmittel selbst stellen, wer- Prekäre Organisation den die Profite ausschließlich an die In- vestoren zurückfließen. Die Hürden für die Beschäftigten, sich Ein weiterer wesentlicher Bestand- in diesem Umfeld gewerkschaftlich teil der Marke „Start-up“ ist die Fle- zu organisieren, sind extrem hoch. xibilität. Wer für die digitalen Liefer- Es gibt weder einen gemeinsamen dienste arbeite, genieße größtmögliche Arbeitsplatz noch eine gemeinsame Freiheit in der Einteilung der Arbeits- Arbeitszeit, die Kollegen auch nur ken- zeit; für viele biete dieser Job deshalb nenzulernen ist also schon schwierig. die Möglichkeit, sich ganz flexibel ein paar Euro dazuzuverdienen, so die Ar- 4 So sind in Berlin nur etwa 40 Prozent der Foo- gumentation der Unternehmen. dora-Fahrer auf Minijob-Basis angestellt; Doch die Realität der Fahrer hat 60 Prozent dagegen haben Verträge, die einen monatlichen Verdienst von bis zu 850 Euro nur sehr wenig mit diesem Narrativ oder mehr vorsehen (Midi-, Werkstudenten- zu tun. Und diese Diskrepanz hat Sys- oder Vollzeitverträge).

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201707_Blätter.indb 31 21.06.17 11:50 32 Kommentare und Berichte

Schlechte Arbeitsbedingungen und Fahrraddemo am 18. Mai bei Foodo- körperliche Belastung führen zudem ra die ersten E-Mails von Kunden ein, dazu, dass die wenigsten länger als die erklärten, sie würden aufgrund der ein Jahr für Foodora oder Deliveroo schlechten Bedingungen kein Essen arbeiten. Hinzu kommt, dass keines mehr bei den Lieferdiensten bestellen. der beiden Unternehmen ihren Fah- Trotz erheblicher Schwierigkeiten rern wirkliche Perspektiven bietet, ist das neue digitale Prekariat also kei- so dass viele frustriert kündigen, an- neswegs unorganisierbar. Um den neu- statt sich für bessere Bedingungen in en Formen der Ausbeutung etwas ent- diesem Job einzusetzen. Andererseits gegenzusetzen, sind aber neue Strate- gibt es Beschäftigte, die sich keine ho- gien nötig. Wenn das Smartphone die hen Chancen auf dem Arbeitsmarkt moderne Stechuhr ist, dann müssen ausrechnen können und deshalb aus Online-Plattformen und Nachrichten- Angst vor Kündigung davor zurück- Apps (und seien es vorerst WhatsApp schrecken, gewerkschaftlich aktiv zu und Facebook) zum digitalen Treff- werden. Dies gilt in Berlin in beson- punkt der Arbeiter werden. Wenn die derem Maße für junge Menschen, die Imagekampagnen der Unternehmen erst vor Kurzem zugezogen sind und zunehmend über soziale Netzwerke deren Deutschkenntnisse für die meis- laufen, wird man ihnen mit Flugblät- ten anderen Berufe noch nicht ausrei- tern allein nicht viel entgegensetzen chen. Sie sind zudem oft unsicher, was können. In Branchen, in denen Men- ihre Arbeitnehmerrechte hierzulande schen oft innerhalb weniger Monate angeht. Schließlich gibt es noch die- eingestellt und wieder gekündigt oder jenigen, bei denen Start-up-Rhetorik erst gar nicht fest angestellt werden, und neoliberales Leistungsdenken braucht es zwar gerade belastbare Or- verfangen; sie hoffen eher auf eine Ver- ganisationsstrukturen. Solche Struk- besserung ihrer individuellen Lage, turen müssen dann aber ihrerseits fle- als für strukturelle Veränderungen zu xibel und durchlässig genug sein, um kämpfen. diese hohe Fluktuation auszuhalten. Dennoch sind sowohl die Unzufrie- Das ist wahrscheinlich einer der denheit als auch die Solidarität der Gründe, warum sich die Kurierfahrer Fahrer untereinander groß. Schon im in kleineren Gewerkschaften organi- Vorfeld der gemeinsamen Kampagne sieren – statt, wie in Berlin auf den ers- begannen Fahrer beider Unterneh- ten Blick vielleicht näherliegend, Verdi men, sich über WhatsApp zu organisie- beizutreten. Nach einem erfolgreichen ren. Bereits zur Auftaktveranstaltung „wilden Streik“ der Deliveroo-Fahrer in Berlin Ende April erschienen dann mit Unterstützung der Gewerkschaft über hundert Menschen. Seitdem sto- International Workers of the World in ßen auf jedem Organisationstreffen der London im August 2016 wandten sich #deliverunion neue Beschäftigte dazu, Fahrer beider Unternehmen in Ber- auch die Anzahl der Gewerkschafts- lin an deren Schwestergewerkschaft, mitglieder wächst stetig. Die europa- die Freie Arbeiterinnen und Arbeiter weite Vernetzung der Kurierfahrer und Union (FAU). Hier hoffen sie, die nötige das wachsende Interesse der media- Flexibilität und Internationalität zu fin- len Öffentlichkeit an den Arbeitsbe- den, um bessere Arbeitsbedingungen dingungen nicht nur bei Foodora und gegen die ihrerseits international agie- Deliveroo, sondern in der „Gig-Econo- renden „Start-ups“ durchzusetzen. Ob my“ insgesamt, geben der Kampagne sie damit Erfolg haben werden, bleibt zusätzlichen Schwung. Auch in Ber- abzuwarten. Fest steht allerdings lin geraten beide Unternehmen bereits schon jetzt: Für ihren Arbeitskampf in diesem frühen Stadium zusehends werden die Fahrradkuriere einen lan- unter Druck. So trafen infolge einer gen Atem brauchen.

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201707_Blätter.indb 32 21.06.17 11:50 DEBATTE

Israel: Kein Frieden ohne Sicherheit

In der Juni-Ausgabe der »Blätter« vertrat Heiko Flottau die Ansicht, der Sechstagekrieg habe nicht nur die fortwährende Landnahme durch jüdi- sche Siedler auf palästinensischem Territorium, sondern auch den stetig wiederkehrenden Kriegen im Nahen Osten den Boden geebnet. Doch diese Darstellung ist einseitig und ignoriert leichtfertig israelische Sicher- heitsbedürfnisse, kritisiert vehement der Historiker Marcel Serr.

Heiko Flottau verkürzt die historischen mit der Einberufung der Reserve. Das Folgen des Sechstagekrieges auf ein Land konnte sich die Mobilmachung einseitiges, antiisraelisches Zerrbild. und den damit verbundenen wirt- Das beginnt schon bei seiner Darstel- schaftlichen Stillstand jedoch nicht lung von Israels Unabhängigkeitskrieg lange leisten. Außerdem bot Israel in 1948. So stellt er fest, dass die Grün- den Grenzen von 1948 so wenig strate- dung Israels den Nahen Osten gewalt- gische Tiefe, dass es die Kampfhand- sam verändert habe, unterschlägt al- lungen schnellstmöglich auf gegne- lerdings, dass es die arabischen Staa- risches Territorium tragen musste. ten waren, die den Krieg durch ihren Kurzum: Der Präventivangriff auf die Angriff vom Zaun brachen. Ihr Ziel ägyptische Luftwaffe war überlebens- war die territoriale Expansion: Ägyp- wichtig für Israel. Mit Blick auf die ten eroberte den Gazastreifen und syrische und jordanische Front han- Jordanien das Westjordanland. Beide delte Israel gänzlich aus der Defensive, Länder dachten nicht daran, diese Ge- denn seine Streitkräfte reagierten erst, biete den Palästinensern zu überge- als Syrien und Jordanien das Feuer ben. Vielmehr unterdrückten sie deren eröffnet hatten. Mit anderen Worten: nationale Bestrebungen ebenso wie Der Sechstagekrieg war ein israeli- deren wirtschaftliche Entwicklung. scher Selbstverteidigungskrieg. Auch den Ausbruch des Sechstage- krieges skizziert Flottau irreführend. Er bezeichnet Israels Präventivschlag » Der Sechstagekrieg war ein israeli- als „völkerrechtlich zweifelhaft“ – scher Selbstverteidigungskrieg. « ohne den Angriffskrieg der Araber von 1948 als zweifellos völkerrechtswidrig zu benennen. Doch war Israels präven- Bei den Folgen des Sechstagekrieges tiver Luftangriff auf Ägypten unge- verschweigt Flottau, dass die Erobe- rechtfertigt? rung der Sinaihalbinsel und deren Sicherlich nicht. Israel sah sich mit Rückgabe der israelischen Regierung einem Dreifrontenkrieg konfrontiert die Möglichkeit gab, im Jahr 1979 und reagierte auf den ägyptischen Frieden mit Kairo zu schließen. Ohne Truppenaufmarsch (100 000 Mann Ägypten als militärisch stärkstem Ak- und 900 Panzer) verständlicherweise teur waren die arabischen Nachbar-

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201707_Blätter.indb 33 21.06.17 11:50 34 Marcel Serr

staaten zu direkten Angriffen auf Israel matischen Krieg gegen Israel führen, nicht mehr in der Lage. Seither kam es außerdem eine NGO, die offen zum daher zu keinem israelisch-arabischen Boykott Israels aufruft, und schließlich Staatenkrieg mehr. Der Nahe Osten ist John Kerry, der in seinen naiven Ver- eben komplexer, als Flottaus Plattitüde handlungsversuchen wenig Kenntnis „Krieg gebiert Krieg“ suggeriert. des Nahen Ostens zeigte. Auch die anderen Eroberungen aus dem Sechstagekrieg müssen differen- zierter beurteilt werden. Israel annek- » Es ist Unsinn, Israels Politik als tierte in der Folge dieses Waffengangs ›Apartheid‹ zu bezeichnen. « aus strategischen Gründen die Golan- höhen (1981) und aus religiös-histori- schen Gründen Ost-Jerusalem (1980). Zweifelsohne kämpft Israel mit harten Beide Annexionen werden internatio- Bandagen gegen Aufständische und nal nicht anerkannt, sind aber in Israel Terroristen in der Westbank, doch das populär. Der strategische Nutzen der ist nur die halbe Wahrheit. Im krassen Golanhöhen erweist sich angesichts Gegensatz zur jordanischen Herr- des syrischen Bürgerkriegs derzeit schaft sorgte Israels Präsenz dort für allzu deutlich. einen signifikanten Modernisierungs- Die Altstadt Jerusalems wiederum schub. beherbergt mit der Klagemauer und Unter israelischer Anleitung führ- dem Tempelberg die heiligsten Orte ten die arabischen Bauern moderne des Judentums. Gleichzeitig ist der Impfungen für Nutztiere, Bewässe- Haram ash-Sharif der drittheiligste rungssysteme und landwirtschaftliche Ort des Islam und nationales Symbol Gerätschaften ein. Darüber hinaus der Palästinenser. Kein Wunder also, bewirkte die Öffnung des israelischen dass die gerade einmal einen Quadrat- Arbeitsmarktes für Palästinenser einen kilometer große Altstadt im Zentrum erheblichen Rückgang der Arbeitslo- des israelisch-palästinensischen Kon- sigkeit und einen wirtschaftlichen Auf- flikts steht. schwung in der Westbank. Der ebenfalls besetzte Gazastreifen Erst die palästinensischen Auf- hatte dagegen wenig strategischen stände und Terroranschläge führ- Wert für Israel. 2005 entschied sich der ten zur verstärkten Abgrenzung der damalige Premierminister Ariel Scha- Gebiete. Doch in den letzten Jahren ron daher zum vollständigen Rückzug. sind die Bedingungen bei weitem nicht Bei den Wahlen zum palästinensi- mehr so strikt wie vom Autor beschrie- schen Parlament 2006 fuhr die Hamas ben. Viele Checkpoints und die Abrie- jedoch einen überraschenden Sieg ein. gelung von Straßen werden nur in Zei- Der folgende palästinensische Bürger- ten sicherheitspolitischer Spannungen krieg führte zur Machtergreifung der betrieben. Hamas im Gazastreifen. Seither terro- Auch deswegen ist es schlichtweg risiert die islamistische Organisation Unsinn, Israels Politik als „Apartheid“ Israel von dort mit Raketenangriffen. zu bezeichnen. Die israelischen Maß- Im Gegensatz dazu betrachtete nahmen sind nicht rassistisch begrün- Israels Führung das Westjordanland det, sondern sicherheitspolitisch. Als von Anfang an als sicherheitsrelevant. Beleg genügt ein Blick auf die israe- Flottau allerdings dämonisiert die dor- lischen Araber, die rund 20 Prozent tige israelische Präsenz. Als Kronzeu- der Bevölkerung stellen und selbst- gen dienen ihm die Vereinten Natio- verständlich die vollen Bürgerrechte nen, die aufgrund der antiisraelischen genießen. Über die Effektivität und Mehrheit in der Generalversammlung moralischen Implikationen von Israels seit 1948 einen beispiellosen diplo- Terrorismusbekämpfung kann man

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201707_Blätter.indb 34 21.06.17 11:50 Israel: Kein Frieden ohne Sicherheit 35

trefflich streiten, doch der absurde ten sich bestätigt. Flottau bezeichnet Apartheid-Vorwurf ist nichts als ein Israels Präsenz in der Westbank als billiger Delegitimationsversuch. völkerrechtswidrig und lässt dabei die Zudem zog sich Israel im Rahmen Vorgeschichte des Westjordanlandes der Oslo-Abkommen sukzessive aus außer Acht. Zuletzt war dessen Zuge- dem Großteil des Gazastreifens sowie hörigkeit im britischen Mandatsgebiet aus den palästinensischen Bevölke- Palästina zweifelsfrei geregelt (1922 rungszentren in der Westbank zurück, bis 1948). wo die neu geschaffene Palästinen- sische Autonomiebehörde (PA) unter Jassir Arafat die Macht übernahm. » Das Westjordanland kann nicht als Heute verwaltet die PA weitgehend von Israel besetztes Gebiet gelten. « unabhängig 40 Prozent der Westbank mit über 90 Prozent der palästinen- sischen Bevölkerung. Die restlichen Die UNO empfahl im November 1947, 60 Prozent stehen unter israelischer das Mandatsgebiet in einen jüdischen Kontrolle. Derzeit leben dort rund und einen arabischen Staat zu teilen. 380 000 Israelis zum Großteil in Sied- Doch einen Tag nach der Ausrufung lungsblöcken. Diese Siedlungen neh- des Staates Israel schritten fünf ara- men lediglich 1,7 Prozent der Westbank bische Länder zum Krieg. Jordanien ein. Entgegen Flottaus Behauptung besetzte die Westbank in einem völ- sind sie insofern kein „unmögliches“ kerrechtswidrigen Angriffskrieg und Friedenshindernis. annektierte sie 1950, was internatio- Dem Frieden steht etwas ganz ande- nal nicht anerkannt wurde; 1988 gab res im Weg: In der Zeit nach den Oslo- Amman die territorialen Ansprüche Abkommen kam es zu verheerenden schließlich auf. palästinensischen Terroranschlägen, Insofern kann das Westjordanland die hunderte Israelis das Leben kos- nicht als von Israel besetztes Gebiet teten. Der damalige Regierungschef gelten, da es zuvor nicht der recht- Ehud Barak drängte auf ein Gipfel- mäßigen Souveränität eines anderen treffen mit Arafat – entgegen eindeu- Staates unterstand. Es handelt sich tiger Warnungen, dass dieser nicht dabei vielmehr um ein umstrittenes an einem Kompromiss interessiert Territorium, auf das sowohl Israel als war und ein Scheitern der Gespräche auch die Palästinenser Ansprüche für eine gewaltsame Eskalation miss- erheben. Die Klärung dieser territoria- brauchen würde. Barak jedoch setzte len Streitigkeit obliegt bilateralen Ver- alles auf eine Karte und schlug bei handlungen der Konfliktparteien. den Verhandlungen in Camp David Darüber hinaus ist der häufig vorge- im Juli 2000 vor, sich aus den palästi- brachte Verweis auf Art. 49 der 4. Gen- nensischen Gebieten zurückzuziehen fer Konvention, der es einer Besat- und lediglich einen kleinen Teil der zungsmacht untersagt, die eigene Westbank zu annektieren, wofür die Bevölkerung in das besetzte Gebiet zu Palästinenser mit Land kompensiert transferieren, in diesem Fall unzutref- würden; Jerusalem sollte geteilt wer- fend. Diese Regelungen entstanden den. Er ging damit so weit wie kein unter direktem Eindruck der NS-Bevöl- israelischer Premierminister vor ihm. kerungspolitik und beziehen sich auf Arafat hingegen lehnte ohne Gegen- gewaltsame Umsiedlungen. Dies lässt vorschlag ab. Wenige Wochen später sich nur schwer mit der freiwilligen wurde der Besuch Ariel Scharons auf Ansiedlung von Israelis vergleichen. dem Tempelberg zum Auslöser der Schließlich gilt zu berücksichtigen, Zweiten Intifada – die Befürchtungen dass die Oslo-Abkommen kein Verbot von Israels Sicherheitsdiensten hat- des Siedlungsbaus vorsehen. Vielmehr

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201707_Blätter.indb 35 21.06.17 11:50 36 Marcel Serr

kamen die Konfliktparteien überein, schwer vorhersehbar: Wer wird in die Problematik der Siedlungen und einer zukünftigen palästinensischen Grenzen in einem finalen Friedensab- Entität regieren? Angesichts der von kommen zu regeln. Zweifelsohne spie- Korruption, Nepotismus und Macht- len religiös-nationale Überzeugungen missbrauch geprägten Regierung von eine wichtige Rolle bei Israels Präsenz Mahmud Abbas muss Jerusalem damit in der Westbank. Doch im Kern geht es rechnen, dass die Hamas auch in der um Sicherheit – konkret: Israels Stre- Westbank die Macht ergreifen und ben nach Grenzen, die im Falle eines ähnlich wie im Gazastreifen Israels Angriffs eine effektive Verteidigung Zivilbevölkerung mit Raketen terrori- zulassen. Angesichts des militärischen sieren könnte. Übergewichts der arabischen Nach- barstaaten braucht Israel einen güns- tigen Grenzverlauf, der topografische » Nur wenn Israels legitime Sicher- und taktische Vorteile bietet. Daher heitsbedürfnisse berücksichtigt ist eine Rückkehr zur „Grünen Linie“ werden, kann es einen nachhaltigen des Waffenstillstands von 1949 sicher- Frieden geben. « heitspolitisch inakzeptabel für Israel, da sie keine strategische Tiefe bietet. So beträgt beispielsweise die Distanz Nur wenn Israels legitime Sicherheits- zwischen der Westbank und der dicht bedürfnisse berücksichtigt werden, besiedelten israelischen Mittelmeer- kann es einen nachhaltigen Frieden küste an der schmalsten Stelle nur geben. Dabei sind drei Punkte aus is- 14 Kilometer. raelischer Sicht entscheidend: Erstens Die historischen Hintergründe für ist die israelische Kontrolle des Jor- die besondere Sensibilität Israels in dangrabens ein strategischer Impera- Sicherheitsfragen liegen auf der Hand. tiv, um einerseits das Eindringen von In der Schoah stand das jüdische Volk Kämpfern und Waffen zu verhindern vor der Vernichtung, drei Jahre spä- und andererseits eine optimale topo- ter kämpfte der junge jüdische Staat graphische Verteidigungslinie zu hal- gegen eine arabische Übermacht um ten. Eine zukünftige palästinensische sein Überleben. Es folgten ein Drei- Entität muss, zweitens, demilitarisiert frontenkrieg 1967, ein Überraschungs- sein. Und drittens wird Israel die gro- angriff 1973 im Jom-Kippur-Krieg und ßen Siedlungsblöcke annektieren, da unzählige Terroranschläge bis heute. sie ein Minimum an strategischer Tiefe Darüber hinaus sind die politischen gewährleisten. Entwicklungen im Nahen Osten nur Flottau schiebt allein Israel die Schuld für den ausbleibenden Frie- den in die Schuhe. Er ignoriert dabei geflissentlich, dass es auf palästinensi- scher Seite keinen verlässlichen Part- ner gibt. Mittlerweile ist der 82jährige Abbas politisch zu schwach, um ein Friedensabkommen intern durchset- zen zu können. Außerdem sind die palästinensischen Gebiete zweigeteilt. Ein Friedensschluss mit der PA in der Trumps Welt Westbank würde sicherlich nicht für die Hamas im Gazastreifen gelten. Das Dossier auf www.blaetter.de – Damit ist der israelisch-palästinensi- 23 »Blätter«-Beiträge für nur 7,50 Euro sche Konflikt in der Tat weit von Frie- den entfernt.

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201707_Blätter.indb 36 21.06.17 11:50 KOLUMNE

Schlacht um Katar Von Rami G. Khouri

Seit Wochen herrscht ein offener Kon- Ländern und Völkern zu spielen wie mit flikt zwischen Saudi-Arabien und den einer Handvoll Knete. Mit einer seriö- Vereinigten Arabischen Emiraten sen Analyse dessen, was realistischer- (VAE) auf der einen Seite und Katar auf weise erwartet werden kann, hat sie der anderen Seite. Dieser Streit führt zu jedenfalls wenig zu tun. weiteren bedeutenden Entwicklungen Bei näherer Betrachtung stoßen wir und regionalen Dynamiken im Mittle- indes auf bemerkenswerte neue poli- ren Osten, wo die Lage ohnehin vieler- tische Dynamiken und Akteure in der orts dramatisch ist – vor allem im Jemen, arabischen Welt, die über mehrere hun- in Syrien, im Irak, in Libyen und in den dert Jahre von kolonialen Verstrickun- Palästinensergebieten. Ein genauerer gen, Staatsbildung und ausländischen Blick auf jeden einzelnen dieser Kon- Militärinterventionen geprägt war. Wie flikte verweist unweigerlich auf andere auch immer die Konflikte zwischen Ka- Brandherde. Erneut zeigt sich, wie stark tar und dem GCC, in Syrien, im Jemen die vielen Akteure und Probleme mitei- und in Libyen gelöst werden – in ihnen nander verbunden sind. Aus diesen Ver- sehen wir den Beginn einer neuen Ära strickungen ist bereits viel Gewalt und aufscheinen. Sie hatte einen Vorlauf von Unsicherheit in der arabischen Region einem Vierteljahrhundert, nämlich seit entstanden. dem Ende des Kalten Krieges um 1990. Daher sollten wir nicht nur einen dieser Konflikte untersuchen, sondern einen Schritt zurücktreten und größere Eine neue Ära historische und politische Muster iden- tifizieren, mit deren Hilfe wir die betei- Um eine neue Ära handelt es sich auf- ligten Akteure und Probleme verstehen grund verschiedener neuartiger Ent- können. Insbesondere der jüngste Streit wicklungen. Da haben wir, erstens, das zwischen Katar und dem Golf-Koopera- Phänomen, dass zwei sehr kleine und tionsrat (GCC) hat heftige Spekulatio- sehr junge arabische Staaten – Katar nen über entstehende neue Allianzen und die VAE – militärisch und politisch ausgelöst. Am häufigsten genannt wird weit größere regionale und globale Rol- dabei ein mögliches Bündnis zwischen len spielen, als es ihre Geographie und Katar, Iran, der Türkei und Russland. Es Demographie normalerweise nahe- könnte einer Gruppe aus einem halben legen würden. Zweitens sehen wir ein Dutzend Ländern entgegentreten, die Spektakel, bei dem sich verschiedene von Saudi-Arabien und den VAE ange- reiche, energieerzeugende arabische führt wird und sich gegen Katar aufge- Staaten wie Saudi-Arabien und die VAE stellt hat. gegen einen dritten, Katar, zusammen- Obwohl im heutigen Mittleren Osten rotten und dabei Belagerungstaktiken nichts ausgeschlossen werden kann, re- einsetzen, die Chaos in der Region an- flektiert diese Vorstellung einer augen- richten. Sie versuchen, diesen Staat blicklichen Allianzbildung jedoch eher ihrem Willen zu unterwerfen – obwohl die westliche Tradition, mit arabischen sie jahrzehntelang bemüht waren, mit

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201707_Blätter.indb 37 21.06.17 11:50 38 Kolumne

dem GCC einen regionalen Block zu listischer Militärstaaten in Syrien, dem schaffen, der Stabilität und Sicherheit Irak, dem Jemen und anderswo. über alles andere stellt. Dabei kommt Diese Akteure und ein paar kleinere es, drittens, zur direkten militärischen, kämpfen nun offen darum, die Identi- strategischen, politischen und ökono- tät und Politik der arabischen Länder zu mischen Beteiligung zweier nicht-ara- prägen. Es ist unwahrscheinlich, dass bischer Regionalmächte: der Türkei einer oder zwei von ihnen einen voll- und Iran. Beide partizipieren sowohl ständigen Sieg erringen und die Region am Streit als auch an der Suche nach dominieren wird wie einst die imperia- Lösungen. Und viertens ist die Rolle der len Mächte. Viel eher werden die meis- zwei großen Weltmächte zu nennen – ten von ihnen in unbehaglichen Waffen- die Vereinigten Staaten und Russland ruhen koexistieren. Die Region würde –, die für eine Verhandlungslösung der dann zu einer Entwicklungsphase ohne Konflikte zwischen Katar und dem GCC Krieg zurückkehren, die jenes sozio- sowie in Syrien werben, bei ihren Kern- ökonomische Wachstum ermöglicht, botschaften aber oft auch ärgerlich un- das die grundlegenden menschlichen präzise sind. Bedürfnisse befriedigt – und so andau- ernde Sicherheit und Stabilität schafft. Das Bemerkenswerteste an dieser Si- Die arabischen Aufstände von 2011 tuation ist, dass der einfache arabische Bürger nicht zu den mächtigen Kräften Bei diesen vier Phänomenen gilt es zwei gehört, die um Seele und Souveränität wichtige Punkte zu beachten: Ihre größ- der arabischen Region kämpfen – was ten Auswirkungen und ihre größte Klar- leider seit Jahrhunderten der Fall ist. heit erreichten sie zum einen in den ver- Eines Tages – wer weiß, wann – wird es gangenen sechs Jahren seit den arabi- jedoch zur letzten Schlacht der moder- schen Aufständen von 2010/11, obschon nen arabischen Ära kommen. Sie wird ihre Wurzeln bis in die Jahre nach dem den Willen der Bürgerschaft bezeugen, Kalten Krieg reichen. Und zum anderen die lähmende Macht autokratischer lo- umfassen sie ein relativ klares Tableau kaler Eliten und ausländischer Kräfte von Akteuren, Identitäten und Ideolo- zu überwinden, die hunderte Millionen gien, die nun offen darum kämpfen, der Männer, Frauen und Kinder über hun- arabischen Region ihren Stempel aufzu- derte von Jahren unterworfen haben. drücken, sei es durch staatliche Politik Die arabischen Aufstände von oder durch große nicht-staatliche Ak- 2010/11 deuteten eine solche Möglich- teure wie die Hisbollah und die Hamas. keit bereits an, aber sie wurden bald von Diese bedeutenden Kräfte konkur- lokalen und ausländischen autokrati- rieren nun um Seele, Geist und Souve- schen Kräften niedergeworfen. Eben- ränität der arabischen Region und ihrer jene Kräfte sind in der Katar-Krise nun vielen kleineren Komponenten. Den noch deutlicher zutage getreten. folgenden Akteuren sollte dabei unsere Aufmerksamkeit gelten: ausländischen © Agence Global Großmächten (bislang die USA und Übersetzung: Steffen Vogel Russland); nicht-arabischen Regional- mächten (bislang Iran und Türkei); dem Arabismus, trotz seines verblassten Zu- stands; der Islamismus, auch wenn er bezwungen ist; einem im Öl veranker- ten materialistischen Patriarchat (die Energieproduzenten und von ihnen Ab- hängige wie Ägypten) und den Über- bleibseln ehemals sozialistisch-nationa-

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201707_Blätter.indb 38 21.06.17 11:50 KURZGEFASST

Bernie Sanders: »Stehen Sie nicht abseits: Demokratie ist kein Zuschauer- sport!«, S. 41-48

Die Trump-Regierung plant massive Kürzungen im Sozialstaat und Steuer- vergünstigungen für Milliardäre. Das aber verschärft die ohnehin drama- tische soziale Spaltung in den USA, so der ehemalige demokratische Präsi- dentschaftsbewerber Bernie Sanders. Gerade die Jugend müsse sich gegen diese oligarchischen Bestrebungen zur Wehr setzen – nicht nur in den USA.

Claus Leggewie: Frankreich oder: Die Renaissance der »zweiten Linken«, S. 49-54

Angesichts der Machtfülle des neuen Präsidenten Emmanuel Macron beschwören manche schon das Schreckensbild einer autoritären Versu- chung herauf. Das aber ist ein Trugschluss, so der Politikwissenschaftler Claus Leggewie: Macron ist ein europäisch denkender Erneuerer in libertä- rer Tradition – und eröffnet damit auch der Linken neue Spielräume.

Hauke Brunkhorst: Europa am Abgrund: Zwölf Jahre Merkel, S. 55-62

Angela Merkel fordert angesichts der unberechenbaren Außenpolitik Donald Trumps die Selbstbehauptung Europas. Doch diese Strategie droht an ihrer eigenen Politik zu scheitern, warnt der Soziologe Hauke Brunk- horst. Denn ihr rigoroser Austeritätskurs verschärft das ökonomische Machtgefälle innerhalb der EU und befördert so deren Spaltung.

Wolfgang Zellner: Eine Welt in Unordnung. Der Rückzug der USA und die globale Multikrise, S. 63-70

Seit dem Austritt der USA aus dem Klimaabkommen steht fest: Der Multi- lateralismus ist in der Krise. Doch diese Krise ist nur eine von vielen, ana- lysiert der Friedensforscher Wolfgang Zellner. Das Atomwaffenprogramm Nordkoreas, die Instabilität der EU und der Konflikt in der Ukraine sind Ausdruck einer komplexen globalen Multikrise, die es einzudämmen gilt.

Nadja Ziebarth: Ein Meer aus Plastik: Die Vermüllung unserer Ozeane, S. 71-78

Die schiere Masse des in die Umwelt beförderten Plastiks übersteigt mitt- lerweile jegliche Vorstellungskraft. Fischernetze, Tüten und Verpackungen

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201707_Blätter.indb 39 21.06.17 11:50 40 Kurzgefasst

sind nur die Spitze des maritimen Müllbergs. Vor allem Mikroplastik scha- det den Meeren wie den Menschen, warnt die Leiterin des BUND-Meeres- schutzbüros, Nadja Ziebarth. Nur wenn die Politik entschieden handelt, lässt sich diese schleichende ökologische Katastrophe noch aufhalten.

Christa Wichterich: Der neue Businessfeminismus, S. 79-85

Niemand Geringeres als Ivanka Trump, Angela Merkel und Christine Lagarde diskutierten im April auf der Women-20-Konferenz über die Stär- kung von Frauen in der Wirtschaft. Aber sind diese mächtigen Frauen wirk- lich Vorreiterinnen des Feminismus? Nein, sagt die Soziologin Christa Wichterich: Hinter der Rhetorik des Frauengipfels verbirgt sich ein knall- harter Businessfeminismus, der vor allem den ohnehin Mächtigen nützt.

Jürgen Borchert: Wer Kinderarmut sät, wird Altersarmut ernten. Wie die herrschende Rentenpolitik unsere Demokratie aufs Spiel setzt, S. 87-98

Kurz vor der Bundestagswahl steht das deutsche Rentensystem wieder im Fokus öffentlicher Debatten. Der Rentenexperte Jürgen Borchert analysiert dessen Konstruktionsfehler und kommt zu dem Schluss: Um die systemati- sche Benachteiligung sozial schwacher Familien zu überwinden, bedarf es einer radikalen Kehrtwende in der Rentenpolitik.

Carla Coburger und Patrick Klösel: Wider das Einheitsdenken. Plädoyer für Pluralismus in der Wirtschaftswissenschaft, S. 99-104

Der Ausbruch der Wirtschaftskrise 2008 traf auch die meisten Ökonomen unvorbereitet. Doch obwohl sie die Krise nicht voraussahen, blieb ein Para- digmenwechsel in der Wirtschaftswissenschaft aus, kritisieren die Studie- renden Carla Coburger und Patrick Klösel. Sie fordern mehr Pluralismus in ihrem Fach. Nur so lassen sich Krisen künftig erkennen und vermeiden.

Magnus Brechtken: Die Speer-Legende und ihre Konstrukteure, S. 105-119

Hitlers „Hofarchitekt“ Albert Speer galt lange als fehlgeleiteter Idealist aus dem bürgerlichen Milieu, der in die Fänge einer barbarischen NS-Herr- schaftselite geraten war. Diese Ablenkungserzählung, so der Historiker Magnus Brechtken, spiegelt das Bedürfnis nach Exkulpation im Nach- kriegsdeutschland. Nicht zuletzt Speers Biographen und deren unkritische Wiedergabe der Fiktionen des „Gentleman-Nazis“ erschwerten eine kriti- sche Aufarbeitung der NS-Zeit.

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201707_Blätter.indb 40 21.06.17 11:50 »Stehen Sie nicht abseits: Demokratie ist kein Zuschauer- sport!« Von Bernie Sanders

Am 31. Mai sprach US-Senator Bernie Sanders, der im Rennen um die demokratische Präsident- schaftskandidatur nur knapp Hillary Clinton unterlag, vor über tausend begeisterten Studierenden in Berlin. Eingeladen hatten die Freie Universität, das »ZEITmagazin« und der Ullstein-Verlag, bei dem soeben Sanders‘ neues Buch »Unsere Revolution« erschienen ist. Die Moderation übernahm der Chefredakteur des »ZEITmagazins«, Christoph Amend. Wir veröffentlichen Sanders‘ Rede in gekürzter und redaktionell leicht bearbeiteter Fassung. Die Übersetzung stammt von Steffen Vogel – D. Red.

assen Sie mich zu Beginn etwas Offenkundiges festhalten, eine Sicht, L die von der übergroßen Mehrheit des amerikanischen Volkes und einer starken Mehrheit im US-Kongress geteilt wird: Seit den Schrecken des Zwei- ten Weltkriegs war die Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Europa unentbehrlich, um Konflikte zu verhindern und den Lebensstandard für hunderte Millionen von Menschen zu verbessern. In meinen Augen muss diese Beziehung andauern, nicht nur um der Menschen in den Vereinigten Staaten und Europa willen, sondern für mehr Stabilität weltweit. Ferner bin ich der festen Überzeugung, dass der Ausstieg der Vereinig- ten Staaten aus dem Pariser Klimaabkommen töricht und gefährlich ist. Es ist ein entsetzlicher Fehler. Aber das amerikanische Volk – und wie ich weiß auch Sie hier in Deutschland und überall auf der Welt – verstehen, anders als Präsident Trump, dass der Klimawandel kein Schwindel ist. Er ist eine gefährliche Realität, die durch menschliches Handeln verursacht wird und weltweit bereits große Probleme hervorruft. Ich möchte, dass Sie Folgendes wissen: Viele US-Bundesstaaten, darunter mein eigener, arbeiten massiv an der Transformation unseres Energiesystems, weg von fossilen Brennstoffen und hin zu Energieeffizienz und erneuerbaren Energien. Und wenn es ein klares Beispiel für die Notwendigkeit internationaler Kooperation gibt, dann ist es die Klimakrise. Daher ist das Pariser Abkommen so wichtig. Deutsch- land allein wird die Erwärmung dieses Planeten nicht aufhalten, nicht die zunehmenden Überschwemmungen und Dürren und Hitzewellen und stei- genden Meeresspiegel und die Versauerung der Ozeane überall auf der Welt. Deutschland kann dies nicht alleine tun. China kann es nicht. Die Vereinig-

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201707_Blätter.indb 41 21.06.17 11:50 42 Bernie Sanders

ten Staaten können es nicht. Diese Krise hat außerordentliche Konsequenzen und schreit nach starker internationaler Zusammenarbeit, wenn wir unseren Kindern und Enkelkindern diesen Planeten in einem gesunden und bewohn- baren Zustand hinterlassen wollen. Daher sollten Sie wissen: Was auch immer Trump glaubt oder tut, es gibt überall in unserem Land massive Anstrengungen, es mit der mächtigen Energiebranche aufzunehmen. Die Öl-, Gas- und Kohleunternehmen inte- ressieren sich mehr für ihre kurzfristigen Profite als für die Zukunft dieses Planeten. Überall im Land steigen Menschen auf Solar- und Windenergie sowie Erdwärme um. Wir stecken Milliarden Dollar in die Wärmedämmung unserer Gebäude. Wir steigen massiv auf Elektroautos um. Was auch immer Trump sagen oder tun mag: Denken Sie nicht, dass die Menschen in den Ver- einigten Staaten dieser Krise ihren Rücken kehren. Als ich in Europa eintraf, wollten viele Menschen wissen, was ich über Donald Trumps Präsidentschaft denke. Lassen Sie mich ein paar Worte darü- ber verlieren. Es ist kein großes Geheimnis, dass ich aus vielen, vielen Grün- den – vorsichtig formuliert – kein großer Fan von Präsident Donald Trump bin. Lassen Sie mich kurz einige dieser Gründe nennen. Erstens: Als Senator des Bundesstaats Vermont interessiert mich, ebenso wie meine Wähler, natürlich seine Innenpolitik. Wir müssen also einen genauen Blick auf den verheerenden Haushaltsentwurf werfen, den Trump soeben dem Kongress vorgelegt hat. Das sollten Sie hören, weil es Ihnen ver- rät, wie entrückt Donald Trump dem amerikanischen Volk ist – und das bei lebenswichtigen Themen für die arbeitenden Menschen in Amerika. In einer Zeit massiver Einkommens- und Vermögensungleichheit in den Vereinigten Staaten ist Trumps Haushaltsplan ein empörendes Dokument. Es ist der ent- setzlichste Haushaltsplan in der neueren Geschichte der USA. Er sieht nichts weniger als eine massive Umverteilung von den arbeitenden Menschen, den Alten, Kindern, Kranken und Armen zum obersten einen Prozent vor. Bei dem, was ich Ihnen jetzt sage, werden Sie sich die Augen reiben, weil es so unwahrscheinlich klingt: Trumps Haushaltsplan würde 23 Millionen Amerikanern die Krankenversicherung nehmen. Dabei hat die sogenannte Obama Care diesen Schutz erst kürzlich ausgeweitet, und selbst wenn diese Reform nicht weit genug ging, war sie doch ein Anfang. Wenn dieses Bud- get aber verabschiedet wird, wenn die verheerende Gesundheitsreform der Republikaner durchgeht, dann werden tausende Amerikaner unnötig ster- ben, weil sie nicht mehr zum Arzt gehen können. Obendrein sieht der Haus- haltsplan massive Kürzungen bei Ernährungsprogrammen vor. Jetzt reden wir über die grundlegenden Notwendigkeiten des Lebens. In Amerika kämp- fen Millionen von Menschen darum, etwas zu essen auf den Tisch zu bekom- men. Deswegen gibt es ein Programm, dass schwangere Frauen mit niedri- gem Einkommen mit Lebensmitteln versorgt, damit ihre Schwangerschaft erfolgreich verläuft und ihre Kinder gesund ins Leben starten. Trump will dieses Programm massiv kürzen. Gleichzeitig versorgt Trump das oberste eine Prozent für zehn Jahre mit Steuererleichterungen über drei Billionen Dollar. Stellen Sie sich das vor: Wir haben heute schon massive Ungleichheit

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201707_Blätter.indb 42 21.06.17 11:50 »Stehen Sie nicht abseits: Demokratie ist kein Zuschauersport!« 43

bei Einkommen und Vermögen. Und Trumps Haushalt spart, indem er Pro- gramme kürzt, die Kinder und arbeitende Menschen verzweifelt brauchen. Zugleich bekommen wir Steuererleichterungen über drei Billionen Dollar für das oberste eine Prozent. Im Wahlkampf sagte Trump: Ich bin ein anderer Republikaner. Ich werde auf der Seite der arbeitenden Menschen sein, auf der Seite der Notleidenden. Aber seine Politik als Präsident kehrt den arbei- tenden Menschen den Rücken zu; sie ist eine enorme Unterstützung für die Milliardärsklasse.

Ein Angriff auf die amerikanische Demokratie

Zweitens erfüllt mich Donald Trumps Respektlosigkeit gegenüber Demo- kratie, Toleranz und traditionellen amerikanischen Werten mit großer Sorge. Seine beispiellosen Angriffe auf die Medien sind nichts weniger als der Ver- such, mögliche Kritiker einzuschüchtern und den Respekt für Dissens und eine freie Presse zu unterminieren. Schauen Sie, ich bin Politiker und habe jeden Tag Probleme mit den Medien, so wie jeder Politiker in jedem Land. Aber jetzt sagt der Präsident der Vereinigten Staaten im Grunde: Die „New York Times“ und die „Washington Post“, CBS, CNN und NBC lügen, alles, was sie sagen, ist Fake News, glauben Sie ihnen kein Wort, und wenn Sie die Wahrheit hören wollen, bekommen Sie sie nur von mir, von Donald Trump. Das ist nicht zum Lachen. Das ist ernst. Das ist ein schwerer Angriff auf die amerikanische Demokratie. Ich habe Kollegen im Senat, die sehr, sehr konservativ sind und mit denen ich in keiner Frage übereinstimme. Aber viele von ihnen glauben, was sie sagen, sie sind ehrlich. Das respektiere ich. Manche von ihnen sind meine Freunde. Mit Präsident Trump hingegen sehen wir einen Mann, der immer wieder eklatante Lügen erzählt und empörende Behauptungen aufstellt, die nicht von Tatsachen gestützt werden. Zu diesen Lügen gehört eine, die er nicht ohne Grund erzählt hat: Vor ein paar Monaten sagte er, bei der Präsi- dentschaftswahl hätten zwischen drei und fünf Millionen Menschen illegal abgestimmt. Nun, es stellte sich heraus, dass kein Wahlvorsteher in den Ver- einigten Staaten, sei er Demokrat, sei er Republikaner, daran glaubt. Warum sagte Trump es dann? Er tat es, weil er die aktuellen Versuche in vielen repu- blikanisch dominierten Staaten unterstützt, mit denen die Wahlteilnahme von Armen, People of Color1 und Alten erschwert werden soll. Wer gegen ihn stimmen könnte, soll möglichst nicht wählen können. Und wenn das nicht alles untergräbt, wofür Amerika steht, dann weiß ich es auch nicht. Die Vereinigten Staaten sind stets weltweit führend gewesen, wenn es galt, die Demokratie zu fördern. Wir investieren viel Geld, um Entwicklungs- ländern auf dem Weg zur Demokratie zu helfen. Das ist unser Wertesystem: Wir glauben an das Recht der Menschen, ihre Zukunft zu bestimmen. Daher finde ich es unbegreiflich, dass wir heute einen Präsidenten haben, der sich

1 Der Begriff People of Color geht auf die US-Bürgerrechtsbewegung zurück und bezeichnet nicht- weiße Menschen. – D. Red.

