«Konzepte Zählen, Nicht Die Personen» | Norient.Com 5 Oct 2021 19:42:28
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«Konzepte zählen, nicht die Personen» | norient.com 5 Oct 2021 19:42:28 «Konzepte zählen, nicht die Personen» by Heinrich Deisl Forschungsstationen angewandter Soundphysik: Vergangenen Herbst haben Dopplereffekt Tetrahymena veröffentlicht. Es ist die erste Platte des Elektronikprojekts seit sechs Jahren. Das österreichische Journal für Musik skug traf das Duo beim Heart of Noise Festival im Mai 2013 und sprach mit den beiden über Elektronische Musik, Wissenschaft und Facebook. Dabei bleibt das Duo so kryptisch wie eh und je und streut kräftig Zeichen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen. https://norient.com/stories/dopplereffekt Page 1 of 14 «Konzepte zählen, nicht die Personen» | norient.com 5 Oct 2021 19:42:29 «Im akusmatischen Zeitalter gibt es nichts zu sehen ausser dem Sound in seiner Nichtidentität.» Kodwo Eshun «Unsere Technologie zwingt uns dazu, mythisch zu leben.» Marshall McLuhan Der Stadtsaal in Innsbruck ist voll, als Dopplereffekt die in tiefes Blau getauchte Bühne betreten. Einer der Headliner des Heart of Noise Festivals 2013 spielt eines seiner raren Konzerte. Ganz rar ist, dass beide vorher ein Interview gaben: Persönliche Gespräche mit dieser um 1995 gegründeten Formation kann man an wenigen Fingern abzählen. Namen tun im Weiteren zwar nichts zur Sache, nennen wir sie trotzdem To Nhan und Heinrich Mueller. Dopplereffekt war einige Jahre lang eines der Neben- und dann Folgeprojekte von Drexciya. Der frühzeitige Tod des zweiten Drexciyaners 2002 brachte Muellers Identität etwas ans Licht. Aber weiterhin ist über ihn so gut wie nichts bekannt. Dabei gibt es nur wenige, die die Techno- und Elektronikmusik so umfassend geprägt haben wie er. Eine Spurensuche. Die Dämmerung von Dopplereffekt «Dopplereffekt ist eine audiovisuelle Einheit. Sie beinhaltet alle Aspekte der Kommunikation als Medium», macht Mueller gleich zu Beginn klar. «Was verwendet wird, hängt davon ab, wie signifikant bestimmte Konzepte über https://norient.com/stories/dopplereffekt Page 2 of 14 «Konzepte zählen, nicht die Personen» | norient.com 5 Oct 2021 19:42:29 Kultur und Gesellschaft für uns sind». Nhan ergänzt: «Wir beschäftigen uns mit wissenschaftlichen Inhalten wie Physik, Quantenmechanik, Biotechnologie, maschineller Interaktion oder Übertragungsmedien, die audiovisuell fusioniert werden. Musik und Videos geben den momentanen Forschungsstand wieder.» Offensichtlich bezieht sich Dopplereffekt auf Christian J. Doppler. Der Salzburger Physiker beschrieb Mitte des 19. Jahrhunderts den nach ihm benannten kinematischen Effekt, wonach ein sich in Schallgeschwindigkeit fortbewegendes Signal in Abhängigkeit zum Abstand von Sender und Empfänger gestaucht beziehungsweise gedehnt wird. Für den technologieaffinen Heinrich Mueller konnte es also keinen besseren Namen geben. Als Projekt demonstriert Dopplereffekt die «technologischste» Ausprägung der vielen Inkarnationen von Heinrich Mueller. Andere sind Der Zyklus, Arpanet, Japanese Telecom, Zerkalo, Black Replica oder Zwischenwelt (letztere beiden könnten als «Gothic Electro» durchgehen), vorangegangene waren Flexitone, Glass Domain oder eben Drexciya. Aufnahmen der frühen 1990er Jahre lassen sich als immer wieder prominent von House traversierter Electro Funk zusammenfassen. Die ersten Dopplereffekt-Platten erschienen auf dem eigenen Label Dataphysix Engineering und wurden großteils für die Compilation Gesamtkunstwerk neu aufgelegt. Dieser Name hält sich bis heute: So existiert nach wie vor eine Informationseinheit rund um Dopplereffekt unter der Bezeichnung Dataphysix. Zu dieser Zeit benutzte Mueller auch das Pseudonym Rudolf Klorzeiger. Einerseits definierte er als Der Zyklus mit Tracks wie «Die Dämmerung von Nanotech», «Elektronisches Zeitecho» oder «Formenverwandler» auf den 1998 und 2000 von Gigolo Records veröffentlichten EPs Tonimpulstest und II einen Sound, der entlang der Technoachse München–Berlin–Detroit für Furore sorgte. Andererseits galt Drexciya als Gründungsmythos der zweiten Welle des Detroit Techno ab den mittleren 1990er Jahren und hatte mit Tonträgern auf Underground Resistance, Tresor oder Clone eine ebenso große wie eingeschworene Fangemeinde – siehe zum Beispiel den Blog «Drexciya Research Lab» des Wissenschaftlers und Musikers Stephen Rennicks: eine wahre Goldgrube an Informationen. Drexciya war das bislang zwingendste Resultat afronautischer Um- und Überschreibungen der Technovisionen von Kraftwerk. Höflich aber bestimmt sagt er: «Keine Fragen und keine Antworten dazu. Jedes Projekt folgt seinen eigenen Ausrichtungen. Eine Vermischung ist für mich nicht zielführend.» Sciene ± Bio ↔ Fiction https://norient.com/stories/dopplereffekt Page 3 of 14 «Konzepte zählen, nicht die Personen» | norient.com 