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mit Autokraten und autoritären Politikern wohler fühlt als mit den Spitzen- politikern demokratischer Länder. Offen gesagt, versuchen viele Amerika- ner, sich einen Reim darauf zu machen, warum Donald Trump Präsident Wla- dimir Putin so sehr zu bewundern scheint. Wie Sie alle wissen, ist Putin ein Führer, der in seinem eigenen Land die Demokratie massiv unterdrückt und der sich in freie Wahlen in den Vereinigten Staaten, Frankreich und anderen Ländern eingemischt hat. Passen Sie auf, Deutschland könnte als Nächstes dran sein. Putin hat die letzten Jahre mit dem Versuch verbracht, weltweit die Demokratie zu destabilisieren. Die Amerikaner fragen sich auch, warum Präsident Trump so freundliche Worte für den philippinischen Präsidenten Rodrigo Duterte findet, der Bürger- und Freiheitsrechte in seinem Land radi- kal untergräbt. Und warum er sich mit den Führern Saudi-Arabiens so wohl fühlt, einer Erbmonarchie, die Frauen als Bürger dritter Klasse behandelt und den Wahhabismus fördert, eine radikale und extreme Form des Islam. Ich werde in meinem Land und überall in der Welt oft gefragt, warum Donald Trump die Wahl gewonnen hat. Einer der wesentlichen Gründe besteht darin, dass viele Millionen Amerikaner aus der Arbeiterklasse, oft in ländlichen Regionen, von der globalen Ökonomie und aufgrund fehlender Ausbildung für die neuen Hightechjobs zurückgelassen werden. Mit ande- ren Worten: Die Welt bewegt sich sehr, sehr schnell, aber wenn sie Städte im ländlichen Amerika besuchen, stoßen sie auf rostende Fabriken, auf Städte, aus denen die Jungen wegziehen und in deren Schulen immer weniger Kin- der gehen. Die Menschen dort wurden zu lange vernachlässigt und ignoriert, von Politikern im Allgemeinen und den Demokraten im Besonderen. Und diese Leute fragen: Weiß irgendjemand, dass ich von neun Dollar die Stunde nicht leben kann? Weiß jemand, dass ich keine Krankenversiche- rung habe? Weiß jemand, dass ich es mir als alleinerziehende Mutter nicht leisten kann, 10 000 Dollar im Jahr für Kinderbetreuung auszugeben, wenn ich 30 000 Dollar verdiene? Dass ich es mir nicht leisten kann, 40 bis 50 Pro- zent meines Einkommens für die Miete aufzuwenden? Weiß jemand, dass ich mich zu Tode ängstige, wenn ich an die Zukunft meines Kindes denke, weil es sich die hohen Collegegebühren nicht leisten kann und es in meiner Gemeinde keine anständigen Jobs gibt? Hört jemand meinen Schmerz? Die traurige Wahrheit ist, dass wir in Washington nicht zugehört haben. Und die Wahrheit ist auch: In den letzten 40 Jahren hat sich die Technologie gewaltig entwickelt, sind die Arbeiter produktiver geworden und wurde in den Ver- einigten Staaten ein enormer Reichtum erzeugt. Aber zugleich ist die Mittel- klasse geschrumpft. 43 Millionen Amerikaner leben heute in Armut, einige in verzweifelter Armut, während der neu geschaffene Reichtum nahezu voll- ständig den Menschen an der Spitze zugutekam. Das geschieht in vielen Teilen der Welt. Den multinationalen Konzernen und den reichsten Menschen geht es überall phänomenal gut. Sie mögen uneingeschränkten Freihandel, weil das in Amerika bedeutet: Man kann eine Fabrik schließen, in der die Menschen einen auskömmlichen Lohn erhalten, und sie nach China oder Mexiko verlagern, wo man den Men- schen nur einen kleinen Bruchteil der amerikanischen Löhne zahlt. In den

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201707_Blätter.indb 44 21.06.17 11:50 »Stehen Sie nicht abseits: Demokratie ist kein Zuschauersport!« 45

Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt entgehen Billionen Dollar an Unternehmensgewinnen der Besteuerung aufgrund von Steuersystemen, die es den Reichen gestatten, Geld mit einem Mausklick zu verschieben und sich ihren Steuerverpflichtungen zu entziehen. In den Vereinigten Staaten – und weltweit – gibt es Konzerne, die jährlich Milliardenprofite machen, aber keine Bundessteuern zahlen, weil sie ihre Profite auf den Cayman-Inseln, in Bermuda, Luxemburg, Irland oder wo auch immer verstecken. Das ist ein weiteres Gebiet, auf dem wir internationale Kooperation brauchen, wo wir alle zusammenarbeiten müssen. Es ist inakzeptabel, dass sich große profi- table Konzerne ihrem fairen Teil am Steueraufkommen entziehen, sei es in den Vereinigten Staaten, Deutschland, Großbritannien oder anderswo.

Auf dem Weg in die Oligarchie?

Meine größte Furcht ist, dass sich die Vereinigten Staaten heute in Richtung einer Oligarchie bewegen, in der eine kleine Zahl von Milliardären unsere Wirtschaft und unser politisches Leben kontrolliert. Und übrigens, wenn wir über Oligarchie reden und die Macht der wenigen über die vielen, dann den- ken Sie bitte nicht, das sei ein amerikanisches Phänomen. Weltweit, und das ist kaum zu glauben, besitzt das oberste eine Prozent heute mehr Reichtum als die übrigen 99 Prozent der Weltbevölkerung. Die reichsten acht Men- schen der Welt – acht Menschen! – besitzen mehr als die untere Hälfte der Weltbevölkerung. Können Sie sich das vorstellen? In einer Welt, in der Kin- der sterben, weil sich ihre Eltern die Medikamente für leicht vermeidbare Krankheiten nicht leisten können. In einer Welt, in der es Menschen immer schwerer fällt, sauberes Trinkwasser oder eine anständige Wohnung zu fin- den. In dieser Welt besitzen acht der reichsten Menschen mehr als die untere Hälfte der Weltbevölkerung. Unsere Aufgabe ist es, diese Schande nicht zu akzeptieren. Sie ist inakzeptabel! Wissen Sie, es ist einfach, Geschichtsbücher zu lesen und über die Könige und Königinnen und Zaren nachzudenken, über Menschen, die außerge- wöhnlich reich waren, während ihr Volk nichts besaß. Es ist einfach, in der Geschichte zurückzublicken. Aber was glauben Sie, geschieht heute? Heute gibt es Menschen, die 30, 40, 50 Milliarden Dollar schwer sind, die hunderte von Autos besitzen, die Yachten besitzen und all das Geld nicht in tausend Leben ausgeben könnten. Und auf der anderen Seite haben wir Kinder, die unnötig sterben und Menschen, die nicht zum Arzt gehen können, wenn sie einen brauchen. Unsere Aufgabe ist es, an diesem Punkt der Geschichte, der uns so große Möglichkeiten zur Verbesserung des Lebens bietet, weltweit gemeinsam gegen diese Milliardärsklasse aufzustehen und ihr zu sagen, dass ihre Gier und ihre Selbstsucht nicht mehr akzeptabel sind und dass wir es mit ihr aufnehmen werden. Als wir die Präsidentschaftskampagne begannen, hatten wir kein Geld und keine Organisation. Sehr wenige Menschen kannten mich außerhalb des Bundesstaats Vermont – der einer der kleinsten Staaten des Landes ist,

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201707_Blätter.indb 45 21.06.17 11:50 46 Bernie Sanders

ein schöner Staat, den Sie hoffentlich besuchen, wenn Sie einmal in die Ver- einigten Staaten kommen. Offen gesagt, hatten wir keine Ahnung, wie man sich um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten bewirbt. Aber wir haben sehr schnell gelernt. Der wichtigste Punkt, auf den wir zu Beginn unserer Kampagne stießen, war folgender: Unter arbeitenden Menschen und unter jungen Menschen gab es einen Hunger danach, nicht zu kleckern, sondern zu klotzen. Es gab einen Hunger nach Fragen wie diesen: Warum sind die Vereinigten Staaten heute das einzige bedeutende Land auf der Welt, das nicht allen Menschen eine Gesundheitsversorgung garantiert? Wenn Kanada es tut, wenn Großbritannien es tut, wenn Deutschland es tut, wenn Frankreich es tut, wenn jedes bedeutende Land auf der Welt zu dem Schluss gekommen ist, dass Gesundheitsversorgung ein Recht ist und kein Privileg – warum können die Vereinigten Staaten das dann nicht auch tun? Und die Menschen sagten: Ja, das ist eine gute Frage, warum eigentlich nicht? Oder, ein anderes Thema, mit dem Sie vielleicht nicht so vertraut sind: Wir haben junge Menschen, die das College abschließen und Schulden von 50 000 oder 80 000 Dollar an Bildungskrediten haben, auch wegen der hohen Studiengebühren. Vor einigen Jahren sprach ich mit einer jungen Frau, die in meiner Stadt Burlington in Vermont die medizinische Grundversorgung leistet. Nach ihrem Medizinstudium hatte sie 300 000 Dollar Schulden. Das ist doch verrückt. Dann traf ich in Iowa eine junge Zahnmedizinerin mit 400 000 Dollar Schulden. Also sagten wir: In Zeiten starken globalen Wett- bewerbs müssen alle unsere jungen Menschen auf der Welt die bestmögliche Ausbildung erhalten, ohne sich tief zu verschulden. Und das stieß auf großen Anklang im Land, vor allem bei jungen Leuten und ihren Eltern. Lassen Sie mich ein anderes Thema ansprechen. In den Vereinigten Staa- ten von Amerika, dem reichsten Land in der Geschichte der Welt, sitzen mehr Menschen im Gefängnis als in jedem anderen Land. Ein kommunistisches autoritäres Land wie China, das viermal so groß ist wie die Vereinigten Staa- ten, hat weniger Gefängnisinsassen als wir. Kalifornien etwa gibt mehr Geld für Gefängnisse aus als für Colleges und Universitäten. Und unter den Inhaf- tierten sind unverhältnismäßig viele Afroamerikaner. Ein heute geborener afroamerikanischer Mann hat ein Risiko von eins zu vier, im Gefängnis zu landen. Das gilt auch für Latinos und Native Americans. Also sagten wir laut und klar: Wenn die Jugendarbeitslosigkeit in Innenstädten und Minderhei- tengemeinden zwischen 20 und 40 Prozent liegt, ist es sinnvoller, in Bildung und Arbeit zu investieren als in Gefängnisse. Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Es sind schwere Zeiten, nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern für die ganze Welt. Viele Menschen lei- den und die Demagogen machen Minderheiten, die oft keine Macht haben, zu Sündenböcken, statt die wirklichen Probleme des Landes anzugehen. In diesem kritischen Moment, da der rechte Extremismus in Europa und den Vereinigten Staaten zunimmt, können wir unsere Augen nicht vor dem ver- schließen, was auf der Welt geschieht, wie bequem das auch erscheinen mag. Ich weiß, dass Leute sagen: „Ich kann damit nicht umgehen, das ist verrückt, verschon mich damit. Ich konzentriere mich auf mein Leben, meine Fami-

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201707_Blätter.indb 46 21.06.17 11:50 »Stehen Sie nicht abseits: Demokratie ist kein Zuschauersport!« 47

lie, meine Karriere.“ Ich bitte Sie, diesen Weg nicht einzuschlagen. Ich bitte Sie dringend: Haben Sie eine Vision einer Welt, die sehr, sehr anders sein könnte als die, in der wir gerade leben. Sie mag sich nicht nächstes Jahr ver- wirklichen, sie mag sich nicht zu meinen Lebzeiten verwirklichen, vielleicht noch nicht mal zu Ihren. Aber gerade jetzt, angesichts der gewaltigen tech- nologischen Entwicklung, haben wir das Potential, eine fantastische Welt zu schaffen. Wir können die besten Schulen, außergewöhnliche Schulen haben, überall auf der Welt, ohne Gebühren. Ja, wir können den Klimawandel bekämpfen. Wir haben schon große Durchbrüche erzielt. Wir können unser Energiesystem umwandeln. Und wenn wir klug sind und wenn wir zusam- menarbeiten, dann könnten wir vielleicht, nur vielleicht, die Schrecken des Krieges beenden und diesem Planeten Frieden einhauchen. Also, bitte, bitte, ob es eine Politik zum Schutz der Umwelt oder von Frau- enrechten oder von Schwulenrechten oder was auch immer ist – tun Sie, was getan werden muss. Stehen Sie nicht abseits und lassen schlimme Dinge geschehen. In Amerika sagen wir oft: Die Demokratie ist kein Zuschauer- sport. Football ist ein Zuschauersport, Basketball ist ein Zuschauersport. Die Demokratie, das sind Sie. Und wenn wir zusammenstehen und es den Dema- gogen nicht erlauben, uns wegen unserer Hautfarbe, unserer Herkunft oder unserer Religion zu entzweien, dann können wir eine außergewöhnliche Zukunft haben. Und weltweit ist es Ihre Generation, die dabei helfen kann, dass diese Zukunft eintrifft. Ich danke Ihnen allen sehr.

Die Menschen zusammenbringen

Christoph Amend: Die überwiegende Zeit Ihrer politischen Karriere waren Sie ein Außenseiter, eine Art Underdog. Wie haben Sie es eigentlich am Ende geschafft, so oft zu gewinnen? Gibt es ein Geheimnis? Bernie Sanders: Ich denke, es sind zwei Geheimnisse. Das erste ist: Sie müssen den Leuten ehrlich sagen, wer Sie sind – und noch wichtiger: was ihre Bedürfnisse sind. Das zweite ist: Sie müssen die Menschen zusammen- bringen. Meine Präsidentschaftskampagne war genau dieselbe wie die Kampagne, die ich so viele Jahre zuvor für das Bürgermeisteramt in Burling- ton geführt habe. Sie bestand in Koalitionspolitik. Wissen Sie, was das ist? Wenn wir mit jedem von Ihnen wirklich ausführliche Interviews führen würden, käme dabei heraus, dass Sie wahrscheinlich bei 80 oder 90 Prozent der Fragen übereinstimmen. Wenn wir zum Beispiel über Frauenrechte, über Schwulenrechte oder Klimawandel sprächen, würde wohl die über- wältigende Mehrheit in diesem Raum übereinstimmen. Aber dann graben Sie ein bisschen tiefer und stellen fest, dass Menschen verschiedener Ansicht sind. Meine Frau und ich haben verschiedene Meinungen zu bestimmten Themen. Wichtig für das Konzept der Koalitionspolitik ist aber Folgendes: Ich verstehe, dass Sie und ich vielleicht nicht zu 100 Prozent übereinstim- men. Aber wenn wir uns in 80 oder 90 Prozent der Fälle einig sind, stehen wir zusammen. In meiner Bürgermeisterkampagne haben wir also junge

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201707_Blätter.indb 47 21.06.17 11:50 48 Bernie Sanders

Umweltschützer mit der Polizeigewerkschaft von Burlington zusammenge- bracht. Die Anliegen der Polizisten waren, dass man sie mit Respekt behan- delt, dass sie eine angemessene Bezahlung und anständige Arbeitsbedingun- gen brauchen. Wir haben also die lokalen Gewerkschaften mit jungen Leuten zusammengebracht, die sich um die Umwelt sorgen, mit Frauen, die damals im Grunde keinen Zugang zur Stadtverwaltung hatten, mit Geringverdie- nern, die am Wohnungsmarkt benachteiligt waren, und mit Studenten. Ich hatte befürchtet, dass es Chaos geben würde, wenn ich alle diese Menschen in einem Raum versammele. Aber die Wahrheit ist: Man kann Koalitionen schmieden und Menschen zusammenbringen, selbst wenn sie nicht zu 100 Prozent übereinstimmen. So ähnlich haben wir es auch bei der Präsident- schaftskampagne gemacht. Amend: In Ihrem Buch erwähnen Sie, dass einer Ihrer politischen Hel- den der Papst ist. Sie und Ihre Frau haben ihn kurz im Vatikan getroffen und sogar im selben Gebäude geschlafen. Wie war das Treffen mit ihm? Sanders: Wissen Sie, das ist in gewisser Weise ein Beispiel für das, was ich unter Koalitionspolitik verstehe. Stimme ich mit allem, für das der Papst steht, überein? Die Antwort lautet Nein. Offensichtlich sind unsere Ansichten über Frauenrechte, Schwulenrechte und andere Fragen sehr unterschied- lich. Aber wenn Sie ihn als internationalen Wortführer für Gerechtigkeit und Würde betrachten, wenn Sie einige seiner Schriften lesen, etwa seine Enzyk- lika zum Klimawandel – er sagt dort Dinge über die Wirtschaft, die sehr, sehr wenige gewählte Politiker auf der Welt sagen würden. Er sagt, dass die Wirt- schaft den Menschen dienen sollte, nicht dem Geld; er sagt, dass Männer und Frauen vom Geld statt von der Menschenwürde beherrscht werden – das ist sehr, sehr radikal. Und ich schätze seine Aussagen zur Jugendarbeitslosig- keit sehr, seine Aussagen über – wie er sagt – die Besitzlosen, die wir verges- sen, die alten Menschen, die allein in ihrem Zuhause sitzen und sich selbst nicht angemessen ernähren können, Jugendliche ohne Jobs, Arbeiter ohne Beschäftigung. Er spricht ständig darüber. Daher denke ich, dass er in vielen ökonomischen und ökologischen Fragen ein wahrer Verfechter der Gerech- tigkeit ist. Amend: Haben Sie schon entschieden, ob Sie bei der nächsten Präsident- schaftswahl antreten werden? Sanders: Ich habe mich noch nicht entschieden. Die ehrliche Antwort lau- tet, dass wir gerade jetzt Tag und Nacht arbeiten und versuchen, Trumps Agenda zu verhindern und das amerikanische Volk zu mobilisieren. Das liegt heute vor mir und nicht die Sorge um eine Wahl in drei Jahren. Lassen Sie mich in einem sehr ernsten Ton enden. Ich möchte, dass Sie alle Folgendes wissen: In den Vereinigten Staaten gibt es Millionen und Aber- millionen wundervoller Menschen, die jeden Tag hart für ökonomische und ethnische, ökologische und soziale Gerechtigkeit arbeiten. Trump repräsen- tiert nicht die Werte der meisten Amerikaner. Und wir freuen uns trotz allem, was jüngst passiert ist, auf die Zusammenarbeit mit Deutschland und Europa. Unsere Aufgabe besteht darin, die Menschen auf der Welt näher zusammen- zubringen und keinen unnötigen Streit zu beginnen.

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201707_Blätter.indb 48 21.06.17 11:50 Frankreich oder: Die Renaissance der »zweiten Linken« Von Claus Leggewie

laubt man den Schwarzsehern, wird Marine Le Pen in fünf Jahren G Emmanuel Macron beerben, da dieser notwendig scheitern müsse. Doch von den „genau 10 643 927 Französinnen und Franzosen [...], [die] am 7. Mai dieses Jahres die Rechtsnationalistin Marine Le Pen zur nächsten Prä- sidentin ihres Landes bestellen“1 wollten, sind nur einen Monat später – bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen – ganze 1 590 858 übriggeblieben.2 Marine Le Pen könnte daher schon bald Geschichte sein, was ein Comeback der Rechten qua Vereinigung des Front National mit Überresten der gerupf- ten konservativen Republikaner nicht ausschließt. Im Folgenden soll jedoch von den auch nur 7 826 432 Französinnen und Franzosen die Rede sein, die Macrons Bewegungspartei „La République en marche!“ (LRM) am 18. Juni 2017 eine komfortable Mehrheit in der Assemblée Nationale verschafft und dem Präsidenten den Auftrag für einen inhaltlichen wie prozeduralen Poli- tikwechsel gegeben haben. Manche Beobachter sehen angesichts der satten, für die Fünfte Republik aber nicht untypischen Parlamentsmehrheit schon Gefahren aufziehen: Sie fürchten einen neoliberalen Durchmarsch und die Perpetuierung des Aus- nahmezustands; sie erwarten, dass durch das Zusammenspiel aus unerfah- renen Neulingen im Parlament und einem Personenkult im Elysée aus der absoluten Mehrheit auch eine absolute Macht erwachse. In der Tat kommt LRM gemeinsam mit ihrem Bündnispartner Modem auf 348 der 577 Mandate. Und die Opposition ist in dramatisch schlech- ter Verfassung: Der Parti Socialiste befindet sich im rasanten Niedergang und kann durch den Wegfall staatlicher Parteienfinanzierung in ernst- hafte Schwierigkeiten geraten. Auch die gemäßigte Rechte ist empfindlich geschwächt, selbst wenn sie die größte Oppositionsfraktion stellt. Hingegen dürfte die Handvoll Front-National-Abgeordneter ebenso bei rhetorischer Fundamentalopposition stehen bleiben wie die zwei Dutzend Parlamen- tarier um Linksparteichef Jean-Luc Mélenchon. Auch sind bereits Risiken und unerwünschte Nebenwirkungen von Macrons großer Mehrheit erkenn- bar. Es ist durchaus unheimlich, wie rasant der 39jährige die Rituale der

1 Oliver Fahrni, Frankreich: Die Geburt der „Vierten Rechten“?, in: „Blätter“, 7/2017, S. 45-53. 2 Gegen den Mythos einer stabilen Wählerschaft des Front National vgl. Gérard Mauge und Willy Pelletier (Hg.), Les classes populaires et le FN, Paris 2017.

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präsidentiellen Monarchie verinnerlicht hat, mithin die Struktur ebenjener Fünften Republik, deren soziokulturelle Grundlagen längst erodiert sind und deren Rechts-Links-Polarität der Neuling genüsslich zerlegt. Schon am Abend seines Wahlsiegs zog er sämtliche Register präsidentieller Machtent- faltung. Das wiederholte er wenig später beim Besuch des russischen Präsi- denten Wladimir Putin im Schloss von Versailles, dem er in Sachen Syrien und Ukraine rote Linien vorgab. 3 Macron startete seine elektorale Überfall- und Abräumaktion aus der „lee- ren“ politischen Mitte der Fünften Republik und wird in seinem planvollen Vorgehen bereits mit Charles de Gaulle und François Mitterrand verglichen. Nun steht er unter dem Verdacht des Bonapartismus. So bezeichnet man die Regierungsform Napoleons III., der nach der 1848er-Revolution als demo- kratischer Cäsar agierte und sich seine Alleinherrschaft mit Plebisziten legi- timieren ließ – der Revolution folgte die Konterrevolution auf dem Fuße. In der marxistischen Lesart, die auch die Verführbarkeit von Proletariern durch autoritäre Führergestalten zu verkraften hatte, war dies ein Waffenstillstand mit der Bourgeoisie, die nicht selbst herrschte, aber ungestört ihren Geschäf- ten nachgehen konnte.4 Das Paradigma hat sich in der Faschismustheorie niedergeschlagen, und würde sich Macron auf die Seite der „Vierten Rech- ten“ schlagen, wie Anhänger der „ insoumise“, der Rest-Formation der Linken um Jean-Luc Mélenchon, insinuieren, dann sähe Frankreichs Zukunft bonapartistisch aus. Zum Glück winken freundlichere Alternativen zu dieser antifaschistischen Dystopie. Denn vieles deutet darauf hin, dass der Präsident die im aktuellen Kontext heilsame Relativierung der Rechts-Links-Polarisierung fortsetzen will: Das zeigen sowohl Macrons Wahlprogramm und seine Akzentsetzun- gen für die ersten 100 Tage als auch die Zusammensetzung von LRM und der Regierungsmannschaft sowie nicht zuletzt Modus und Ergebnis der Kan- didatenauslese für die Parlamentswahl und der daraus resultierende Mehr- heitspluralismus in der Nationalversammlung.5 Damit zu Macrons Programm, das die wenigsten Kritiker, die ihm nun alles Schlechte wünschen, genau studiert haben. Das erste Stöckchen, das jeder Präsident hingehalten bekommt und an dem so viele Amtsvorgänger gescheitert sind, ist weniger die Reform des Arbeitsrechts per se.6 Vielmehr besteht die eigentliche Hürde darin, die Arbeitslosigkeit spürbar zu ver- ringern und die junge Generation aus der Perspektivlosigkeit zu führen.7

3 Hintergrund sind die unzweifelhafte russische Einflussnahme auf die Wahl in Frankreich und die guten Drähte der gemäßigten wie radikalen französischen Rechten nach Moskau. 4 Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in: Karl Marx und Friedrich Engels, Werke, Band 8, Berlin 1960, S. 111-207. 5 Claus Leggewie, Emmanuel Macron und der Niedergang der Fünften Republik, in: „Blätter“, 4/2017, S. 55-60; ders., Briefe aus Paris, www.fr.de; vgl. auch das Interview mit dem Soziologen Pierre Rosanvallon, in: „“, 14.6.2017. 6 Wer die französische Sozialgeschichte schon etwas länger verfolgt, könnte diesbezüglich an ein täglich grüßendes Murmeltier erinnert sein. Schon Mitterrand legte eine von Arbeitgebern wie lin- ken Gewerkschaften bekämpfte Reform des Arbeitsrechts auf, vgl. Claus Leggewie, Der König ist nackt. Ein Versuch, die Ära Mitterrand zu verstehen, Hamburg 1986. 7 Stéphane Beaud und Gérard Mauger, Une génération sacrifiée? Jeunes des classes populaires dans la France désindustrialisée, Paris 2017.

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Letztere regiert die multikulturellen Vorstädte, wo Drogendealer und Dschi- hadisten Beute machen, genauso wie deindustrialisierte Regionen, unter deren depravierter Arbeiterbevölkerung der Front National wildert. Die Not- wendigkeit, ein Arbeitsrecht zu überarbeiten, das bereits Geschützte schützt und Prekären nichts nützt, dürfte den meisten einleuchten. Entscheidend für eine gelungene Reform ist indes ein Formwandel der Politik – nämlich eine dialogische Praxis mit den Sozialpartnern, die auf beiden Seiten des Tisches jedoch nur eine Minderheit repräsentieren.8 Doch Frankreich wäre wirklich nicht mehr Frankreich, wenn man im Herbst nicht mit enragierten Protesten und entsprechenden Gewaltszenen rechnen müsste.9

Die Rückkehr der politischen Ökologie

Es klingt da wie ein Sakrileg, wenn man behauptet, es gebe in der franzö- sischen Politik weit Wichtigeres als diesen (und andere) Dauerbrenner der Sozialpolitik. Dazu zählt eine breit angelegte Umweltpolitik, die im Kabinett des Premierministers Edouard Philippe von dem bekannten Ökologen Nico- las Hulot vertreten wird. Er plädiert für eine Energiewende weg von Kohle und Atom, verbunden mit einer sozialverträglichen Konversion des Energie- sektors, und für eine ökologische Landwirtschaft. Ein Maßstab für Macrons Regierungsjahre ist daher die Rückkehr der politischen Ökologie, die – was meist vergessen wird – in Frankreich konzipiert wurde,10 dort aber nie das politische Sprachrohr in Gestalt einer starken und einigen grünen Partei gefunden hat. Hulot wurde schon darauf hingewiesen, dass im Zeitalter des Anthropozäns Fragen des Erdsystems höher rangieren als Brancheninteres- sen von Altindustrien: „Wird Herr Hulot der nützliche Idiot einer veralteten Politik sein oder der Herold einer wünschenswerten Welt von morgen?“11 Dem Vorboten würde Hulot sich ein Stück annähern, wenn er sein neu geschaffenes „Ministerium des ökologischen und solidarischen Übergangs“ zum Querschnittsressort ausbauen könnte, das Landwirtschaft, Transport und Gesundheit umfasst und sich mit den europäischen Amtskollegen wie mit einer lokal aktiven Bürgergesellschaft vernetzt. Immerhin konterte Macron den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaabkommen mit einer viral um die Welt gegangenen Drei-Minuten-Ansprache unter dem Slogan „Make the Planet Great Again“, verbunden mit der Einladung an US-Klima- forscher, sich in Frankreich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Die Bilanz des Präsidenten wird in fünf Jahren vor allem daran zu messen sein, ob er

8 Der gewerkschaftliche Organisationsgrad beträgt in Frankreich nur acht Prozent (EU-Durch- schnitt: 23 Prozent), die Kampfkraft von CGT, CFDT, FO und anderen Gewerkschaften resultiert aus der Mobilisierung in schließungs- und entlassungsbedrohten Betrieben und aus Branchenver- trägen. 9 Die Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon und Benoît Hamon haben schon den „sozialen Staats- streich“ und den „Ausverkauf der Lohnarbeiterrechte“ gegeißelt, vgl. „Le Figaro“, 8.6.2017. 10 Claus Leggewie und Roland de Miller (Hg.), Der Wahlfisch. Ökologiebewegung in Frankreich, Ber- lin 1978. 11 Agnès Sinai, L’entrée au gouvernement de Nicolas Hulot donne un espoir de rupture, in: „Le Monde“, 22.5.2017, vgl. dies., Gouverner la decroissance, Paris 2017.

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sich mit anderen Europäern und Bündnispartnern in den BRICS-Staaten zum Vorreiter einer nachhaltigen Politik aufschwingen konnte. Dazu kommt eine weitere große Herausforderung: Nach der ersten Eupho- rie, in die Macrons Sieg und Persönlichkeit sein Land versetzt haben, wird wieder erkennbar, wie hart Frankreich in den letzten Jahren vom Terror getroffen wurde. Weiterhin besteht der Ausnahmezustand, den Macron bis November 2017 verlängert hat und durch Gesetzesinitiativen auf Dauer zu stellen beabsichtigt (womit erneut der Bonapartismus-Verdacht aufscheint).12 Allerdings könnte Macron in der Terrorbekämpfung neue Akzente setzen. Dabei konkurrieren derzeit vier mögliche Strategien: resignative Anpassung („We are not afraid“), Ablenkung auf Sündenböcke (Front National), Auf- rüstung auf Kosten der Menschen- und Bürgerrechte (Theresa May) sowie zivilgesellschaftliche Mobilisierung. Rational ist auf mittlere Sicht nur die letztere. Sie setzt auf Deradikalisierung in (Jugend-)Milieus und islami- schen Einrichtungen, die für die dschihadistische Propaganda der Tat anfäl- lig sind. Und sie will den Selbstschutz in der Gesellschaft verbessern, eine Art Generalmobilmachung ohne jede Hysterie, Panik und Angst, die nur zu Bunkermentalität führen. Der Sicherheitsexperte Eric Delbecque beschreibt das so: „Ein verdächtiges Verhalten melden, die Sicherheitsbehörden ver- ständigen, Menschen in der Umgebung alarmieren, einen Täter entwaffnen (wie im Thalys-Zug) – alles Beispiele für Widerstand gegen die Barbarei im Alltag. Die Demonstration unserer Widerstandsfähigkeit, die sich auch als moralischer Kampf gegen die Dschihadisten begreift, ist ein Weg, ihnen zu signalisieren, dass ihr psychologischer und medialer Terror zum Scheitern verurteilt ist.“13 Für diese Linie steht Macron. Jedoch wird diese „Public-Pri- vate-Partnership“ der besonderen Art von der linken Opposition attackiert, was eine fünfte, völlig ungeeignete Strategie auslöst: zynisches Nichtstun.

Macrons Hypotheken

Der neue Präsident hat jedoch auch drei schwere Hypotheken geerbt. Da wäre, erstens, ein innenpolitisches Grundübel, das den Erfolg des Populis- mus genährt hat: die Häufung der politischen Ämter und die mit diesem Filz verbundene endemische Korruption. Sie wurde im Wahlkampf eigentlich allen politischen Parteien und Lagern nachgewiesen, am prominentesten dem konservativen Spitzenkandidaten François Fillon, der Familienange- hörige ohne Gegenleistung entlohnt hatte. Auf Richard Ferrand, Macrons rechte Hand und Generalsekretär von „En Marche!“, lastet ein ähnlicher Verdacht.14 Dem soll nun ein Gesetz zur „Moralisierung des öffentlichen Lebens“ abhelfen, dessen konkrete Ausgestaltung allerdings noch offen ist: Setzt es auf die effektive rechtliche Kontrolle des Verhältnisses von privaten und öffentlichen Interessen? Oder verharrt es bei einer eher rituell bleiben-

12 Vgl. „Le Monde“, 7.6.2017 und das Editorial der Zeitung: État d’urgence, un piège politique, 9.6.2017. 13 Eric Delbecque, Pour lutter contre la barbarie, l’Etat a besoin de la société!, in: „Le Monde“, 30.5.2017. 14 Vgl. „Le Monde“, 31.5. und 7.6.2017.

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den Moralisierung des Diskurses? Der neuen Nationalversammlung gehören jedenfalls erheblich weniger Deputierte mit Doppel- und Dreifachmandaten an. Das Parlament spiegelt damit eine in den letzten Jahren immer breiter gewordene Abkehr von den französischen Staatseliten. Zu den heiklen Themen der kommenden Jahre gehören, zweitens, auch die katastrophalen Zustände in formellen wie informellen Flüchtlingsla- gern im ganzen Land sowie Frankreichs europäische Solidaritätspflichten bei der Aufnahme von Flüchtlingen.15 Solchen Herausforderungen begeg- net Macron mit dem konstitutiven Element seiner Politik schlechthin: Er beabsichtigt vornehmlich Europapolitik zu betreiben – und benötigt dazu die umfassende Adjustierung der deutsch-französischen Allianz. Da reicht kein Schulterklopfen aus Berlin, sondern nur aktives Entgegenkommen, das nichts weniger als einen Politikwechsel bedeuten würde.16 Dieser ist auch angebracht, hat doch im Mai 2017 nicht nur eine französische Präsident- schaftswahl, sondern ein europäisches Ereignis stattgefunden, das nicht zuletzt die bisherige Finanzpolitik der Bundesrepublik Deutschland betrifft. Eine dritte Hypothek ist die mit 57,4 Prozent historisch hohe Wahlenthal- tung in der zweiten Runde der Parlamentswahlen, in der bereits der Keim von enttäuschungsbedingter „Abwanderung“17 angelegt sein kann. Effektiv haben nur rund 19 Prozent der Wahlberechtigten die Kandidaten von LRM und Modem unterstützt – was Macrons Legitimation erheblich schwächt.

In den Fußstapfen Michel Rocards

Dennoch erscheint Emmanuel Macron wie ein glücklicher Wiedergänger des ehemaligen Premierministers Michel Rocard, den er neben dem Philo- sophen Paul Ricœur als sein wichtigstes Vorbild bezeichnet.18 Der vor Jah- resfrist verstorbene Sozialist hatte mit seinem Mentor Pierre Mendès-France 1958 eine „zweite Linke“ gegen die etablierten Kommunisten (PCF) und Sozialisten (SFIO) aufgebaut. Zwei Anstöße waren dafür zentral: die nibelun- gentreue Zustimmung des PCF zur Niederschlagung des Ungarnaufstands 1956 und die Rolle sozialistischer Politiker in der Kolonialpolitik. Daraus erwuchs die antitotalitäre und kolonialkritische Orientierung der zahlen- mäßig schwachen, aber intellektuell fruchtbaren SFIO-Abspaltung, des Parti Socialiste Autonome (PSA), später Unifié (PSU).19 In der Konvergenz mit den antiautoritären Protestbewegungen um 1968 kristallisierte sich hier eine

15 Vgl. Daniel Cohn-Bendit und Romain Goupil, L’accueil des réfugiés est une question de survie pour ces hommes, ces femmes et ces enfants persécutés, in: „Le Monde“, 16.6.2017. 16 Vgl. Ulrike Herrmann, Haben Macrons Reformen Chancen?, in: „die tageszeitung“, 16.6.2017. 17 Vgl. Albert O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch: Reaktion auf Leistungsabfall bei Unter- nehmungen, Organisation und Staaten, Tübingen 2004. 18 Vgl. Anne Fulda, Emmanuel Macron. Un jeune homme si parfait, Paris 2017, dt. Ausgabe Berlin 2017, S. 88. Macron war Redakteur der Zeitschrift „Esprit“, einem Theorieorgan der „deuxième gauche“. 19 Ihre Protagonisten waren außerdem der Widerstandskämpfer und Kolonialkritiker Alain Savary, der sozialistische Innenminister der 1940er Jahre Édouard Depreux, die PCF-Abweichler Jean Poperen und Gilles Martinet sowie Intellektuelle wie André Gorz, Alain Touraine, und Pierre Rosanvallon. Vgl. Patrick Rotman und Hervé Hamon, Génération, 2 Bde, Paris 1987/8 und dies., La deuxième gauche. Histoire intellectuelle et politique de la CFDT, Paris 1982.

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libertäre Linke heraus, die stark beeinflusst war von der einst katholischen Gewerkschaft CFTC, die dann entkonfessionalisiert und in CFDT umgetauft wurde. Diese „zweite Linke“ propagierte einen Selbstverwaltungssozialis- mus, der über Betriebe und Arbeitswelt hinausreichte und in eine partizipa- tive Demokratie münden sollte – gegen den überkommenen Etatismus und die Kontrollmacht der Traditionslinken. Diesen Impuls in der Ära Mitterrand zu verankern, gelang Premierminister Rocard allerdings nicht. 1991 schied er aus der Regierung aus und wurde als Europaabgeordneter marginalisiert, während der aus der CFDT kommende Jacques Delors als EU-Kommissions- präsident enorm wichtige europapolitische Akzente setzen konnte. An diese politische Tradition könnte Macrons Sozialliberalismus anschließen. So ist in Frankreich und Europa jetzt vieles möglich. Aus der erwähnten Bonapartismus-Schrift von Karl Marx stammen zwei oft bemühte Bonmots: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhan- denen, gegebenen und überlieferten Umständen“, heißt das eine. Das andere lautet: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geis- ter der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“20 Das ist eine ziemlich treffende Umschreibung für die Rahmenbedingungen von Macrons ambitioniertem politischen Vorhaben, das er mit Bedacht „Revo- lution“ genannt hat. Gerade die europäische Linke muss nun entscheiden, ob sie dem von ihr unterstellten Scheitern Macrons beiwohnen möchte oder den Versuch einer europäischen Unabhängigkeitserklärung mit vorantreiben will.21 Wie sich die mit „En Marche!“ begonnene Bürgerbewegung weiter- entwickeln kann, hängt nicht zuletzt davon ab, ob eine zurechtgestutzte und bescheiden gewordene Linke noch Zeichen und Impulse setzen kann.

20 Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, a.a.O., S. 115. 21 Chantal Mouffe, die u.a. als Beraterin Mélenchons gilt, verkennt die Lage völlig, wenn sie Macron als zweiten Merkel und Verfechter der Alternativlosigkeit von Politik einstuft. Denn er verschafft der Linken genau jenen Handlungsspielraum, den sie zu Recht als das Lebenselixier des Politi- schen bezeichnet, vgl. dies., Macron, stade suprême de la post-politique, in: „Le Monde“ 1.6.2017, dagegen Alain Touraine, Macron, le choix de l’avenir contre celui du passé, in: „Le Monde“ 1.6.2017 und Ivan Krastev, Macron a décidé de rêver quand d’autres étaient d’humeur à se lamenter, in: „Le Monde“ 12.5.2017.

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201707_Blätter.indb 54 21.06.17 11:50 Europa am Abgrund: Zwölf Jahre Merkel Von Hauke Brunkhorst

ie Kanzlerin geht gegen die neoimperiale „America first“-Strategie DDonald Trumps in die Offensive. Völlig zu Recht fordert sie die Eman- zipation Europas von den Vereinigten Staaten: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei. [...] Wir Euro- päer müssen unser Schicksal in die eigene Hand nehmen.“1 Doch Angela Merkel übersieht dabei eines allzu gerne: Die Europäische Union liegt heute schon fast in Trümmern – und zwar nicht zuletzt infolge der deutschen Politik der letzten Dekade, die von ihr selbst betrieben wurde. Angela Merkels erklärter Plan besteht seit Jahren darin, den aus den Zeiten früherer Souveränität verbliebenen Rest „parlamentarischer Mitbe- stimmung so (zu) gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist.“2 Die marktkonforme Demokratie als Zielsetzung: Das war auch ans eigene Parla- ment adressiert, dem so die Entmachtung angekündigt wurde. Dabei ist die Beschränkung des Parlaments, das Art. 20 Abs. 2 und 3 GG zur umfassen- den, demokratischen Selbstbestimmung verpflichtet, auf bloße Mitbestim- mung – in einer Marktwirtschaft, deren Produktionsverhältnisse (gegen den ausdrücklichen Wortlaut von Art. 15 GG) überdies seinem Zugriff entzogen sind – schlicht verfassungswidrig. Unter der Prämisse der Marktkonformi- tät bleibt für die „Würde der Demokratie“ (Jürgen Habermas) nur noch die Straße: Occupy Wall Street als neue Außerparlamentarische Opposition.3 Dieses rein ökonomistische Agieren beginnt schon in Merkels erster Amts- zeit, nämlich mit der Weltwirtschaftskrise, die im September 2008 offen aus- brach. Seither ist es in Europa zu einer Kumulation multipler Krisen gekom- men, die keine nationalen, keine globalen, sondern europäische Krisen sind, die aber in der Politik Angela Merkels – im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Helmut Kohl – vor allem national-egoistische Antworten gefunden haben.4 Die Weltwirtschaftskrise wurde noch mit dem größten, global koordinier- ten Konjunkturprogramm der Geschichte beantwortet und so zwar nicht überwunden, aber immerhin eingehegt und auf diese Weise in eine nach

1 Zit. nach Majid Sattar, Da waren es nur noch sechs, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 29.5.2017. 2 Angela Merkel, zit. nach Stephan Löwenstein, Suche nach Konsens bei Euro-Rettung, in: FAZ, 1.9.2013. 3 Jürgen Habermas, „Rettet die Würde der Demokratie“, in: FAZ, 4.11.2011. 4 Vgl. Claus Offe und Ulrich K. Preuss, Citizens in Europe, Colchester 2016.

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201707_Blätter.indb 55 21.06.17 11:50 56 Hauke Brunkhorst

wie vor bedrohliche Latenz zurückversetzt.5 Doch kaum war die größte Gefahr gebannt und waren die Banken mit Steuergeldern gerettet, wurden die Staaten erneut zu Bittstellern der Geldhäuser und Investoren, von denen sie sich das fehlende Geld jetzt leihen mussten.6 Die Zinserträge, die ihnen Krise und Zusammenbruch versüßten, steckten Banken, Automobilkonzerne und Investoren gleich wieder in hoch spekulative Finanzprodukte, während Kindergärten und Schulen leer ausgingen und die säkulare Stagnation den sozialen Abstieg breiter Bevölkerungsschichten besiegelte.7

Von der Weltwirtschaftskrise zur Spaltung Europas

In der Eurozone wurde die Weltwirtschaftskrise spätestens mit der griechi- schen Tragödie – und unter der Führerschaft Angela Merkels und Wolfgang Schäubles – zur sozialen Krise Europas. Da die Mittel für Abwrackprämien, verlängertes Kurzarbeitergeld und Bankenrettungen von den Nationalstaa- ten allein aufgebracht werden mussten, verteilten sich die Folgelasten im einheitlichen Währungsraum des Kontinents höchst ungleich.8 Während die Arbeitslosenzahlen im reichen Deutschland niedrig blieben und wenige Jahre nach Ausbruch der Krise – bei steigenden Gewinnen, stagnierenden Löhnen und breitem Niedriglohnsektor – in die Nähe der Vollbeschäftigung zurück- gekehrt sind, ist vor allem die Jugendarbeitslosigkeit im armen europäischen Süden in die Höhe geschnellt und seither nicht mehr zurückgegangen. Fak- tisch bedroht sie seit Jahren eine ganze Generation mit dem sozialen Tod. Das gilt für den gesamten Nordwesten in seiner Beziehung zum Süden der Euro- zone. Gleiche Regeln auf einem schief gelegten Spielfeld, auf dem die einen von oben nach unten und die andern von unten nach oben spielen, erzeugen – dem Ordoliberalismus zum Trotz, der in der deutschen Politik zur Allpartei- enerwartung geworden ist – keine gleichen Wettbewerbsbedingungen. Die ungerechte Verteilung der Lasten ist ins transnationale und mittler- weile auch ins nationale europäische Verfassungsrecht fest einbetoniert wor- den.9 Während horizontale Ungleichheiten zwischen Geschlechtern, sexuel- len Orientierungen, Religionsgemeinschaften und Ethnien weiter verringert wurden, was ein großer, durch das europäische Antidiskriminierungs- recht verstärkter Fortschritt ist, wuchsen die vertikalen Ungleichheiten ins Unermessliche, was ein mindestens so großer, durch das europäische Wett-

5 Für einen knappen Überblick vgl. Craig Calhoun, What Threatens Capitalism Now?, in: Immanuel Wallerstein u.a. (Hg.), Does Capitalism have a Future?, Oxford 2013, S. 132-161. 6 Claus Offe, Europa in der Falle, Berlin 2016; Calhoun, a.a.O., S. 141 ff. 7 Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2016. 8 Claus Offe, The European model of „social“ capitalism: Can it survive European integration?, in: „The Journal of Political Philosophy“, 4/2003, S. 437-469. Zur globalen Vervielfachung der Ungleich- heitsfolgelasten: Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis, Berlin 2016. 9 John Erik Fossum und Augustín José Menéndez, The Constitution’s Gift. A Constitutional Theory for a Democratic European Union, Lanham u.a. 2011; mit Vorschlägen zur Reform: Claudio Franzius und Ulrich K. Preuß, Die Zukunft der europäischen Demokratie, Heinrich-Böll-Stiftung 2011. Zur Genealogie der Krise: Hauke Brunkhorst, Das doppelte Gesicht Europas. Europa zwischen Kapita- lismus und Demokratie, Berlin 2014.

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201707_Blätter.indb 56 21.06.17 11:50 Europa am Abgrund: Zwölf Jahre Merkel 57

bewerbsrecht verstärkter und durch die ungleichen Lebensbedingungen der Eurozone beschleunigter Rückschritt ist.10

Entrechtung qua Urteil und Gesetz

An alledem hat die Politik der stärksten Macht in Europa entscheidenden Anteil. Der massive Rückschritt sozialer Gleichheitsrechte machte aus Bür- gern „Kunden mit Rechten“ (Oliver Nachtwey) und faktisch auch die Fort- schritte horizontaler Emanzipation wieder zunichte, indem er die Emanzipa- tion aller Frauen, aller Homosexuellen und aller Ethnien in marktkonformes Empowerment für die jeweils Besserweggekommenen zurückverwandelt.11 Aus der solidarischen Gesellschaft als Projekt werden solitäre Projekte in der Gesellschaft.12 Die Konsequenz: Die schwarze, jüdische, vorbestrafte, woh- nungslose Homosexuelle in der Peripherie von Paris, Brüssel oder Mailand hat nichts von ihren Rechten, denn sie kann sich dem misogynen, rassisti- schen, antisemitischen und homophoben Milieu gar nicht entziehen, das die schlecht bezahlte, aber schwer bewaffnete lokale Polizei des Ghettos ebenso prägt wie die meisten seiner depravierten Bewohner. Ihre neu gewonnene Freiheit hat keinen „fairen Wert“ (John Rawls).13 Hoch signifikant für diese faktische Entrechtung der lohnabhängigen sozialen Klassen sind die Urteile des Europäischen Gerichtshofs seit der Jahr- tausendwende. In Sachen horizontaler Emanzipation sind sie fast durchgän- gig progressiv, in Sachen vertikaler Emanzipation fast durchgängig regres- siv. Während französische Obdachlose in Belgien Anspruch auf Sozialhilfe haben, sind lettische Arbeiter, die für lettische Unternehmen auf schwedi- schen Baustellen tätig sind, von schwedischen Lohnabschlüssen und schwe- dischen Arbeitsbedingungen ausgeschlossen und drücken auf den schwe- dischen Arbeitsmarkt. Das ist nur eines von einer ganzen Serie von races to the bottom, in dem es nur darum geht, wer als Erster die soziale Differenz in die Höhe, die demokratische Selbstbestimmung auf den Nullpunkt und die Menschenrechte mit den Geflüchteten aus dem Land jagt.14 Unter Führung Angela Merkels, und in Nachfolge von Gerhard Schröders Agenda 2010, ist der Kampf zwischen armen und reichen, entwickelten und

10 Zur Unterscheidung horizontaler und vertikaler Ungleichheit/Emanzipation vgl. Nachtwey, a.a.O. 11 Alexander Somek, Europe: From emancipation to empowerment, London School of Economics, LEQS Paper No. 60/2013; Nachtwey, Abstiegsgesellschaft, a.a.O., S. 116. 12 Nachtwey, a.a.O., S. 208. 13 Vgl. Hauke Brunkhorst, Selbstbestimmung durch deliberative Demokratie, in: „Leviathan“, 1/2017, S. 21-34. 14 Sonja Buckel und Lukas Oberndorfer, Die lange Inkubationszeit des Wettbewerbs der Rechtsord- nungen – Eine Genealogie der Rechtsfälle Viking/Laval/Rüffert/Luxemburg aus der Perspektive einer materialistischen Europarechtstheorie, in: Andreas Fischer-Lescano, Florian Rödl und Chris- toph Schmid, Europäische Gesellschaftsverfassung. Zur Konstitutionalisierung sozialer Demokra- tie in Europa, Baden-Baden 2009, S. 277-296; Martin Höpner, Soziale Demokratie? Die politöko- nomische Heterogenität Europas als Determinante des demokratischen und sozialen Potenzials der EU, in: „Europarecht“, Beiheft 1/2013, S. 69-89, hier: S. 77 ff.; Alexander Somek, Sozialpolitik in Europa: Von der Domestizierung zur Entwaffnung, in: „Europarecht“, Beiheft 1/2013, S. 49-68, hier: S. 64 ff.; Markus Büchting und Felix Stumpf, Arbeitnehmerrechte im Sinkflug. Wie der Europäische Gerichtshof die Gewerkschaftsmacht aushebelt, in: „Blätter“, 6/2008, S. 83-91.

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unterentwickelten Nationalstaaten um Wettbewerbsvorteile an die Stelle der sozialstaatlich institutionalisierten Klassen- und Verteilungskämpfe getre- ten.15 Claus Offe nennt den konstitutionalisierten Kampf um Wettbewerbs- fähigkeit treffend das „hidden curriculum“, die versteckte Verfassung, Euro- pas.16 Da jeder Rückfluss der Gewinne des exportstarken Nordwestens in den importabhängigen Süden durchs Unionsverfassungsrecht und die Inte- ressen der großen Banken blockiert wird, ist die demokratische Solidarität Europas verbraucht, noch bevor sie sich über den Kontinent ausbreiten kann. Anfang der 1990er Jahre war diese ausschließlich „marktkonforme“ Ent- wicklung in Europa keineswegs ausgemachte Sache: Damals gab es noch zwei halbwegs solidarische Optionen: nämlich erstens die Gemeinschafts- währung erst einzuführen, nachdem annähernd gleiche Lebensbedin- gungen vorausgesetzt werden konnten (das war die Option des Ordolibe- ralismus); oder zweitens den Euro nur zusammen mit einer Europäischen Wirtschaftsregierung einzuführen, die demokratisch legitimiert und mäch- tig genug wäre, solche Bedingungen herzustellen (das war die Option von Jacques Delors sozialem Europa). Stattdessen lief der zwischen Deutsch- land und Frankreich ausgehandelte Kompromiss auf die schlechteste aller Möglichkeiten hinaus. So bekamen wir, was niemand wollte, unter extrem ungleichen Lebensbedingungen eine Gemeinschaftswährung ohne demo- kratische Legislative und ohne gewählte Regierung.17 Dadurch verwandelte sich die Eurozone noch am Tag ihrer Gründung in „ein missgebildetes Sys- tem aus neunzehn Staaten ohne eigene Zentralbank und einer Zentralbank ohne Staat.“18 Der Euro war trotzdem erfolgreich, aber der Erfolg hatte einen hohen Preis. Er hat die Integration der Eurozone praktisch irreversibel gemacht. Wer raus- will, muss mit einer doppelten, nämlich ökonomischen und politisch-mora- lischen Katastrophe rechnen, und davor ist die griechische Regierung, als Wolfgang Schäuble ihr 2015 die Pistole auf die Brust setzte, mit gutem Grund zurückgewichen. Dabei war „schon lange vor Einführung des Euro in den hoch integrierten Rechts- und Wirtschaftssystemen der späteren Eurozone klar, dass die grenzüberschreitende ökonomische Verflechtung […] so weit fortgeschritten (war), dass die Eskalation nationaler Protektionismen nicht nur das Ende der Union bedeuten, sondern auch die europäische Wirtschaft geradewegs in die Katastrophe stürzen müsste.“19 Angela Merkel beantwortete die Krise der EU mit ihrer heute schon legen- dären, erpresserischen, aber zutreffenden Aussage: „Stirbt der Euro, stirbt Europa.“ Dieser fiskalpolitischen Erkenntnis folgte jedoch keine Politik der solidarischen Lastenteilung, um die Krise nachhaltig zu bekämpfen. Statt-

15 Claus Offe, The European model of „social“ capitalism, a.a.O., S. 463; Ders., Europe entrapped. Does the EU have the political capacity to overcome its current crisis?, in: „European Law Journal“, 5/2013, S. 595-611. 16 Offe, The European model of „social“ capitalism, a.a.O., S. 463. 17 Henrik Enderlein, Grenzen der europäischen Integration? Herausforderungen an Recht und Politik, DFG-Rundgespräch in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 25.11.2011. 18 Offe, Europa in der Falle, a.a.O., S. 16. 19 Fritz Scharpf, Demokratische Politik in Europa, in: Dieter Grimm u.a. (Hg.), Zur Neuordnung der Europäischen Union. Die Regierungskonferenz 1996/97, Baden-Baden 1997, S. 65-91, hier: S. 82.

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dessen wurden insbesondere die Griechen mit Schulden, die ihnen die Ban- ken in dieser schwindelerregenden Höhe nur deshalb aufgedrängt hatten, weil sie wussten, dass Deutschland, Frankreich und die USA sie im Krisen- fall raushauen würden, allein gelassen. Deutschland hingegen hat, wie eine Studie des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung nachweist, an der Kapi- talflucht aus Griechenland 100 Mrd. Euro verdient, was die Höhe deutscher Bürgschaften für Griechenland fast abdeckt.20 Inzwischen hat die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank die Schwa- chen und die Starken auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet, und das ist unter den gegenwärtigen Bedingungen immer noch ein großer Fortschritt – auch für die Schwachen, deren Schwäche dadurch aber faktisch verewigt wird.21 Hier zeigt sich: Das soziale Band des Euro-Regimes, das Europa heute zusammenhält, ist keines, das aus sozialen Kämpfen und Interaktionen, son- dern aus Technologien und Systemimperativen geflochten ist. Das Regime des Euro ist der seltene Fall einer fast reinen Form der Systemintegration ohne Sozialintegration.22 Das Euro-Regime ist eine hochspezialisierte, geld- politisch vereinseitigte, technische Regierung aus Bankern und Richtern, deren Gesetzgebung noch im Augenblick der Entscheidung – durch das Wort des Präsidenten „whatever it takes“, die Mehrheit des Direktoriums oder des Gouverneursrats – mit zumeist irreversiblen und weitreichenden Folgen exekutiert wird. Die zuständigen Gerichte können die Entscheidung dann sehr viel später kaum noch revidieren, nur noch bestätigen und allenfalls die zukünftigen Kompetenzen der Bank minimal modifizieren. Damit ist das Regime des Euro zusammen mit dem immer schon hege- monialen Wettbewerbsrecht und der Priorität des Privateigentums zur fast unabänderlichen, nur durch einstimmigen Beschluss aller Gliedstaaten wandelbaren, substantiellen Verfassung Europas geworden. Es hat Demo- kratie und Menschenrechte an den veränderlichen und anpassungsfähigen Rand abgedrängt – ohne dass dies, trotz der Affinität dieses Regimes zu den Interessen der herrschenden Klassen Europas, die sozialen Akteure wirklich gewollt hätten.

Der Staat als Diener des Marktes

Die Ironie der Geschichte: Obwohl niemand die hoch defizitäre, postdemo- kratische, rein technische Form seiner Institutionalisierung wollte, erwies sich der Euro in den letzten Jahrzehnten als die Währung, die besser als jede andere zur finanzwirtschaftlich angetriebenen Globalisierung und ihren Siegern passte – und zwar sowohl in den guten Zeiten der Riesengewinne aus Riesenblasen, in denen auch für die Verlierer ein paar Kamellen abfie- len, als auch in den schlechten Zeiten, in denen, nachdem die Blase geplatzt

20 Claus Offe, Narratives of Responsibility: German Politics in the Eurozone Crisis, S. 27 (elektroni- sches Manuskript, beim Autor). 21 So auch Offe, Europa in der Falle, a.a.O. 22 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981.

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war, die Sieger mit dem Geld der Verlierer vom Staat, den sie jahrzehntelang bekämpft hatten, gerettet wurden, während es den Verlierern an den Kragen ging. Nun musste der denunzierte Staat die „marktkonforme Demokratie“ retten. Diese allein dienende Funktion des Staates verweist auf die längeren Linien der neoliberalen Politik, die von Friedrich August von Hayek über Margaret Thatcher bis zu Angela Merkel reichen: Die vor vierzig Jahren in Chile und Argentinien, in England und den USA begonnene, durch das Euroregime massiv verstärkte Kolonialisierung nahezu aller Lebensberei- che durch Geld und Macht hat fast das gesamte soziale, politische und fami- liale Leben den funktionalen Imperativen des Marktes unterworfen.23 Wer nicht unter seinem direkten Kommando steht, muss sich assimilieren. Wen es in die immer breiter werdenden Banlieues der reichen, urbanen Zentren verschlägt, muss lernen, mit wachsender Anomie, kollektiver Depression, unerträglicher Ungleichheit und der kompletten Exklusion zurechtzukom- men. Das Regime des Euro hält Europa zusammen, indem es den Kontinent sozial und politisch spaltet. Die reichen Länder werden immer reicher und die Armen immer ärmer. Die Reichen haben nur noch Rechte, die Armen nur noch Pflichten.24 Und doch sind reiche und arme Länder aneinandergekettet, bis dass der Tod sie scheidet. Das ist die Falle, in der Europa sitzt.25 Während der ökonomische Überlebenskampf der Staaten untereinander immer bedrohlicher wird, geht die Schere zwischen den sozialen Klassen und den Generationen (Jugendarbeitslosigkeit) immer weiter auf. Es ist wirklich so, wie Occupy Wall Street behauptet: Die obersten zehn Prozent Europas sind die Gewinner, während alle nachfolgenden sozialen Klassen an Einkommen und Vermögen verloren haben.26 Die oberen vererben Reichtum und Status an ihre Kinder, die unteren vererben nur noch die Hoffnungslosigkeit. Das Projekt des sozialen Europa und seiner Sozialstaaten ist auf diese Weise in den letzten zehn Jahren nicht nur in eine ökonomische und soziale, sondern auch in eine tiefe politische Krise der Demokratie und ihres Par- teiensystems geraten. Auch diese Krise ist, wie die anderen, eine europäi- sche Krise, die sich, wenn überhaupt, nur europäisch lösen lässt.27 Die wachsende soziale Ungleichheit hat die Wahlbeteiligung in den unte- ren Schichten einbrechen lassen und die sozialdemokratischen und linken Parteien um ihre Mehrheitsfähigkeit gebracht. Sie sind aus Not und Oppor- tunismus dem Trend gefolgt und von Wahl zu Wahl immer weiter nach rechts gerückt, bis sie von den neokonservativen Parteien nicht mehr zu unterschei- den waren.28 In der Folge ist die politische Unterscheidung von links und rechts ebenso kollabiert wie die von Regierung und Opposition.

23 Jürgen Habermas, Im Sog der Technokratie, Berlin 2013. 24 Das ist die brasilianische Konstellation aus Überinklusion der oberen und Unterinklusion der unte- ren Klassen, vgl. Marcelo Neves, Zwischen Subintegration und Überintegration: Bürgerrechte nicht ernst genommen, in: „Kritische Justiz“, 4/1999, S. 557-577. 25 Offe, Europa in der Falle, a.a.O. 26 Statistiken zit. nach Silke van Dyk, Die soziale Frage in der (Post-)Wachstumsökonomie. 27 Vgl. auch Offe/Preuss, a.a.O. 28 Mit Korrelationen, die direkte Kausalität vermuten lassen: Armin Schäfers, Der Verlust politischer Gleichheit: Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, Frankfurt 2015.

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Wenn es aber keine erkennbaren Alternativen zwischen links und rechts mehr gibt, macht das Wählen nur noch für diejenigen Sinn, deren Interessen von der Einheitspartei der „rechten Mitte“, die vom Nordwesten aus Europa und seine Staaten regiert, sowieso schon vertreten werden. Inkarnation die- ser rechten Mitte – und erste Nutznießerin ihrer eigenen Mitte – ist die ewige Kanzlerin, Angela Merkel. Denn auch das ist eine Folge ihrer Politik: Die Opposition verschwindet. Wenn heute Reporter einen Vertreter der Opposi- tion um eine Stellungnahme zur Regierungspolitik bitten, fragen sie gleich einen des kleineren Partners der Großen Koalition, am besten einen Minis- ter. Diese Internalisierung der vormals linken Opposition in die Regierung ist der Anfang vom Ende der alten pluralistischen Demokratie – und gleichzeitig die Öffnung für eine neue Rechte.29

Der Aufstieg der Rechten

Mittlerweile hat die radikale Rechte ihre Chance ergriffen und den riesigen leeren Raum links von der Mitte besetzt. Ihr Siegeszug erklärt sich übrigens nicht primär aus einer Wählerwanderung der vormals linken Industrie- arbeiter der postindustriellen Städte nach rechts. „Früher Kommunist, jetzt Front National“ ist ein übles Gerücht, das von der rechten Propaganda wirk- sam verbreitet und von den neokonservativen und neoliberalen Eliten und Medienkonzernen dankbar aufgegriffen wurde. Wie jüngste Studien aus dem Rust Belt der USA und aus Frankreich zeigen, hat der Aufstieg der radi- kalen Rechten andere Gründe. Er erklärt sich erstens aus der immer weiter sinkenden Wahlbeteiligung der abgestürzten, ehemaligen Arbeiterklasse in den Städten und zweitens aus der hoch mobilen urbanen Jugend, die über- wiegend links eingestellt ist, aber kaum noch wählen geht. Beides sorgt für eine massive Verschiebung des Parteienspektrums nach rechts. Allerdings hat die politische Klasse bis jetzt auf die Herausforderungen von links und rechts höchst asymmetrisch reagiert. Sie passt sich, und das gilt ausnahmslos für alle Parteien des Bundestags, nach rechts an und schlägt nach links zu. Was aber folgt daraus? Die faktisch oppositionslose, techno- kratische Herrschaft Angela Merkels und ihrer jeweiligen Koalitionspartner über den Kontinent ist dem autoritären Liberalismus, der spätestens 2016 mit der Wahl Donald Trumps die Welt verändert hat, schon zu nahe gerückt. Ob sich das in Zukunft wieder ändern wird, durch eine Revitalisierung der Lin- ken, bleibt abzuwarten. Gegenwärtig gibt es dafür wenig Anzeichen, im Gegenteil: Während die Großen Koalitionen in Brüssel und Berlin sich nach rechts anpassen und heimlich Koalitionspläne schmieden, reagieren sie auf jede politische Regung von links mit der unverhohlenen Härte der Hegemonialmacht. Die im Januar 2015 gewählte linke Regierung Griechenlands, die sich der Beset-

29 Dabei kommt es nur selten zur Artikulation einer wirklichen Oppositionsperspektive. Eine seltene Ausnahme ist: „Dann müssten wir Europäer tun, was wir längst hätten tun sollen.“ Ein Gespräch mit Außenminister Sigmar Gabriel über Trump und die Welt, in: FAZ, 16.2.2017.

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zung des Landes durch die Banken des Nordens widersetzte, hat dies exem- plarisch erfahren; sie wurde unter Federführung Wolfgang Schäubles bestraft und gedemütigt.30 Am Ende dieses Exempels, Anfang Juli 2015, wurde der Präsident der EZB gezwungen, dem Land mit der sofortigen ökonomischen Vernichtung zu dro- hen, falls das Parlament in Athen nicht noch in selbiger Nacht die Gesetze beschließt, die ihm von den „Institutionen“ diktiert wurden. Nur wenige Tage vor der griechischen Wahl, spät nachts in einer Hotellobby, hatte Jean- Claude Juncker den Reportern von Arte erklärt, eine Partei, die so weit links stehe wie die griechische Syriza, sei in der Eurozone nicht wählbar.31 Vielleicht aber bedeutet nun ja tatsächlich Donald Trump die letzte Chance für Europa, sein „Schicksal in die eigene Hand zu nehmen“ (Angela Merkel). Mit Trump kehrt jedenfalls die außenpolitische Krise auf den Konti- nent zurück, sieht sich Europa in die 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückversetzt. Plötzlich befindet sich die Europäische Union im Zangen- griff zwischen Russland und der neuen, angelsächsischen Union der Trumps und Mays, der Bannons und Johnsons, die sich anschicken, die neoliberale Globalisierung zu vollenden. Dieser Notlage gehorchend wächst, spätestens seit dem Brexit, das Solidaritätsbewusstsein der Europäer – vom Süden bis zum Norden.32 Das könnte uns Europäer vor die Alternative stellen, entweder Jarosław Kaczyn´skis selbstmörderischem Weg in die europäische Atommacht, den er Merkel vorgeschlagen, aber an Marine Le Pen adressiert hat, zu folgen, oder doch noch mit Emmanuel Macron die Idee eines sozialen Europas zu erneu- ern. Dazu aber bedürfte es einer von unten konstitutionalisierten, demokra- tischen Regierung Europas, die auf die Eurozone beschränkt sein sollte und stark genug wäre, der Erpressungsmacht des Kapitals etwas anderes ent- gegenzusetzen als kleinlaute Marktkonformität à la Merkel. Eine solche Regierung müsste europäische Steuern erheben, die Zen- tralbankpolitik gesetzlich determinieren und in unbegrenzter Höhe Geld aufnehmen können. Sie müsste stark genug sein, um nicht nur Austeritäts- programme und regressive Reformen, sondern, wenn die Wähler das wol- len, massive Umverteilungen von oben nach unten und von Nord nach Süd vorzunehmen, Investitionsprogramme durchzusetzen und eine europäische Arbeitslosenunterstützung einzuführen. Mit Donald Trump stehen wir vor der Entscheidung über das zukünftige Europa. Nationalistische Marktkonformität oder europäische Solidarität – das ist die Alternative. Ein Drittes wird es nicht geben.

30 Offe, Europa in der Falle, a.a.O. 31 Vgl. Prinzip Hoffnung. Die Welt des Alexis Tsipras, Arte, 21.7.2015. 32 Jürgen Gerhards und Holger Lengfeld. Wir, ein europäisches Volk? Sozialintegration Europas und die Idee der Gleichheit aller europäischen Bürger. Wiesbaden 2013; Vision Europe Summit Con- sortium, Welfare state reforms in Europe – Mapping citizens opinion, Gütersloh 2015; Brexit lässt die Zustimmung zur Europäischen Union deutlich steigen, Bertelsmann-Stiftung, 21.11.2016.

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201707_Blätter.indb 62 21.06.17 11:50 Eine Welt in Unordnung Der Rückzug der USA und die globale Multikrise

Von Wolfgang Zellner

enn die Bundeskanzlerin dieser Tage darauf drängt, dass „wir Euro- W päer [...] unser Schicksal wirklich in unsere eigene Hand nehmen“ müssen,1 bringt sie damit vor allem eine fundamentale Veränderung der glo- balen Lage auf den Punkt: Wir erleben derzeit den spektakulären Rückzug der USA aus multilateralen Regimen. Dieser Rückzug war zwar schon seit Längerem angelegt, er hat sich aber seit dem Machtantritt von Donald Trump massiv beschleunigt. Den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung markierte das G 7-Treffen im sizilianischen Taormina, wo es aufgrund der Position des neuen US-Prä- sidenten das Pariser Klimaabkommen nicht einmal mehr in das Abschluss- kommuniqué schaffte – und der Kampf gegen den Protektionismus nur noch gerade so. Der anschließende tatsächliche Ausstieg von Donald Trump aus dem Klimaabkommen war denn auch nur folgerichtig. „Da waren es nur noch sechs“, lautete denn auch treffenderweise eine Überschrift in der FAZ.2 Von einem Eintreten der US-amerikanischen Führung für eine wie auch immer geartete Weltordnung ist heute nichts mehr zu spüren, stattdessen regiert engste Interessenpolitik. Dies aber droht den ohnehin herrschenden Trend hin zu einer fortschreitenden Renationalisierung und Bilateralisierung der internationalen Politik weiter zu verstärken. Der Rückzug der USA aus den internationalen Institutionen und Vereinba- rungen wird bisher nur teilweise durch Staaten wie China und Indien kom- pensiert.3 Zusammengenommen führt dies zu erheblichen globalen Gover- nance-Defiziten, die für die derzeitigen Turbulenzen mitverantwortlich sind. Die Europäische Union bleibt in vielen Bereichen globalen Regierens unverzichtbar, sie ist aber bis heute aufgrund ihrer eigenen Struktur- und Konstruktionsprobleme (fehlende Leitungsebene und akute Legitimations- krise) ein unsicherer Kandidat. Umso bedeutender werden daher halbinfor- melle Formate wie die G 7, G 8 oder G 20. Speziell angesichts des Debakels

* Dieser Beitrag stellt die überarbeitete und leicht erweiterte Fassung eines Vortrags dar, den der Ver- fasser auf der Tagung der Herausgeberinnen und Herausgeber der „Blätter“ am 21.4.2017 gehalten hat. 1 Zit. nach Majid Sattar, Da waren es nur noch sechs, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 29.5.2017. 2 Ebd. 3 Vgl. Amrita Narlikar, Introduction. Negotiating the rise of new powers, in: „International Affairs“, 3/2013, S. 561-576, insb. S. 576.

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201707_Blätter.indb 63 21.06.17 11:50 64 Wolfgang Zellner

von Taormina kommt dem Hamburger G 20-Gipfel vom 7. bis 8. Juli beson- dere Bedeutung zu. Wichtig bleibt festzuhalten, dass angesichts des Rückzugs der USA eine Beteiligung der BRIC-Staaten und dabei insbesondere Chinas am globalen Regieren unabdingbar ist. Damit kann aber – und das ist die harte realpoliti- sche Konsequenz – die Existenz einer demokratischen Regierungsform nicht länger Voraussetzung und Kriterium für die Beteiligung an globalen Regie- rungsstrukturen sein. Ausschlaggebend sind vielmehr ausreichende und nachhaltige Beiträge für eine globale Governance. Wie auch immer diese definiert sein mögen, Rechtsstaatlichkeit sollte dazugehören. Die substanzielle Schwächung des Multilateralismus durch den Rückzug, wenn nicht gar Ausfall der USA ist jedoch nur eines von zahlreichen großen Krisenphänomenen in der internationalen Politik. Das Spezifikum der neuen Lage: Die heutigen Krisen treten kaum noch als Einzelkrise auf (exempla- risch dafür etwa „die“ Kubakrise), sondern als „Multi-Krise“ von vielfach auf komplexe Weise miteinander verbundenen Konflikten. Viele Einzelkrisen „bilden demnach ineinander übergehende Teilstücke einer großen Krisen- landschaft“4 und sind kaum noch im klassischen Sinne zu „lösen“, sondern allenfalls einzudämmen und zu kanalisieren. Dafür bedarf es eines vertieften Verständnisses übergeordneter Zusammenhänge zwischen teilweise geogra- phisch und sachlich weit auseinanderliegenden Einzelphänomenen, wofür die meisten politischen und wissenschaftlichen Akteure aufgrund ihres hohen Spezialisierungsgrades und der damit einhergehenden Vernachlässi- gung darüber hinausgehender Entwicklungen schlecht gerüstet sind. Im Folgenden sollen, nach der Krise des Multilateralismus, fünf weitere zentrale außen- und sicherheitspolitische Brennpunkte bzw. Krisenkonstel- lationen kurz angerissen werden. Sie sind, um die internationale Krisenland- schaft auszuleuchten, eher illustrativ gewählt, also ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit (auch kann in diesem Rahmen nicht auf ihre Entstehungsbe- dingungen eingegangen werden).

Der größte Gefahrenherd: Asien – Nordkorea

Aktuell geht die wohl größte Gefahr vom Konflikt um Nordkorea aus. Dabei ist die Gefahr eines begrenzten Atomkriegs nicht mehr ganz von der Hand zu weisen. Nordkorea entwickelt immer kleinere Nuklearsprengköpfe sowie Raketen, die inzwischen auch das Territorium der USA erreichen können. Vor diesem Hintergrund äußerte US-Außenminister Tillerson während eines Besuchs in Südkorea im März 2017, ein Militärschlag gegen Nordkorea läge als eine „Option auf dem Tisch“.5 Umgekehrt drohte Nordkorea mit einem „gewaltigen Präventivschlag“, der das amerikanische Festland „zu Asche

4 Volker Perthes, Einleitung: Navigieren durch Krisenlandschaften, in: Volker Perthes (Hg.), „Kri- senlandschaften“. Konfliktkonstellationen und Problemkomplexe internationaler Politik. Ausblick 2017, Berlin 2017, S. 5. 5 US-Außenminister Tillerson in Asien. Neue Eskalation zwischen USA und Nordkorea, in: „Süd- deutsche Zeitung“, 17.3.2017.

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verwandeln“6 werde. Doch so brandgefährlich dieser Konflikt ist – und der Tod des US-Studenten Otto Warmbier nach nordkoreanischer Haft hat ihn noch zusätzlich verschärft –, so eröffnet er auch neue Möglichkeiten, ja fast den Zwang zur Kooperation zwischen den USA und China. Zudem gibt es zusätzlich jede Menge anderer Konflikte in Asien: Territo- rialkonflikte (Inseln im Südchinesischen Meer), Hegemonialkonflikte (zwi- schen China und Indien) und den Konflikt zwischen Indien und Pakistan. Dabei existieren in Asien nur vergleichsweise gering ausgeprägte multilate- rale Strukturen, und diese sind im Bereich der Sicherheit besonders schwach. Sicherheitsfragen sind derzeit vielfach multilateral nicht thematisierbar. Von Europa aus gibt es nur marginale Einwirkungsmöglichkeiten auf diese Kon- flikte, daher ist es ratsam, sich dort herauszuhalten.

Naher und Mittlerer Osten: Ein neuer Dreißigjähriger Krieg?

Ein weiterer Brennpunkt sind die komplexen Transformations- und Anpas- sungskonflikte im Nahen und Mittleren Osten sowie in der Sahelzone. Manche bezeichnen sie bereits als neuen Dreißigjährigen Krieg, doch viel- leicht werden sie sogar noch länger dauern. Der Krieg in Syrien ist trotz der Erfolge gegen den „Islamischen Staat“ beileibe nicht beendet. In Afghanis- tan herrscht schon über eine Generation Krieg und echte Lösungen sind bis heute nicht in Sicht. Und infolge der „Katar-Krise“, der massiven Blockade Katars durch Saudi-Arabien, Ägypten, die Arabischen Emirate und zahl- reiche weitere Staaten, erscheint sogar ein die gesamte Region ergreifender Konflikt denkbar, in dessen Mittelpunkt die Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien und Iran stünde, bei möglicher Einbeziehung der jeweiligen Alliierten, USA und Russland. Faktisch wird in der gesamten Region immer nur an Partiallösungen oder punktuellen Abschwächungen gearbeitet, jedoch nicht an einer Lösung des Gesamtkonflikts. Das Gros der militärischen Interventionen von außen war, um es milde auszudrücken, kontraproduktiv und hat weitere Konflikte hervorgebracht, so etwa maßgeblich zur Entstehung des sogenannten Isla- mischen Staates beigetragen. Diplomatisches Einwirken mit dem Ziel einer Abschwächung oder Milderung des Konfliktes ist hingegen außerordentlich notwendig. Das gilt umso mehr, als für die EU ein negatives asymmetrisches Verhältnis besteht – zwischen ihren geringen Einwirkungsmöglichkeiten auf diese Konflikte und deren wachsenden Auswirkungen auf Europa. Das wie- derum führt zu Dilemmata, wie sie bei dem Flüchtlingsabkommen mit der Türkei bestehen: Die EU ist gezwungen, mit Regimen zusammenzuarbeiten, mit denen man dies unter anderen Umständen gern vermeiden würde. Gene- rell ist festzuhalten, dass immer mehr dieser Konflikte „malign“, also bös- artig sind. Sie lassen sich nicht einfach einer Lösung zuführen, sondern sind als Dilemma-Konflikte zu beschreiben, für die es keine kurz- oder mittelfris-

6 Nordkorea droht mit „gewaltigem Präventivschlag“, in: FAZ, 20.4.2017.

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201707_Blätter.indb 65 21.06.17 11:50 66 Wolfgang Zellner

tigen Lösungen im Sinne einer friedlichen Konflikttransformation gibt. Kon- flikte dieser Art können nur äußerst langsam eingehegt werden, sind schnell wieder entzündbar und benötigen sehr viel Aufmerksamkeit und Geduld.

Rüstungskontrolle unter Druck

Eine wichtige Konsequenz eines schwächer werdenden Multilateralismus ist die unsichere Zukunft der globalen und regionalen Rüstungskontrollregime. Weitgehend unklar ist das Schicksal des amerikanisch-russischen „New START“-Abkommens, das die strategischen Nuklearwaffen Russlands und der USA regelt und bisher ein stabilisierender Faktor im Verhältnis zwischen diesen beiden Staaten war. Donald Trump kritisierte das Abkommen im Feb- ruar 2017 als „schlechten Deal“7 für die USA. Und im April bezeichnete US- Außenminister Rex Tillerson das Iranabkommen, das unter größten Mühen ausgehandelt wurde, als „schlechtesten Deal aller Zeiten“,8 was ebenfalls in eine fatale Richtung weist. All dies sind schwere Schläge auf den ohnehin schon schwächelnden Nichtverbreitungsvertrag (NVV), der im Kern vorsieht, dass die Atommächte abrüsten und die anderen Staaten keine Atomwaffen anstreben. Dieses Gleichgewicht von Verpflichtungen gerät immer stärker unter Druck, wenn eine NVV-Überprüfungskonferenz nach der anderen mit unzureichenden Ergebnissen schließt. Die USA kümmern sich auch weniger als früher um den NVV, obwohl dieser ursprünglich auf eine amerikanische Initiative zurück- geht. Auch hier wird ersichtlich, wie stark die US-Regierung sich ihrer glo- balen Verantwortung entzieht, selbst bei Anliegen, die ihr vor Jahrzehnten als zentrale Instrumente für eine friedliche Weltordnung sehr wichtig waren. Das alles führt tendenziell zu weiterer horizontaler nuklearer Proliferation: Es entstehen immer mehr Nuklearmächte, der Besitz von Atomwaffen ver- schränkt sich mit Regionalkonflikten wie dem zwischen Indien und Pakistan oder dem Konflikt um Nordkorea – mit unabsehbaren, aber hoch gefährli- chen Konsequenzen. Hinzugefügt werden muss, dass auch das europäische Rüstungskontrollregime, auf das die Europäer in den frühen 1990er Jahren eminent stolz waren und das als Vorzeigebeispiel für erfolgreiche Rüstungs- kontrolle galt, inzwischen schwer unter Druck geraten ist. Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag), der die Großwaffensys- teme in dem Gebiet zwischen Atlantik und Ural reguliert, ist nach der Sus- pendierung durch Russland 2007 politisch tot. Das Wiener Dokument über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in der letzten Fassung von 2011 benötigt dringend eine Reform. Diese aber ist blockiert, weil Russland in Abwesenheit größerer Abrüstungsschritte Gespräche über Transparenz ablehnt. Und auch das dritte Element, der Vertrag über den Offenen Himmel,

7 Vgl. Jonathan Landay und David Rohde, In call with Putin, Trump denounced Obama-era nuclear arms treaty-sources, www.reuters.com, 9.2.2017. 8 Vgl. Lesley Wroughton, Tillerson accuses Iran of ‚alarming provocation‘ as U.S. reviews policy, www.reuters.com, 20.4.2017.

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befindet sich angesichts wechselseitiger Anschuldigungen über Vertrags- verletzungen in einer ungünstigen Lage. In dieser schwierigen Situation war die Steinmeier-Initiative vom August 20169 eminent wichtig. Sie beinhaltete im Grunde nichts anderes als die Bekräftigung, dass konventionelle Rüstungskontrolle nach wie vor von gro- ßer Bedeutung ist. So richtig diese Initiative ist, so gewagt war sie doch ange- sichts der geringen Chancen ihrer Realisierung. Aber immerhin gelang es mit ihrer Hilfe, in der OSZE einen „strukturierten Dialog“ über sicherheits- politische Fragen anzustoßen.

De facto gescheitert – das Minsker Abkommen

Wie wichtig der OSZE-Dialog ist, sieht man am fünften Krisenfeld, dem, gelinde gesagt, angespannten Verhältnis des Westens, und speziell der EU, gegenüber Russland. Auf die Ukraine zugespitzt, kann man attestieren: Das Abkommen von Minsk ist de facto gescheitert, zumindest in seinem poli- tischen Teil. Das wird offiziell zwar noch nicht zugegeben, denn niemand hat Interesse daran, das Blame Game zu eröffnen und damit selbst in Erklä- rungsnot zu kommen. Doch nach der ukrainischen Wirtschaftsblockade vom März gegen die zwei „bestimmten Regionen der Oblaste Donezk und Luhansk“, wie die beiden Separatisten-Entitäten im Osten des Landes offi- ziell bezeichnet werden, und der darauffolgenden Konfiszierung ukraini- scher Besitztümer wie Fabriken usw. durch die Führungen dieser Entitäten erscheint eine Umsetzung der politischen Punkte des Minsker Abkommens, also Wahlen und Autonomie, nicht mehr möglich. Zwar könnte der Waffen- stillstand bewahrt werden, aber die politische Substanz von Minsk – die den eigentlichen Kern des Abkommens ausmacht – lässt sich unter diesen Bedin- gungen kaum noch aufrechterhalten. Das macht es für die EU noch schwieriger, das Verhältnis zu Russland zu verbessern und gegebenenfalls die Sanktionen aufzuheben. Insgesamt führt dies nicht nur zu einer „Versicherheitlichung“, sondern auch zu einer deutli- chen Remilitarisierung der Beziehungen. Vor einem halben Jahr sprach man noch lediglich von einer Heraufsetzung der Bereitschaftsgrade vorhandener Streitkräfte,10 aber mittlerweile sind deutliche Tendenzen einer begrenzten Aufrüstung zu verzeichnen. Zusätzlich wird die Situation dadurch erschwert, dass Russland in einer Reihe von EU-Staaten immer unverblümter politisch interveniert und ganz offen auf die Schwächung der EU setzt. Ein kleiner Fortschritt wurde insofern erreicht, als sich die OSZE-Staaten zu einem „strukturierten Dialog“ durchgerungen haben. Im letzten Jahr gab es noch eine große Gruppe innerhalb der westlichen Staaten, die jeden über die Ukraine hinausgehenden sicherheitspolitischen Dialog mit Russland

9 Vgl. Frank-Walter Steinmeier, Mehr Sicherheit für alle in Europa – Für einen Neustart der Rüstungs- kontrolle, in: FAZ, 26.8.2016. 10 Vgl. Wolfgang Zellner, Irina Chernyk, Alain Délétroz, Frank Evers, Barbara Kunz, Christian Nün- list, Philip Remler, Oleksiy Semeniy, Andrei Zagoriski, European Security – Challenges at the Socie- tal Level, OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions, www.osce-network.net, S. 19.

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201707_Blätter.indb 67 21.06.17 11:50 68 Wolfgang Zellner

ablehnten, solange Minsk nicht implementiert war. Diese Position ist inzwi- schen weitgehend vom Tisch. Zu dieser Öffnung hat die Steinmeier-Initiative wesentlich beigetragen. Der deutsche Vorstoß in Richtung Rüstungskontrolle ging den USA zu weit, weshalb sie ihn mit dem Vorschlag eines „strukturier- ten Dialogs“ abzubremsen suchten. Doch gelang es letztendlich, beide Posi- tionen zu verbinden, Ergebnis ist nun ein sicherheitspolitischer Dialog inklu- sive Rüstungskontrolle auf der Grundlage eines Beschlusses des Hamburger OSZE-Ministerratstreffens vom Dezember 2016.11 Dafür wurde bei der OSZE eine informelle Arbeitsgruppe unter Leitung des deutschen OSZE-Botschaf- ters eingerichtet, die mittlerweile mit einer Debatte über Bedrohungsperzep- tionen ihre Arbeit aufgenommen hat. Grundsätzlich sind bei der europäischen Sicherheitspolitik zwei Aspekte von Bedeutung. Erstens besteht bereits seit Längerem – und ungeachtet der Rhetorik der Trump-Regierung – die Tendenz, dass sich die USA aus den europäischen Angelegenheiten zurückziehen und ihren Hauptfokus mehr auf den asiatischen Raum richten; und mit großer Wahrscheinlichkeit wird sich daran auch in Zukunft und unter anderer US-Präsidentschaft nichts ändern. Das aber heißt, dass die europäischen Angelegenheiten – ganz im Sinne der Merkelschen Forderung – zwangsläufig wieder mehr zur Sache der Europäer werden. Zweitens besteht der Kern der Sicherheitsprobleme in Europa weder im Ukrainekonflikt noch in einem Wettrüsten, sondern in der tiefgehenden Uneinigkeit zwischen Russland und dem Westen über die Grundzüge der europäischen Ordnung. Leider wird diese zentrale Frage bis- her noch kaum diskutiert. Eine Initiative, die das ändern will, wurde im ver- gangenen Jahr von einer Arbeitsgruppe des „OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions“ gestartet, die mit einer Debatte über europäische Sicherheitsordnungen begann.12

Worst Case: Die Auflösung der EU

Alle diese Überlegungen basieren jedoch auf einer Grundannahme: dem Fortbestand der Europäischen Union. Allerdings befindet sich auch diese in einer fundamentalen Krise. Selbst der Worst Case, die Auflösung der Euro- päischen Union, scheint heute nicht mehr völlig undenkbar zu sein – und zwar trotz der Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich, bei denen ein Sieg der EU-feindlichen Rechtspopulisten erfolgreich verhindert werden konnte. Gerade wenn man den Worst Case abwenden will, muss man ihn denken, auch wenn einem das intuitiv widerstrebt. Die sicherheitspolitischen Auswirkungen einer EU-Auflösung sind unabsehbar. Klar ist jedoch, dass bereits heute die Schwächung der EU zu erheblichen sicherheitspolitischen Auswirkungen führt. Das ist schon im unmittelbaren Vorfeld der EU, nämlich in Südosteuropa, zu besichtigen. Der zunehmende russische Druck auf Ser-

11 Vgl. OSZE, Ministerrat Hamburg 2016, Von Lissabon bis Hamburg. Erklärung zum 20. Jahrestag des Rahmens für Rüstungskontrolle der OSZE, 9.12.2016, (MC.DOC/4/16/Corr.1), www.osce.org. 12 Vgl. Zellner u.a., a.a.O.

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201707_Blätter.indb 68 21.06.17 11:50 Eine Welt in Unordnung 69

bien, ein dubioser Putschversuch in Montenegro mit mutmaßlicher russischer Involvierung und die schwierige Regierungsbildung in Mazedonien zeigen, dass die Binde- und Integrationskraft der Europäischen Union, die ihren süd- osteuropäischen Assoziierungspartnern keine glaubwürdige Beitrittsper- spektive mehr anbieten kann, abnimmt und damit ihre Fähigkeit, Konflikte zu lösen oder wenigstens einzudämmen. Eine Auflösung oder zumindest weitere Schwächung der EU hätte auch fragmentierende Auswirkungen auf die Nato (wie es bereits im angespann- ten Verhältnis der EU und speziell Deutschlands gegenüber der Türkei deutlich wird). Sie würde zudem den Spielraum für ein bilaterales Einwir- ken Russlands erhöhen. Ähnliches gilt übrigens für China, das wesentlich mehr auf (Süd-)Osteuropa einwirkt, als in der Öffentlichkeit bisher wahr- genommen wird. Der Worst Case würde auch einen substanziellen Schub zugunsten eines neuen Bilateralismus und einer Wiederkehr des Denkens in Kräftegleichgewichten auslösen. Dabei würde fast zwangsläufig ein klei- neres Bündnissystem um Deutschland herum entstehen, das die notwendi- gen Gegenreaktionen hervorrufen würde. Letztlich kann man nur zu einem Schluss kommen: „Wer glaubt, dass sich die ewige Frage von Krieg und Frie- den in Europa nie mehr stellt, könnte sich gewaltig irren. Die Dämonen sind nicht weg, sie schlafen nur.“13 Dieses Diktum Jean-Claude Junckers von 2013 ist heute vermutlich noch aktueller als damals.