5 Oct 2021 19:42:29 So ziemlich jedem Detail des Mueller’schen Klanguniversums ist ein «angeblich» voranzustellen. Dieser willentlich kryptische Raum kann zwar von aussen mit allem Möglichen befüllt werden. Gleichzeitig aber ist sein Beharren auf seiner «Nichtidentität» nur konsequent, weil, so Mueller, «ich glaube, dass es zwischen Produzent und Beobachter eine Grenze oder eine Pufferzone geben muss. Das hat technische Gründe: Man will ja den Fokus des Beobachters darauf halten, was man produziert. Die Person hinter dem Kunstwerk ist für mich zweitrangig, wichtig ist das Werk als solches. Wenn man dem Künstler zu viel Aufmerksamkeit gibt, verliert man die Perspektive auf das Werk. Es entsteht der gegenteilige Effekt: Die Aufmerksamkeit wird eher zu einem Personenkult als zu einem progressiven Ideen-Set über das Werk. Dann fangen biografische Details an, interessant zu werden. Was den kreativen Akt auf beiden Seiten jedoch zerstört. Für mich persönlich bedeutet dieses ‹Rausnehmen› aus der öffentlichen Wahrnehmung beziehungsweise die grösstmögliche Anonymität, Dinge in ihrer Balance zu halten.» Womit man mitten ins von Mueller virtuos betriebene Vexierspiel geworfen ist: Es ist die Ambivalenz des frei in Raum und Zeit rasenden autonomen Signifikanten aka der Künstlerpersonalität, die penibel darauf bedacht ist, heftig Zeichen, aber keine Spuren zu hinterlassen. Im Vergleich zur letzten Scheibe Calabi Yau Space (2007, Rephlex) hat sich mit Tetrahymena Dopplereffekts Fokus von mathematischen auf biologische Systeme verschoben. Eine Theoriebrücke schlägt das 2004 als Der Zyklus herausgebrachte Album Biometry, bei dem biometrische Vermessungstechniken forschungsleitend waren. Die Verklausulierung der Bezugssysteme schraubt sich bei Tetrahymena wie eine Doppelhelix um die Destillate der aktuellen High-Tech-Gesellschaft. Der Einzeller Tetrahymena spielt wegen seiner zwei Zellkerne eine wichtige Rolle in der biomedizinischen https://norient.com/stories/dopplereffekt Page 4 of 14 «Konzepte zählen, nicht die Personen» | norient.com 5 Oct 2021 19:42:29 Forschung. Dopplereffekt ist nichts weniger als die Aufschlüsselung des sonischen Quellcodes, derzeit in Laborsituationen der Biotechnologie: «Keine Theorie ist zu abstrakt, als dass sie nicht zu einem Faktum werden könnte. Laser, künstliche Intelligenz, das Internet, Gentechnik oder Mondfahrten wurden früher als Science Fiction belächelt. Heutzutage sind sie Allgemeinplätze.» So nennt sich auf Tetrahymena ein Track «Gene Splicing» und auf dem Cover ist eine unendliche Abfolge der Buchstaben T, A, G und C abgedruckt – die DNA-Basen beziehungsweise kleinsten akustischen Einheiten (siehe Cover am Anfang des Posts). Die Nummer «Zygote» schliesst an das analoge Pulsieren der Zyklus-Platten an: ein Miniatur-Soundtrack über ein dystopisches System, bei dem unbestimmt bleibt, ob es mit einem anderen verschmolzen oder heruntergefahren wird. Gegenbezeichnungstechniken In seinem 2001 erschienenen Buch Hellblau erwähnt Thomas Meinecke die zwei Jahre zuvor auf dem Münchner Label Gigolo erschienene Zusammenstellung Gesamtkunstwerk. Damit wird Dopplereffekt nach wie https://norient.com/stories/dopplereffekt Page 5 of 14 «Konzepte zählen, nicht die Personen» | norient.com 5 Oct 2021 19:42:29 vor am öftesten assoziiert. Nummern wie «Master Organisation», «Denki No Zuno», «Voice Activated» und vor allem der melodiöse Electrosound in «Scientist», der sexy Roboterdisco-Funk von «Pornoviewer» mit seinen sleazy Vocals oder «Sterilization» als quasi der Fluchtpunkt liefern Referenzlinien bis heute: damals Electroclash genannt, derzeit Minimal Wave. Und in zahlreichen DJ-Mix-Compilations vertreten, von Electro Boogie – The Tracks (1999) von Aux88, The Next Step Of New Wave (2000) von The Hacker und Fear And Loathing 2 (2005) von Luke Slater bis zu Electronic Beats (2012) und der vom Münchner Musiker/Produzenten Mooner zusammengestellten Compilation Elaste Vol. 4 (2013). Hier werden deutscher Expressionismus, beschleunigte Vergangenheit und hyperverkörperlichte Zukunft mit internationalen Dancefloors in eine Gleichung gebracht. Eine unbekannte Grösse blieb jedoch. Auf der Coverrückseite war als Motto abgedruckt: «Biological socialism leads towards victory». Eine der Nummern hatte ursprünglich «Rassenhygiene» geheissen, wurde aber von DJ Hell vorsorglich umbenannt. Und überhaupt der Name Heinrich Mueller – auch wenn er für die Platte als Rudolf Klorzeiger firmierte: Als Gestapo-Chef war der «echte» Heinrich Müller für die Organisation des fingierten Überfalls auf den Radiosender Gleiwitz zuständig gewesen, der den propagandistischen Vorwand für den Polenfeldzug lieferte. Seit Kriegsende gilt Müller als verschollen, zahlreiche Legenden ranken sich um sein Verschwinden. 1963 spekulierte der Spiegel darüber, dass es seitens der Amerikaner Pläne gegeben hätte, ihn nach dem Krieg