Was tun?

Was aber kann die Politik gegen diese hochkomplexe Konfliktlandschaft tun? Die richtige Strategie wäre, in möglichst vielen Einzelfeldern negative Entwicklungen zum Stoppen zu bringen oder zumindest zu verlangsamen. Es gilt, Konflikte zu isolieren, einzuhegen und zu verhindern, dass sich ver- schiedene Konfliktpotentiale verbinden und auf diese Weise potenzieren. Das verspricht keine durchgreifenden und schon gar keine raschen Lösun- gen, aber eine gewisse Beruhigung der Konfliktlandschaft, wie dies etwa heute, knapp zwei Jahre nach Beginn der Krise, beim Flüchtlingsthema zu beobachten ist. Wichtig ist, gerade dann präventiv zu investieren, wenn es (noch) nicht brennt. Wenn einzelne Krisen nicht gelöst, sondern nur einge- dämmt werden können, ist es umso wichtiger, die politische, soziale, wirt- schaftliche und auch physische Resilienz von Gesellschaften zu stärken. Ein solches Vorgehen kann sich Widersprüche und Gegenbewegungen zu Nutze machen, die allenthalben zu beobachten sind. Ein gutes Beispiel ist die Situation in Nordkorea, die inzwischen so zugespitzt ist, dass sie die USA, Russland und vor allem China zu gewissen kooperativen Schritten bringen, ja sogar zwingen könnte. Eine andere positive Beobachtung ist, dass Popu- lismus à la Trump in Europa nicht überall goutiert wird und einheimische populistische Kräfte damit teils in Schwierigkeiten bringt. So hat etwa die

13 Juncker spricht von Kriegsgefahr in Europa, www.spiegel.de, 10.3.2013.

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201707_Blätter.indb 69 21.06.17 11:50 70 Wolfgang Zellner

AfD den Sieg Trumps begrüßt, was offensichtlich einigen ihrer Wähler miss- fällt und damit die Chancen der Partei bei den kommenden Bundestagwah- len schmälert. Zudem bezieht nicht jede Regierung oder Bewegung, die derzeit als popu- listisch abgeheftet wird, automatisch Anti-EU-Positionen. Ein schönes Bei- spiel dafür ist Polen. Wie die polnische Ministerpräsidentin Beata Szydło unlängst schrieb, sei die polnische Regierung grundsätzlich für die EU, sähe aber an einigen Punkten Diskussionsbedarf: „Polen glaubt an eine Euro- päische Union, die imstande ist, sich zu reformieren, um den Bedürfnissen der Länder und Nationen noch besser gerecht zu werden.“14 Ein ähnliches Phänomen war auch in Italien in der Reaktion auf das Brexit-Referendum zu beobachten, als sich die Lega Nord plötzlich unerwartet reserviert gegen- über einem EU-Austritt Italiens positionierte. Diese Tendenz einer Diffe- renzierung wird durch die Wahlergebnisse in Frankreich und den Nieder- landen sicher weiter befördert werden. All dies sind Anzeichen dafür, dass unter forcierten Krisenbedingungen selbst die vermeintlich hartleibigsten Problemverursacher zu einem Teil der Lösung werden können. Dies sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auseinandersetzung mit den aktuellen globalen Krisen- und Konfliktkonstellationen viel schwieriger und langwieriger sein wird, als es das bisherige konventionelle Krisenverständ- nis nahegelegt hat. Schnelle Lösungen sind heute leider nirgendwo in Sicht.

14 Beata Szydło, Wir wollen eine einige Europäische Union, in: FAZ, 21.4.2017. Anzeige

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201707_Blätter.indb 70 21.06.17 11:50 Ein Meer aus Plastik: Die Vermüllung unserer Ozeane Von Nadja Ziebarth

in Leben ohne Plastik scheint heutzutage kaum mehr vorstellbar. Von E der Zahnbürste über den Computer bis zur Folienverpackung der Bio- gurke im Supermarkt sind wir von Plastik umgeben. Der überwiegend aus Erdöl hergestellte Kunststoff ist so selbstverständlich in unserem Leben, dass wir meist nicht darüber nachdenken, wo wir ihn überall benutzen – und wel- che Folgen das hat. Kein Wunder – Produkte und Verpackungen aus Plastik sind langlebig, billig und leicht. Doch die extreme Haltbarkeit erweist sich am Ende als Fluch: Denn landen Plastikteile nicht in der Gelben Tonne, son- dern auf der Straße oder im Meer, braucht es mehrere hundert Jahre, bis sich das Material zersetzt hat. Bis dahin bleiben sie in der Umwelt und richten Schaden an. Dennoch wächst die Produktion Jahr für Jahr: Bis 2020 gehen Schätzungen von jährlich 500 Mio. Tonnen neuer Plastikprodukte aus; das entspricht im Vergleich zu den 1980er Jahren einem Anstieg um 900 Pro- zent.1 Ironischerweise wuchs damit parallel zum Anstieg des ökologischen Bewusstseins ausgerechnet der Einsatz von Kunststoffen. Diese enormen Mengen an Plastik werden jedoch nur in den wenigsten Teilen der Welt ordentlich entsorgt und recycelt: Viel öfter gelangen die Abfälle über die Küstenregionen, Flüsse, durch Überschwemmungen oder direkt auf See in die Meere. Zwar gibt es in Deutschland keine offenen Müll- deponien mehr, aber in vielen anderen Meeresanrainerstaaten sind sie noch weit verbreitet. So weht der Wind Müllreste bis in die Flüsse und Meere. Auch Folien, die in der Landwirtschaft verwendet werden, finden den Weg ins Meer – durch Stürme oder unsachgemäße Entsorgung. Ein 2013 im Mittel- meer geborgener toter Pottwal enthielt in seinem Magen ganze 17 Kilo Plas- tik in 59 verschiedenen Plastikteilen, darunter insgesamt 30 Quadratmeter dicke Plastikfolie. Teile davon stammen mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Landwirtschaft, wo die Folie dazu führt, dass Insekten und Wildpflanzen weniger Lebensraum zur Verfügung steht. Aber auch Alltagsgegenstände und -verpackungen gelangen vielfach in die Meere: die nach kurzem Gebrauch weggeschmissene Plastiktüte, am Strand liegengelassene Plastikflaschen oder der Coffee-to-go-Becher aus dem übervollen Mülleimer am Flussufer. Achtlosigkeit, Abfallbehälter, die nicht vor Tieren geschützt sind, oder auch zerrissene Gelbe Säcke sorgen selbst in Ländern mit einer funktionierenden Müllentsorgung dafür, dass

1 Vgl. Michael Weiland, Genug Geredet. Greenpeace-Aktivisten protestieren bei Marine Litter Con- ference in Bremen, www.greenpeace.de, 1.6.2017.

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Müll in der Umwelt landet. Jede Ware, die in Kunststoffen verpackt ist, birgt somit die Gefahr, dass alltägliche Materialien in die Umwelt und letztlich ins Meer gelangen. So finden sich am Strand häufig auch Reste von Luftballons. Nach einer Bewertung der Organisation Ocean Conservancy, die Müllsammelaktionen am International Coastal Cleanup Day auswertete, nehmen diese den dritten Platz des an Stränden angespülten Meeresmülls ein, getoppt nur von Plastik- tüten und Fischernetzen. Die Fischerei und Handelsschifffahrt, Freizeitschiffe, Offshore-Anlagen und Aquakulturen für Zuchtfische sorgen ihrerseits für Müll in den Meeren. Zwar ist es nach den internationalen Regularien der Internationalen Mariti- men Organisation (IMO) verboten, Abfälle über Bord zu werfen. Allerdings können einige Fundstücke bei Strandräumungsaktionen eindeutig auf die Schifffahrt zurückgeführt werden. Dazu kommen die zahlreichen Netzteile, die beispielsweise an den Nordseeküsten gefunden werden. Sie deuten dar- auf hin, dass die Fischerei einen erheblichen Anteil des Plastikmülls in den Meeren verursacht. Bis die Netze am Strand gefunden werden, sind sie meist schon über längere Zeiträume als sogenannte Geisternetze durchs Wasser getrieben. Müll gelangt auch dadurch in die Meeresumwelt, dass Container auf See oder beim Verladen über Bord gehen: Auf den Weltmeeren sind im Durch- schnitt 40 000 Handelsschiffe unterwegs, die meisten davon sind Frachtcon- tainer, die 90 Prozent des weltweiten Warenverkehrs transportieren. Pro Tag befinden sich auf den Gewässern rund um den Globus fünf bis sechs Mio. Container. Davon gehen jährlich geschätzte 1600 Container samt Inhalt bei Schiffshavarien oder Sturm über Bord. Beispielsweise spülte die Nordsee nach den diesjährigen Winterstürmen im Januar massenhaft Überraschungs- eierkapseln und Legoteile auf der niedersächsischen Insel Langeoog an. Tagelang waren zahlreiche Helferinnen und Helfer damit beschäftigt, den Strand zu säubern. Darüber hinaus fanden sich Räder, Möbelteile und Star- Wars-Figuren, Kabel, Plastikstreifen und sogar Gestelle von Kinderwagen.2

Mehr Müll als Plankton

Insgesamt wird der jährlich in die Weltmeere gelangende Müll auf zehn Mil- lionen Tonnen geschätzt – das entspricht durchschnittlich einer LKW-Ladung pro Minute. Drei Viertel des Mülls, der am Strand gefunden wird, besteht aus Plastik in allen Größen, von Mikroplastik bis zu langen Fischernetzen. Weil Plastik enorm langlebig ist und 300 bis 450 Jahre braucht, um zu verrotten, ist er zu einer kumulativen Bedrohung für die Meeresumwelt geworden. Schät- zungen gehen davon aus, dass 70 Prozent des Mülls auf den Meeresboden sin- ken, verteilt von den Polarregionen bis zur Tiefsee. Weitere 15 Prozent befin- den sich in Bewegung in der Wassersäule, also allen Wasserschichten, und ein

2 Ü-Eier am Strand von Langeoog, www.tagesschau.de, 7.1.2017.

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201707_Blätter.indb 72 21.06.17 11:50 Ein Meer aus Plastik: Die Vermüllung unserer Ozeane 73

weiterer Anteil von 15 Prozent an den Stränden. Eine Ausnahme von dieser Verteilung bilden riesige Müllstrudel, bei denen Abfälle durch Strömungen zusammengetrieben werden. Dort schwimmen laut Hochrechnungen sechs- mal mehr Plastikteile als Planktonorganismen. Sie bedecken riesige Flächen im Meer und sind mittlerweile schon vom Weltraum aus zu erkennen.3 Die Auswirkungen des Plastikmülls auf die Ökosysteme des offenen Mee- res und des Meeresbodens sind immens. Mehr als 663 Tierarten sind von der Verschmutzung betroffen; weltweit sterben jährlich eine Million Vögel und 100 000 Meeressäuger daran. Die Tiere verheddern sich im Plastikmüll oder verwechseln Plastikteile im Meer mit Nahrung. Die Folgen sind Ver- letzungen, Strangulationen und plastikgefüllte Mägen, aufgrund derer die Tiere verhungern, weil sie keine weitere Nahrung mehr aufnehmen können. 94 Prozent der Eissturmvögel in der Nordsee hatten laut einer Studie ver- schluckten Meeresmüll in ihren Mägen, im Durchschnitt waren es 27 Parti- kel pro Vogel.4 Da der Eissturmvogel auf See lebt und somit seine Nahrung ausschließlich aus dem Meer stammt, dienen die Totfunde der Vögel als Indi- kator für die Müllbelastung der Nordsee und des Nordostatlantiks. Neben dem offensichtlichen Plastikmüll, den wir an unseren Küsten, Flussufern und in den Meeren finden, belasten mikroskopisch kleine Kunst- stoffteile die Gewässer, das sogenannte Mikroplastik. Darunter werden feste, unlösliche und nicht biologisch abbaubare synthetische Polymere (Kunst- stoffe) verstanden, die kleiner als fünf Millimeter sind. Sogenanntes sekun- däres Mikroplastik entsteht beim Zerfall größerer Kunststoffteile durch Wellenbewegung und Sonneneinstrahlung. Das im Verwitterungsprozess immer kleiner werdende Plastik bleibt so über Jahrhunderte in den Meeren und wird mit den Strömungen verbreitet.

Vom Badezimmer ins Meer: Mikroplastik in Kosmetika

Doch Kunststoff steckt nicht nur dort, wo er auf den ersten Blick erkennbar ist: Auch in Sonnencremes, Duschgel und Wimperntusche finden sich soge- nannte primäre Mikrokunststoffe, in fester, flüssiger, wachs- oder gelartiger Form – auch diese gelangen irgendwann über das Abwasser zum Teil in den Wasserkreislauf. Die Kosmetik- und Körperpflegeindustrie setzt diese syn- thetischen Polymere in einer Vielzahl von Produkten ein. Synthetische Poly- mere dienen unter anderem als Peelingpartikel, Bindemittel, Filmbildner und Füllmittel in Shampoos, Peelings und dekorativer Kosmetik.5 Der Kunst- stoffgehalt in einem Produkt kann zwischen weniger als einem und mehr als 90 Prozent variieren. Diese Kunststoffe unterliegen einer Größenklasseneinteilung, die von Mil- limeter über Mikrometer bis in den Nanometerbereich reicht. Ab einer Größe

3 Vgl. dazu auch Mengen und Verbreitung von Müll und Mikroplastik im Meer, http://litterbase. awi.de. 4 Vgl. Nils Guse, Stefan Weiel, Nele Markones und Stefan Garthe, OSPAR Fulmar Litter EcoQO – Masse von Plastikmüllteilen in Eissturmvogelmägen, Kiel 2012, www.bfn.de. 5 Vgl. BUND, Einkaufsratgeber „Mikroplastik – Die unsichtbare Gefahr“, Berlin 2017, www.bund.net.

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von unter 1000 Nanometer wird von Nanomaterialien gesprochen. Diese werden aufgrund ihrer Beschaffenheit als besonders kritisch angesehen: Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie über die Haut aufgenommen oder einge- atmet werden können und dass sie im Körper unerwünschte Reaktionen her- vorrufen oder den Hormonhaushalt beeinflussen können.6 Nachdem diese potentiellen Risiken lange Zeit unbeachtet blieben, unterliegen Nanopar- tikel – anders als Mikroplastik – inzwischen immerhin einer Deklarations- pflicht bei Kosmetika. Doch leider geht aus den Inhaltsstoffangaben der Her- steller weder die Größe noch die Formmasse der verwendeten synthetischen Polymere hervor. Alle Polymerstrukturen sind empfindlich gegenüber Umwelteinflüssen, beispielsweise Salzgehalten, was unter anderem zu Verklumpungen führen kann und deren Umweltverhalten verändert. Da Abbauwege und Umweltaus- wirkungen von flüssigen Kunststoffen ungeklärt sind und ein nachträgliches Entfernen aus der Umwelt nicht möglich ist, muss gemäß dem Vorsorgeprin- zip verhindert werden, dass diese in die Umwelt gelangen – doch von ver- bindlichen gesetzlichen Vorgaben sind wir hierzulande noch weit entfernt. Zwar wird die Problematik des Mikroplastiks in Kosmetikprodukten seit drei Jahren politisch und öffentlich diskutiert. Der BUND hat damals bereits ein EU-weites Verbot von Mikroplastik in Kosmetika gefordert. Das Bun- desumweltministerium verabredete jedoch stattdessen in Gesprächen mit Kosmetikherstellern eine freiwillige Vereinbarung zum Ausstieg aus dem Einsatz von Mikroplastik. Der Inhalt dieser Vereinbarung blieb allerdings unveröffentlicht, daher ist sowohl der genaue Wortlaut als auch der Zeitpunkt des Ausstiegs nicht bekannt. Im Jahr 2014 hatten einige Hersteller diesen für 2016 angekündigt. Aktuell wird der Ausstieg auf 2020 datiert. Um zu überprüfen, ob der Anteil an Kosmetika mit Mikroplastik zwischen 2014 und 2016 abgenommen hat, wurden in einer Studie die gesammelten Daten der „Codecheck“-App ausgewertet. Codecheck zeigt Verbraucherin- nen und Verbrauchern über den Barcode der Produkte deren Inhaltsstoffe an und bewertet sie. In dieser Mikroplastik-Studie wurden insgesamt rund 103 000 Kosmetikprodukte (44 386 in 2014 und 58 404 in 2016) aus 19 Katego- rien untersucht. Zahnpasta fand keine Berücksichtigung, da sie mittlerweile kein Mikroplastik mehr enthält – ein positives Beispiel dafür, dass der Aus- stieg aus Plastik als Inhaltsstoff von Kosmetika gelingen kann. Das zeigen auch die Hersteller zertifizierter Naturkosmetik, die generell auf Mikroplas- tik verzichten.7 Doch bei konventioneller Kosmetik ist kein großer Fortschritt zu verzeich- nen. Die Verwendung der Mikroplastikstoffe hat nicht signifikant abgenom- men: So sank zwar der Polyethylen-Anteil in Gesichtspeelings von 34 auf 30 Prozent. In den meisten anderen untersuchten Kategorien aber war sogar eine leichte Zunahme von Polyethylen zu verzeichnen. Insbesondere bei der

6 Vgl. BUND, „Nanos überall, Nanotechnologie im Alltag“, Berlin 2016, www.bund.net; Greenpeace, Vom Waschbecken ins Meer. Zu den Umweltfolgen von Mikrokunststoffen in Kosmetik- und Kör- perpflegeprodukten, Berlin. 7 Vgl. BUND, Einkaufsratgeber, a.a.O.

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dekorativen Kosmetik ist der Mikroplastikanteil besonders hoch. Make-ups wie Foundations, Puder oder Concealer bedecken die Haut mit einem feinen Plastikfilm verschiedenster Polymere.8 Auch Augenkosmetik wie Mascara, Lidschatten oder Eyeliner enthält einen oder mehrere Mikroplastikstoffe. Und auch in dekorativer Lippen- kosmetik befindet sich Mikroplastik. In rund 17 Prozent der untersuchten Produkte findet sich Polyethylen. Mit vielen Duschgelen tragen sich Ver- braucher ebenfalls synthetische Polymere auf die Haut. Und Mikroplastik befindet sich ebenfalls nach wie vor in Cremes und im Sonnenschutz. Etwa 12 Prozent der untersuchten Gesichtscremes beinhalten Acrylates/ C10-30 Alkyl Acrylate Crosspolymer. Und auch in 31 Prozent der untersuchten Son- nenschutzprodukte ist der Emulsionsbildner enthalten.9 In Deutschland werden jährlich rund 790 000 Tonnen kosmetische Mittel produziert, die zumeist täglich Verwendung finden. Laut dem Umweltbun- desamt werden pro Jahr in Deutschland allein 500 Tonnen Polyethylen in Kosmetika eingesetzt, daneben gibt es noch zahlreiche weitere synthetische Stoffe wie Polyamid oder Silikone. Diese synthetischen Polymere gelangen über die lokalen Abwässer zu den Kläranlagen. Obwohl hierzulande das Wasser viele Filterstufen durchläuft, können die Anlagen Mikroplastik nur bedingt herausfiltern; zwar wird ein Teil im Klärschlamm zurückgehalten, doch ein Rest gelangt in Meere und Flüsse. Bereits behandeltes Abwasser kann noch bis zu 100 Plastikpartikel pro Liter enthalten.10 Vor allem sehr kleine Partikel werden im Restwasser der Kläranlagen gefunden.

Mikroplastik in der Umwelt

Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre bekräftigen die Aussage, dass Mikroplastik sowohl in Gewässern als auch Sedimenten weit verbreitet ist. Einmal im Meer angekommen, können diese Kunststoffe nicht mehr entfernt werden und belasten die Meere über Hunderte von Jahren. Mikroplastik wurde in Oberflächengewässern, Flachgewässern, in Tiefsee- sedimenten und in den Verdauungstrakten einer Vielzahl von Organismen in diesen Lebensräumen gefunden. Die Hauptwege von Mikroplastik ins Meer sind lokale Abwasser und Regenwasser. In der Nordsee wurden bereits 20 Partikel pro Kubikmeter gemessen, im arktischen Eis eine Million Partikel pro Kubikkilometer. Je kleiner das Mikroplastik ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass Meeresorganismen wie Zooplankton, Muscheln, Würmer, Fische und Säugetiere dieses aufnehmen. Dies geschieht passiv durch Filtration oder dadurch, dass Lebewesen die Plastikpartikel für Nahrung halten bzw. Tiere fressen, die bereits Mikroplastik aufgenommen haben. Diese Kunststoffe wirken direkt und indirekt auf die

8 Rund 8 Prozent aller untersuchten Make-up-Produkte enthielten Polyethylen, rund 15 Prozent aller untersuchten Make-up-Produkte enthielten Nylon-12, rund 8 Prozent enthielten Polymethyl Metha- crylate. 9 Vgl. Codecheck AG, Mikroplastik-Studie 2016, Zürich 2016, www.corporate.codechek.info. 10 Vgl. die umfangreichen Verweise in: BUND, Mikroplastik im Meer, Bremen 2017, www.bund.net.

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Organismen ein: Sie können zu Gewebeveränderungen bzw. Entzündungs- reaktionen führen, bis hin zu inneren Verletzungen und Todesfällen.11 So zeigte sich beispielsweise, dass umherschwimmendes Mikroplastik im Was- ser das Schlüpfen von Fischlarven sowie deren Verhalten und Ernährung negativ beeinflusst und auch ihre Lebenserwartung verringert. Das aufgenommene Mikroplastik kann entlang der Nahrungskette wei- tergegeben werden: Abgesunkenes Mikroplastik wird durch Filtration von Wasserpflanzen aufgenommen, zum Teil wieder ausgeschieden, von Kleinst- lebewesen und Fischen gefressen und über die jeweils größeren Fressfeinde immer weitergereicht. So fand eine Untersuchung Mikroplastik in 69 Prozent von rund 400 untersuchten Fischen in der Nord- und Ostsee.12 Auch wenn dieses im Nahrungstrakt gefunden und somit zumeist nicht vom Menschen verspeist wird, ist unklar, ob damit nicht auch eine Gefahr für die menschliche Gesundheit besteht. Denn zum einen bindet Mikro- plastik im Wasser befindliche Schadstoffe wie beispielsweise Pestizide wie ein Magnet an sich, die im Organismus wieder freigesetzt werden und sich im Fleisch der Tiere anreichern können. Zum anderen können sich aus den Plastikstoffen mit der Zeit chemische Zusatzstoffe lösen, die bei der Herstellung eingesetzt werden. Diese sammeln sich im Wasser und in den Lebewesen. Bei diesen Stoffen – wie beispielsweise Bisphenol A (BPA) oder Phtalate, die als Weichmacher eingesetzt werden – handelt es sich um „endokrine Disruptoren“: Sie sind hormonell wirksam und können in den Stoffwechsel von Lebewesen eingreifen. Nachdem lange Jahre die von BPA ausgehende Gefahr geleugnet wurde, ist seit 2011 immerhin ein Verbot des Stoffs in Baby- flaschen europaweit gültig. Manche Länder gehen noch darüber hinaus: Dänemark etwa verbietet den Stoff auch für alle Lebensmittelbehälter für Kleinkinder, Frankreich plant ein Verbot für alle Lebensmittelverpackun- gen.13 Für dieses Jahr hat die Europäische Behörde für Lebensmittelsicher- heit eine Neubewertung des Stoffs angekündigt.14

Verbindliche Regeln sind nötig

Auch wenn sich die G20-Staaten im Juli dem Aktionsplan gegen Meeresmüll anschließen werden und damit ein wichtiges politisches Zeichen setzen, sind wir von einheitlichen Regelungen zum Umgang mit Mikroplastik noch weit entfernt: Bislang gibt es erst in wenigen Ländern gesetzliche Vorgaben für dessen Verwendung. Zwar verabschiedeten die USA Ende 2015 einstimmig ein Verbot von Herstellung und Verkauf mikroplastikhaltiger Kosmetika zum

11 Emma L. Teuten, Steven J. Rowland, Tamara S. Galloway und Richard C. Thompson, Potential for plastics to transport hydrophobic contaminants, in: „Environmental science & technology“, 22/2007, 7759-7764. 12 Vgl. Umweltbundesamt, Auch deutsche Meere leiden unter Plastikmüll, www.umweltbundesamt.de, 7.6.2017; Umweltbundesamt: Zu viel Müll an Nordseeküste, www.ndr.de, 9.6.2017. 13 Vgl. BUND, Achtung Plastik! Chemikalien in Plastik gefährden Umwelt und Gesundheit, Berlin, S. 12 ff. 14 Vgl. Bisphenol, www.efsa.europa.eu.

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Schutz der Ozeane und Gewässer, das seit Januar 2017 gilt. Allerdings bezieht sich das Verbot nur auf Polyethylen in sogenannten Rinse-off-Kosmetika. Diese Einschränkung auf Produkte, die bei der Nutzung direkt in die Abwäs- ser gelangen, wie Seifen und Duschgel, ist nicht wirklich nachvollziehbar. Damit sind Make-up und Cremes ausgenommen, obwohl auch diese Stoffe irgendwann abgewaschen werden und somit ebenfalls in die Umwelt gelan- gen. Auch die Niederlande und Großbritannien bereiten gesetzliche Rege- lungen für ein Verbot von bestimmten Mikroplastikstoffen vor, in Italien und Dänemark wiederum ist zumindest eine Kennzeichnungspflicht geplant. In der Schweiz wurde der Antrag gegen Mikroplastik in Kosmetika des Grü- nen-Politikers Balthasar Glättli mit der Begründung abgelehnt, andere Mikroplastikquellen seien viel problematischer. Auch wenn Mikroplastik und andere synthetische Kunststoffe in Kos- metik- und Körperpflegeprodukten nur für einen Teil der Gewässerver- schmutzung verantwortlich sind, lässt sich diese Quelle für die Belastung der Umwelt leicht austrocknen. Ihre Verwendung in diesen Produkten sollte daher umgehend verboten werden – in jeglicher Größe und Formmasse. Die Bundesregierung könnte mit gutem Beispiel vorangehen und sich endlich für die erfolgreiche Umsetzung der europäischen Meeresstrategie- Rahmenrichtlinie (MSRL)15 stark machen: Darin hat sie sich verpflichtet, bis zum Jahr 2020 den Eintrag von Müll in die Nord- und Ostsee um 50 Prozent zu reduzieren. Um die Verunreinigung der Meere zu verhindern, bedarf es ganz konkreter, effektiver und verbindlicher Maßnahmen. So sollten Hersteller auch für die Verpackungen ihrer Produkte in die Verantwortung genommen werden. Dies beinhaltet die Förderung eines nachhaltigen Produktdesigns, die Schaffung von Anreizen für die Wieder- benutzung und das Recycling von Plastik. Auf der Basis des Kreislaufwirt- schaftsgesetzes müssen Produkte von vornherein langlebiger konzipiert wer- den. Wir dürfen nicht länger hinnehmen, dass Produkte kurz nach dem Ende der Gewährleistungsfrist von zwei Jahren ohne Eigenverschulden unbrauch- bar werden und nicht mehr repariert werden können.16 Bund, Länder und Kommunen sind aufgefordert, Abfallvermeidungspro- gramme aufzustellen, in denen sie konkrete Ziele und Maßnahmen, bei- spielsweise die Förderung von Mehrwegverpackungen, benennen. Dazu gehört länderseitig auch die Verankerung des Themas in Bildungszielen und Schulmaterialien. Plastiktüten dürfen nicht mehr kostenfrei, sondern nur noch gegen angemessen hohe Gebühren ausgegeben werden; zugleich sollte geprüft werden, ob ein Pfand- und Rückgabesystem sinnvoll sein kann. Gleichzeitig muss in der Öffentlichkeit für die Nutzung von Mehrwegta- schen und anderen umweltverträglichen Alternativen geworben werden. Darüber hinaus sollte verboten werden, Klärschlamm auf Feldern zu Dün- gezwecken auszubringen. Bundesweit werden noch immer 30 Prozent des

15 Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie, Richtlinie 2008/56/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008. 16 Vgl. Jürgen Reuß und Cosima Dannoritzer, Kaufen, wegwerfen, neu kaufen. Wie wir unsere Welt zugrunde konsumieren, in: „Blätter“, 1/2014, S. 93-102.

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201707_Blätter.indb 77 21.06.17 11:50 78 Nadja Ziebarth

Klärschlamms auf Feldern verteilt. Damit gelangt jenes Mikroplastik, das bei „guten“ Klärwerken aus den Abwässern gefiltert wurde, wieder in die Umwelt und landet schließlich doch wieder im Wasserkreislauf.

Die Rettung des blauen Planeten

Auch für das Verhalten auf der See muss es verbindliche Vorgaben geben: Die Verschmutzung durch Fischernetze – sei es vorsätzlich oder bedingt durch Unfälle und ungewollte Verluste beim Fischen – muss weitgehend reduziert werden. So könnten in den Häfen Rückgabestellen eingerichtet sowie Netze gekennzeichnet und mit Sendern versehen werden, um Sanktionsmöglich- keiten zu eröffnen und die Bergung der Netze zu ermöglichen. Gleichzeitig muss die Forschung und Entwicklung alternativer Materialien und Metho- den vorangetrieben werden, um beispielsweise schädliche Auswirkungen des planmäßigen Verschleißes von Scheuernetzen in der grundberührenden Fischerei zu unterbinden. Der Einsatz von abbaubaren Materialien für Netze muss geprüft und gegebenenfalls verbindlich eingeführt werden. Um die illegale Müllentsorgung auf See kontrollieren zu können, bedarf es außerdem eines Verbotes der Müllverbrennung auf See. Zwar ist die Schiffs- führung verpflichtet, ein Mülltagebuch zu führen, allerdings ist nicht kon- trollierbar, ob bei der derzeit noch legalen Müllverbrennung an Bord auch wirklich alles im Ofen und nicht doch im Wasser landet. Nur bei einem Verbot der Müllverbrennung kann das Mülltagebuch eine effektive Über- prüfung der Müllentsorgung bieten und eine Strafverfolgung bei illegaler Abfallentsorgung ermöglichen. Hierzulande reinigen die Kommunen der Küstenbundesländer während der Saison die touristisch genutzten Strände und Küstenabschnitte. Aller- dings bleibt die Reinigung der nicht touristisch genutzten Gebiete oftmals dem Einsatz von Ehrenamtlichen, meist Umweltorganisationen, überlassen. Besonders auf den Nordseeinseln betrifft dies große Flächen, die somit nur unzulänglich gereinigt werden. Programme der Bundesländer sollten sicher- stellen, dass alle Gebiete berücksichtigt werden. Wo keine Ehrenamtlichen aktiv sind, müssen staatliche Stellen die Reinigung übernehmen. Zwar ist die Dimension des Plastikproblems inzwischen in der Gesell- schaft angekommen. Um Kunststoff allerdings wieder als Rohstoff auf Basis von Öl zu begreifen und entsprechend sorgsam mit ihm umzugehen, ist ent- schiedenes Handeln nötig. Hier müssen Industrie, Politik, aber auch die Bür- gerinnen und Bürger aktiv werden. Der Aktionsplan gegen Meeresmüll, der diesen Monat von der G20 beschlossen wird, kann ein Anfang sein – wird er denn tatsächlich ungesetzt. Dafür aber müssen den bislang noch sehr unkon- kreten Absichtserklärungen auch Taten folgen: Ohne Gelder und rechtlich verbindliche Maßnahmen bleibt die stolz verkündete Rettung der Meere ein rein symbolischer Akt. Soll der blaue Planet auch in hundert Jahren noch sei- nen Namen verdienen, bedarf es weit mehr.

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201707_Blätter.indb 78 21.06.17 11:50 Der neue Businessfeminismus Von Christa Wichterich

ls sich Ende April im Vorfeld des G20-Gipfels 200 Frauen aus den Füh- A rungsetagen von Politik und Wirtschaft in Berlin zum W20-Gipfel tra- fen („W“ steht für Woman), verfolgten sie ein gemeinsames Ziel: die Rolle der Frauen in der Wirtschaft zu stärken. Unter dem Titel „Frauen inspirieren“ diskutierte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf einem Podium mit insge- samt sieben prominenten Persönlichkeiten, darunter die Tochter des amtie- renden US-Präsidenten, Ivanka Trump, die Chefin des Internationalen Wäh- rungsfonds, Christine Lagarde, und die holländische Königin und frühere Bankerin Máxima, über die Förderung von Unternehmerinnen. Die Spitzenfrauen transportierten dabei eine zentrale Botschaft: „Frauen schaffen das.“ Doch hinter dem Nimbus des „Yes, you can!“ verbirgt sich ein neuer, knallharter Businessfeminismus, der die neoliberale Strategie eines Empowerments von Frauen durch die Märkte, vor allem aber zum Wohle der Märkte, auf die Spitze treibt. Schon die hochkarätige Besetzung des Podiums macht die bereits Privi- legierten und Mächtigen zum Rollenvorbild. Mit der Einladung der Präsi- dententochter, die Merkel bei ihrem USA-Besuch persönlich ausgesprochen hatte, fördert sie den selbst erklärten Feminismus von Elitefrauen, der sich das Etikett der Geschlechtergleichheit für die eigene Machtbildung aneig- net. Dieser Karrierefeminismus verkehrt das ursprüngliche feministische Konzept vom Empowerment der Schwachen, das die Grundrechte aller Frauen emanzipatorisch mit der Befreiung von Armut wie auch von struk- tureller und sexistischer Gewalt verband, geradezu in sein Gegenteil. Es ist eine Farce und ein Betrug an den weltweiten Interessen benachteiligter Frauen, dass sich mehrere der Spitzenfrauen auf diesem Podium überhaupt mit dem Titel „Feministin“ schmückten, ohne über die Rechte der Armen auf eine sichere Lebensgrundlage, auf Verfügung über Ressourcen, Anerken- nung ihrer Arbeit und soziale Sicherheit zu reden. Der W20-Dialog war somit mehr als ein geschlechterpolitischer Auftrag an die Kanzlerin für den G20-Gipfel in Hamburg. Er war ein Markstein für die Ideologie der „Womenomics“: Diese sieht Frauen als Wachstumsmotoren – ein Grund, weshalb sie deren Erwerbsbeteiligung sowie finanzielle und digitale Inklusion in die Wirtschaft stärken will. Aber wer soll sich vom Aufstieg und der neuen Sichtbarkeit dieser F-Klasse inspirieren lassen? Hartz-IV-Bezieherinnen, griechische Frauen ohne Ge- sundheitsversorgung und migrantische Altenpflegerinnen? Textilarbeiterin-

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201707_Blätter.indb 79 21.06.17 11:50 80 Christa Wichterich

nen in den globalen Wertschöpfungsketten oder Kleinbäuerinnen und Stra- ßenhändlerinnen im globalen Süden? Priti Darooka, Sprecherin des kürzlich gegründeten BRICS Feminist Watch, das die G20 beobachtet, empörte sich denn auch über das „Mantra des weib- lichen Unternehmertums“ und den Eurozentrismus der Debatten bei gleich- zeitiger Ignoranz gegenüber den Armuts- und Ungleichheitsproblemen von Frauen im globalen Süden, die ihre Existenzgrundlage in der informellen Ökonomie oder Landwirtschaft gegen Privatisierung, Industrialisierung, Landraub und Ressourcenextraktivismus erhalten wollen. Das frauenpoliti- sche Kernanliegen der Feministinnen aus Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika ist: „Alle Frauen arbeiten und haben ein Anrecht auf soziale Sicherheit.“ Sie beklagen gleichzeitig, dass die Regierungen auch in ihren Ländern zivilgesellschaftliche Räume und Themen zunehmend autoritär einschränken oder für ihre eigene Agenda instrumentalisieren.1

Empowerment durch Mikrokredite?

Die Zwiespältigkeit einer solch elitären Version der Frauenförderung zeigt sich nicht zuletzt an dem von Merkel auf der W20-Konferenz vorgebrachten Vorschlag, einen globalen Kapitalfonds zur Förderung von Unternehmerin- nen einzurichten. Dieser soll aus staatlichen und privaten Mitteln bestückt und bei der Weltbank angesiedelt werden. Dabei geht es zuvorderst um den Aufbau von weiblichem Unternehmertum in Ländern des Südens, wo Frauen, so Merkel, ihre Kreditwürdigkeit längst durch die Inanspruchnahme von Kleinkrediten bewiesen hätten. Finanzielle Inklusion gilt dabei per se als Vorbedingung für den Erfolg als Marktsubjekt, ein Bankkonto als Voraussetzung für Marktbürgerlichkeit. Doch die Erfahrungen mit der Mikrofinanzierung für benachteiligte Frauen etwa in Bangladesch oder Südindien zeigen, welch verheerende Wirkungen diese entwicklungspolitische Strategie haben kann. Vor allem im globalen Süden wurden Frauen auf dem Land in den vergan- genen beiden Jahrzehnten Mikrokredite als geschlechtsspezifisch zuge- schnittenes Instrument der finanziellen Marktinklusion angeboten, und zwar zunehmend von kommerziellen Mikrofinanzinstitutionen. Diese bieten Frauen in Südasien wegen ihrer hohen Rückzahlungsmoral kleine Darlehen, mit Zinssätzen von bis zu 30 Prozent. Während Männer kaum noch landwirt- schaftliche Kredite von den Banken bekommen, hat sich hier in den Dörfern durch das Überangebot verschiedener Dienstleister förmlich eine Blase der Mikrokredite für Frauen gebildet.2 Entsprechend dem Modell der Grameen Bank des Nobelpreisträgers Mohammad Yunus sollen die Kleinkredite als ein Startkapital für „einkom-

1 BRICS Feminist Watch, Statement for G20, www.w20-germany.org sowie Priti Darooka, For Whom The Bells Toll: Not for Feminists, or Civil Society!, www.medium.com, 16.5.2017. 2 Christa Wichterich, Armutsmanagement, Rendite und Geschlecht. Von zuverlässigen armen Frauen und finanzieller Inklusion, in: „Peripherie”, 3/2015, S. 469-491.

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mensschaffende Tätigkeiten“, sprich: Selbstbeschäftigung, Kleinstunterneh- men oder Mini-Kooperativen verwendet werden, die wiederum die Frauen stärken und die Armut beseitigen sollen. An dieser Strategie beteiligen sich auch große transnationale Unternehmen: So entwickelte Yunus in Bangla- desch soziale Businessprojekte in enger Zusammenarbeit mit Konzernen wie Nokia, Danone, Adidas, Otto und BASF. Die Frauen finanzierten mit den Kre- diten zumeist einen dörflichen Kleinhandel mit von den Konzernen bereit- gestellten Produkten wie Joghurt, Turnschuhen oder Telefonguthaben. Auch in Indien fungieren die Frauen mit kleinen Franchisegeschäften auf dem Land als Vorhut der konzerndominierten städtischen Konsumökonomie: Sie erschließen neue Märkte für die Unternehmen, übernehmen Absatzrisiken, führen den freien Wettbewerb ein und torpedieren die lokale Ökonomie. Das Danone-Projekt beispielsweise zielte auf die Verdrängung der dörf- lichen Selbstversorgungsökonomie, denn in Bangladesch stellt jede Frau zu Hause eigenen Joghurt her. In Südindien bietet eine Kreditgruppe in ihrem Mini-Supermarkt nur Konzernwaren an, aber nicht die Produkte der Dorf- frauen von nebenan, weil sie nicht „richtig“ verpackt sind. So drängen die Kreditnehmerinnen die dörfliche Ökonomie ins Abseits und werten die Arbeit anderer Frauen als nicht marktfähig ab. Mikrofinanzierung fungiert damit als ein Instrument der neoliberalen Umstrukturierung der Märkte im globalen Süden. Ungleichheiten und Interessenunterschiede zwischen den Frauen nehmen dabei nicht ab, sondern zu. Zudem befördern die kleinen Kredite vor allem arme Frauen mitunter in eine Verschuldungs- und weitere Verarmungsspirale, die in Südindien teils dazu geführt hat, dass die Finanzdienstleister das gesamte Hab und Gut ver- schuldeter Familien konfiszierten. 50 Frauen nahmen sich daraufhin Ende 2010 innerhalb weniger Wochen das Leben.3 In Bolivien, Indien und Marokko lösten solche Krisen der Mikrofinanzindustrie bereits heftige Proteste gegen diese Form der Marktinklusion aus.

Inklusion im Dienste des Neoliberalismus

Doch trotz dieser fatalen Erfahrungen setzt die W20 nun auf ähnliche Ins- trumente – ein klares Indiz dafür, wie stark sich die neoliberal geprägte Ideologie der Womenomics durchgesetzt hat. Bereits 2007 prägte die Welt- bank die Formel: Gleichstellung ist „smart economics“, denn Frauen seien der beste Motor für Wettbewerb und Wachstum. Das zentrale Motiv der Bank war nicht die Einlösung von Frauenrechten, sondern die Befürchtung, dass der Ausschluss und die Diskriminierung von „weiblichem Humankapi- tal“ schädlich für Effizienz und Produktivitätssteigerung seien. Das Ganze wurde als Win-win-Situation und universelles Empowerment von Frauen gepriesen.4

3 Vgl. Gerhard Klas, Die Mikrofinanz-Industrie, Hamburg 2011, S. 188-212. 4 The World Bank, Gender and Equality as Smart Economics. Action Plan 2007-2011, Washington 2007.

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201707_Blätter.indb 81 21.06.17 11:50 82 Christa Wichterich

In der Finanzkrise dann gewann die Weltbank mit dieser Wachstumsorien- tierung entwicklungs- und genderpolitische Hegemonie gegenüber men- schenrechtlichen und feministischen Zielsetzungen. Viele multilaterale Ins- titutionen wie das Weltwirtschaftsforum in Davos, die Vereinten Nationen und die EU propagierten Gleichstellungsmaßnahmen mit diesem Ziel. Die zentrale Strategie dabei ist es, gender gaps zu beseitigen – die geschlechts- spezifische Kluft in Beschäftigung und Führungspositionen, das Lohn- und Pensionsgefälle, Ressourcen- und Technologiegefälle. Zwar macht der Fokus auf diese Kluft – wie stets von Frauenbewegungen gefordert – Geschlechterungleichheiten sichtbar. Zugleich jedoch blendet ein solcher Tunnelblick auf spezifische Ungleichheitsverhältnisse oftmals die ökonomischen Rahmenbedingungen, Klassen- und rassistischen Strukturen ebenso aus wie die lokal und kulturell sehr unterschiedlichen Geschlechter- ordnungen. In der Gap- oder Ungleichheitsperspektive sind Frauen die Defi- zitären, die Diskriminierten und Opfer, denen geholfen werden muss, ohne dabei die diskriminierenden Strukturen anzutasten. Doch die eigentlich begrüßenswerte Initiative, Geschlechterungleich- heiten auf den Märkten zu beseitigen, ist für die Frauen höchst ambivalent, ja paradox, und verfolgt eigene ökonomische Ziele. So will die Weltbank Kleinbäuerinnen überall auf der Welt durch den Zugang zu modernen Agro- Inputs wie Chemiedünger und Industriesaatgut fördern und dadurch deren Erträge steigern.5 Tatsächlich aber war es ein herkömmlicher Machtbereich von Bäuerinnen, ihr eigenes Saatgut zu vermehren und zu tauschen. So bewahrten sie ihre Ernährungssouveränität und mussten kein hybrides Kon- zernsaatgut teuer auf dem Markt kaufen. Statt den kleinbäuerlichen Beitrag von Frauen zur Ernährungssicherung zu würdigen und durch Fördermaß- nahmen zu verbessern, dient die von der Bank propagierte Gleichstellung in erster Linie dem agrarwirtschaftlichen Strukturwandel hin zur konzernge- steuerten industrialisierten Landwirtschaft. Bereits der G20-Gipfel 2014 in Australien versprach, bis 2025 100 Millio- nen Frauen neu in Erwerbsarbeit zu bringen. W20 in Berlin sprach sich nun erneut für eine Reduzierung der Beschäftigungskluft aus. Das ist politisch richtig, weil die viel gepriesene „Feminisierung der Beschäftigung“, sprich: mehr Frauen in Erwerbsarbeit, sich nicht automatisch einstellt. Sie hatte im Weltdurchschnitt bereits in den 1990er Jahren ihren Höhepunkt erreicht und ist in einigen Regionen – Ostasien und Osteuropa – schon wieder rückläu- fig. Aus gleichstellungspolitischer Sicht ist es aber notwendig, nicht nur über die Quantität, sondern auch über die Qualität der Frauenjobs zu reden. Denn wird diese ausgeblendet, liegt der Trugschluss nahe, postindustrielle, dienst- leistungsdominierte Ökonomien seien „frauenfreundlich“. Das aber ist keineswegs der Fall. Bereits in den 1990er Jahren ging die Femi- nisierung der Beschäftigung mit einer Flexibilisierung der Lohnarbeit einher. Gerade die Deregulierung von Märkten wie auch die Flexibilisierung und Informalisierung von Arbeitsverhältnissen sollen die Inklusion erleichtern,

5 The World Bank, World Development Report 2012. Gender Equality and Development, Washington 2011.

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201707_Blätter.indb 82 21.06.17 11:50 Der neue Businessfeminismus 83

indem sie Marktsegmente für bislang Exkludierte und Marginalisierte – Arme, Indigene, informell Beschäftigte und Subsistenzwirtschaftlerinnen – öffnen. Diese neue Seite des Neoliberalismus, der „inklusive Liberalismus“ oder „progressive Neoliberalismus“, wie Nancy Fraser ihn nennt,6 hat jedoch für Frauen zur Folge, dass sie weltweit überwiegend informell, teilzeitig und geringfügig erwerbstätig sind, häufig auch als mitarbeitende Familienange- hörige. In der EU etwa machen Frauen 75 Prozent der gering entlohnten und teils sozial ungeschützten Teilzeit- und Gelegenheitsbeschäftigten aus. In dieser fortschreitenden Informalisierung und Prekarisierung von Lohn- arbeit spiegelt sich die zunehmend autoritäre Wendung des Neoliberalismus, der unter dem Banner der Strukturanpassungen im globalen Süden sowie der Austeritätspolitiken zur Bewältigung der Krise, den Konkurrenz- und Flexi- bilisierungsdruck weiter intensiviert. Sogenanntes Moonlighting – Existenz- sicherung durch mehrere Jobs gleichzeitig – war im globalen Süden schon lange eine Normalität, die sich nun auch im Norden mit Minijobs und Leih- arbeit ausbreitet. Weltweit gehören Frauen überproportional zu den „working poor“, die trotz Erwerbsarbeit arm bleiben und vom „klebrigen Boden“ der Erwerbsmärkte einfach nicht wegkommen.7 Ungeachtet dessen lag in den westlichen Ländern in den vergangenen Jahren der Gleichstellungsfokus auf dem Empowerment der Starken, näm- lich der Frauen in Führungs- und Entscheidungspositionen – man denke nur an die 2015 in Deutschland beschlossene Frauenquote für die Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen. Meist geht damit auch die essenzialistische Unterstellung einher, dass Frauen in Führungspositionen anders, fairer, ja besser als Männer agieren würden, nach dem von Christine Lagarde in der Krise geäußerten Motto: Wenn die Lehman Brothers „Sisters“ gewesen wären, wäre es nicht zur Finanzkrise gekommen.

Die Optimierung der Weiblichkeit

Die politische Offensive zur Gleichstellung im Kontext der Krise wurde durch Großkonzerne unter dem Banner von Corporate Social Responsibility und Diversity unterstützt. So kooperierte UN Women mit Coca-Cola, die UN Foundation mit Exxon, die Weltbank mit Nike. Goldman Sachs will 10 000 Frauen im globalen Süden mit sogenannten Womenomics-Trainings und Kre- diten für Business und Konsum fit machen. Coca-Cola startete 2010 in Brasi- lien, Indien, Südafrika und auf den Philippinen seine Kampagne „5by20“, die bis 2020 fünf Millionen Frauen weltweit entlang der Wertschöpfungsket- ten des Konzerns zu wirtschaftlicher Selbstständigkeit verhelfen und sie an dessen Kerngeschäft anbinden soll. Dass die Firma in Indien für ihr Mineral- wasser und andere Flüssigkeiten sogar in Trockenregionen das Grundwasser

6 Doug Porter und David Craig, The Third way and the Third world. Poverty reduction and social inclusion in the rise of inclusive liberalism, in: „Review of International Political Economy“, 2/2004, S. 387-423; Nancy Fraser, Feminismus, Kapitalismus und die List der Geschichte, in: „Blätter“, 8/2009, S. 43-57. 7 ILO, Women at Work. Trends 2016, Genf 2016.

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201707_Blätter.indb 83 21.06.17 11:50 84 Christa Wichterich

abpumpt, wird bei den Erfolgsmeldungen über die 5by20-Initiative und die „starken“ Frauen nicht erwähnt – obwohl Frauen, zu deren Alltagsaufgaben in Indien die Trinkwasserversorgung der Familien gehört, heftig dagegen protestierten. Großkonzerne kooperierten auch mit transnationalen Nichtregierungs- organisationen wie Plan, die Mädchen als bevorzugte entwicklungspoli- tische Zielgruppe identifizierte. Ähnlich wie zuvor bei der Zielgruppe der Frauen als Marktsubjekte fand eine Umdefinition von Schwäche in Stärke statt. Das „heranwachsende Mädchen kann die mächtigste Person in der Welt werden. Sie ist der Schlüssel, um Generationen von Armut zu beenden.“ Dazu wird folgende Kausalkette aufgemacht: Investitionen in Mädchenbil- dung führen zu deren Marktintegration und Einkommen, zu Geburtenkon- trolle und Gesundheit, zu Armutsbeseitigung und Wirtschaftswachstum. Die Nike-Stiftung propagiert mit ihrer Kampagne „Girl Effect“ und Walt Disney mit „Pink Princess“ Investitionen in Mädchen, die als „Emerging Markets“ und zukünftige Unternehmerinnen ihres Selbst die Wirtschaft antreiben sol- len.8 Damit rekonfigurieren auch sie weibliche Identitäten, die über den Kon- sum und die optimale Anpassung an Marktanforderungen gebildet werden. Die Kommunikationswissenschaftlerin Angela McRobbie analysiert, wie marktgesteuerte Diskurse jungen Frauen neue Freiheiten, Erfolg und Kar- rierechancen als „Top Girls“ zuschreiben – wenn sie entsprechende Anpas- sungsleistungen erbringen. Damit werden „warenförmige Weiblichkeiten“ in neu definierten Meritokratien produziert, während der alte Feminismus obsolet erscheint.9 Ein solcher Businessfeminismus, wie ihn auch W20 reprä- sentiert, stellt eine neoliberale klassenspezifische Form der Kooptation femi- nistischer Anliegen dar. In dieses Bild passt auch die Praxis des sogenannten Social Freezing, dem Einfrieren unbefruchteter Eizellen von jungen Frauen für eine spätere Befruchtung, als reproduktionstechnologisches Angebot, Karriere und Mut- terschaft zu verbinden. Dabei werden Kinderpläne an Markt- und Konzern- anforderungen angepasst und damit das unternehmerische Selbst optimiert. So boten in den USA Apple und Facebook bewährten Mitarbeiterinnen an, die Kosten für das Einfrieren der Eizellen zu übernehmen. Das Kalkül hinter diesem vermeintlich „familienfreundlichen“ Angebot der Konzerne ist ein rein ökonomisches: Social Freezing soll es ermöglichen, Schwangerschaften aufzuschieben – ohne dass dadurch die Qualität der Eizellen leidet – und diese somit nicht mehr die leistungsstärksten Jahre junger Frauen „stören“. Doch ob es später dann wirklich zu einer Schwangerschaft kommt, ist längst nicht ausgemacht, auch wenn die Anbieter dies versprechen. Finanzdienstleister stellen inzwischen passende Kredite bereit, um die Prozedur zu finanzie- ren. Vor der Vitrifikation wird dabei die Qualität der Eizellen überprüft, um dann nur die besten bei minus 200 Grad in flüssigem Stickstoff einzulagern.

8 Vgl. Michelle Murphy, Gender, Justice, and Neoliberal Transformations, in: „S&F online“, 3/2012, http://sfonline.barnard.edu sowie Sydney Calkin, Feminism, Interrupted? Gender and Develop- ment in the Age of ‚Smart Economics‘, in: „Progress in Development Studies“, 4/2015, S. 295-307. 9 Angela McRobbie, The aftermath of feminism: gender, culture and social change, Los Angeles und London 2009.

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201707_Blätter.indb 84 21.06.17 11:50 Der neue Businessfeminismus 85

Auch andere reproduktionstechnologische Optionen wie In-vitro-Fertilisa- tion, Pränataldiagnostik und sogar Leihmutterschaft werden auf sogenann- ten Kinderwunschmärkten angeboten, um Mutter- bzw. Elternschaft unab- hängig von der biologischen Uhr zu ermöglichen. In Berlin bewarb die erste deutsche Kinderwunschmesse im Februar die- ses Jahres die transnationale Reproduktionsindustrie, ihre Wertschöpfungs- ketten und die Bandbreite ihrer Produkte – ungeachtet der Gesetzeslage in Deutschland, die den Transfer von Eizellen anderer Frauen und Leihmutter- schaft nach wie vor verbietet. Die Optimierungsangebote für die „Top Girls“ gehen also weit über den Produktionsbereich hinaus und greifen immer tie- fer in die Reproduktion und die Körper ein.

Ivanka Trump oder das Märchen vom feministischen American Dream

Somit zielen die Womenomics auf die Einübung eines Unternehmertums des weiblichen Selbst ab und soll Mädchen und Frauen mithilfe geschickter Inklusionsstrategien „fit für den Markt“ machen. Unter wachsender Betei- ligung von Konzernen wird Weiblichkeit als produktive, reproduktive und konsumeristische Subjektweise mit hohem Potential für Problemlösungen optimiert. Frauen werden nun – marktfunktional – weniger als schwache, sondern vielmehr als starke neoliberale Subjekte, als Produktivkraft, kon- zipiert, die aktiv ökonomische Armut managen oder reduzieren können, Eigenverantwortung übernehmen und resilient gegen Verwundbarkeiten sind. Durch diese Inklusionsmechanismen des progressiven Neoliberalismus vollzieht sich ein ökonomischer Strukturwandel hin zu einer vertieften Kom- modifizierung, Industrialisierung und Finanzialisierung, der wiederum ver- schärfte soziale Ungleichheiten auch zwischen Frauen zur Folge hat. Genau zu diesem Zeitpunkt wartet der Businessfeminismus von W20 mit superreichen und schönen Rollenmodellen auf. Es wird suggeriert: Wenn ihr die neoliberalen Rezepte der Inklusion befolgt und euch den Anforderungen anpasst, dann könnt ihr so erfolgreich wie Ivanka werden – als hätte diese ihren Erfolg der Fairness des meritokratischen Systems zu verdanken. Das aber ist letztendlich nichts anderes als ein feministischer Anstrich für das Märchen vom American Dream.

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201707_Blätter.indb 85 21.06.17 11:50 AUFGESPIESST

Die Aufregung hätte größer kaum sein wollte sie die Bundeswehr vor allem können, als bekannt wurde, dass ein familienpolitisch auf Zack bringen, Oberleutnant der Bundeswehr zum mit den besten und familienfreund- Putsch gegen seine oberste Vorgesetzte lichsten Arbeitsplätzen. Aber schon Ursula von der Leyen aufgerufen hatte. bei der letzten Besetzung hatte sie Dabei wurde nur eine Kleinigkeit über- erklärt, dass sie auf diesen Nahles- sehen: Die famose Bundesselbstver- Schwesig-Kram eigentlich keine Lust teidigungsministerin hatte sich längst mehr hat und dass es jetzt was Richti- selbst zur Strecke gebracht, jedenfalls ges sein müsse, eben etwas für die har- politisch. Nicht mehr verwendungsfä- ten Jungs. Da böte sich jetzt also bloß hig könnte daher bald das Urteil lauten. die Rochade an: Thomas de Maiziere kehrt zurück in die Stauffenbergstraße und bringt seine abgebrochene Arbeit Röschen vom Winde zu Ende und Allzweckwaffe Ursula schützt das Land im Innern, mit fami- verweht lienverträglichen Arbeitszeiten bei der Polizei. Dumm nur, dass die bayrische Schwesterpartei etwas dagegen haben „Aktiv. Attraktiv. Anders. – Bundes- dürfte: Schließlich hat der CSU-Chef wehr in Führung“ hatte von der Leyens bereits seinen Sheriff Joachim Herr- Reklame- und Rekrutierungskampag- mann für Berlin in Stellung gebracht ne im Jahr 2014 geheißen. „Anders“ – als Seehofers Statthalter, damit die trifft es wohl, aber anders als gedacht: Bayernwahl 2018 gewonnen wird. Irgendetwas muss in der Armeefüh- Nun aber ist guter Rat teuer. Fest rung schiefgelaufen sein, wenn man steht: Bildung oder Justiz, Verkehr an die jüngsten braunen Umtriebe oder Umwelt – all diese weichen, denkt. Doch wer bei der Aufklärung nebensächlichen Themen sind nichts immer nur die eigene Haut retten will, für die toughe Ursula. Blieben als klas- macht sich unbeliebt. In der Truppe hat sische „harte“ Ressorts nur noch zwei, die Ministerin inzwischen so viel ver- das Finanz- und das Außenministe- brannte Erde hinterlassen, dass eine rium. Blöderweise steht das Außen- Vertragsverlängerung auf diesem Pos- ministerium immer dem kleineren ten unmöglich erscheint. Koalitionspartner zu, und selbst wenn Wo also nun hin mit Ernst Albrechts eine absolute Merkel-Mehrheit heute „Röschen“ und seinen spitzen Dornen? schon nicht mehr ganz ausgeschlossen Im Kanzleramt wird bereits fieberhaft erscheint, allzu wahrscheinlich ist das nach einer neuen Verwendung für die wohl nicht. Blieben also nur noch die Zeit nach dem 24. September gesucht. Finanzen. Aber nein, da ist dann doch Einfach wird die Sache nicht. Schließ- Wolfgang Schäuble vor. Und mit dem lich hat von der Leyen eigentlich schon will sich selbst Klein-Röschen nicht alles durch. Im Kabinett Merkel I war anlegen. sie Bundesministerin für Familie, Se- Und da auch die Kanzlerin offenbar nioren, Frauen und Jugend, im Kabi- partout weitermachen will, könnte es nett Merkel II dann Bundesministe- am 24. September tatsächlich heißen: rin für Arbeit und Soziales und unter Rien ne va plus für Ursula von der Ley- Merkel III schließlich Verteidigungs- en. Was aber bliebe dann von der Bil- ministerin. Was also bleibt da noch für derbuchministerin? Geföhnte Haare Merkel IV? Natürlich könnte von der im Wind, viele schöne Fotos und die Leyen getrost ins Arbeits- und Sozial- alte Heide-Simonis-Frage: „Und was ministerium zurückkehren, oder auch wird dann aus mir?“ zu Frauen und Familie, schließlich Jan Kursko

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201707_Blätter.indb 86 21.06.17 11:50 Wer Kinderarmut sät, wird Altersarmut ernten Wie die herrschende Rentenpolitik unsere Demokratie aufs Spiel setzt

Von Jürgen Borchert

ie Gesetzliche Rentenversicherung ließ bei ihrem Start vor 60 Jahren, D am 23. Februar 1957, ein Sterntalermärchen wahr werden: Ohne dass sie jemals einen Beitrag in das neue System der Produktivitätsrente gezahlt hatten, erhielten die hungerleidenden Rentner der Nachkriegszeit buchstäb- lich über Nacht lohnersetzende und lebensstandardsichernde Renten.1 Das Rentenniveau sprang um 60 Prozent in die Höhe und legte damit zugleich die Latte für den Erwartungshorizont fortan sehr hoch. 20 Jahre später schon begann jedoch trotz steigender Beiträge der Sink- flug des Rentenniveaus und mittlerweile liegen viele Renten – vor allem die der Frauen – unter der Armutsgefährdungsschwelle.2 Dabei war bisher weni- ger die Demographie die Ursache dieser Entwicklung als vielmehr die sich verändernde Verteilung des Volkseinkommens zwischen Kapital und Arbeit, welche die Lohnquote zunehmend nach unten drückte. Der Altenquotient3 dagegen stieg in der Vergangenheit nur moderat an.4 Das aber wird sich in den kommenden Jahren rasant ändern – und zwar in dem Maße, in welchem die Jahrgänge der sogenannten Babyboomer in den Ruhestand übergehen und mit den schrumpfenden Zahlen der Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt kollidieren. Daraus folgt: Machen wir mit dem lohnbasierten Rentensystem weiter, wird der Absturz für viele unvermeidlich sein. Denn es ist keineswegs nur die Klippe der „Demographie“, der das System nicht entrinnen kann. Vielmehr passt der einst für das „Normalarbeitsverhältnis“ geschneiderte Maßanzug der Sozialversicherung nicht mehr für die neue Arbeitswelt, die infolge der Revolution der Informations- und Kommunikationstechnologien

1 Zum neuen Elendsphänomen geriet nun die Armut von Witwen, vgl. Jürgen Borchert, Die Berück- sichtigung familiärer Kindererziehung im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, Berlin 1981; ders., Renten vor dem Absturz, Frankfurt a. M. 1993, S. 142 ff. 2 DGB-Bayern, Rentenreport 2016, S. 15, www.bayern.dgb.de. 3 Das Verhältnis der Bevölkerung im Alter von 20 und 60 Jahren (wird auch alternativ verwendet mit 20 und 65 oder 70Jahren, als 60+, 65+ oder 70+). 4 Wegen der Geburtenausfälle im Ersten Weltkrieg und der Zeit danach sowie der Todesfälle im Zweiten Weltkrieg, ferner wegen der medizinischen Fortschritte bei der Bekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit und schließlich wegen des Babybooms von 1948 bis 1965, vgl. Herwig Birg, Die alternde Republik und das Versagen der Politik, Berlin 2015, S. 133 ff.

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201707_Blätter.indb 87 21.06.17 11:50 88 Jürgen Borchert

entstanden sind (durch Homebanking, Crowdworking, indische Software- industrie, „Industrie 4.0“ etc.). Selbst bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung liegt der Anteil der atypischen Arbeitsverhältnisse bereits bei 38 Prozent. Die zynische Wahrheit bei alledem ist, dass die wachsende Altersarmut infolge prekärer Beschäftigung seit langem strategisch zur Ret- tung des Rentensystems „eingepreist“ ist.5 Dass man so die Demokratie aufs Spiel setzt, um die Gesetzliche Rentenversicherung zu retten, beweist ein- mal mehr, dass es politische Therapien gibt, die gravierendere Folgen auf- weisen als die Krankheit selbst. Denn ein Sozialstaat, der Erwartungen weckt, die er nicht erfüllen kann, provoziert massenhafte Enttäuschung und delegitimiert das gesamte politi- sche System. Genau das geschieht bei der Gesetzlichen Rentenversicherung, denn trotz steigender Beiträge sinken die Renten auf breiter Front unter das Sozialhilfeniveau. Die demzufolge wachsenden Existenzängste öffnen die Türen für den politischen Extremismus. Die Ursache dieser Fehlentwicklung und zugleich den Weg zur Lösung der Probleme erschließt die Rückbesin- nung auf die der „Produktivitätsrente“ einst zugrunde liegenden Einsich- ten, die ebenfalls in einer Epoche des Umbruchs gewonnen wurden. Denn diese Entwicklung ist das Ergebnis eines fundamentalen Konstruktionsfeh- lers beim Start der GRV vor 60 Jahren. Nach dem Plan der Erfinder sollte mit einem „Drei-Generationen-Vertrag“ die große Transformation vom Bis- marcksystem, dessen Fundament und Rückgrat im familiären Unterhalts- recht bestand, zur sozialen Großfamilie geleistet werden. In dieser sollte, analog zur Kleinfamilie, die Versorgung von Alt und Jung im Einklang mit der Lebenshaltung der produktiven mittleren Generation stattfinden. Statt- dessen wurde mit der 1957er-Reform nur ein „Zwei-Generationen-Vertrag“ ins Werk gesetzt: Die Versorgung der Alten wurde sozialisiert, während die Aufbringung der Kinderlasten den Eltern als Privatsache verblieb. Wer aber auf diese Weise Kinderarmut sät, braucht sich über die Ernte „Altersarmut“ nicht zu wundern. Faktisch wurde ein beispielloser Raubbau am Humanver- mögen und damit die Selbstzerstörung des Systems in Gang gesetzt.

Der Zweite Weltkrieg und das Ende des familiären Fundaments

Das 1889 von Bismarck eingeführte System der Invalidenrenten brach vor allem aus zwei Gründen zusammen. Zum einen wurde seine Kapital- deckung im Zuge von Inflation, Weltwirtschaftskrise und Rüstungsfinanzie- rung sowie der Kriegsfolgen weitgehend vernichtet. Zum anderen aber hatte seine familiäre Basis im Zweiten Weltkrieg schweren Schaden genommen.

5 Siehe dazu das Gespräch von Jörg Tremmel (Stiftung für die Rechte künftiger Generationen) und einem Verantwortlichen der Rententräger aus dem Jahr 1996: „Ich sage das mal im Vertrauen: Wir sind dankbar für jeden, der heute scheinselbstständig wird oder geringfügig beschäftigt. Da krie- gen wir zwar heute weniger Beiträge, aber im Jahr 2030 haben wir weniger Anwartschaften. Es wird durch die Arbeitslosigkeit heute im Ergebnis genau das erreicht, was Herr Storm im Kapital- deckungsverfahren erreichen will“, zit. nach: Jürgen Borchert, Sozialstaatsdämmerung, München 2014, S. 197.

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Doch diese war das eigentliche Fundament, denn die Bismarckrente war nur ein Taschengeld, dessen Höhe weniger als ein Drittel des von den Rentnern zuvor bezogenen Erwerbseinkommens betrug. Es sollte laut Bismarck „die Schwiegertochter davon abhalten, den Alten aus dem Haus zu ekeln“. Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlten aber nicht nur die annähernd vier Millionen im Krieg gefallenen Söhne und hunderttausende Kriegsgefangene für die Versorgung ihrer Eltern, sondern bei den rund neun Millionen Ver- triebenen auch ihre „fundierte Altersversorgung“ in Gestalt der im Osten verlassenen Häuser und Höfe.6 So wurde das Altenelend zum Schandfleck im aufblühenden Wirtschaftswunderland. Vor diesem Hintergrund entspann sich in der wissenschaftlichen Sozialpolitik eine intensive Debatte, für welche namentlich der Volkswirt und Soziologe Gerhard Mackenroth, der Arzt und Volkswirt Ferdinand Oeter, der Mathematiker und Volkswirt Wilfrid Schrei- ber sowie der Theologe und Sozialökonom Oswald von Nell-Breuning stehen. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war die Feststellung, dass der (zumeist alleinversorgende) Arbeitnehmer in der ersten Hälfte des 20. Jahr- hunderts zum dominanten gesellschaftlichen Typus geworden war, dessen Anteil an der Gesamtbevölkerung in den 1950er Jahren auf rund 80 Prozent angestiegen war. Damit hatte sich die Gesellschaftsordnung fundamental geändert und es stellten sich zwei Grundprobleme: zum einen die Vertei- lung des nur im produktiven Lebensabschnitt erzielten Einkommens auf die unproduktiven Phasen der Kindheit und des Alters. Ausgangspunkt hierfür – so Mackenroth – müsse die realökonomische Grundtatsache sein, dass „aller Sozialaufwand immer aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden muss“.7 Hieraus folgt unmittelbar und zwingend, dass der Schlüssel jedweder Zukunftssicherung nicht in den Beiträgen der Vergan- genheit liegt, sondern bei der Nachwuchsgeneration, welche das jeweilige Volkseinkommen erwirtschaftet und unausweichlich allein für die Versor- gung der Altengeneration aufzukommen hat – ganz gleich, nach welcher Methode die Finanzierung erfolgt. Zum anderen erkannte man klar, dass die Löhne, die für bald 80 Prozent der Bevölkerung zur Lebensgrundlage gewor- den waren, als Markteinkommen „individualistisch verengt“ und blind für die Frage sind, wie viele Personen jeweils davon leben müssen. Unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen seien Familien in der primären Ein- kommensverteilung des Marktes deshalb von vornherein im Nachteil und die Großaufgabe der Sozialpolitik im 20. Jahrhundert bestehe darin, „diesen Fehler durch eine große Einkommensumschichtung und eine grundsätzliche Neugestaltung der Verteilungsordnung zu korrigieren – eine Umschichtung nicht zwischen Einkommens- und Sozialschichten, sondern innerhalb jeder Schicht zwischen den Familien und den familienmäßig Ungebundenen.“8 Was für jedes Alterssicherungssystem aus den Einsichten Mackenroths folgt, formulierte nur wenig später der Arzt und Volkswirt Ferdinand Oeter:

6 Hinzu kamen die im Westen zerbombten; in Westdeutschland waren etwa 20 Millionen Menschen, d.h. rund 40 Prozent der Bevölkerung, von den Kriegsfolgen unmittelbar betroffen. 7 Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Erik Boettcher (Hg.), Sozialpoli- tik und Sozialreform, Tübingen 1957, S. 43 ff. 8 Ebd., S. 46.

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Bei der Idee einer Alterssicherung durch Rückstellung eines bestimmten Ein- kommensanteils werde übersehen, dass nur die Kindergeneration den alten Menschen der vorhergehenden Generation einen sorgenfreien Lebensabend verschaffen könne. Daraus folge, dass Eltern durch ihre Kindererziehung zugleich die Altersvorsorge auch für ihre kinderlosen Generationsteilneh- mer bewerkstelligten.9 Auf den Erkenntnissen von Mackenroth und Oeter baute dann der „Schreiberplan“ auf, demzufolge alle Erwerbstätigen in die „Rentenkasse des deutschen Volkes“ einbezogen und der „dynamischen“, am Produktivitätsfortschritt orientierten und umlagefinanzierten Alters- rente spiegelbildlich eine „Kindheits- und Jugendrente“ gegenübergestellt werden sollte, mit nach Kinderzahl gestaffelten Beiträgen. Auf diesem Wege sollten sich vor allem die Kinderlosen an den Kinderlasten und damit an ihrer Altersvorsorge beteiligen.10

Konrad Adenauer und der Raubbau am Humanvermögen

Was die Autoren jedoch nicht in Rechnung stellten: 1957 war ein Wahljahr und Kinder sind bekanntlich keine Wähler, Senioren dagegen sehr wohl. Gegen Schreiber, der das Rentenniveau bei 50 Prozent der Bruttoeinkom- men justieren wollte, setzte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer dessen Anhebung auf 70 Prozent durch. Dafür ließ er dann aber wegen der seiner Ansicht nach ansonsten drohenden Überforderung der beitragszah- lenden Wähler die Kindheitsrente unter den Tisch fallen. Zudem wurden auch die Selbstständigen nicht einbezogen sowie die Fiktion von „Arbeitge- berbeiträgen“ beibehalten, obwohl sie vollständig vorenthaltener Lohn sind. Oswald von Nell-Breuning, auf dessen gutachterliche Empfehlung hin Ade- nauer sich überhaupt mit dem Schreiberplan beschäftigt hatte, wies daher gleich am Anfang des Gesetzgebungsverfahrens darauf hin, dass so ein Luft- schloss gebaut werde.11 Die mit der faktischen Halbierung des Schreiberplans 1957 vollzogene Sozialisierung der Altenlasten bei gleichzeitiger Privatisierung der Kinder- lasten installierte ein System der systematischen „Transferausbeutung von Familien“: Eltern wurden fortan gezwungen, über ihre Kindererziehung „positive externe Effekte“ zugunsten der Altersversorgung ihrer kinderlosen Jahrgangsteilnehmer zu produzieren.12 „Mit dieser Konstruktion bestraft das geltende Rentenrecht die Familie und innerhalb der Familie ganz beson- ders die nicht oder nicht voll berufstätige Mutter“, so zu Recht Eva Münch.13 Diese externen Effekte wuchsen in den Folgejahren aufgrund der Zunahme lebenslanger Kinderlosigkeit (von etwa neun Prozent 1955 auf heute rund 27 Prozent) und der steigenden Lebenserwartung zusehends

9 Ferdinand Oeter, Frondienstpflicht der Familie?, in: „Frankfurter Hefte“, 6/1953, S. 438 ff. 10 Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, Bonn 1955. 11 Oswald von Nell-Breuning, Die Produktivitätsrente, in: „Zeitschrift für Sozialreform“, 4/1956. 12 Vgl. grundlegend aus verfassungsrechtlicher Sicht: Dieter Suhr, Transferrechtliche Ausbeutung und verfassungsrechtlicher Schutz von Familien, Müttern und Kindern, in: „Der Staat“, 29/1990, S. 69 ff. 13 In Ernst Benda u.a. (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin und New York 1994, S. 321.

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an. Beide Entwicklungen ließen die Beitragslasten für die Nachwuchsgene- ration stark ansteigen, zumal auch die Gesetzliche Krankenkasse und die Soziale Pflegeversicherung seit dem halbierten „Generationenvertrag“ ent- sprechende externe Effekte hervorbringen.14 Das Resultat des fundamentalen Fehlers von 1957 ist heute die „doppelte Kinderarmut“: Stand 1964 nur jedes 75. Kind unter sieben Jahren zeitweise oder auf Dauer im Sozialhilfe- oder Sozialgeldbezug, ist es heute schon jedes fünfte – und das trotz Kindergelderhöhungen, Rückgang der Arbeitslosig- keit und enormer Steigerung der Müttererwerbstätigkeit. Gleichzeitig fiel die Geburtenzahl von knapp 1,4 Millionen auf heute nur noch 700 000. Der Mechanismus, der all dies hervorruft, ist simpel, aber höchst wirksam: Es ist die Kombinationswirkung der „individualistischen Verengung“ der Löhne als Markteinkommen und der Verdopplung des Familiennachteils durch die infolge der Lohnkopplung ohne Berücksichtigung der Kinderzahl eben- falls „individualistisch verengten“ Sozialbeiträge. Die Belastung durch jede Beitragserhöhung wird für Familien infolge dieser primären wie sekundä- ren Engführung je nach Kinderzahl multiplikativ verstärkt, mit im Ergeb- nis strangulierenden Effekten. Die Benachteiligung von Arbeitnehmer- haushalten mit Kindern in der primären Einkommensverteilung wird durch die sekundäre Einkommensverteilung unter dem Regime der Steuer- und Sozialsysteme so faktisch nicht nur nicht verringert, sondern sogar verdop- pelt (nicht aber bei Beamten- und Selbstständigenhaushalten).

Der Single profitiert, wo die Familie draufzahlt

Vergleicht man das nach Deckung des steuerrechtlichen Existenzminimums frei verfügbare Einkommen eines sozialversicherten Single und einer vier- köpfigen Familie auf der Basis des Durchschnittseinkommens von 35 000 Euro, ist erstens festzustellen, dass am Jahresende für Singles rund 11 000 Euro übrig bleiben, während Letztere um 2000 Euro unter dem Existenz- minimum landen.15 Zweitens wird deutlich, dass die Sozialbeiträge der ent- scheidende Faktor der Deklassierung der Familien sind und drittens, dass die Spreizung zulasten von Arbeitnehmerhaushalten mit mehreren Kindern jährlich nahezu exponentiell zunimmt.16 Dies hat vielfach negative Folgen für die Wirtschaftskreisläufe. Während der große Bedarf gerade bei jungen Familien ungedeckt bleibt, wachsen dort, wo er gering oder gedeckt ist, nämlich bei Singles und Senioren, auf- grund der falsch verteilten Abgabenlast regelmäßig Einkommensüberhänge an. Auf nichtflexiblen Gütermärkten wie dem Wohnungsmarkt entstehen dadurch zwangsläufig ganz und gar unsoziale Verteilungsmuster. Auf diese Einkommensüberhänge dürfte auch die Tatsache zurückzuführen sein, dass

14 Immerhin hat das BVerfG für die Soziale Pflegeversicherung die Nichtberücksichtigung des „kons- titutiven Beitrags Kindererziehung“ für verfassungswidrig erklärt (1 BvR 1629/94). 15 Deutscher Familienverband/Familienbund der Katholiken Freiburg, Horizontaler Vergleich 2017 bei 35 000 Euro, www.deutscher-familienverband.de. 16 Verfassungsbeschwerde vom 14.12.2015 – 1 BvR 3135/15, S. 9-16, www.elternklagen.de.

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die Ausgaben für Tourismus heute mit rund 100 Mrd. Euro Kopf an Kopf mit den Bildungsausgaben liegen und Deutschland einerseits „Reiseweltmeis- ter“ ist, andererseits aber bei der Bildung im Vergleich der OECD-Staaten auf den hintersten Rängen landet. Weil Armut im Kindesalter auf die Bildungsfä- higkeit des Nachwuchses17 und damit im weiteren Verlauf auf die Produktivi- tätsentwicklung durchschlägt, zerstört die Sozialversicherung unweigerlich ihre eigenen Fundamente: Sie bewirkt keine Kohäsion, sondern im Gegenteil soziale Spaltung und produziert so selbst die Risiken und Notlagen, vor wel- chen sie eigentlich schützen soll. Ein solches, von Grund auf widersinniges System vernichtet die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft – und es lässt sich nicht reparieren. Obwohl die vier oben genannten namhaften Ökonomen vor dieser Ent- wicklung warnten, blieben ihre Zunft und die Politik taub. Offenbar ist es für die Ökonomen völlig rational, die Löhne und Gehälter der erwachsenen Kin- der auf der Habenseite zu bilanzieren, während der Aufwand dafür, dieses Humankapital auf die Beine zu stellen, nirgendwo auftaucht. Dass die politisch Verantwortlichen mit vollem Ernst zur demographischen Entwicklung vermerkten, dass die zunehmenden Einsparungen bei der Kin- dergeneration die wachsenden Lasten seitens der Rentner kompensierten18 – zu Ende gedacht also am besten keine Kinder mehr geboren würden –, verwundert vor diesem Hintergrund ebenso wenig wie die Thesen einer Sozialpolitikerin mit volkswirtschaftlicher Qualifikation von der „Finanzie- rung der Jungen durch die Alten“.19 Gleiches gilt für die Tatsache, dass von den verantwortlichen Eliten nicht erkannt wird, dass die mit der sogenann- ten demographischen Entwicklung einhergehende „Überalterung“ im Kern eine „Unterjüngung“ ist, also das Ausbleiben hinreichenden Nachwuchses.

Denkfehler bei der »Produktivität«?

Dass die demographische Entwicklung lange Zeit nicht ernst genommen wurde, beruhte vor allem auf der Annahme einer stetig zunehmenden Pro- duktivität. Der damals verantwortliche Minister Norbert Blüm malte (und malt bis heute) stereotyp das Bild vom Bauern, der zu Beginn des 20. Jahr- hunderts zehn Menschen ernährt habe, an dessen Ende aber hundert. Dabei verkennt er freilich die Tatsache, dass landwirtschaftliche Produktionsbe- triebe heutzutage über eine millionenschwere Kapitalausstattung verfügen und zu der Wertschöpfung des modernen Bauern Dutzende, ja eher noch hunderte Helfer beitragen – angefangen von der Saatgutproduktion über die Landmaschinenhersteller bis zum Endverbraucher an der Ladentheke. Die in der Rentendebatte schon vor Jahrzehnten allseits geäußerte Erwartung steigender Produktivität, steigender Nettolöhne und steigender Lohnquoten

17 Vgl. dazu die Metastudie von Claudia Laubstein, Gerda Holz und Nadine Seddig, Armutsfolgen für Kinder und Jugendliche. Erkenntnisse aus empirischen Studien in Deutschland, Gütersloh 2016. 18 Herbert Ehrenberg und Anke Fuchs, Sozialstaat und Freiheit, Frankfurt a. M. 1981, S. 249-251. 19 Vgl. Sigrid Skarpelis-Sperk (MdB), Arbeit und Wirtschaft im Wandel, in: Hans-Ulrich Klose (Hg.), Altern der Gesellschaft, Köln 1993, S. 67.

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wurde denn auch von der realen Entwicklung drastisch unterschritten,20 was nahelegt, dass die Validität ökonomischer Langfristprognosen an Kaffee- satzleserei grenzt. Vollends irreführend sind dabei gängige Vorausberechnungen der indi- viduellen Pro-Kopf-Einkommen, die einen realen Nettolohnzuwachs von 40 Prozent prognostizieren und daraus eine geradezu spielend leicht zu bewältigende Altenlast ableiteten.21 Denn bei diesen Individualrechnungen fallen die entscheidenden sozioökonomischen Fakten der sozialen Kollektive unter den Tisch: Während die Zahlen der Generation 65+ bis 2050 um bis zu sieben Millionen steigen – und mit ihr die Gesundheits- und Pflegekosten –, geht nach Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes die Anzahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) im gleichen Zeitraum um fast 30 Prozent zurück. Auch die weiter steigende Stundenproduktivität kann diesen Rückgang nicht kompensieren. Die Konsequenz: „Damit würden die Verteilungsspielräume kleiner werden, und das bei sicher deutlich steigen- den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung.“22 Insgesamt ist fest- zuhalten, dass die demographischen Vorausberechnungen um Längen treff- sicherer sind als die Annahmen zur künftigen Produktivitätsentwicklung. Deren Steigerungen sind kein Naturgesetz, sondern vor allem abhängig vom Bildungsniveau. Hieran aber hapert es seit Jahrzehnten schon aufgrund der dramatischen und weiter zunehmenden Kinderarmut.23

Hausfrauen als perfekte Demographiereserve?

Um diesem Problem Abhilfe zu schaffen, galt während der letzten beiden Jahrzehnte die „Reservearmee der Hausfrauen“ als perfekte Demographie- reserve. Zusammen mit der damaligen Bundesfamilienministerin Renate Schmidt setzten Michael Rogowski (BDI) und Michael Hüther (IW) ihr Kon- zept „Bevölkerungsorientierte Familienpolitik – ein Wachstumsfaktor“ (2004) um24 – sehr zur Freude des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungs- wirtschaft (GDV), der wegen des im Zuge der demographischen Entwick- lung knapper werdenden Faktors Arbeit um die Renditen des Faktors Kapital fürchtete.25 Die Familienpolitik seit 2004 bestand fast ausschließlich in der Erfüllung genau dieser Renditewünsche der Wirtschaft; nennenswerte Res-

20 So rechnete das Gutachten der Prognos AG „Zur langfristigen Entwicklung der gesetzlichen Ren- tenversicherung“ vom Juni 1987 für den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) für das reale Bruttosozialprodukt im Zeitraum bis 2000 mit jährlichen Steigerungsraten von 2,8 Prozent (S. 42), erreicht wurde jedoch nicht einmal die Hälfte. 21 So Gerd Bosbach, Demografische Entwicklung – kein Anlass zur Dramatik, Thesenpapier vom Dezember 2003. 22 Bert Rürup, Altersvorsorge – Alte Fehler in der Rente, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.2014. 23 Vgl. z.B. Jutta Allmendinger, Johannes Giesecke und Dirk Oberschachtsiek, Unzureichende Bil- dung: Folgekosten für die öffentlichen Haushalte, Bertelsmann 2011, www.bertelsmann-stiftung.de. 24 Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bundesverband der deutschen Industrie e.V. und Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Bevölkerungsorientierte Familienpolitik – ein Wachstumsfaktor, www.bmfsfj.de. 25 Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft, Altersvorsorge und demographischer Wandel: Kein Vorteil für das Kapitaldeckungsverfahren?, in: GDV-Volkswirtschaft. Themen & Ana- lysen, 1/2003, www.gdv.de, S. 6.

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sourcen dürften angesichts der enormen Fortschritte der Müttererwerbstätig- keit deshalb hier kaum mehr zu erschließen sein. So hat auch die Hausfrau als Allzweckwaffe ihre Mobilmachung inzwischen längst hinter sich. Dass nun vermehrt und selbst aus Gewerkschaftskreisen Tendenzen zu beobachten sind, trotz der weltweit unprognostizierbar hin und her tau- melnden Finanzmärkte Elemente der Kapitaldeckung zur Stabilisierung der Beitragssätze zum Einsatz zu bringen, lässt sich daher bereits als Aus- druck endzeitlicher Verzweiflung verstehen. Vor der Wahnvorstellung einer Zukunftssicherung über Finanzmärkte hatte Gerhard Mackenroth bereits vor 65 Jahren gewarnt, der unter anderem darauf hinwies, dass Lebensver- sicherungen in Situationen wie der jetzigen demographischen Entwicklung alle ihre Deckungskapitalien synchron veräußern müssten, um den Ausfall an Beitragszahlern wettzumachen; deren Preise würden deshalb ins Boden- lose fallen. So verdichten sich denn auch die Anzeichen, dass die Branche der Lebensversicherer nach ihrer Rettung durch die Riester-Rente vor 15 Jahren angesichts schwindender Beitragseinnahmen und Neuabschlüsse und eher steigenden Auszahlungsverpflichtungen erneut notleidend wird.26 Dass die Nachwuchsgeneration immer die volle Last der Versorgung derer tragen muss, die aus dem Erwerbsleben ausscheiden und dass hier keine Finanzierungstechnik zu helfen vermag, hat zudem Oswald von Nell-Breu- ning ebenso schlüssig nachgewiesen wie die negativen Konsequenzen der Kapitaldeckung im Hinblick auf die Liquiditätsversorgung des (kleinen) Mittelstands, die Konjunktur und den Arbeitsmarkt. So wies er 1986 darauf hin, dass der für die Bildung von Ersparnissen not- wendige Konsumverzicht gravierende konjunkturelle Konsequenzen mit entsprechenden Effekten bei der Arbeitslosigkeit hervorrufen könne. Ferner zwinge die schiere Größenordnung der anzulegenden Kapitalien die Sam- melstellen schon rein anlagetechnisch dazu, die „ersten Adressen“ für die Portfolios zu bevorzugen, wodurch nicht nur dem Mittelstand Liquidität ent- zogen würde, sondern die Gefahr der Hyperinflation an den Börsen drohe sowie ordnungspolitisch unerwünschte Machtkonzentrationen über die Finanzmärkte eintreten könnten.27 Wenn aber auch Kapitaldeckung mehr Probleme aufwirft, als sie Lösungen beinhaltet, trifft dies ebenfalls für die betriebliche Alterssicherung zu; denn diese funktioniert in ihren verschie- denen Erscheinungsformen ebenfalls nach dem Kapitaldeckungsprinzip.28 In Gestalt des „Pflegevorsorgefonds“ haben diese Vorstellungen ohne erkennbaren Widerstand seit 2015 Eingang nun auch in die Sozialversiche-

26 So teilte der GDV am 26.1.2017 mit: „Wir gehen nicht davon aus, dass in diesem [!] Jahr irgendein Lebensversicherer in die Knie geht“, www.versicherungsbote.de. In diesen Zusammenhang gehört deshalb auch der Kampf um die „Infrastrukturgesellschaft Verkehr“, vgl. www.lobbypedia.de/ wiki/Infrastrukturgesellschaft_Verkehr. 27 Oswald von Nell-Breuning, Die „optische Täuschung“ in der Rentendiskussion, in: „Stimmen der Zeit“, 11/1986, S. 737 f. 28 Durch die soeben erfolgte Neuausrichtung der Betrieblichen Altersversorgung durch das Betriebs- rentenstärkungsgesetz („Zielrente“) wird nur das Rendite-Risiko ohne erkennbare Rücksicht auf die volkswirtschaftlichen Konsequenzen der bezweckten Erhöhung der Alterssparquote auf die Arbeitnehmer verlagert, vgl. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, Materialien zur öffentlichen Anhörung von Sachverständigen in Berlin am 27.3.2017, Ausschussdrucksache 18(11)971, 24.3.2017, insbes. S. 27 ff.

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rung Eingang gefunden (§§ 131 ff. SGB XI). Es lohnt deshalb genauer hin- zuschauen, was dort eigentlich passiert: Nach den maßgebenden Anlagevor- schriften dürfen die Mittel nur zu geringen Teilen in Immobilien und Aktien angelegt werden. Stattdessen wandern sie zu rund 80 Prozent in Schuld- verschreibungen der öffentlichen Hände des Euroraumes – und das heißt: überwiegend in Staatsverschuldung. Diese Titel aber sind bei Fälligkeit aus Steuermitteln zurückzuzahlen – im Ergebnis also keine Spur von Kapitalde- ckung, sondern reine Umlage.29 Da Staatsschulden jedoch implizit vor allem Steuererleichterungen für Reiche beinhalten,30 besteht die besondere Pointe des Pflegevorsorgefonds darin, dass Arbeitnehmer über ihre linear-proportio- nalen und wegen der Beitragsbemessungsgrenze „regressiven“ Beiträge die Abgabenverschonung für die relativ Wohlhabenderen finanzieren müssen, welche bei verfassungskonformer Staatsfinanzierung eigentlich die Adressa- ten für den Zugriff der „progressiven“ Einkommensteuer wären. Stattdessen aber sind die Arbeitnehmer auch die Hauptträger der Rückzahlungspflicht – wegen der Dominanz der ebenfalls regressiven, also vor allem die Schwäche- ren belastenden Verbrauchssteuern bei den Einnahmen des Fiskus.

»Versicherungsfremde Leistungen« oder: Noch mehr Steuern ins System?

Eine weitere Strategie der Rentenverantwortlichen besteht seit Jahrzehnten darin, das Rentensystem unter Hinweis auf „gesamtgesellschaftliche“ und „versicherungsfremde“ Aufgaben durch fiskalische Infusionen am Leben zu erhalten. In den 1990er Jahren lag der Anteil des Bundeszuschusses an der Rentenfinanzierung (ebenso wie am Bundeshaushalt) bereits bei (jeweils) fast 40 Prozent, Tendenz steigend.31 Um diesen Prozess zu stoppen, der über kurz oder lang den Bundeshaushalt erschöpft hätte, wurde mit den „Altersvermö- gensgesetzen“ und der Riester-Rente die Privatvorsorge ins Spiel gebracht. Derzeit dürfte der steuerfinanzierte Anteil jeder Rente aber immer noch bei rund 30 Prozent liegen. Das strapaziert nicht nur die angebliche „Beitrags- äquivalenz“ der Renten, sondern belastet zugleich die Arbeitnehmer, auf die wegen der asymmetrischen Steuerverantwortlichkeiten schätzungsweise 70 Prozent der fiskalischen Gesamteinnahmen entfallen. Angesichts der exorbitanten Abgabenbelastung der Arbeitnehmer hierzulande, welche die OECD in ihren jährlichen Berichten „Taxing Wages“ als die höchste im inter- nationalen Vergleich der großen Industrieländer anprangert, liegt die Not- wendigkeit einer radikalen Neuverteilung der Abgabenlasten auf der Hand. Aufschlussreich ist im Übrigen auch, was eigentlich „versicherungs- fremd“ sein soll: vor allem die Finanzierung der „Ostrenten“ nämlich und die Berücksichtigung der Kindererziehungsleistungen. Mit letzteren wer- den also bezeichnenderweise die Grundlagen des Systems selbst als „ver-

29 Dass die staatliche Kreditaufnahme nämlich nicht in Investitionen wandert, belegt die Tatsache des gigantischen Investitionsstaus trotz einer Staatsverschuldung von mehr als 2 Billionen Euro. 30 Vgl. Borchert, Sozialstaatsdämmerung, a.a.O., S. 138 ff. 31 Selbst der Sozialbeirat warnte in seinem Sondergutachten vom 13.2.2001 bereits vor einer „schlei- chenden Konversion“ des Rentensystems, BT-DS. 14/5394, S. 4.

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201707_Blätter.indb 95 21.06.17 11:51 96 Jürgen Borchert

sicherungsfremd“ klassifiziert. Dabei ist bereits im „Beitragskinderurteil“ des Bundesverfassungsgerichtes vom 3. April 2001 nachzulesen, dass Kin- dererziehung für die intergenerationell verteilenden Sozialsysteme „konsti- tutiv“ ist.32 Wer die Tatsache, dass Arbeitnehmer und Rentner der früheren DDR seit der Wiedervereinigung Renten der GRV ohne vorherige Beitrags- leistung beziehen, als „Rentenklau“ des Staates in Höhe von hunderten Mil- liarden Euro diffamiert, unterschlägt den entscheidenden Umstand, dass die Altersvorsorge eben gerade nicht in den Beiträgen der Vergangenheit besteht, sondern in der Erziehung der Kinder. Zu erinnern ist deshalb daran, dass dieselbe Diskussion im Prinzip schon 1959 im Bundestag geführt wurde, als man über das schließlich am 25. Februar 1960 verkündete Fremdrenten- gesetz für Flüchtlinge und Vertriebene stritt. Damals beruhigten sich die Gemüter erst wieder, nachdem sich die Einsicht durchgesetzt hatte, dass die Zuwanderer aus dem Osten in der Regel nicht nur gut ausgebildet waren, sondern auch deutlich mehr Kinder mitbrachten, als im Westdeutschland jener Jahre der Durchschnitt war.

Der Kampf um sichere Renten als Kampf um die Demokratie

Kurzum: Keines der immer wieder vorgeschlagenen Patentrezepte bietet somit einen Ausweg aus der Sackgasse des Sozialsystems. Um einen sol- chen zu finden, müsste sowohl auf der Einnahme- wie auf der Ausgaben- seite nach vorhandenen, aber fehlverteilten Ressourcen gefahndet werden. Faktisch wurde jedoch unter der Bundessozialministerin Andrea Nahles die Chance vertan, der Rentendebatte eine neue Richtung zu geben und die Rentenversicherung in ein universelles System der Alterssicherung ähnlich der Alters- und Hinterlassenenversicherung der Schweiz (AHV) zu verwan- deln – unter Einbeziehung der gesamten Bevölkerung sowie aller Einkom- men einschließlich der Vermögenserträge bei Deckelung der Rentenhöhe und gleichzeitiger Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze. Einen sol- chen Vorschlag einer BürgerFAIRsicherung, die auch Kindererziehung als anwartschaftsbegründend anerkennt, hatte eine Expertenkommission von 1999 bis 2000 im Auftrag des IG-BAU-Vorsitzenden Klaus Wiesehügel (und späteren Sozialministers im SPD-Schattenkabinett 2013) ausgearbeitet.33 Doch im Strudel der Agenda 2010 ging der Vorschlag unter. In diese Richtung – allerdings noch viel radikaler! – muss weitergedacht werden. Denn nur wenn der Staat die soziale Sicherheit seiner Bürger, gerade im Alter, gewährleistet, wird auch die Demokratie langfristig gesichert sein. Für das erforderliche Umdenken in der Rentendebatte ist es unerlässlich, zunächst einmal mit irreführenden und unzutreffenden Begriffen aufzu-

32 Vgl. 1 BvR 1629/94. 33 Der Kommission gehörten u.a. Heiner Flassbeck, Herbert Ehrenberg und der Verfasser an. Vgl. Klaus Wiesehügel, Solidarität ist machbar, in: „Soziale Sicherheit“, 7/2000, S. 230 ff; außerdem Jür- gen Borchert und Dieter Eißel, Bürgerversicherung jetzt. Gegen den marktradikalen Kahlschlag in der Sozialpolitik, Frankfurt a. M. 2004 (Heft 1 der „Schriftenreihe Hintergründe und Meinungen zur Gesellschaft“ des DGB-Bildungswerks Hessen).

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räumen. Denn entscheidend in politischen Debatten sind weniger Fakten als vielmehr gedankliche Deutungsrahmen, welche unser Denken und Handeln leiten, ohne dass wir es merken.34 Warum etwa gilt bei uns die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze ohne korrespondierende Rentenerhöhung als eindeutig ungerechter Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip, während in der Schweiz die Tatsache, dass ein Großverdiener – zum Beispiel der Vorstandsvorsitzende der Novartis SA mit einem Jahreseinkommen in Höhe von 15 Mio. Schweizer Franken – rund 10 Prozent seines Gehalts einzahlt, allgemein begrüßt wird, obwohl er trotz- dem nur eine Maximalrente von 2350 Franken pro Monat erhält? Der Schlüs- sel für eine grundlegende Veränderung liegt in der Semantik. Geradezu mit Händen zu greifen ist der Missbrauch der Versicherungster- minologie bei der Rente – als angeblicher Renten-„Versicherung“. Eine Ver- sicherung kann es jedoch nur dort geben, wo es um Abweichungen von der sozialen Norm geht; die soziale Norm selbst aber ist schlechterdings unver- sicherbar. Zu Bismarcks Zeiten passte der Begriff Rentenversicherung noch; denn damals lag die Lebenserwartung bei 40 und das Renteneintrittsalter bei 70 Jahren, der Renteneintritt war also die große und damit versicherbare soziale Ausnahme. Angesichts einer Lebenserwartung von im Schnitt 80 und einem Renteneintrittsalter von knapp 67 Jahren kann davon heute keine Rede mehr sein. Nicht ohne Grund sprach Wilfrid Schreiber deshalb bereits vor 60 Jahren von der „Rentenkasse des deutschen Volkes“. Genauso abwegig ist der Begriff der „Beitragsäquivalenz“. Was genau unter dieser Äquivalenz zu verstehen sein soll – Individual-, Gruppen-, Teil- habeäquivalenz? –, hat noch niemand genau sagen können. Trotzdem wird sie immer wieder gegen eine Herstellung von Beitragsgerechtigkeit gegen- über Eltern ins Feld geführt. Abgesehen davon, dass das Bundesverfassungs- gericht bereits im „Trümmerfrauenurteil“ vom 7. Juli 1992 klargestellt hat, dass eine „maßvolle Umverteilung“ aus den Rentenanwartschaften Kinder- loser zu diesem Zweck verfassungsrechtlich unbedenklich ist, geht eine solche Argumentation am Problem vorbei. Denn mit den Rentenbeiträgen wurde von der ersten Sekunde des neuen Systems 1957 an ausschließlich die Elterngeneration bedient; die Beiträge stehen also schon deshalb nicht mehr für die eigene Altersversorgung – als angebliches Äquivalent für geleistete Arbeit – zur Verfügung. Altersvorsorge besteht vielmehr einzig und allein darin, dass wir eine Kin- dergeneration großziehen, dieser eine intakte Umwelt und einen effizienten Wirtschaftsapparat zur Verfügung stellen und sie vor allem mit der bestmög- lichen Bildung ausstatten. Wer deshalb seine in der Vergangenheit geleis- teten Beiträge für bare Zukunftsmünze nimmt, hat das Wesen des „Genera- tionenvertrags“ nicht verstanden und versucht mittels juristischer Fiktionen Flüsse bergauf fließen zu lassen – in der Realität geht aber alles den Bach

34 Vgl. dazu die Skizze bei Borchert, Sozialstaatsdämmerung, a.a.O., S. 207 ff.; ausführlicher ders., Der „Wiesbadener Entwurf“ einer familienpolitischen Strukturreform des Sozialstaates, in Hess. Staats- kanzlei (Hg.), Die Familienpolitik muss neue Wege gehen!, Wiesbaden 2003, S. 92 ff; zum Framing ausführlich Elisabeth Wehling, Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht, Köln 2016.

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runter.35 Die Folgen sind auch sozialpsychologisch verheerend. Denn der Irr- tum vieler Versicherter, sie allein wären die Garanten ihrer Zukunftssiche- rung und auf niemand anderen angewiesen, lässt die Interessen der Kinder- generation verschwinden und macht den Einzelnen zum Maß aller Dinge. Die Rentenreform 1957 verfestigte diese strukturelle Rücksichtslosigkeit der individualistischen Gesellschaft gegenüber den Bedürfnissen von Kindern und Familien. Wenn aber nur noch der Einzelne zählt, verlieren gesellschaft- liche Notwendigkeiten und Wertvorstellungen ihre Verbindlichkeit; mit dem Verlust des Solidaritätsgedankens verschwindet so die Voraussetzung für eine stabile Gesellschaft. Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, müsste zuerst die wechselseitige Verantwortung füreinander wieder wahr- nehmbar werden. Den dafür notwendigen Durchblick aber verhindern die semantischen Irreführungen – von Äquivalenz bis Versicherung – und die Schleier der Geldwirtschaft, die eine kapitalgedeckte Rente verheißen, diese aber niemals garantieren können. Das Versprechen der von Kanzler Adenauer so gründlich vermurksten Schreiberschen „Produktivitätsrente“ und damit des Konzepts der sozialen Großfamilie war, dass die Lebenshaltung aller drei beteiligten Generationen – Kinder, Aktive und Alte – in Einklang miteinander stehen soll. Das ist, so Oswald von Nell-Breuning, „kein wirtschaftliches Problem, das kann auch jedes arme Volk leisten, ein reiches wie wir allemal; es ist eine Frage des Wol- lens, nicht des Könnens“. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Heute bestätigt die Bevölkerungsentwicklung die Richtigkeit der Fest- stellung William Kapps, dass durch fehlgeleitete soziale Prozesse, in diesem Falle durch eine verheerende Rentenpolitik, Asymmetrien ausgelöst werden können, die Gesellschaften im schlimmsten Falle ihr Gleichgewicht verlie- ren lassen.36 Im Ergebnis – so das schon von Ernst Forsthoff erkannte Para- doxon – können partikularistisch organisierte Demokratien gerade deshalb scheitern, weil in ihnen die allgemeinen gesellschaftlichen Interessen kei- nen Patron für ihre Durchsetzung finden. Ja mehr noch: Der Verwirklichung gesamtgesellschaftlicher Interessen stehen umso mehr gesellschaftlich organisierte Einzelinteressen entgegen, je grundlegender sie sind.37 Genau dieses Phänomen erleben wir seit 60 Jahren bei der Rente. Als letzte (juristi- sche) Hoffnung bleibt da wohl nur das Bundesverfassungsgericht. Doch nur wenn die Gesellschaft selbst erkennt, wie sehr ihr Überleben und ihr Fortbe- stand von einer gerechten Belastung und Unterstützung aller Generationen abhängt, wird sie letztlich stabil bleiben – und damit auch die Demokratie eine sichere Zukunft haben.

35 Jüngstes Paradebeispiel: Kerstin Herrnkind, Vögeln für das Vaterland? Nein danke! – Bekenntnisse einer Kinderlosen, Frankfurt a. M. 2017. 36 William Kapp, Soziale Kosten der Marktwirtschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 19 f. 37 Das sog. „Forsthoffsche Paradoxon“, Ernst Forsthoff, Der Staat in der Industriegesellschaft, Mün- chen 1971, S. 25 f.

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201707_Blätter.indb 98 21.06.17 11:51 Wider das Einheitsdenken Plädoyer für Pluralismus in der Wirtschaftswissenschaft

Von Carla Coburger und Patrick Klösel

m die universitäre Wirtschaftswissenschaft ist ein erbitterter Kampf U entbrannt. Ökonomen gelten zwar weiterhin als kompetenteste Figuren in der Politikberatung, und die Ökonomik gilt als härteste und verlässlichste aller Sozialwissenschaften.1 Doch diese alten Hierarchien sind in Bewegung geraten. Berühmt geworden ist die erstaunte Frage von Queen Elisabeth II. an die Adresse der Ökonomen, warum niemand von ihnen die globale Wirt- schaftskrise ab 2008 kommen sah. Von einem „systematischen Versagen der universitären Wirtschaftswissenschaft“ sprechen selbst führende Vertre- ter der Disziplin.2 Und auch der Chefökonom der Bank of England, Andrew Haldane, zog jüngst Parallelen zur Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und forderte alternative wirtschaftswissenschaftliche Ansätze – nicht zuletzt für die Wirtschafts- und Geldpolitik.3 Dieses Versagen der Ökonomik markiert auch aus der Sicht vieler Beob- achter eine regelrechte Legitimationskrise der Wirtschaftswissenschaft. Dennoch gibt der Mainstream bloß unbefriedigenden Antworten auf jene berechtigte Frage, die nicht nur die Queen gestellt hat: Viele Wirtschafts- wissenschaftler erkennen in der mangelnden Prognosefähigkeit ihrer Diszi- plin kein Problem. Sie bewerteten die systemische Krise ab 2008 schlicht als selten auftretende Anomalie. Daher haben sie ihre Methoden bislang nicht substantiell erweitert, sondern bloß partiell ihre Modelle angepasst. Kritische Ökonomen hingegen stellen schon seit Jahrzehnten die Dogmen des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams in Frage. Sie bezweifeln etwa die methodische Trias der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft, der zufolge meist „repräsentative“ Akteure ein Optimierungsproblem lösen, woraus sich dann ein Gleichgewicht ergibt. In diesem Modellrahmen sei die Analyse von Krisenphänomenen und -entwicklungen schlicht nicht mög- lich. Bisher allerdings sahen sich solche Positionen an den Rand des wirt- schaftswissenschaftlichen Diskurses gedrängt.4 Mit der Krise wurde jedoch

1 Justin Wolfers, How Economists Came to Dominate the Conversation, in: „The New York Times“, 23.1.2015. 2 David Colander et al., The Financial Crisis and the Systemic Failure of Academic Economics, Kiel Working Papers, Februar 2009. 3 Andrew Haldane, The dappled world, GLS Shackle Biennial Memorial Lecture, 10.11.2016. 4 Vgl. auch Leonhard Dobusch und Jakob Kapeller, Why Is Economics Not an Evolutionary Science? New Answers to Veblen’s Old Question, in: „Journal of Economic Issues“, 4/2009, S. 867-898.

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die Forderung nach einem Umdenken hin zu mehr Pluralismus laut – und ist bis heute immer lauter geworden. Nicht zuletzt Studierende der Wirtschafts- wissenschaft – die Leidtragenden einer unkritischen Lehre – protestieren seit Jahren wie in keinem anderen Fachbereich engagiert gegen ihre Studien- pläne und das einseitige ökonomische Denken der vorherrschenden Neo- klassik.

Im Elfenbeinturm der Wirtschaftswissenschaft

Denn trotz der Finanzkrise von 2008 haben sich die Inhalte an den wirt- schaftswissenschaftlichen Instituten in Deutschland wie weltweit in den letzten Jahrzehnten erstaunlich wenig verändert. Wer ein Studium der Volkswirtschaftslehre aufnimmt und sich davon innovative Erklärungen und Lösungen für ökonomische oder gar gesellschaftliche Probleme erhofft, wird bitter enttäuscht. Der größte Teil des dreijährigen Bachelorstudiums besteht aus stark formalisierten Modellen, linearen Gleichungssystemen und Excel-Tabellen. Wichtige Inhalte über das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft fehlen in den Studienplänen, für systemische Fragen bleibt die Ökonomik dadurch blind. Stark ausgegrenzt werden in den akademischen Wirtschaftswissenschaften insbesondere Ansätze, die sich kritisch mit den Reproduktionsstrukturen der natürlichen Umwelt (Ökologische Ökonomik) oder der gesellschaftlichen Dimension und den daraus resultierenden sozio- ökonomischen Strukturen (Feministische Ökonomik) auseinandersetzen. Die Leitlinien der vorherrschenden neoklassischen Theorieschule sind Sta- tistik, Modellierung und Formalisierung. Wer sich als Ökonom bezeichnet, blickt meist in einer Mischung aus Abschätzigkeit und Desinteresse auf die anderen Sozialwissenschaften herab. Nur die eigene Disziplin könne schließlich belastbare Ergebnisse produzieren.5 Auch dadurch hält die Neo- klassik – mit verschiedenen Modifikationen – seit mehreren Jahrzehnten an ihrem Status als beherrschende Theorieschule fest. In kaum einer anderen Disziplin ist ein einzelnes Paradigma so dominant. Die Vorrangstellung der Neoklassik wird auch durch die Lehrmateria- lien gestützt. Das weltweite Standardlehrbuch der Volkswirtschaftslehre6 ist vor allem dadurch bekannt, dass es zu Beginn zehn „Prinzipien der Öko- nomik“ enthält, aus denen die restliche Wirtschaftswissenschaft abgeleitet wird. Selbst das Lehrbuch „Grundzüge der Volkswirtschaftslehre“ von Peter Bofinger, der als kritischer Ökonom gilt und auf Empfehlung der Gewerk- schaften im „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaft- lichen Entwicklung“ sitzt, folgt diesem Schema.7 Zwar wurden die meisten Lehrbücher in den letzten Jahrzehnten um einige weiterführende Kapitel zu ökologischen Fragestellungen, Arbeitsmärkten oder Marktversagen und

5 Marion Fourcade, Etienne Ollion und Yann Algan, The Superiority of Economists. „MaxPo Discus- sion Paper“, 3/2014. 6 N. Gregory Mankiw und Mark P. Taylor, Economics, Boston 2014. 7 Peter Bofinger, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, London 2015.

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Krisen ergänzt, aber die Grundannahmen und Standardmethoden der Dis- ziplin blieben dabei stets unhinterfragt. Diese neuen Kapitel werden von den Vertretern der Neoklassik rhetorisch vereinnahmt – doch markieren sie letztlich eine radikale Infragestellung der neoklassischen Grundannahmen. So erfordern ökologische Fragen ein verändertes Verständnis der Interak- tion von Wirtschaft, Ökosystem und Gesellschaft. Auch das vorherrschende Gleichgewichtskonzept wird bei einer Analyse von Arbeitsmärkten in Frage gestellt, angesichts von Nebenjobs für die Existenzsicherung, Diskriminie- rung sowie der Ignoranz gegenüber unvergüteter Arbeit. Und das zyklische Auftreten von Krisen verlangt – entgegen der dominanten Annahme über die Rationalität des Marktes – nach alternativen Modellierungsansätzen, die von beschränkt rationalen Akteuren und echter Unsicherheit ausgehen. Keine der drei erwähnten Grundprämissen der Neoklassik wird der ökonomischen Realität gerecht. Zwar gibt es in der ökonomischen Disziplin heterodoxe Ausnahmen, etwa die wirtschaftswissenschaftlichen Institute an der Universität Bremen, der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin sowie an manchen Fachhoch- schulen. Da bei Berufungsverfahren jedoch die Veröffentlichungen in aka- demischen Fachzeitschriften des Mainstreams eine zunehmend große Rolle spielen, werden diese Ausnahmen kontinuierlich weniger.

Eine internationale Studierendeninitiative

Seit einiger Zeit regt sich Widerstand gegen die Abgeschlossenheit der Wirt- schaftswissenschaft – vor allem von Seiten der Studierenden. Bereits 2013 gründete sich die „International Student Initiative for Pluralism in Econo- mics“ (ISIPE), ein internationaler Zusammenschluss für mehr Pluralismus in Lehre und Forschung in der Wirtschaftswissenschaft. In ihrem am 5. Mai 2014 veröffentlichten Open Letter fordern die Studierenden aus 30 verschie- denen Ländern mehr Pluralismus in dreierlei Hinsicht: Pluralismus der Theo- rieschulen, Methodenpluralismus und Pluralismus der Disziplinen.8 Neben der ISIPE haben sich mittlerweile auf nationaler Ebene weitere Netzwerke wie beispielsweise das „Netzwerk Plurale Ökonomik“ in Deutschland sowie „Rethinking Economics“ in Großbritannien und anderen Ländern gebildet. Die Bewegung umfasst heute über 100 lokale Gruppierungen an Universitä- ten auf allen fünf Kontinenten, die durch Ringvorlesungen und selbst orga- nisierte Seminare zu Themen pluraler Ökonomik auf die prekäre Lage an den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten hinweisen. Jeweils am Jahres- tag des Open Letter untermauern die Studierenden ihre Anliegen durch ver- schiedene öffentlichkeitswirksame Aktionen. Inzwischen hat das Netzwerk Plurale Ökonomik mit „Exploring Economics“ eine akademisch betreute Internetseite erstellt, die Studierenden und Interessierten fundierte Einbli- cke in verschiedene Theorieschulen und alternative Denkansätze ermög-

8 Vgl. Open Letter, www.isipe.net.

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licht.9 Und in diesem Sommer findet zum ersten Mal eine vom „Netzwerk“ in Kooperation mit dem Club of Rome und der Bundeszentrale für Politische Bildung organisierte Sommerakademie zu Themen pluraler Ökonomik statt. Fachbereiche und Professoren reagieren höchst unterschiedlich auf diese studentischen Initiativen. Das Spektrum reicht von ehrlichem Interesse über Indifferenz bis hin zu offener Opposition und aktiver Blockade. Die Göttinger Gruppe des „Netzwerks“ etwa bietet schon seit längerer Zeit anrechenbare Veranstaltungen an, für die ihr sogar Stellen als studentische Hilfskräfte und eine betreuende Doktorandin zur Verfügung gestellt werden. Die meisten Gruppen stoßen mit ihren Anliegen beim Lehrpersonal jedoch auf Unver- ständnis und Desinteresse und werden als Vertreterinnen eines Marginal- interesses belächelt. An der Berliner Humboldt-Universität etwa erhielt die lokale Gruppe lange Zeit nicht einmal Seminarräume. Dabei bedarf es keiner ausgefeilten Wissenschaftstheorie, um zu erken- nen: Die Forderung nach mehr Pluralismus ist weder utopisch noch unge- wöhnlich. Für alle Wissenschaften gilt: Sobald empirische Untersuchungen oder konzeptionelle Innovationen neue Erkenntnisse ergeben, werden die bisherigen Theorien einer Disziplin geprüft und gegebenenfalls verworfen. Wenn nun unterschiedliche Aspekte der Faktenlage verschieden interpre- tiert oder gewichtet werden und mehrere methodische Zugänge konkurrie- ren, bilden sich neue Theorieschulen. Ein theoretischer Pluralismus entsteht so bestenfalls aus dem Wissenschaftsbetrieb heraus – und er ist der „Wahr- heitsfindung“ der Wissenschaft höchst zuträglich.10 In den anderen Sozial- wissenschaften lässt sich das gut beobachten. Nicht so in den Wirtschaftswissenschaften: Vergangenes Jahr unter- suchten Studierende die Studienpläne der Volkswirtschaftslehre aus zwölf Ländern, darunter Deutschland, Frankreich, Israel und Argentinien.11 Die Ergebnisse sind bezeichnend: Mit durchschnittlich über 60 Prozent machen demnach Betriebswirtschaftslehre, bestimmte statistische und mathemati- sche Methoden sowie Mikro- und Makroökonomie den weitaus größten Teil des volkswirtschaftlichen Studiums aus. Reflexive Lehrveranstaltungen, in denen beispielsweise über die eigenen wissenschaftstheoretischen Grund- lagen oder die Geschichte der Wirtschaftswissenschaft nachgedacht würde, machen hingegen nur 2,5 Prozent der Studienpläne aus. Daher können die meisten Studierenden am Ende ihres Studiums zwar problemlos den Opti- malwert einer Produktionsfunktion bestimmen, haben von Wirtschafts- und Dogmengeschichte jedoch meist keine Ahnung. Deutschland rangiert mit einem Anteil von 1,3 Prozent reflexiver Lehrveranstaltungen dabei sogar unter den internationalen Schlusslichtern. Die Geschichte des ökonomischen Denkens und Wirtschaftsethik kommen in hiesigen Lehrplänen so gut wie nicht vor. Auch Wirtschaftsgeschichte ist mit einem Anteil von 0,5 Prozent weitestgehend marginalisiert. Trotz vieler Methodenveranstaltungen sucht

9 Vgl. www.exploring-economics.org/de. 10 Christian Grimm, Jakob Kapeller und Florian Springholz, Führt Pluralismus in der ökonomischen Theorie zu mehr Wahrheit?, Marburg 2014. 11 Vgl. www.plurale-oekonomik.de, 21.3.2016 sowie Die Studie EconPLUS. Zur Pluralität der volks- wirtschaftlichen Lehre in Deutschland, www.pluralowatch.de.

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man zudem Angebote zu qualitativer Forschung vergeblich. Das Studium der Volkswirtschaftslehre wird eindeutig von der Neoklassik dominiert, von Plu- ralismus kann somit bisher nicht einmal im Ansatz die Rede sein.

Alternative Ansätze gibt es schon

Dabei herrscht an heterodoxen Theorieschulen eigentlich kein Mangel. Das zeigt beispielhaft der Blick auf drei alternative Ansätze. Erstens analysie- ren Vertreter der Komplexitätsökonomik wie Thomas Lux oder Brian Arthur die Ökonomie als „Komplexes Adaptives System“, in dem sich kontinuier- lich Strukturen und Institutionen neu herausbilden. Komplexitätsökonomen argumentieren, die Ökonomie entwickele sich nicht notwendigerweise zu einem Gleichgewicht hin – vielmehr stellen die entsprechenden Annah- men der neoklassischen Theorie einen selten auftretenden Sonderfall dar.12 Anders als die Neoklassik geht die Komplexitätsökonomik daher davon aus, dass eine ökonomische Ordnung nicht per se gegeben ist. Stattdessen wird sie durch die Selbstorganisation des Systems geformt, die sich aus der direk- ten Interaktion der beteiligten Individuen ergibt. Gerade dadurch hält die Komplexitätsökonomik für die Analyse von Finanzmärkten und dort auf- tretenden Krisen ein wertvolles Instrumentarium an computerbasierten Simulationen, Netzwerkanalysen und alternativen Modellen bereit. Sie wird deshalb bereits in vielen Bereichen der Wirtschaftspolitik angewendet, bei- spielsweise seit einigen Jahren insbesondere in Zentralbanken. Die OECD und die Bank of England nehmen hierbei eine Vorreiterrolle ein.13 Bedeutsam sind zweitens die unterschiedlichen Ansätze aus dem Umfeld der Feministischen Ökonomik. Sie setzen bei folgendem Grundgedanken an: Da nur „quantifizierte Arbeit“ in den herkömmlichen Statistiken erscheint, wird in makroökonomischen Analysen stets nur die Lohnarbeit berücksich- tigt. Sämtliche unentgeltlich verrichtete Arbeit kann dadurch nicht erfasst werden. Neben Schwarzarbeit und ehrenamtlicher Arbeit ist es vor allem die sogenannte Sorgearbeit (Care), die in den Statistiken nicht vorkommt – und meist von Frauen geleistet wird.14 Dazu zählen die Betreuung und Erzie- hung der Kinder, Arbeit im Haushalt und die Pflege älterer Verwandter. Eine solche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führt zu spezifischen Kräfte- verhältnissen und sozialen Strukturen. Auch zeigt sich in diesen Ansätzen schnell der enge Zusammenhang zwischen der feministischen Perspektive auf Reproduktion und der Frage nach ökologischer Reproduktion: Weltweit sind besonders Frauen von der zunehmenden Verschmutzung von Trinkwas- ser, der Kontaminierung von Böden sowie von Luftverschmutzung betroffen.

12 Brian W. Arthur, Complexity Economics: A Different Framework for Economic Thought, „SFI Wor- king Paper Series“, Santa Fe 2013. 13 Vgl. etwa Patrick Love und Julia Stockdale-Otárola, Debate the Issues: Complexity and Policy making, OECD 2017. 14 Vgl. dazu Nancy Fraser, Who cares? Die Ausbeutung der Sorgearbeit und ihre Krise, in „Blätter“, 4/2017, S. 105-114 sowie dies., Who cares? Teil II. Die Ausbeutung der Sorgearbeit im neoliberalen Kapitalismus, in „Blätter“, 5/2017, S. 91-100.

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Eine der bekanntesten heterodoxen Positionen bildet, drittens, der Post- keynesianismus. Ausgehend von den Arbeiten John Maynard Keynes’ zeich- net sich das Werk wichtiger postkeynesianischer Autoren wie Pierro Sraffa und Hyman Minsky durch einige entscheidende Abweichungen von der neo- klassischen Theorie aus. So begreifen sie Finanzmärkte als inhärent instabil und nehmen soziale Friktionen in ihre Konzepte auf. Dadurch erscheint eine intervenierende Sozial- und Wirtschaftspolitik in einem positiveren Licht. Vor allem die Wirtschaftskrise ab 2008 führte zu einer erneuten Konjunk- tur „keynesianischer“ Wirtschaftspolitiken. In einer Art erneuertem Deficit Spending wurden weltweit – nicht zuletzt im danach stets die Austerität pre- digenden Deutschland – Konjunkturpakete verabschiedet. Auch die aktuelle expansive Fiskalpolitik der Europäischen Zentralbank ließe sich als keyne- sianisch bezeichnen.15

Perspektiven pluraler Ökonomik

Heterodoxen Ökonomen ist gemein, dass sie die Neoklassik aus ihrer jewei- ligen postkeynesianischen, marxistischen oder hayekianischen Perspektive und ausgehend von ihrer eigenen Methodologie und Interpretation der empi- rischen Fakten kritisieren. Dagegen setzt die basisdemokratische Bewegung der Studierendeninitiative ISIPE, der nationalen Netzwerke und der jewei- ligen lokalen Gruppen weit grundsätzlicher an: Sie fordert eine Vielfalt an Theorieschulen in Lehre und Forschung und bezieht dabei die Neoklassik explizit mit ein. Das Projekt der Kritiker ist also ein genuin demokratisches: Bisher ungehörten Stimmen soll Gehör verschafft werden und strukturelle Bedingungen für die Ausgrenzung anderer Perspektiven sollen beseitigt werden. Die Studierenden kämpfen für Pluralismus in ihren Studienplänen und nicht zuletzt dafür, dass auch heterodoxen Positionen eine Öffentlichkeit gewährt wird. Und ihr Engagement zeigt bereits Wirkung: Die Universität Siegen hat auf die neue Nachfrage nach einem breiteren Angebot reagiert und bietet seit dem Wintersemester 2016/17 einen pluralen Masterstudien- gang in Wirtschaftswissenschaft an. Und im jüngst vereinbarten Kieler Koali- tionsvertrag ist die Schaffung einer Professur für „Plurale Ökonomik“ vorge- sehen. In die ökonomische Ausbildung ist also doch ein bisschen Bewegung gekommen – und das ist auch bitter nötig. Denn wenn die neu gewählte Bun- desregierung im Herbst die Schlüsselstellen der Wirtschaftspolitik besetzen kann – und dabei auf reale ökonomische Alternativen abzielen will –,16 steht sie nicht zuletzt vor einem klassischen „Angebotsproblem“: Solange keine „pluralen Ökonomen“ ausgebildet werden, können sie auch nicht eingestellt oder berufen werden. Nur wenn sich eine größere Pluralität in der Wirt- schaftswissenschaft durchsetzt, werden auch wieder wirtschaftspolitische Alternativen jenseits neoliberaler Lösungen denkbar.

15 Rudolf Hickel, Macht und Ohnmacht der EZB. Warum Europa eine gemeinsame Finanz- und Wirt- schaftspolitik braucht, in: „Blätter“, 3/2016, S. 93-100. 16 Mark Schieritz und Petra Pinzler, Rechtsherum oder linksherum, in: „Die Zeit“, 11/2017.

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201707_Blätter.indb 104 21.06.17 11:51 Die Speer-Legende und ihre Konstrukteure Von Magnus Brechtken

»Die Speer-Erinnerungen waren ein großes Welt-Recht, schon als Speer noch in Spandau saß.« Joachim Fest, 20021

eben und Karriere Albert Speers, Architekt des Rassenstaates und ab L 1942 NS-Reichsminister für Bewaffnung und Munition, bieten das wohl prominenteste Beispiel eines prägenden Teils der deutschen Gesellschaft im 20. Jahrhundert. Speers Werdegang – hinein in die nationalsozialistische Bewegung bis 1933, als engagierter Nationalsozialist bis 1945, schließlich als Distanzierungs-Erzähler nach der Niederlage – steht exemplarisch für die deutschen Funktionseliten, aber auch für die vielen anderen, die den Natio- nalsozialismus vorantrieben und mitprägten, nach dessen Scheitern mit ihm jedoch „eigentlich“ nichts zu tun gehabt haben wollten. Auf die Frage „Was ist ein Nationalsozialist?“ gilt es zu antworten: Ein Nazi ist der, der nationalsozialistisch handelt. Das tat Speer, seit er 1930 erstmals für die NSDAP wirkte. Die Mehrheit der Funktionseliten handelte wie er, sie engagierten sich, mal still, mal jubelnd. Sie waren, ob in Uniform oder nicht, die tragenden Kräfte des Regimes: Sie bewegten die Massen, schufen Bauten und Waffen, drillten die Schüler und die Soldaten, managten die Rüstung, organisierten die Eroberungsfeldzüge und den Massenmord. Sie handelten nationalsozialistisch, so wie es ihrem Ehrgeiz und ihren Zielen entsprach. Und wären sie erfolgreich gewesen, so läsen wir heute wohl ihre Elogen über die grandiose Vernichtung der Gegner. Hätten sie gesiegt, wäre auch Speers PR-Maschine zweifellos auf Hochtouren gelaufen, um ihn als führenden Repräsentanten des Regimes, ja als möglichen Nachfolger Hitlers zu preisen, als den er sich selbst sah. Doch im Angesicht der Niederlage suchte Speer eine andere Geschichte zu erzählen. Auch hier war er repräsentativ für eine Vielzahl seiner Mitbürger. „Die Nazis“ – das waren nach dem 8. Mai 1945 plötzlich „die anderen“. Wobei viele Beobachter aus dem Ausland, die ins gerade erst geschlagene Reich kamen, nüchtern bemerkten, all die plötzlich so vehementen Kritiker hätten im Grunde nur beklagt, dass Hitler den Krieg

* Der Beitrag basiert auf „Albert Speer. Eine deutsche Karriere“, dem neuen Buch des Autors, das soeben im Siedler Verlag erschienen ist. 1 Joachim Fest, in: Heinrich Breloer, Nachspiel – Die Täuschung, ARD, 2005.

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verloren, nicht aber, dass er ihn begonnen hatte.2 Weil der Nationalsozialis- mus scheiterte und vor allem wegen seiner Verbrechen in der Erinnerung haftet, strebte Speer danach, die Geschichte des „Eigentlich-nicht-beteiligt- seins“ zu etablieren, die zu seiner Marke werden sollte. Er entwickelte sich zum prominentesten, eifrigsten und erfolgreichsten Protagonisten der Ablen- kungserzählung: ein Edel-Nazi mit Reue-Garantie. Das wiederum machte ihn zur idealen Projektionsfigur für die vielen kleineren und größeren einst- mals Engagierten, die nun ebenfalls nichts mehr wissen wollten vom eige- nen Anteil am Funktionieren der Herrschaft. Und noch weniger vom eigenen Mittun bei der Organisation von Verfolgung und Verbrechen. Nach seiner Entlassung am 1. Oktober 1966 aus dem Kriegsverbrecher- gefängnis in Berlin-Spandau fand Speer in Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest zwei ideale Mitkonstrukteure für seine Fabelgeschichten. Wenn Speer seine Erinnerungstexte mit zahllosen Formulierungen durchwebte, die bei seinen Lesern eine wohlwollend-verständnisvolle Interpretation seiner Per- sönlichkeit erzeugten, war dies nicht zuletzt dem rhetorischen Geschick von Siedler und Fest zu verdanken. Durch die Pathologisierung des Nationalso- zialismus konnte Speer als „das Andere“ präsentiert werden, mit dem man selbst, das „gesittete“ Bürgertum, nichts zu tun hatte.3 Statt des Täters, wie ihn die Quellen offenbaren, präsentierten Fest und Siedler der deutschen und internationalen Öffentlichkeit ihren Wunsch-Speer. Das Ergebnis war ein Phantasie-Protagonist, dessen Eigenschaften aus den Bedürfnissen der Gegenwart formuliert wurden. Diese Entlastungsnarrative, von Speer, Sied- ler und Fest in die „Erinnerungen“ und die „Spandauer Tagebücher“ kom- poniert, bedienten perfekt das Distanzierungsverlangen des Zeitgeistes in Deutschland und ein Harmonisierungsbedürfnis insbesondere in der angel- sächsischen Welt.

Siedlers Lockvogel – die »große und seriöse Memoirenliteratur unserer Zeit« und eine Menge Geld

Unmittelbar nach Speers Entlassung meldete sich der Verleger Siedler bei „Professor Speer“ persönlich; „zugleich Ihre Bekanntschaft mit dem Bruder meines Vaters Prof. Dr. ing. Eduard Jobst Siedler, ins Feld führend“, sandte er die „zwölfbändige Propyläen Weltgeschichte“. Siedler versprach, die Erin- nerungen in die „große und seriöse Memoirenliteratur unserer Zeit“ einzu- reihen.4 Seine Formulierungen in seinen werbenden Briefen, aber auch sein Vertragsentwurf (der Verleger bat seinen zukünftigen Autor, den gewünsch- ten Honorarbetrag selbst einzutragen), illustrieren, dass Siedler Speers his- torische Rolle vor allem als Element seines Geschäftsmodells betrachtete.

2 Exemplarisch: Michael Salzer, Deutsches Schuldbewusstsein, Toronto Star 19.11.1945, in: Steffen Radlmaier (Hg.), Nürnberger Lernprozess, S. 34-36. 3 Zur Diskussion: Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten? Typologie des politischen Ver- haltens im NS-Staat, in: Gerhard Hirschfeld (Hg.), Karrieren im Nationalsozialismus. Funktionseli- ten zwischen Mitwirkung und Distanz, Frankfurt a. M. 2002, S. 17-42. 4 Bundesarchiv Koblenz (BAK) N1340/53, Wolf Jobst Siedler an Albert Speer, 3.10.1966.

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Es ging ihm nicht um einen Beitrag zur historischen Forschung, sondern um eine Geschichte, die den Erwartungen des Publikums entsprach. Er sah diese Erwartungen und wollte Erfolg als Verleger. So kombinierte er seinen Ehr- geiz mit der Wahrnehmung eines zeitgenössischen Verlangens nach modell- hafter Distanzierungserzählung. Wenn man es klug anstellte, versprach Speer, diese zu liefern – dank der schon etablierten Legenden und dank sei- ner bürgerlichen Aura. Von Beginn an waren perspektivisch zwei Bücher – „Erinnerungen“ und „Tagebuchform“ – sowie ein „Bilder- und Dokumenten- band“ ins Auge gefasst.5 Siedler und Speer sollten sich recht präzise daran halten: 1969, 1975 und 1978 erschienen die entsprechenden Bände. Was nun nur noch fehlte, war ein Lektor, der Siedlers Defizite auf den Gebieten historischen Wissens über das Dritte Reich auszugleichen ver- mochte. Siedler zufolge wollte Speer den „Spiegel“-Redakteur und Histori- ker Wolfgang Malanowski als Ghostwriter engagieren,6 doch Siedler dachte schon länger an seinen Freund Joachim Fest, der bereits als biographischer Autor zum Nationalsozialismus eingeführt war und dessen Stilsicherheit er schätzte. Fest stand ihm nicht nur persönlich näher, er hielt ihn auch für den passenderen Redakteur. Fest und Siedler fanden in einer für die ersten Nach- kriegsjahrzehnte charakteristischen Durchmischung der Berliner Milieus zueinander: Siedler als Spross einer tief im Westen der Stadt verwurzelten großbürgerlichen Familie, Fest als Sohn eines katholischen Volksschulleh- rers aus dem kleinbürgerlichen Milieu des östlichen Berlins, der erst durch seine Karriere seit den 1960er Jahren zu Prominenz und Wohlstand kam.

Joachim Fest – eine journalistische Nachkriegskarriere

Fest verdankte den Aufstieg vor allem seinem stilistischen Talent. Seine Karriere als Geschichtsautor begann mit dem Erfolg seines biographischen Sammelwerks über „Das Gesicht des Dritten Reiches“ (1963), das ihm auch wissenschaftliche Aufmerksamkeit bescherte. Es war aus den Rundfunk- beiträgen hervorgegangen, die er in den 1950er Jahren produziert hatte. Fest nutzte dafür Erinnerungswerke, einige veröffentlichte Quellen und die seinerzeit verfügbare Forschungsliteratur. Vor allem aber stützte er sich auf „Zeitzeugen“, von denen er namentlich Theodor Eschenburg und sei- nen Vater hervorhob, dem das Buch auch gewidmet ist. Die Zeitgeschichts- forschung steckte auf vielen Gebieten noch in den Anfängen, so dass die lückenhaften empirischen Grundlagen von Fests Werk kaum beachtet wurden. Überhaupt passte seine Konzentration auf das Führungsperso- nal, namentlich Hitler und seine engste Macht-Entourage, in die vorherr- schenden Interpretationsrichtungen der Zeit: Man interessierte sich für die kleine Gruppe der herausgehobenen Nazi-Täter, denen die deutsche Gesell-

5 BAK N1340/53, Siedler an Speer, 3.2.1967: „Die Existenz Ihrer anderen Aufzeichnungen ist natür- lich niemandem bisher bekannt.“ 6 Wolf Jobst Siedler in: Heinrich Breloer, Unterwegs zur Familie Speer: Begegnungen, Gespräche, Interviews, Berlin 2005, S. 474.

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schaft als Objekt ihrer totalitären Herrschaft gegenübergestellt wurde. Anfang der 1960er Jahre wechselte Fest vom Berliner RIAS zum NDR nach Hamburg. Hier wurde er bald verantwortlich für die Abteilung „Zeitgesche- hen“, und moderierte ab 1965 die Fernsehsendung „Panorama“. Er profilierte sich als scharfzüngiger Beobachter, nicht zuletzt des Umgangs der Deut- schen mit ihrer Vergangenheit. 1968 verließ Fest den NDR und ging zum „Spiegel“. Damals hatte Siedler ihm bereits die Rolle des „vernehmenden Lektors“ für das Projekt der Speer-Erinnerungen angetragen. Weil Fest seit mehreren Jahren mit dem Gedanken einer Hitler-Biographie umging, emp- fand er dies als einmalige Chance. „Speer schneite mir gewissermaßen wie ein Geschenk der Götter ins Haus“, sagte er später, „einen solchen Zeugen – ersten Zeugen! – wie Speer bekommt eigentlich kein Historiker je, solche Glücksfälle gibt es gar nicht.“7 Tatsächlich erscheint der Kontakt zu Speer rückblickend zentral für Fests weiteres Verständnis des Nationalsozialismus und seine Haltung zur Geschichtswissenschaft. Das Honorar aus der Zusam- menarbeit mit Speer und die Verbindung zum „Spiegel“ sollten es ihm in den kommenden Jahren ermöglichen, sein Projekt einer Hitler-Biographie mate- riell gesichert voranzubringen.

Kollaboration und Wegerzählen

Fest traf Speer erstmals in der ersten Augusthälfte 1967. Am 22. August schickte er einen Schwung des Manuskripts, mit Randnotizen und Hinwei- sen versehen, an Speer zurück: „Einen Zeichenschlüssel lege ich dann dem Gesamtmanuskript bei. Sie werden es im Laufe des Monats September erhal- ten.“8 Wohl gegen Mitte September trafen sich Speer, Fest und Siedler für drei Tage in Keitum auf Sylt im Gästehaus von Axel Springer, um am Manu- skript zu arbeiten. Fest resümierte: „Es waren drei sehr angenehme Tage, die wir in Keitum verbrachten. Ich habe den Eindruck, daß sie uns nicht nur in der Sache ein gutes Stück weitergebracht, sondern auch die bereits bei unse- rem ersten Zusammentreffen hergestellten persönlichen Beziehungen inten- siviert haben. Für unsere gemeinsame Arbeit ist das eine Voraussetzung, die mich sehr zuversichtlich stimmt.“9 Es gehörte zu Siedlers festem Lebensrhythmus, solche Reisen als intensive Text-Klausuren mit seinen Autoren und Freunden wie Fest zu unternehmen. Siedler schilderte die Arbeitsweise mit Speer rückblickend so: „Es hat sich dann ergeben, dass wir nach Frankreich fuhren, an die Loire, dass wir nach Italien fuhren, Südtirol, und alle Reisen zusammen machten, wochenlang auf Sylt waren und gemeinsam arbeiteten in den Dünen. Ich lag in der Badehose in einem Dünental, und er saß, auch leger gekleidet, aber noch angekleidet, auf einem Dünenhügel und beantwortete die Fragen.“10

7 Fest im Dezember 2002, in: Breloer, Unterwegs..., a.a.O., S. 441. 8 BAK N1340-17, Fest an Speer, 22.8.1967. 9 BAK N1340/17, Joachim Fest an Speer, 19.9.1967. 10 Siedler, in: Breloer, Unterwegs..., a.a.O., S. 474.

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Fest und Siedler nahmen mit Empfehlungen, Hinweisen und Forderungen erheblichen Einfluss auf Speers Text, der als Produkt dreiseitiger Zusam- menarbeit zu sehen ist. Siedler und Fest zielten dabei vor allem auf stilis- tische und strukturelle Aspekte, aber auch, durch gezielte Fragen, auf die Steuerung bestimmter Themen. Aus den überlieferten Bemerkungen ist nicht erkennbar, dass Siedler oder Fest die historisch-faktischen Behauptun- gen Speers durch eigene Recherchen geprüft hätten. Fest hat in seinen Fragen und Kommentaren stets sein eigenes Projekt der Hitler-Biographie mit vor Augen. Nach der ersten Durchsicht im August 1967 rät er Speer: „Möglichst alle Hitler-Zitate in die endgültige Fassung überneh- men.“11 Und er führt detailliert aus, was er erwartet: „Ganz allgemein sollte Ihre Überarbeitung sich darauf erstrecken, die so außerordentlich wichtigen Details, von denen jedes M[anu]s[kript] Charakter und Farbe bezieht, einzu- fügen. Wo trafen Sie beispielsweise zu welcher Zeit Hitler; in welcher Umge- bung befand er sich, in Begleitung welcher Personen, in welcher Stimmung, wie äußerte er sich und was war Ihre eigene Gefühls- und Stimmungslage – das sind Fragen (neben vielen ähnlichen), zu deren Beantwortung ich Sie bat, Ihre Erinnerung aufs äußerste zu strapazieren. Wie Sie sich vielleicht erin- nern, erörterten wir dieses Problem an zwei Beispielen: am Beispiel der lan- gen, leeren Abende bei Hitler und am Beispiel Ihres letzten Zusammentref- fens mit ihm im Bunker der Reichskanzlei.“ Hier geht es nicht nur ums Atmosphärische („Gefühls- und Stimmungs- lage“). Fest möchte mehr „Authentisches“, mehr „Originalworte“ Hitlers. Die Überlieferungen, die 1967 bereits verfügbar waren, genügen ihm nicht. Speer soll – zweiundzwanzig Jahre nach Kriegsende – „echte“ Hitler-Zitate liefern, die für Fest und andere verwertbar sind. Wer sich auch nur rudimentär mit den Kapriolen des menschlichen Gedächtnisses auskennt, weiß, dass Speer bei dem von Fest genannten Beispiel des letzten Besuchs bei Hitler entweder auf schon vorliegende Erzählungen zurückgreifen oder aber eine neue Ver- sion konstruieren musste, die zwangsläufig durch die Haftzeit, Lektüre, Kor- respondenz und Nachdenken geprägt war. Selbst wenn Speer versucht haben sollte, eine „authentische“ Version zu liefern, sagt das Ergebnis seiner Bemü- hungen mehr darüber aus, was er 1967 für plausibel und wünschenswert hielt, als über die Ereignisse vom April 1945. Fest interessierte sich nicht für der- lei quellenkritische Überlegungen, im Gegenteil, er forderte Speer geradezu auf, etwas Passendes, Spannendes zu erzählen, ja möglicherweise Neues zu erfinden. So leistet Fest konkrete Hilfe zum eloquenteren Ausmalen des Täu- schungsbildes: „Im dritten Teil (nach Wiedergenesung) fehlt fast durchweg der Hinweis auf das Anwachsen von Zweifeln, die Reflexion der eigenen Lage und Haltung. Erst dadurch aber kann das Verhalten gegen Ende, insbeson- dere der Attentatsversuch, verstanden werden.“ Da es nie einen Attentatsver- such gegeben, sondern Speer nur dessen angebliche Planung zu seiner Ver- teidigung im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess angesprochen hatte, war eine solche Dramatisierung nur mit Phantasie „konkreter“ zu erzählen.

11 Diese und die folgenden beiden Passagen: BAK N1340-17, Fest an Speer, 22.8.1967.

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201707_Blätter.indb 109 21.06.17 11:51 110 Magnus Brechtken

Fests Eingenommensein im Dienste Speers ist ein Spiegel des schon vorherr- schenden Fabelbildes, das er durch seine Nachfragen und Hinweise für die „Erinnerungen“ noch eine Spur eleganter, treffender, eingängiger zu gestal- ten sucht. „Es wird zweifellos die Frage auftauchen, ob und seit wann Sie über die Verbrechen des Regimes informiert gewesen sind. Sie sollten eine schon vorliegende Skizze zu diesem Thema ausarbeiten und an geeigneter Stelle einfügen.“ Der Nebensatz – „ob und seit wann Sie über die Verbrechen des Regimes informiert gewesen sind“ – offenbart das Missverständnis des Joachim Fest: Er trennt Speer vom Nationalsozialismus, den Architekten und vor allem den Rüstungsminister vom „Regime“. Das gleiche Missverständnis kommt in der Frage an Speer zum Ausdruck, wann er die „ersten Zweifel hinsichtlich der Natur des Regimes verspürt“ habe, sowie in der Aufforderung, sich für sein Publikum darüber Gedanken zu machen, „ob sich dieses gegebenenfalls in Ihrem Verhalten äußerte“.12 Die weitreichende Identität Speers mit dem „Regime“ ist implizit weggeblendet; Fest führt dies unter Verweis auf seine und Siedlers Ratschläge weiter aus: „Auch wiesen wir darauf hin, daß Sie sich gelegentlich von einem eigenen Verhalten mit einer Bemerkung etwa der Art distanzieren: So ist nun einmal der Mensch. Das mag für eine Mehrheit zwar zutreffen. Doch das Bild, das von Ihnen in der Öffentlichkeit existiert, das Sie in den Erinnerungen weit- hin bestätigen und bestärken, wird es vielen Lesern schwer machen zu glau- ben, daß auch Sie so sind oder waren; dabei mag durchaus sein, daß Sie in der damaligen Umgebung so und nicht anders reagiert bzw. nicht reagiert haben. Aber von der Ebene der später gewonnenen Einsicht erwartet der Leser von Ihnen eine Anmerkung, die über solche lapidare Formel der Ratlosigkeit hin- ausgeht.“13 Fest animiert Speer zu einem reflektierteren – man könnte auch sagen: geschickter wirkenden – Wegerzählen. Was er selbst vielleicht zu tun hätte, um Speers Berichte zu prüfen, fragt er sich nicht.

Ein Meisterstück der Ablenkung: Die »Hanke-Legende«

Fest und Siedler haben wiederholt darauf hingewiesen, wie sehr sie Speer drängen mussten, überhaupt etwas zur „Reichskristallnacht“ 1938 zu schrei- ben.14 In der Ursprungsversion des Manuskripts hatte er sie nicht erwähnt.15 In den „Erinnerungen“ schreibt er nun, „ich fühlte mich als Hitlers Architekt. Ereignisse der Politik gingen mich nichts an.“ Und dann folgt die Stelle, die zum

12 BAK N1340-17, Fest an Speer, 22.8.1967. 13 Ebd. 14 Siedler zu Breloer, in: Breloer, Unterwegs..., a.a.O., S. 479; Fest zu Breloer, in: Breloer, ebd., S. 445- 446; Joachim Fest, Die unbeantwortbaren Fragen: Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwi- schen Ende 1966 und 1981, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 11. Die Einfügung Speers zu den Ereig- nissen am 9. und 10.11.1938 aus: Albert Speer, Erinnerungen, Berlin 2005, S. 125 bis 126. 15 Es gibt zwei halbwegs plausible Erklärungen: Entweder Speer ignorierte diese zentrale Frage mit küh- ler Berechnung, oder er hatte seine Eindrücke von den Ereignissen in den fast dreißig Jahren danach so erfolgreich neu konstruiert, dass er tatsächlich alle aktive Erinnerung an die Judenverfolgung über- schrieben hatte. Die zweite Version ist nicht zuletzt deshalb plausibler, weil sie zu seinem Gesamt- verhalten passt. Speer fand sich in den folgenden Jahren von neuen Quellenfunden herausgefordert; er reagierte, indem er seine Erinnerungserzählungen gegen die Fakten durchzusetzen suchte.

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Kern seiner Leugnung und Irreführung wurde: „In den Jahren nach meiner Entlassung aus Spandau bin ich immer wieder gefragt worden, was ich selbst mit mir allein in der Zelle zwei Jahrzehnte lang zu erforschen versucht habe: was mir von der Verfolgung, der Verschleppung und der Vernichtung der Juden bekannt ist; was ich hätte wissen müssen und welche Konsequenzen ich mir abverlangte.“16 Die Formulierungen des ganzen Abschnitts sind ein geschicktes Konglo- merat aus Ablenkungen, rhetorischen Nebelkerzen und direkten Lügen. Hätten Fest und Siedler ihn nicht angehalten, überhaupt auf das Thema ein- zugehen, wäre Speers Charakter deutlicher sichtbar geworden: Er wollte verdrängen, er hatte verdrängt, und er verdrängte weiter. Fest und Siedler halfen mit ihrem Insistieren, seine Geschichtsklitterung zu verfeinern. Sie akzeptierten die Worte: „Doch ich bin ohne Apologie.“17 Das war die reine Apologie. Speers Meisterstück der Ablenkung ist die bereits im „Spiegel“-Gespräch von 1966 eingeführte „Hanke-Legende“. Nunmehr folgt er ganz den Regie- anweisungen Fests und liefert markante Details, eine dramatische, fast büh- nenreife Szene mit einer finalen Zuspitzung, die seine Apologie im Gewand der Läuterung und Einsicht erscheinen lässt: „Eines Tages, etwa im Som- mer 1944, besuchte mich mein Freund Karl Hanke, der Gauleiter von Nie- derschlesien. Er hatte mir in früheren Jahren viel von dem polnischen und französischen Feldzug erzählt, hatte von den Toten und Verwundeten, von Schmerzen und Qualen berichtet und sich dabei als mitfühlender Mensch gezeigt. Dieses Mal aber war er verwirrt, sprach stockend, als er auf dem grünenledernen Sessel der Sitzgruppe meines Arbeitszimmers saß. Nie solle ich einer Einladung folgen, im Gau Oberschlesien ein Konzentrationslager zu besichtigen. Nie, unter keinen Umständen. Dort hätte er etwas gesehen, was er nicht schildern dürfe und auch nicht schildern könne. Ich fragte ihn nicht, ich fragte nicht Himmler, ich fragte nicht Hitler, ich sprach nicht mit privaten Freunden. Ich forschte nicht nach – ich wollte nicht wissen, was dort geschah. Es muß sich um Auschwitz gehandelt haben. In diesen Sekunden, als Hanke mich warnte, war die ganze Verantwortung erneut Wirklichkeit geworden. An diese Sekunden musste ich vor allem denken, wenn ich im Nürnberger Prozess vor dem Internationalen Gericht feststellte, daß ich als wichtiges Mit- glied der Führung des Reiches mit an der Gesamtverantwortung, von allem was geschehen war, zu tragen habe. Denn ich war von diesem Augenblick an mit diesen Verbrechen moralisch unentrinnbar verhaftet, weil ich, aus Angst, etwas zu entdecken, was mich zu Konsequenzen hätte veranlassen müssen, die Augen schloß. Diese gewollte Blindheit wiegt alles Positive, was ich vielleicht in der letzten Periode des Krieges tun sollte und wollte, auf. Vor ihr schrumpft diese Tätigkeit zu einem Nichts zusammen. Gerade weil ich damals versagte, fühle ich mich noch heute für Auschwitz ganz persönlich verantwortlich.“18

16 Speer, Erinnerungen, a.a.O., S. 126. 17 Ebd. 18 Speer, Erinnerungen, a.a.O., S. 385 f.

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201707_Blätter.indb 111 21.06.17 11:51 112 Magnus Brechtken

Speer steigert die Erfindung noch, indem er auf „alles Positive, was ich viel- leicht in der letzten Periode des Krieges tun sollte und wollte“, verweist. Er geht davon aus, dass ihn seine Leserinnen und Leser nicht etwa als den Kriegsverlängerer sehen, der er war, sondern als „Retter der deutschen Industrie“, sodass selbst die Ablenkung von Auschwitz noch einer weiteren Täuschung dient.

Speers »Erinnerungen« als Gemeinschaftsprodukt

Wolf Jobst Siedler fühlte sich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder gedrängt, den Eindruck zu korrigieren, er und Fest hätten dem Autor die Feder geführt. Schon im August 1969 wehrte er sich gegenüber Walter Görlitz von der „Welt“ gegen die Unterstellung, dass Fest Speers Ghostwriter gewe- sen sei: „Die Funktion, die Fest bei der Herstellung der druckreifen Fassung gehabt hat, bezog sich auf die Verfraglichung der Speerschen Niederschrift und Erinnerung. Herr Fest und ich drangen in Speer, sich auch zu Punkten zu äußern, die in seinem Manuskript eine zu flüchtige Rolle spielten: seine Reak- tion auf die Kristallnacht oder seine Verwicklung in den 20. Juli; so merk- ten wir an, wo wir Vertiefung verlangten, und kennzeichneten, was uns in der Privatheit überflüssig schien.“19 Bislang ist kaum beachtet worden, dass Fest und Siedler Speer auch zu den Passagen über den Offizierswiderstand ermunterten. Speer selbst war mit keiner Aktion rund um den 20. Juli verbun- den. Er war mit Goebbels zusammen, als der die Niederschlagung aller Auf- standsversuche in Berlin koordinierte. Aber schon bei Kriegsende hatte Speer sich zum Widerständler hocherzählt. Die von ihm immer wieder vorgebrachte und von Fest und Siedler gerne aufgenommene „Idee von der Attentats- option“ pflanzte sich in Kombination mit seinem Namen in viele Köpfe. Tatsächlich waren weder Fest noch Siedler Ghostwriter im eigentlichen Sinne. Der Text der „Erinnerungen“ ist vielmehr ein Gemeinschaftsprodukt: Speer lieferte das Material, Fest und Siedler besorgten die Komposition, feil- ten an der stilistischen Stringenz, kreierten den Sound des Textes. (Speer bat Siedler um Entschuldigung, „dass Sie sich bei mir als verspäteter Deutsch- lehrer betätigen müssen, aber mein Stil ist tatsächlich grauenhaft gewor- den“. 20). Einig waren sich alle drei ohnehin im Ziel: Speer als Repräsentanten des deutschen Bürgertums zu porträtieren, der aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten zwar Karriere im Dienste Hitlers gemacht, aber mit dem Natio- nalsozialismus, wie sie ihn gesehen wissen wollten, nichts zu tun hatte.21

19 BAK N1340/53, Siedler an Walter Görlitz, 20.8.1969. Das Gerücht war offensichtlich durch Speers Schwiegersohn Ulf Schramm an Görlitz gekommen. 20 BAK N1340/53, Speer an Siedler, 29.5.1968. 21 Ein markantes Beispiel im Text sind etwa die Passagen über die zur Eröffnung der Parteitage insze- nierten Opernabende. Er selbst, so Speer, habe sich die Aufführung der „Meistersinger“ nie ent- gehen lassen. 1933 seien von den tausend „Spitzen der Partei“, die eingeladen waren, nur wenige erschienen. Hitler sei verstimmt gewesen, aber auch in den darauffolgenden Jahren habe sich dies nicht geändert, bis man wieder „normales“ bürgerliches Publikum zugelassen habe. Menschen wie Speer, können sich die Leser denken, bürgerliche Kulturmenschen statt der übergewichtigen Bon- zen, die sich nur für fränkischen Wein und Nürnberger Bier interessierten.

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Und so gibt es in den „Erinnerungen“ keine reale Judenverfolgung, keine Gewalt, keine Rassenpolitik, keine Eroberungskriege, keine Vernichtungs- feldzüge. Da gibt es stattdessen den fleißig werkelnden Herrn Speer, der irgendwie in der Zeit nach 1933 lebte, wie die meisten seiner Leser. Da gibt es das seltsame Faszinosum Hitler, der grandiose Architekturpläne zu imagi- nieren verstand mit Augen für kleinste Details, ein Politiker von dämonischer Anziehungskraft, aber sonst ein unbeholfener Kleinbürger mit biederen Marotten, umgeben von mediokren Gestalten wie Bormann oder Ribbentrop, Hoffmann oder Morell, die sich aufführen wie Figuren eines drittklassigen Genrefilms. Da gibt es Eva Braun, die Mitleid verdient, weil sie so schlecht behandelt wird, während Speer ihr mit jener bürgerlichen Anständigkeit begegnet, die ihr doch eigentlich gebührt. Speers konkrete Verantwortung als selbstständiger Täter bleibt bei alle- dem im Dunkeln. Kein Wort davon, dass er seit 1932 gezielt darauf hinarbei- tete, in die Nähe der Macht und an die Pfründe von immer größeren Appa- raten und Organisationen zu gelangen. Speer spinnt seine Erzählungen seit Kriegsende und den Nürnberger Prozessen fort, in denen er sich als der „unpolitische“ Akteur auf allerhöchster Ebene präsentiert hatte. Daraus war ein Imaginationsraum entstanden, in dem sich zahllose andere „Experten“ der Funktionseliten ihren Platz suchen konnten. Diesen Raum richtete Speer nun mit Hilfe von Fest und Siedler für die bundesrepublikanische Öffentlich- keit eloquent ein.

Der böse Nationalsozialismus und das sauber gebliebene Bürgertum

Speers Geschichten bedienten damit die Sehnsucht der bürgerlichen Welt und ihres Milieus, jene tragende Rolle, die es vor 1945 eingenommen hatte, in eine Distanz, eine Differenz umzudeuten. Ebenso wie später in den „Span- dauer Tagebüchern“ geht es Speer, Fest und Siedler in den „Erinnerungen“ vor allem darum, eine strenge Dichotomie zwischen Nationalsozialismus und Bürgertum zu konstruieren.22 Hitler ist Exponent der Differenz, dessen „provinziale Mentalität“ von den „überschaubaren Verhältnissen“ seiner Heimatstadt Linz geprägt ist – sie bildeten „sein soziales Zuhause“.23 Speer soll davon als Großbürger per se unterschieden sein, wie im Übrigen auch Fest und Siedler stets als Repräsen- tanten des weltläufigen Berlins und seiner urbanen Offenheit auftraten. So beschreiben Speers „Erinnerungen“ die Geschichte Hitlers und der natio- nalsozialistischen Politik aus der Perspektive eines bürgerlichen Mittäters, der stets mittendrin lebt und handelt, aber so schreibt, als sei das alles ohne sein Zutun über ihn gekommen. Es ist in erstaunlicher Weise höchst selten die Geschichte der Persönlichkeit Speers, auch wenn er dies an manchen

22 Die Sehnsucht nach der Rettung des „eigentlichen“ Bürgertums, das nicht nationalsozialistisch sein konnte, weil es nicht sein durfte, zieht sich wie ein Kernanliegen durch die meisten Schriften von Joachim Fest. 23 Albert Speer, Spandauer Tagebücher: Mit einem Vorwort von Joachim Fest, Berlin 2005, S. 142.

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Stellen behauptet und das Buch insgesamt mit diesem Anspruch in die Welt trat. Auch hier bediente Speer die Sehnsucht nach dem starken Mann, nun in der Form des dominierend-ubiquitären Legendenerzählers. „Einer wie wir“, so gehen Fest und Siedler mit Speer an die Konstruktion des Manuskripts. „Einer wie ihr“, so präsentieren sie Speer den Lesern.

Eine unbeantwortbare Frage?

Fest wehrte sich bis zum Ende seines Lebens vehement dagegen, Speers Täuschungen im Spiegel seiner eigenen Rolle zu sehen. Als ihn der „Welt“- Journalist Sven Felix Kellerhoff im März 2005 auf die Bemerkung des Speer- Experten und Filmemachers Heinrich Breloer („Speer und Er“) ansprach, man schaue „auf das Dritte Reich, ob wir es wollen oder nicht, durch die Brille Albert Speers“, entgegnete Fest, er könne das nicht nachvollziehen. „Rich- tig“ sei „dagegen: Speer hat die Deutschen mit der Nazi-Vergangenheit ein wenig ins Reine gebracht, indem er den Eindruck vermittelte: ‚Man konnte ein Nazi gewesen sein und sich dennoch als ein anständiger Mensch verhal- ten haben.‘“24 Das habe „natürlich auch damit zu tun, daß Speer viele Dinge verheimlicht und verdrängt hat. Aber wichtig war gerade dieser Eindruck, den er nicht nur bei den Deutschen hervorgerufen hat, sondern auch bei den alliierten Vernehmungsoffizieren und in Nürnberg vor dem Hauptkriegs- verbrechergericht.“25 In weiteren Interviews, besonders prominent im Mai in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und im Juni 2005 im „Spiegel“, suchte Fest seine Lesart gegen das nunmehr sichtbare Wissen über Speer zu verteidigen. Im FAZ-Gespräch scheint es bisweilen, als verstehe Fest nicht, was historische Quellenforschung bedeutet. Zum angeblichen „Geständnis“ Speers gegenüber Hitler beruft er sich nach wie vor auf private Erzählungen der 1970er Jahre („Mir jedenfalls hat Speer ausführlich […] berichtet“).26 Er pflegte weiter den Habitus des überlegenen Kenners, der Unzulänglichkei- ten allenfalls im Verständnisvermögen der anderen sehen mochte. Als Autor nutzte er das Wissen um die bevorstehende Breloer-Serie „Speer und Er“ zu einem weiteren Speer-Buch, das im Frühjahr 2005 unter dem Titel „Die unbeantwortbaren Fragen“ beim Rowohlt Verlag erschien, dessen Lei- tung sein Sohn Alexander inzwischen übernommen hatte. Das Buch enthalte Aufzeichnungen, schrieb Fest, die er in den Jahren der Zusammenarbeit mit Speer nach ihren Gesprächen angefertigt habe. Im Anmerkungsapparat sei- ner Speer-Biographie waren sie als „Notizen des Verfassers“ dutzendfach als „Quellenangabe“ zu finden. In den „unbeantwortbaren Fragen“ sind sie nun mit Datumsangaben versehen, von denen die Leser annehmen (sollen), dass sie historisch korrekt die Zeit der Aufzeichnung angeben.

24 „Er wußte nicht, was Schuld ist“. Joachim Fest im Gespräch mit Sven Felix Kellerhoff, in: „Die Welt“, 17.3.2005. 25 Ebd. 26 Demnach habe Speer ihm „ausführlich über diesen Besuch, die Motive und Hitlers Reaktion darauf berichtet. Aber erst nachdem seine ‚Erinnerungen‘ erschienen waren, wo der Vorgang knapp abge- tan wird.“ Interview mit Joachim Fest, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 24.5.2005.

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201707_Blätter.indb 114 21.06.17 11:51 Die Speer-Legende und ihre Konstrukteure 115

Wir wissen nicht, wann der im Frühjahr 2005 veröffentlichte Text tatsäch- lich entstand bzw. wie viel Joachim und Alexander Fest aus vorhandenen zeitgenössischen Notizen übernahmen, was sie redigierten und hinzuformu- lierten. In dieser Hinsicht erinnern „Die unbeantwortbaren Fragen“ an die Konstruktion von Speers „Spandauer Tagebüchern“. Ob die Datumsangaben mit den realen Notizen übereinstimmen, lässt sich bislang nicht überprüfen und ist zumindest für einige Bemerkungen zweifelhaft. Einige Datierungen sind jedenfalls frei erfunden. So verlegt Fest das dreitägige Arbeitstreffen in Keitum („mit Speer und Siedler auf Sylt“), das im September 1967 statt- fand, auf den Januar 1967.27 Auch die Bemerkung „Arbeit am Manuskript. Das Zeichensystem, das ich Speer für den Kürzungsprozess an den zwei- bis dreitausend Seiten seines Manuskripts vorgeschlagen habe, bewährt sich trotz vereinzelter Schwierigkeiten“, kann nicht „März 1967, Heidelberg“ entstanden sein, da Fest Speer seinen Zeichenschlüssel erst im September schickte. Wie bei zahlreichen weiteren Formulierungen dieses letzten Buches von Fest über Speer lassen sich berechtigte Zweifel an der Authentizität und Zuverlässigkeit von Fests Aussagen sowie das Maß seiner offensichtlichen Nachkonstruktionen erst durch einen vergleichenden Blick in die Original- aufzeichnungen klären. Sein Nachlass, der sich im Besitz seines Sohnes und Verlegers Alexander Fest befindet und den dieser bislang nur ausgewähl- ten Personen zugänglich gemacht hat, dürfte weitere Hinweise enthalten. Alexander Fest dürfte auch wissen, was er wo gemeinsam mit seinem Vater komponiert hat.28 Solange ein quellenkritischer Abgleich nicht möglich ist, sollten alle einschlägigen Behauptungen Joachim Fests mit entsprechender Skepsis gelesen werden.

Eine aggressive Uneinsichtigkeit gegen die wissenschaftliche Aufklärung

Generell offenbart die Anlage der „unbeantwortbaren Fragen“ eine beinahe aggressive Uneinsichtigkeit gegen die wissenschaftliche Aufklärung. Fak- tenwissen über Speer, das ihm nicht zuletzt durch Breloer – der ihn bereits im Dezember 2002 interviewt hatte – nahegebracht worden war, nimmt Fest nicht zur Kenntnis. Im Vorwort schreibt er: „Anzumerken ist, daß die von Siedler wie von mir erhobenen Einwände“ – mit denen sie Speers Erzählver- sionen während ihrer Zusammenarbeit zu prüfen meinten – „den Kenntnis-

27 Fest, Die unbeantwortbaren Fragen, a.a.O., S. 21. 28 Alexander Fest als Verleger der „unbeantwortbaren Fragen“ dürfte auch die Gründe seines Vaters für die Angabe von Phantasiedaten kennen. Ohne Antwort blieben mehrere Briefe, die ich 2015 an Alexander Fest schrieb, um diesen und anderen Fragen nachzugehen. Joachim Fests Entwicklung vom kritischen Journalisten zum Apologeten der Speer-Legende ist zwar auch ohne Einblick in den Nachlass offensichtlich. Es wäre allerdings aufschlussreich zu prüfen, ob und wann Joachim Fest bemerkte, in welche Position der Selbstdesavouierung als Autor er sich durch sein Nichtwahrneh- menwollen des Forschungswissens in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens manövrierte. Als Verleger seines Vaters hat Alexander Fest hieran einen zu diskutierenden Anteil. Wie beschrieben wirkt der Text von 2005, als sei er ähnlich wie Speers Spandauer Tagebücher für die Veröffent- lichung so konstruiert worden. Dergleichen Fragen lassen sich nur in den Originalen klären, die Alexander Fest unter Verschluss hält.

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201707_Blätter.indb 115 21.06.17 11:51 116 Magnus Brechtken

stand der späten 60er und frühen 70er Jahre wiedergeben. Diese zeitliche Begrenzung ändert indes nicht viel. Es gibt nur wenige weiterführende Arbei- ten“,29 schreibt Fest 2005! Als Offenbarungseid historiographischer Igno- ranz wäre das peinlich genug, aber Fest meint noch gegen einen Kritiker wie Heinrich Schwendemann treten zu müssen, der es gewagt hatte, ihm – mit präzisen und durchweg treffenden Argumenten – öffentlich zu widerspre- chen.30 In einem Essay über Rudolf Augstein hatte Fest wenige Jahre zuvor geschrieben, „‚die Todsünde‘ des Historikers“ sei es, „einem vorgefaßten Urteil“ zu folgen.31 Nichts anderes tat Fest. Statt sich zu fragen, was Speer vor 1945 getan hatte, warum er später seine Lügen verbreiten konnte und was er selbst dazu beigetragen hatte, versucht Fest die Pose des Wissenden zu ret- ten, ohne zugestehen zu können, dass er sich dabei wiederholt in Widersprü- chen bewegte. Immer noch vertrat Fest die These, Speer sei ein „bornierter Idealist“ gewesen, „der sich jeder überlegenen Kraft andiente“, als habe zwi- schen Speer und Hitler eine im Kern unüberwindliche Distanz bestanden: hier der verführt-wohlmeinende Idealist, da der „Verbrecher“ und „Zerstörer des eigenen Landes“.32 Fest ignoriert die von der Forschung vorgelegten Fakten über Speers Rolle bei der Vorbereitung und Umsetzung der Massenverbrechen, wenn er for- muliert: „Die den anhaltenden Streit um Speers Person überschattende Frage nach seiner Kenntnis der Massenverbrechen des Regimes steht dabei nicht einmal im Vordergrund. In jedem Fall wußte er hinreichend viel, um Abscheu vor den Machtkreaturen zu empfinden, in deren Mitte er geraten war.“33 Er spricht von den „moralischen Maßstäben“, nach denen Speer erzo- gen wurde, weshalb es ihm, Fest, rätselhaft sei, wie er „einer derart bösarti- gen, sich ihrer Barbarei brüstenden Herrschaft so besinnungslos verfallen konnte“. 34 Heinrich Himmler wurde nach denselben „moralischen Maßstä- ben“ erzogen. Käme jemand auf die Idee zu behaupten, dass Himmler ebenso passiv in den Kreis von „Machtkreaturen […] geraten“, der Nazi-Herrschaft „verfallen“ sei?

»Keine Frage der Gutgläubigkeit, sondern der politischen Überzeugung und Taktik« (Reich-Ranicki)

Joachim Fest überraschte wohl die Heftigkeit, mit der er in Folge des Breloer- Filmes selbst in die Diskussion geriet und seine Position als „Historiker“ befragt wurde. So wies Volker Ullrich in der „Zeit“ präzise auf den Einfluss

29 Fest, Die unbeantwortbaren Fragen, a.a.O., S. 11-12. Hervorhebung vom Autor. 30 „Auffällig macht sich von Zeit zu Zeit ein erfolglos in die Jahre gekommener Historiker, Heinrich Schwendemann, mit der Behauptung, er werde endlich Speers Lebenslüge aufdecken. Doch aufge- deckt hat er bislang nicht viel mehr als seine eifernde Geltungssucht.“ Fest, ebd. 31 Joachim Fest, „Ergänzende Erinnerungen an Rudolf Augstein: Nachschrift I“, in: Fest, Begegnun- gen, a.a.O., S. 355. 32 Fest, Die unbeantwortbaren Fragen, S. 15. 33 Fest, Die unbeantwortbaren Fragen, S. 16. 34 Ebd.

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von Siedler und Fest für die Erfindung der Marke Speer hin.35 Im „Spiegel“ war am 30. Mai 2005 ein Interview erschienen, das Mathias Schreiber, Martin Doerry und Volker Hage mit Marcel Reich-Ranicki geführt hatten. Das Gespräch war ein Indikator dafür, dass die Diskussion über den engeren Kreis weniger Beteiligter hinausreichte. Fest hatte Reich-Ranicki 1973 zur FAZ geholt. Sie hatten viele Jahre fast freundschaftlich zusammengearbei- tet, seit 1999 waren sie tief zerstritten. Anlass war eine Episode, die Reich- Ranicki in seinen Memoiren geschildert hat, wonach er im September 1973 bei der Buchpräsentation von Fests Hitler-Biographie in Siedlers Haus unvor- bereitet mit Speer konfrontiert worden war. Fest war empört und bestritt nun in den „unbeantwortbaren Fragen“, dass es sich so zugetragen hatte, wie von Reich-Ranicki – den er nur „einen Journalisten“ nannte – beschrieben. Der Konflikt lag jedoch tiefer. Reich-Ranicki war seit Längerem über Fests Hal- tung im sogenannten Historikerstreit empört, der seit 1986 einige Jahre die geschichtsinteressierte Öffentlichkeit beschäftigt hatte. Fest hatte seiner- zeit als Fürsprecher des NS-Apologeten Ernst Nolte eine zweideutige Posi- tion eingenommen, die nun in den öffentlichen Fragen zu seiner Rolle als Speer-Mitarbeiter widerhallte. Reich-Ranicki erinnerte daran mit dem Hin- weis, dass Fest „nach dem Film von Breloer in eine fatale Situation geraten“ sei. „Als vor vielen Jahren der Weg dorthin begann, habe ich alles getan, um ihn freundschaftlich zu warnen und zu bremsen.“ Es sei „falsch, Fest für naiv zu halten. Seine Speer-Präsentation“ habe „nichts mit Gutgläubigkeit zu tun, wohl aber mit seiner politischen Überzeugung und Taktik und vielleicht auch mit seinem Patriotismus“.36 Der „Spiegel“ war immer noch das wichtigste Blatt, um sich als öffentli- cher Intellektueller vor einem großen Publikum zu präsentieren. Reich- Ranickis Attacke verstärkte den Druck, der durch Breloers Serie aufgebaut worden war und den Fest bislang nur mit einigen kurzen Interviews erwidert hatte. Nun empfing er in Kronberg die „Spiegel“-Redakteure Martin Doerry, Mathias Schreiber und Klaus Wiegrefe zu einem ausführlichen Gespräch. Schreiber hatte, bevor er zum „Spiegel“ ging, neun Jahre bei der FAZ unter Fest gearbeitet, und mit Doerry das Gespräch bei Reich-Ranicki geführt. Gemeinsam mit Wiegrefe spannten sie nun den Bogen weit über Fests Rolle in der Geschichtsschreibung hinaus. Fest bestätigte, dass er mit Reich-Ranicki im Historikerstreit „sehr hef- tig aneinandergeraten“ sei, attackierte ihn als jemanden, der „sich seine Geschichten zurecht“ mache, „wie ihm gerade zumute ist“, und warf ihm ansonsten „ordinäre Phantasie“ vor.37 Im Zentrum des Gesprächs stand allerdings die Frage nach Fests Auffassung von Geschichte und Wissen- schaft, namentlich zur Bewertung des Nationalsozialismus. Fest zeigte sich von einer verblüffenden Ignoranz, bei der schwer zu entscheiden ist, ob er

35 Volker Ullrich, Speers Erfindung. Wie die Legende um Hitlers Liebling entstand und welche Rolle Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest dabei spielten, in: „Die Zeit“, 4.5.2005. 36 Marcel Reich-Ranicki, „Ich bin bisweilen boshaft“, Interview in „Der Spiegel“, 22/2005, S. 158-162, hier: S. 159. 37 Joachim Fest, „Ist Reich-Ranicki noch bei Trost?“, Interview in: „Der Spiegel“, 25/2005, S. 142-149, hier: S. 148.

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201707_Blätter.indb 117 21.06.17 11:51 118 Magnus Brechtken

wirklich so kenntnisarm war oder eine Fassade erhalten wollte, um sich nicht weiter selbst befragen zu müssen. Die Redakteure hielten ihm unter ande- rem eines der vielen Zitate vor, mit denen er im Dienste Speers die Distan- zierungsfabel pflegte: „Das klingt, als würden Sie zwischen Speer und den anderen NS-Verbrechern, wie SS-Chef Himmler, prinzipiell unterscheiden.“ Fest belehrte die drei über Speers „anderes Herkommen“, seine „andere Erziehung“. Ob man nicht „den Unterschied zu Ley und Streicher“ sehe. Erneut verharmloste Fest, Speer sei „unter Verbrecher geraten“, so, als habe der sich irgendwo in der Tür geirrt. Konkret befragt, nannte er den Bericht von Desch und Sander, die Speer am Tag nach ihrem Besuch in Ausch- witz persönlich mit „Lichtbildmappe“ trafen, „starke Indizien, aber keine Beweise“. Einfachste wissenschaftliche Methoden, etwa, wie die Redakteure vorschlugen, „in Archiven nach Dokumenten zu suchen, um Speers Rolle im Holocaust zu klären“, nannte Fest den „Kult des Bruchstücks, mit dem die deutschen Historiker gern ihre Zeit vertun“.38 Die Redakteure fragten präzise und Fest demonstrierte offensiv seine Wei- gerung, dazuzulernen. Er konnte sehen, wie sich sein Nimbus des olympi- schen Groß-Interpreten bei der quellengenauen Analyse Speers in Peinlich- keit auflöste. Zugleich mochte er diese Erkenntnis, so wirkt es, auf gar keinen Fall an sich herankommen lassen. Die Selbstgefälligkeit mit der er überhol- ten Legenden, bisweilen sogar originärer Nazi-Propaganda, aufgesessen war, wollte er keinesfalls wahrhaben. Zu Breloer hatte Fest 2002 über Speer in die Kamera gesagt: „Er hat eigentlich von dem Verbrechenscharakter des Regimes überhaupt keine zutreffend konkrete Vorstellung gehabt. Dann sieht er plötzlich in Nürnberg den Film, den die Amerikaner in den Konzen- trationslagern gedreht haben. Und er ist aufs tiefste erschüttert und da bricht eigentlich seine Welt […] zusammen.“39 Nun behauptete er 2005 gegenüber den „Spiegel“-Redakteuren: „Im Übrigen fand ich immer, dass Speer vom Verbrechenscharakter des Regimes schon frühzeitig wusste.“40

Fests Rolle – und Selbstdemontage – als intellektuelle Leitfigur

Sichtlich gereizt stellte Fest rhetorische Fragen, ob seine Kritiker „böser Wille“ antreibe, „Borniertheit“, oder ob es „nur das Gerede der Affen des Zeitgeistes“ sei, „das mir nie etwas bedeutet hat“.41 Kritiker als „Affen des Zeitgeistes“ zu beschimpfen war nicht nur ein Zeichen schlechten Stils. Es war Ausdruck einer tiefen Getroffenheit. Sein Abwehrreflex deutete darauf hin, dass sich Fest in einer Sackgasse sah, aus der er, wie er spürte, nicht her- auskommen würde, ohne das Gesicht zu verlieren. Das „Spiegel“-Gespräch illustriert, dass es längst nicht mehr nur um Speer ging, sondern um Fests Rolle als intellektuelle Leitfigur in der bundesdeut-

38 Fest, ebd., S. 146. 39 Fest, in: Breloer, Unterwegs..., a.a.O. 40 Fest, „Ist Reich-Ranicki noch bei Trost?“, a.a.O., S. 144. 41 Fest, ebd., S. 146.

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201707_Blätter.indb 118 21.06.17 11:51 Die Speer-Legende und ihre Konstrukteure 119

schen Geschichtslandschaft und der damit eng verbundenen angelsächsi- schen Diskussion über die deutsche Geschichte. Auch wohlmeinende Leser konnten, wenn sie in die weiteren Texte blickten, sehen, dass Fest nicht nur wissenschaftliche Standards in geradezu einfältiger Weise missachtete, son- dern dass er aus seinem Nichtdazulernenwollen eine Glaubenspose stili- sierte, die merkwürdig eingekapselt, fremd und überholt erschien. Offenkundig hatte Fest beschlossen, die Fassade aufrechtzuerhalten, solange die Kraft reichen mochte; er rettete sich damit bis zu seinem Tod im September 2006. Der eigentliche Skandal vieler Fest-Publikationen liegt darin, dass er bis zum Schluss immer und immer wieder Legenden, Lügen und Märchen nacherzählte, ihnen gar stilistischen Glanz verlieh und diese Kolportagen als Geschichtsschreibung verkaufte. Mag die wiederholte und mittlerweile gut sichtbare Kritik von Hein- rich Breloer, Wolfgang Schäche, Matthias Schmidt, Angela Schönberger, Heinrich Schwendemann, Volker Ullrich, Susanne Willems und manchen anderen inzwischen einige Wirkung entfaltet haben, so stehen die Advo- katen der Speer-Legende weiterhin mit Beharrungsmacht im öffentlichen Raum. Speers „Erinnerungen“ und die „Spandauer Tagebücher“ werden weiterhin als „Geschichtswerke“ zum Nationalsozialismus gekauft und in bemerkenswerten Auflagen nachgedruckt; die Bücher von Gitta Sereny und Joachim Fest verbreiten nach wie vor irreführende Legenden und einige gro- teske Filme wie die BBC-Produktion von 2006 über Speers Rolle in Nürnberg laufen auch heute noch im Fernsehen oder sind im Internet zu sehen. Aufklärung ist ein langer, mühsamer Prozess, der mit dem präzisen Blick in die Dokumente beginnt und mit dem Hinweis auf hundertfach wieder- holte Fabeln nicht endet. Jeder, der wissen möchte, ist aufgerufen, sich selbst kundig zu machen. Heute, mehr als drei Jahrzehnte nach Speers Tod, ist immerhin ein Bewusstsein dafür etabliert, dass dessen Märchen nicht län- ger als „Quelle“ für den Nationalsozialismus gelten können. Der lange und langsame Abschied von Speers Fabeln, eingeleitet durch die Diskussion um Heinrich Breloers Dokudrama „Speer und Er“, ist zugleich ein Indikator für die generelle Distanzierung von den Täter-Zeitzeugen als vermeintlich authentischer „Quelle“. Memoiren, Erinnerungsbände und Interviews wer- den seit den 1990er Jahren – endlich – nicht länger als Geschichtsschreibung missverstanden, die beschreibt, „wie es eigentlich gewesen“ ist, sondern als Konstruktionen mit spezifischer Absicht, die es zu analysieren gilt. In der Dekonstruktion zeigt sich auch die Wandlung der deutschen Gesell- schaft: von einem Publikum, das Speer nahezu blind glauben wollte, um sich selbst zu entlasten, zu einer Zivilgesellschaft, die nüchtern und auf Doku- mente gestützt das verfügbare Wissen abwägt. Speers Texte sind daher wei- terhin historische Dokumente, die Auskunft geben – allerdings nicht dar- über, wie und was der Nationalsozialismus war, sondern darüber, wie die Nachkriegsgesellschaft die NS-Herrschaft, ihre ehemaligen Führer und die eigene Geschichte sehen wollte – und wie es Speer dank der Unterstüt- zung durch Siedler und Fest gelang, diese Wünsche über Jahrzehnte zu bedienen.

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201707_Blätter.indb 119 21.06.17 11:51 AUFGESPIESST

Seit Ende Juni ist Berlin im Ausnahme- bekamen ihre Bären, nachdem sie mit zustand: Meng Meng und Jiao Qing China AKW-, Erz- und Urangeschäfte sind endlich da, die beiden Großen vereinbart hatten. Singapur, Malay- Pandabären mit den schwarzen Knopf- sia und Thailand erhielten sie gegen augen. Ausgeliehen aus China, dem die Bereitschaft zu Freihandelsab- einzigen Herkunftsland dieser selte- kommen. Was genau zwischen China nen Tierart. Offiziell begrüßt werden und Deutschland vereinbart wurde, sollten beide Anfang Juli von Frau Mer- ist zwar unbekannt, aber bei Merkels kel, der mächtigsten Frau Europas, und China-Reise 2015 wurden Wirtschafts- Herrn Xi, dem neuen Kaiser von China. abkommen in zweistelliger Milliarden- Allein das verdeutlicht die weltpoliti- höhe unterzeichnet, die so hoch nicht sche Dimension der gesamten Aktion. erwartet worden waren. Und auf just Nach jahrelangen Verhandlungen ist dieser Reise verkündete China, dass Deutschland zurück auf einer illustren nun Berlin zwei seiner tierischen Bot- Weltkarte, der Weltkarte der chinesi- schafter bekommen werde. Panda-Bär, schen Panda-Diplomatie. ick hör Dir trapsen. Noch wichtiger aber ist aus Pekinger Sicht: Die knuf- figen Viecher sind die besten Image- Chinas Botschafter, die sich die Volksrepublik nur wünschen kann. Denn deren Nied- Panda-Diplomatie lichkeitsattacke verfängt, und zwar to- tal: Die Besucher im Ausland sind be- geistert und beschäftigen sich gleich Das Land der Mitte kann sich dabei nicht mehr mit so lästigen Themen wie als generöser Gönner inszenieren, der Menschenrechten, möglichen Kriegen seine Nationalheiligtümer großzügig im Südchinesischen Meer oder diesem an ausgewählte Zoos verleiht. 15 Jah- alten Herrn aus dem besetzten Tibet. re werden die weichen Riesen nun in Zudem stellt Peking bei alledem Berlin leben, der offizielle Auftrag an noch strenge Anforderungen. Der beide: Seid fruchtbar und mehret euch. Berliner Zoo musste eine eigene, rund Das allerdings ist schwierig, denn der neun Millionen teure Panda-Anlage Panda verbringt seine Tage meist mit bauen. Und dabei schauten die Chine- Bambusfressen, Schlafen und Müßig- sen ganz genau hin: Im Mai war ein In- gang. Sex hingegen kommt selten vor; spektionsteam in Berlin und verlangte die Weibchen sind nur wenige Tage im Nachbesserungen, die sofort in Angriff Jahr fruchtbar; Geburten überaus sel- genommen wurden. Zwei Wochen vor ten. Wenn es aber tatsächlich klappen Eintreffen des hohen Besuchs vermel- sollte, freuen sich alle: Die Zoos können dete der Zoo dann auf seiner Webseite sich vor Besuchern kaum retten und stolz, dass die Baustelle zu 95 Prozent in Peking klingelt die Kasse. Mehrere fertiggestellt sei. hunderttausend Dollar „Erfolgsprä- Vielleicht wäre das ja eine gute Idee mie“, so wird aus anderen Anlagen auch für andere Großprojekte in der berichtet, muss ein Tierpark zahlen, Hauptstadt: Die in Planübererfüllung wenn ein Junges geboren wird – zu- geschulten Chinesen inspizieren die sätzlich zu den normalen Leihgebüh- Baustelle, machen ein bisschen Druck ren. Die liegen bei einer Million Dollar und auf einmal klappt es auch mit den – pro Jahr, versteht sich. Flugterminen. Wie heißt es doch heu- Neben der Arterhaltung geht es bei te so schön: Von China lernen, heißt Panda-Deals also immer auch ums siegen lernen. Wer wollte da nicht vor Geschäft, und zwar ums ganz große: Freude abheben! Australien, Frankreich und Kanada Falk Hartig

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201707_Blätter.indb 120 21.06.17 11:51 BUCH DES MONATS

Degrowth: Von der Theorie zur Praxis Von Janna Aljets

Der Begriff „Degrowth“ formuliert ein weit verbreitetes Unbehagen an einer Wirt- schaftsweise, die allein auf Wachstum aus- gerichtet ist. Doch obwohl sich zahlreiche Initiativen und Konferenzen schon lange mit dem Thema befassen, bleibt einer breiteren Öffentlichkeit oft unklar, welche praktische Bedeutung „Degrowth“ hat – jenseits einer rein intellektuellen linken Debatte. Vor allem aber stellt sich die Frage: Gibt es so etwas wie eine Degrowth-Bewegung überhaupt und wenn ja, wie sieht sie aus? Nun bietet ein Sammelband des Konzept- werks Neue Ökonomie Einblick in eine viel- gestaltige Bewegung, die sich unter dem Begriff „Degrowth“ subsumieren lässt. Er entstand im Anschluss an die bislang größte internationale Degrowth-Konferenz, die im

Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. Spätsommer 2014 in Leipzig stattfand. Über und DFG-Kolleg Postwachstumsge- 3000 Teilnehmer debattierten damals über sellschaften (Hg.), Degrowth in Bewe- gung(en). 32 alternative Wege zur ökologische, soziale und demokratische sozial-ökologischen Transformation, Alternativen zur wachstumsorientierten oekom Verlag, München 2017, 416 S., Wirtschaft. 22,95 Euro. Sie und ihre Initiativen und Projekte stär- ker untereinander zu vernetzen, ist nicht zuletzt Anspruch des Bandes. Denn in Leipzig zeigte sich, dass die Kritik an der Wachstumsorientierung nur den kleinsten gemeinsamen Nenner dar- stellt. Viele wollten nicht bei einer Ablehnung des Bruttoinlandsprodukts als Indikator für eine funktionierende Wirtschaft stehenbleiben. Vielmehr wurde gefragt, welche alternativen Wirtschaftssysteme tatsächlich ein gutes Leben für alle ermöglichen könnten. Zudem wurde deutlich, dass es neben der Entwicklung von wissenschaftlichen Konzepten auch eine starke soziale Bewegungsbasis braucht, die sich aktiv gegen zerstörerische Projekte einsetzt.

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201707_Blätter.indb 121 21.06.17 11:51 122 Buch des Monats

So bietet der Band „Degrowth in Bewegung(en)“ ein ausführliches, wenn auch nicht abschließendes Kaleidoskop jener sozialen Bewegungen und Ini- tiativen, die sich derzeit für Alternativen zu einer wachstumsbasierten Wirt- schaft einsetzen. Dabei erfüllt das Buch gleiche mehrere Ansprüche. Es kann zunächst als Einstieg in die Hintergründe, Ziele und Herange- hensweisen der unterschiedlichen linken Bewegungen gelesen werden. Sel- ten konnte man so diversen Bewegungen und Themen gebündelt und gut verständlich geschrieben auf den Zahn fühlen und dabei viel Neues lernen. Dabei sind auch immer Querverbindungen, gegenseitige Einflüsse und Ins- pirationen zwischen den Bewegungen erkennbar. Das Buch bietet aber auch einen Einblick in die unterschiedlichen Aus- einandersetzungen mit und praktischen Ausgestaltungen von Degrowth. Viele der hier vorgestellten Bewegungen lassen den Begriff endlich prak- tisch, themenbezogen und innerhalb von politischen Kämpfen lebendig wer- den. Während die einen die Städte durch Gärten grüner machen, blockieren die nächsten Braunkohlebagger, und wieder andere reparieren alte Elektro- geräte oder bauen solidarische Landwirtschaftskooperativen auf. Die politi- schen Handlungsfelder beziehen sich dabei ebenso auf die lokale Ebene wie auf globale Verflechtungen. Sie beschäftigen sich mit Geld, Massentierhal- tung, Klimaschutz, Wohnraum oder Software. Sie alle aber entstehen, weil Menschen sich zusammenschließen und gemeinsam aktiv werden. Der Begriff Degrowth wird durch die verschiedenen Perspektiven dabei zwar nicht unbedingt griffiger, aber deutlich bunter und komplexer. Das allerdings ist als eine Qualität zu sehen: Degrowth lässt sich schwer in eine alles aufnehmende Form gießen. Es zeigt sich vielmehr, dass der Begriff die Überschneidungen vermeintlich unterschiedlicher politischer Kämpfe und Handlungsfelder aufzeigt und damit (potentielle) Allianzen ermöglicht. Die Komplexität ergibt auch deshalb Sinn, weil Fragen nach nachhaltigen Wirt- schaftsformen, nach sozialer Teilhabe und Gerechtigkeit sowie emanzipato- rischen Widerstandsmöglichkeiten nicht mit einfachen Formeln zu beant- worten sind. Mit dem Buch lassen sich die vorgestellten Bewegungen in klareren Strukturen verorten: So ist ein größerer Zweig der Bewegungen im direkten Widerstand gegen kapitalistische, undemokratische und zerstörerische Pro- duktionen und Institutionen erkennbar. Die Anti-Kohle-Bewegung, die Kli- magerechtigkeitsbewegung, die Tierrechtsbewegung oder der künstlerische Protest des „Artivism“ (Art + Activism, Kunst und Aktivismus) suchen nach kreativen und direkten Aktionsformen, um Widerstand zu leisten und Druck aufzubauen. Ein weiterer wichtiger Strang der mit Degrowth verbundenen Bewegungen besteht in der Teil-, Tausch- und Schenkökonomie: Hacker ent- wickeln freie Software, offene Werkstätten reparieren und teilen ihr Wissen, die solidarischen Ökonomien bauen Kooperativen auf und die Commons- Bewegung pflegt und nutzt Produkte und Ressourcen gemeinsam. Schließ- lich gibt es jene Gruppen und Gemeinschaften, die vor Ort Alternativen auf- bauen. Dazu zählen die Ökodörfer genauso wie Urban-Gardening-Gruppen sowie Bewegungen für ein Recht auf Stadt oder für Ernährungssouveränität.

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201707_Blätter.indb 122 21.06.17 11:51 Buch des Monats 123

Bei allen wird deutlich, dass diese Bewegungen nicht an der Kritik und dem Widerstand stehenbleiben, sondern vielmehr schon jetzt lebbare Alternati- ven vorantreiben und mitgestalten. Dies ist beispielsweise in der vorgestellten losen Bewegung der „Demone- tarisierung“ erkennbar. Jene, die sich für eine geldfreie(re) Gesellschaft ein- setzen, kritisieren aus marxistischer und auch anarchistischer Perspektive die profit- und geldbasierte Wirtschaft. Sie offenbaren in Tausch-, Teil- und Schenkexperimenten, dass geldbasierte Tauschsysteme eher auf Profit aus- gerichtet sind, anstatt den Fokus auf die menschlichen Bedürfnisse zu legen. Damit sind sie auch in engem Zusammenhang zu solidarischen Ökonomien, Commons und Subsistenzwirtschaft zu sehen, die ebenfalls alternative Wirt- schaftskreisläufe aufbauen. Die Vereinigung von Kritik, Widerstand und gerechten Alternativen wird auch von der globalen Bewegung für „Ernährungssouveränität“ vorgelebt. Sie kämpft für ein Recht auf Land, Nahrung und Autonomie und widersetzt sich damit der landwirtschaftlichen Praxis von industriellen Monokulturen. Sie fordert ein Recht für alle Menschen, über Produktion, Verteilung und Konsum von Nahrung mitzubestimmen. Dafür erproben sie etwa anpas- sungsfähige Produktionsweisen, die samenfestes, gentechnikfreies Saat- gut verwenden, die Erdölabhängigkeit der landwirtschaftlichen Produktion reduzieren und auf ökologischen Kreisläufen basieren. Auch hier wird dem Wachstumszwang in der Praxis die Stirn geboten und auf nachhaltigen Nut- zen statt auf Profit gesetzt. Der immer gleiche Aufbau der einzelnen Kapitel ermöglicht ein Nach- schlagen, Quer- und Rückwärtslesen des Buches, je nach den Interessen der Lesenden. Zudem ist dadurch ein direkter Vergleich zu bestimmten Fragen möglich. Da alle Beiträge von Aktivistinnen und Aktivisten selbst verfasst wurden, sind sie so subjektiv wie stilistisch vielfältig: Der Band vereint blu- mige Aufsätze, aktivistische Aufrufe sowie eher wissenschaftliche Sprach- stile. Er richtet sich damit an eine breite Leserschaft und längst nicht nur an jene, die schon tief im Thema stecken. Allerdings erscheint die Auswahl der vorgestellten Bewegungen an eini- gen Stellen willkürlich. Auch wird die Grenze, was eine „Bewegung“ ist, nicht klar gezogen. So kann man beispielsweise fragen, ob es sich bei einer Reparaturwerkstatt schon um eine Bewegung handelt und was diese mit den Anti-Kohleprotesten gemein hat. Doch diese scheinbare Beliebigkeit ist bewusst gewählt, um das ganze Spektrum wachstumskritischer Initiativen deutlich zu machen. Gemeinsamkeiten, aber auch Spannungen und Kontro- versen zwischen den verschiedenen Ansätzen werden denn auch in einem einleitenden und einem abschließenden Kapitel von den Herausgebern tref- fend herausgearbeitet. Trotz dieser analytischen Unschärfen erfüllt das Buch vor allem einen Zweck: Die vielen hier vorgestellten Ideen, Initiativen und Menschen machen große Lust, selbst aktiv zu werden, mit anderen gemeinsam soziale, ökologische und demokratische Projekte voranzutreiben und somit Teil der Degrowth-Bewegung(en) zu werden.

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2017

201707_Blätter.indb 123 21.06.17 11:51 DOKUMENTE ZUM ZEITGESCHEHEN

Auf unserer Website www.blaetter.de stellen wir fortlaufend wichtige Dokumente zum aktuellen Zeitgeschehen bereit. Sie finden dort unter anderem:

• »Europa: Ein dreifach gespaltener Kontinent« Studie von Chatham House-Kantar, 20.6.2017 (engl. Originalfassung)

• »Digitale Propaganda ist eines der mächtigsten neuen Werkzeuge gegen Demokratie« Studie der Universität Oxford, 19.6.2017 (engl. Originalfassung)

• »Myanmar: Die Menschenrechte von Angehörigen ethnischer Minderheiten werden verletzt« Bericht von Amnesty International, 14.6.2017 (engl. Originalfassung)

• »Eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote würde das BIP steigern« ILO-Studie, 14.6.2017 (engl. Originalfassung)

• »Die Erneuerbaren werden das Energiesystem grundlegend transformieren« Studie des Thinktanks Agora Energiewende, 14.6.2017

• »Die weltweite Kohleproduktion ist so stark gesunken wie noch nie« BP Statistical Review of World Energy, 13.6.2017 (engl. Originalfassung)

• »Längerfristiger Trend hin zu einer steigenden Ungleichheit« OECD-Beschäftigungsausblick, 13.6.2017

• »Die Unterstützung für die Europäische Union steigt wieder« Studie des PEW Research Center, 12.6.2017

• »Die Online-Durchsuchung ist eine Überwachungsmaßnahme mit totalitä- rem Potential« Gemeinsame Presseerklärung von Bürgerrechtsorganisationen, 9.6.2017

• »Der Präsident sagte mir, er brauche Loyalität« Stellungnahme des früheren FBI-Chefs James Comey vor dem Geheimdienstausschuss des US-Senates, 8.6.2017

• »Nur rund 10 Prozent der häuslichen Pflege wird von professionellen Diensten abgedeckt« Studie der Hans-Böckler-Stiftung, 7.6.2017

• »Ich wollte Songs schreiben, die wie nichts sind, was man je gehört hatte« Nobelpreisrede von Bob Dylan, 5.6.2017 (engl. Originalfassung)

• »Eine Rohstoffwende ist unbedingt notwendig« Bericht des Öko-Instituts, 18.5.2017

• »Unicef schlägt Alarm: Zahl unbegleiteter minderjähriger Flüchtlnge verfünf- facht sich« Unicef-Bericht vom 17.5.2017

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201707_Blätter.indb 124 21.06.17 11:51 Chronik des Monats Mai 2017

1.5. – Naher Osten. Hamas-Chef Khalid empfangen, kommt anschließend in Brüs- Mashal stellt eine neue Charta seiner Orga- sel (25.5.) mit den Spitzen der Europäischen nisation vor. Die Errichtung eines souverä- Union und der Nato zusammen und nimmt nen palästinensischen Staates mit Jerusa- in Taormina auf Sizilien am G7-Gipfel lem als Hauptstadt in den Grenzen von 1967 (26./27.5.) teil. bleibe das Ziel und sei „Formel nationalen 2.5. – Afrikanische Union. Der Kommis- Konsenses“. Man werde keinen Fingerbreit sionsvorsitzende der Union Moussa Faki palästinensischen Landes preisgeben. In Mahamat bezweifelt nach einer Begegnung dem Dokument heißt es, man habe nichts mit Bundesaußenminister Gabriel in Äthio- gegen Juden, wohl aber etwas gegen das pien die Möglichkeit, auf dem Kontinent „Zionistische Projekt“. Neuer Hamas-Chef Auffanglager für Flüchtlinge zu errichten. wird Ismail Haniya, bisher Stellvertreter Es sei eine Illusion, zu denken, dass man Mashals. – Am 3.5. empfängt US-Präsident mit der Einrichtung von Lagern Leute an der Trump im Weißen Haus Palästinenserpräsi- Flucht hindern könne. dent Abbas und äußert sich zuversichtlich – Russland/BRD. Bundeskanzlerin Mer- über die Möglichkeit eines Friedens zwi- kel trifft in Sotschi am Schwarzen Meer zu schen Israel und den Palästinensern. einem Gespräch mit Präsident Putin zusam- – USA. Präsident Trump erklärt in men, in dessen Mittelpunkt der Ukraine- einem Zeitungsinterview überraschend konflikt steht. Als weitere Themen werden seine Bereitschaft zu einer Begegnung mit die Lage in Syrien und die Vorbereitung des Nordkoreas Staats- und Parteichef Kim G 20-Gipfels in Hamburg genannt. Jong-un. Zuvor hatten sich Regierungskrei- 3.5. – EU. Nach Vorlage des EU-Mandats se in Washington dafür ausgesprochen, auf für die Brexit-Verhandlungen durch Chef- die anhaltenden Raketentests Nordkoreas unterhändler Barnier wirft Premierminis- mit verschärften Sanktionen zu reagieren terin May Rat und Kommission in Brüssel und auch militärische Operationen nicht vor, sich in den britischen Wahlkampf ein- auszuschließen. – Am 17.5. setzt das Justiz- zumischen. Barnier hatte erklärt, er wolle ministerium den früheren FBI-Chef Robert zwischen den verbleibenden 27 EU-Staaten Mueller als „Sonderermittler“ ein, um In- (EU-27) und London eine „Entente cordiale“ formationen über Kontakte des Wahlkampf- konstruieren. – Am 11.5. beschließen die teams von Trump nach Russland zu untersu- Mitgliedstaaten die Aufhebung der Visa- chen. Trump spricht von „Hexenjagd“ und pflicht für ukrainische Bürger. Eine Arbeits- schreibt im Kurznachrichtendienst Twitter: erlaubnis ist damit nicht verbunden. Der „Bei all den illegalen Handlungen, die es ukrainische Präsident Poroschenko nennt in Clintons Wahlkampfteam und in der die Visafreiheit einen gigantischen Schritt Obama-Regierung gab, wurde nie ein Son- in Richtung Europa. – Am 25.5. teilt ein derermittler eingesetzt.“ – Am 20./21.5. ver- Sprecher in Brüssel mit, Kommissionspräsi- einbart Präsident Trump auf seiner ersten dent Juncker habe mit US-Präsident Trump offiziellen Auslandsreise in Riad ein gigan- vereinbart, einen Aktionsplan zu den bei- tisches Rüstungsgeschäft. Innerhalb von derseitigen Handelsbeziehungen auszu- zehn Jahren soll Saudi-Arabien in den USA arbeiten. – Am 31.5. stellt EU-Kommissar Waffen für etwa 350 Mrd. US-Dollar kaufen. Moscovici ein „Reflexionspapier“ vor, das Nach Angaben der „Washington Post“ geht Ideen zur Vertiefung und Vollendung der es um Schiffe, ein Raketenabwehrsystem, Europäischen Wirtschafts- und Währungs- gepanzerte Fahrzeuge, Raketen, Sprengkör- union (WWU) bis zum Jahr 2025 formuliert. per und Munition. Dies sei der größte ein- 4.5. – Syrienkonflikt. Russland, die Türkei zelne Rüstungsdeal in der amerikanischen und der Iran vereinbaren die Einrichtung von Geschichte, so Regierungssprecher Spicer. Schutzzonen im Bürgerkriegsland Syrien. Trump besucht u.a. Israel (22./23.5.), wird Ein entsprechendes Memorandum wird in am 24.5. im Vatikan von Papst Franziskus der kasachischen Hauptstadt Astana unter-

Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2017

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zeichnet und sieht vier Zonen vor, in denen Zusammenarbeit. In der neuen Regierung keinerlei Waffen zum Einsatz kommen sol- sind verschiedene politische Lager vertreten. len. Der Zugang für humanitäre Hilfe soll Premierminister wird der „Mitte-rechts-Poli- sichergestellt werden. Das Abkommen gilt tiker“ Edouard Philippe. für zunächst sechs Monate. Die Regierung – Israel/BRD. Nach Gesprächen von in Damaskus lehnt am 8.5. den Einsatz von Bundesaußenminister Gabriel mit der israe- UN-Friedenstruppen in den Schutzzonen lischen Regierung im Vormonat (vgl. „Blät- ab. – Am 9.5. bestätigt das Verteidigungsmi- ter“, 6/2017, S. 127) trifft Bundespräsident nisterium in Washington die Lieferung von Steinmeier bei einem Besuch in Israel mit Waffen an die syrische Kurdenmiliz YPG Staatspräsident Rivlin und Regierungschef zum Kampf gegen den Islamischen Staat. Netanjahu zusammen. Rivlin nennt den In Regierungskreisen heißt es, die Entschei- Bundespräsidenten einen „echten Freund dung dürfte für neue Spannungen zwischen Israels“ und würdigt „Deutschlands Füh- den USA und der Türkei sorgen. rungsrolle bei der Verteidigung der Demo- 7.5. – Schleswig-Holstein. Bei den Landtags- kratie auf der ganzen Welt und in Europa“. wahlen verliert die von Ministerpräsident Steinmeier setzt sich erneut für eine Zwei- Torsten Albig (SPD) geführte Koalition aus Staaten-Lösung ein. Deutsche Politiker, so Sozialdemokraten, Grünen und Südschles- der Bundespräsident, würden auch künftig wigschem Wählerverband ihre parlamenta- in Israel kritischen Stimmen Gehör schen- rische Mehrheit. Christdemokraten und Freie ken. Der Bundespräsident reist am 9.5. in Demokraten können sich verbessern. Die die Autonomiegebiete, um Palästinenser- Linke scheitert mit 3,8 Prozent erneut an der präsident Abbas zu treffen. Am Grab des Fünfprozentklausel, die Piraten (1,2, bisher verstorbenen PLO-Vorsitzenden Arafat legt 8,2 Prozent und sechs Abgeordnete) müssen Steinmeier einen Kranz nieder. aus dem Parlament ausscheiden. Neu im Par- 11.5. – Türkei/BRD. Das Außenministerium lament ist die Alternative für Deutschland. in Ankara übt heftige Kritik an der Entschei- Die Wahlbeteiligung liegt bei 64,2 (2012: dung der Bundesregierung, türkischen Mili- 60,2) Prozent. Nach dem vorläufigen amt- tärs und ihren Familien Asyl in Deutschland lichen Endergebnis entfallen auf die sechs zu gewähren. Die Betroffenen hätten eindeu- im Landesparlament vertretenen Parteien tig Verbindungen zur Bewegung um den in (Angaben in Prozent): CDU 32,0 (2012: 30,8), den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen SPD 27,2 (30,4), Bündnis 90/Die Grünen 12,9 gehabt, der für den Putschversuch vom Juli (13,2), FDP 11,5 (8,2), AfD 5,9 (-), SSW, Partei v.J. verantwortlich gemacht wird (vgl. „Blät- der dänischen Minderheit und von der Fünf- ter“, 9/2016, S. 127). – Am 15.5. untersagt die prozentklausel ausgenommen, 3,3 (4,6). Zu- Türkei mehreren Bundestagsabgeordneten sammensetzung des neuen Landtags (73, einen Besuch bei den auf dem Luftwaffen- bisher 69 Abgeordnete): CDU 25 (2012: 22), stützpunkt Incirlik stationierten deutschen SPD 21 (22), Grüne 10 (10), FDP 9 (6), AfD 5 Soldaten. Die Absage sei dem Auswärtigen (-), SSW 3 (3). (Zur Landtagswahl vom 6. Mai Amt auf Arbeitsebene mitgeteilt worden. 2012 vgl. „Blätter“, 7/2012, S. 125.) CDU-Spit- 14.5. – Nordrhein-Westfalen. Die von Mi- zenkandidat Daniel Günther kündigt Ver- nisterpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) ge- handlungen über ein Regierungsbündnis an. führte Koalition der Sozialdemokraten mit – Frankreich. In der entscheidenden den Grünen muss bei den Landtagswahlen Stichwahl um das Amt des Staatspräsidenten den Verlust ihrer Mehrheit hinnehmen. Der (zum Ergebnis der ersten Runde vgl. „Blät- Stimmenanteil beider Parteien geht deut- ter“, 6/2017, S. 127) kann sich der Gründer lich zurück. Die Freien Demokraten nehmen von „En Marche!“, Emmanuel Macron, mit stark zu, Die Linke scheitert knapp mit 4,9, 66,1 Prozent der Stimmen klar durchsetzen; die Piraten, bisher 7,8 Prozent und 20 Sitze, auf Marine Le Pen, Vorsitzende des Front Na- erhalten 1,0 Prozent und sind im Landtag tional, entfallen 33,9 Prozent. Drei Millionen nicht mehr vertreten. Die Alternative für Franzosen geben leere Stimmzettel ab („vote Deutschland kann erstmals in das Landes- blanc“). Unmittelbar nach Amtseinführung parlament einziehen. Die Wahlbeteiligung am 14.5. kommt Macron am 15.5. zum An- liegt bei 65,2 (2012: 59,6) Prozent. Nach dem trittsbesuch nach Berlin. Macron und Bun- vorläufigen amtlichen Endergebnis entfallen deskanzlerin Merkel vereinbaren eine enge auf die fünf im Landesparlament vertrete-

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nen Parteien (Angaben in Prozent): CDU 33,0 IS-Koalition. Thema der Zusammenkunft ist (2012: 26,3), SPD 31,2 (39,1), FDP 12,6 (8,6), auch die amerikanische Forderung an die AfD 7,4 (-), Grüne 6,4 (11,3). Zusammenset- übrigen Mitgliedstaaten nach höheren Rüs- zung des Landtages (199, bisher 237 Abgeord- tungsausgaben. nete): CDU 72 (2012: 67), SPD 69 (99), FDP 28 26.5. – Russland. Einen Tag nach dem Nato- (22), AfD 16 (-), Grüne 14 (29). (Zur Landtags- Gipfel in Brüssel bezeichnet das Außenmi- wahl vom 13. Mai 2012 vgl. „Blätter“, 7/2012, nisterium das Verhältnis zum nordatlanti- S. 126.) Ministerpräsidentin Kraft kündigt schen Militärbündnis als so schlecht wie noch am Wahlabend ihren Rücktritt und den nie zuvor. Die Beziehungen steckten „in der Verzicht auf ihre Parteifunktionen an. tiefsten Krise seit Ende des Kalten Krieges“. 16.5. – Österreich. Das Parlament führt ein Diese „negative Spirale“ sei Folge des jahr- Vollverschleierungsverbot (Burkaverbot) für zehntelangen Strebens der Allianz nach Frauen im öffentlichen Raum ein. Gleichzei- Vorherrschaft in Europa und der Welt. An- tig wird das Verteilen des Koran verboten. lass der Erklärung ist der 20. Jahrestag der Beide Gesetze sind Teil eines Integrations- Unterzeichnung der Nato-Russland-Grund- pakets. akte am 27. Mai 1997 in Paris. 17.5. – Saarland. Der neue Landtag (zur Zu- – Ägypten/Libyen. Die ägyptische Luft- sammensetzung vgl. „Blätter“, 5/2017, S. 127) waffe greift im Nachbarland Libyen ein und bestätigt Ministerpräsidentin Annegret bombardiert ein Ausbildungslager des „Isla- Kramp-Karrenbauer (CDU) für eine weitere mischen Staates“ südlich von Derna. Voraus- Legislaturperiode. Die Regierungschefin er- gegangen war ein terroristischer Anschlag hält alle 41 Stimmen der von ihr geführten gegen christliche Kopten mit bis zu 30 Toten. Großen Koalition aus Christdemokraten und 28.5. – Bundesregierung. Bei einem ge- Sozialdemokraten. meinsamen Auftritt mit dem bayerischen – Griechenland. In Athen und anderen Ministerpräsidenten Seehofer in München Städten folgen Tausende dem Aufruf der Ge- äußert sich Bundeskanzlerin Merkel zu dem werkschaften und demonstrieren gegen die veränderten Verhältnis mit den USA unter andauernde Sparpolitik. „Wir verelenden“, Präsident Trump. „Die Zeiten, in denen wir heißt es auf Transparenten. Das Parlament uns auf andere völlig verlassen konnten, billigt am 18.5. ein mit den Gläubigern ver- die sind ein Stück vorbei.“ Und weiter: „Wir einbartes Programm, das eine weitere Kür- Europäer müssen unser Schicksal wirklich zung der Renten vorsieht, jedoch erst in den in die eigenen Hände nehmen.“ Jahren 2019 und 2020 in Kraft treten soll. 29.5. – Frankreich/Russland. Aus Anlass 21.5. – Türkei. Ein Sonderparteitag der re- einer Ausstellung zum Besuch des russi- gierenden Partei für Gerechtigkeit und Ent- schen Zaren Peter der Große in Frankreich wicklung (AKP) wählt Staatschef Erdogan vor 300 Jahren treffen der neue Präsident erneut an die Spitze. Erdogan ist einziger Macron und Präsident Putin in Versailles zu- Kandidat und erhält mehr als 96 Prozent sammen. Auf einer Pressekonferenz erklärt der Delegiertenstimmen. Nach der bis zum Macron in Anwesenheit Putins, der Einsatz Referendum vom April d.J. gültigen Verfas- von Chemiewaffen im Syrienkonflikt werde sung durfte das Staatsoberhaupt keiner Par- einen „sofortigen Gegenschlag“ Frankreichs tei angehören. zur Folge haben. Beobachter kommentieren, 22.5. – Großbritannien. Ein neuer Terroran- Macron habe mit seiner Äußerung eine „rote schlag erschüttert das Land. Am Ausgang Linie“ gezogen. eines Popkonzerts in der Stadt Manchester 31.5. – Afghanistan. Der Terror in der Haupt- explodiert eine Bombe und reißt über 20 stadt Kabul erreicht einen neuen Höhepunkt. Menschen in den Tod, mehr als 60 werden In unmittelbarer Nähe der deutschen Bot- zum Teil schwer verletzt. Auch der Selbst- schaft explodiert auf einem Lastwagen eine mordattentäter ist unter den Toten. Die Ter- Bombe. Erste Meldungen sprechen von min- rormiliz „Islamischer Staat“ übernimmt die destens 90 Toten und über 400 Verletzten. Verantwortung für das Blutbad, der Attentä- Das Botschaftsgebäude wird schwer beschä- ter sei ein „Soldat“ des IS gewesen. digt. Bei einem Sprengstoffanschlag am 3.5. 25.5. – Nato. Die Staats- und Regierungs- waren mindestens acht Zivilisten getötet und chefs beschließen auf einem „Minigipfel“ 25 weitere Personen verletzt worden, dar- in Brüssel den Beitritt der Allianz zur Anti- unter drei Nato-Soldaten.

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201707_Blätter.indb 127 21.06.17 11:51 Zurückgeblättert... Die Initialzündung der außerparlamentarischen Opposition, die Ermor- dung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967, analysierten die »Blätter« in der folgenden Juli-Ausgabe gleich zweifach: durch den Studentenführer Knut Nevermann (»Zum Selbstverständnis der Studentenvertretung«, S. 708-719) und die kritische Stimme des RIAS, die Journalistin Marianne Regensburger (»Der ›Berlinische Unwille‹«, S. 703-708).

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201707_Blätter.indb 128 21.06.17 11:51 Autorinnen und Autoren dieses Heftes Wolfgang Abendroth Ernst Fraenkel Paul Kennedy Thomas Piketty Elmar Altvater Nancy Fraser Navid Kermani Jan M. Piskorski Janna Aljets, geb. 1985 in Berlin, Poli- Julia Macher, geb. 1975 in Freiburg, Samir Amin Norbert Frei Ian Kershaw Samantha Power tikwissenschaftlerin, Projektleiterin Historikerin und Germanistin, freie Katajun Amirpur Thomas L. Friedman Parag Khanna Heribert Prantl bei der BUNDjugend. Journalistin in Barcelona. Günther Anders Erich Fromm Michael T. Klare Ulrich K. Preuß Franziska Augstein Georg Fülberth Dieter Klein Karin Priester Jürgen Borchert, geb. 1949 in Gießen, Thomas Müller-Färber, geb. 1981 in Uri Avnery James K. Galbraith Naomi Klein Avi Primor Dr. jur., Sozialrichter am hessischen Bochum, Politikwissenschaftler, Stu- Susanne Baer Heinz Galinski Alexander Kluge Tariq Ramadan Landessozialgericht und langjähriger dienleiter für Internationale Beziehun- Patrick Bahners Johan Galtung Jürgen Kocka Uta Ranke-Heinemann Politikberater in Rentenfragen. gen an der Evangelischen Akademie Egon Bahr Timothy Garton Ash Eugen Kogon Jan Philipp Reemtsma Loccum. Magnus Brechtken, geb. 1964 in Ols- Etienne Balibar Bettina Gaus Otto Köhler Jens G. Reich berg, Dr. phil., stellv. Direktor des In- Markus Nitschke, geb. 1970 in Walter Kreck Helmut Ridder stituts für Zeitgeschichte in München, Georgsmarienhütte, Politikwissen- Ekkehart Krippendorff Rainer Rilling apl. Professor für Neueste Geschichte schaftler, Referent für humanitäre Kri- In den »Blättern« Paul Krugman Romani Rose an der Universität München. sen bei Oxfam Deutschland. Adam Krzeminski Rossana Rossandra schrieben bisher Erich Kuby Werner Rügemer Hauke Brunkhorst, geb. 1945 in Mar- Georgia Palmer, geb. 1992 in Ber- Jürgen Kuczynski Irene Runge ne/Holstein, Dr. phil., Professor für So- lin, Studentin der Philosophie an der Charles A. Kupchan Bertrand Russell ziologie an der Universität Flensburg. Freien Universität Berlin, Fahrerin bei Wolf Graf Baudissin Günter Gaus Ingrid Kurz-Scherf Yoshikazu Sakamoto Foodora. Fritz Bauer Heiner Geißler Oskar Lafontaine Saskia Sassen Carla Coburger, geb. 1993 in Ham- Yehuda Bauer Susan George Claus Leggewie Fritz W. Scharpf burg, Studentin der International Miguel de la Riva, geb. 1991 in Köln, Economics, Politikwissenschaft und Student der Philosophie in Wien, freie Hermann Scheer Ulrich Beck Sven Giegold Gideon Levy Arabischen Sprache an der Universität Mitarbeit bei „Der Standard“. Seyla Benhabib Peter Glotz Hans Leyendecker Robert Scholl Tübingen, aktiv im Netzwerk Plurale Homi K. Bhabha Daniel J. Goldhagen Jutta Limbach Karen Schönwälder Ökonomik. Bernie Sanders, geb. 1941 in New Norman Birnbaum Helmut Gollwitzer Birgit Mahnkopf Friedrich Schorlemmer York City, Senator für den US-Bundes- Ernst Bloch André Gorz Peter Marcuse Harald Schumann Falk Hartig, geb. 1979 in Leisnig, PhD, staat Vermont, 2016 Präsidentschafts- Norberto Bobbio Glenn Greenwald Mohssen Massarrat Gesine Schwan Sinologe, Postdoktorand im AFRASO- bewerber in den Vorwahlen der De- E.-W. Böckenförde Propst Heinrich Grüber Ingeborg Maus Dieter Senghaas Projekt der Universität Frankfurt a. M. mokratischen Partei. Thilo Bode Jürgen Habermas Bill McKibben Richard Sennett Bärbel Bohley Sebastian Haffner Ulrike Meinhof Vandana Shiva Rami G. Khouri, geb. 1948 in New Egbert Scheunemann, geb. 1958 in Heinrich Böll Stuart Hall Manfred Messerschmidt Alfred Sohn-Rethel York City, Politikwissenschaftler, Di- Berlin (Ost), Dr. phil., Politikwissen- Pierre Bourdieu H. Hamm-Brücher Bascha Mika Kurt Sontheimer rektor des Issam Fares Institute for schaftler, Autor und Lektor in Ham- Public Policy and International Affairs burg. Ulrich Brand Heinrich Hannover Pankaj Mishra Wole Soyinka (IFI) an der American University of Karl D. Bredthauer David Harvey Robert Misik Nicolas Stern Beirut/Libanon. Marcel Serr, geb. 1984 in Ludwigsha- Micha Brumlik Amira Hass Hans Mommsen Joseph Stiglitz fen am Rhein, Historiker und Politik- Nicholas Carr Christoph Hein Wolfgang J. Mommsen Gerhard Stuby Patrick Klösel, geb. 1995 in Bamberg, wissenschaftler, wiss. Assistent am Noam Chomsky Friedhelm Hengsbach Albrecht Müller Emmanuel Todd Student der International Economics, Deutschen Evangelischen Institut in Daniela Dahn Detlef Hensche Herfried Münkler Alain Touraine Politikwissenschaft und Philosophie Jerusalem. Ralf Dahrendorf Hartmut von Hentig Adolf Muschg Jürgen Trittin an der Universität Tübingen, aktiv im György Dalos Ulrich Herbert Gunnar Myrdal Hans-Jürgen Urban Netzwerk Plurale Ökonomik. Christa Wichterich, geb. 1949 in Mike Davis Seymour M. Hersh Wolf-Dieter Narr Gore Vidal Brühl, Dr. rer. pol., Soziologin, freibe- Alex Demirovic Hermann Hesse Klaus Naumann Immanuel Wallerstein Jan Kursko, geb. 1967 in Hildesheim, rufliche Wissenschaftlerin und Publi- Frank Deppe Rudolf Hickel Antonio Negri Franz Walter freier Journalist in Berlin. zistin. Dan Diner Eric Hobsbawm Oskar Negt Hans-Ulrich Wehler Claus Leggewie, geb. 1950 in Wanne- Wolfgang Zellner, geb. 1953 in Walter Dirks Axel Honneth Kurt Nelhiebel Ernst U. von Weizsäcker Eickel, Dr. sc. pol., Direktor des KWI Selb, Dr. phil., stellv. wiss. Direk- Rudi Dutschke Jörg Huffschmid Oswald v. Nell-Breuning Harald Welzer Essen, Carl-Ludwig-Börne-Professor tor des Instituts für Friedensfor- Daniel Ellsberg Walter Jens Rupert Neudeck Charlotte Wiedemann an der Universität Gießen, Mitheraus- schung und Sicherheitspolitik an der Wolfgang Engler Hans Joas Martin Niemöller Rosemarie Will geber der „Blätter“. Universität Hamburg. Hans-M. Enzensberger Tony Judt Bahman Nirumand Naomi Wolf Erhard Eppler Lamya Kaddor Claus Offe Jean Ziegler Albrecht von Lucke, geb. 1967 in In- Nadja Ziebarth, geb. 1965, Biologin, Gøsta Esping-Andersen Robert Kagan Reinhard Opitz Moshe Zimmermann gelheim am Rhein, Jurist und Politik- Leiterin des Meeresschutzbüros des Iring Fetscher Petra Kelly Valentino Parlato Moshe Zuckermann wissenschaftler, „Blätter“-Redakteur. BUND. Joschka Fischer Robert M. W. Kempner Volker Perthes Heiner Flassbeck George F. Kennan William Pfaff ...und viele andere.

201707_Umschlag_innen.indd 1 21.06.17 11:52 Hinweis: In dieser Ausgabe finden Sie eine Beilage des VSA Verlags. Wir bitten um freund- liche Beachtung. 201707_Umschlag_außen.indd 1 Marc Engelhardt Die Flüchtlingsrevolution Fraser Nancy Sorge im Kapitalismus cares? Who Emmanuel Macron Sigmar Gabriel, Jürgen Habermas, Europa neu denken 4’17 Lamya Kaddor Das neue deutsche Wir Rudolf Hickel Imperialismus America-First- Grunenberg Antonia System als Lüge Die 6’17

Anne Britt Arps Britt Anne Machismo tötet Franziska Schutzbach Weltuntergangslust Wider die bequeme Michael Lüders Westens des Flecken blinden die und Syrien in Krieg Der 3’17 Wiedemann Charlotte Iranische Paradoxien Elmar Altvater MahnkopfBirgit und Prozent einen des Die Globalisierung Ulrich Menzel Die neuen Grenzziehungen Ost: versus West 5’17

Blätter 7’17 Im Abo 6,55/5,10 € 6,55/5,10 Abo Im 10Einzelheft € Demokratie ist kein Die Legende vom Magnus Brechtken Magnus Zuschauersport! Bernie Sanders Albert Speer: Albert guten Nazi internationale deutsche und Blätter für Politik Nadja Ziebarth Nadja PlastikEin aus Meer WichterichChrista Businessfeminismus neue Der Borchert Jürgen ernten Altersarmut wird Wer sät, Kinderarmut Wolfgang Zellner Eine Welt inUnordnung Claus Leggewie die »zweiteMacron und Linke« Hauke Brunkhorst Merkels Abgrund: Am Europa 7’17 21.06.17 11:52