Neuer Antisemitismus?
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Leseprobe Karin Wetterau Neuer Antisemitismus? Spurensuche in den Abgründen einer politischen Kampagne Mit einem Vorwort von Wolfgang Benz AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2020 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Aisthesis Verlag Bielefeld 2020 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-8498-1701-5 www.aisthesis.de Wer aber vom Unrecht nicht reden will, sollte auch vom Antisemitismus schweigen Horkheimer, reloaded Adorno wohnt hier nicht mehr J. Schimmang Inhaltsverzeichnis Vorwort von Wolfgang Benz ........................................................................... 9 Streitfall Antisemitismus – ein neuer Historikerstreit? ........................... 15 Begegnungen und Irritationen ...................................................................... 24 Gespräch unter Freunden .......................................................................... 24 Eine amerikanische Jüdin in Berlin ......................................................... 28 Israel-Palästina – Reise in ein zerrissenes Land ..................................... 29 Zeit der Verleumder: Antisemiten allerorten ............................................ 37 Die Netanjahu-Note: Kunst- und Meinungsfreiheit versus „subventionierter Antisemitismus“? ........................................... 38 „Nicht jüdisch genug“ – das Jüdische Museum in Berlin .................. 41 Neue Überwachung, forcierte Denunziation ....................................... 43 Im Spannungsdreieck strategischer Interessen: Was ist BDS? ................ 50 Israel-Palästina und die Internationale Gemeinschaft ......................... 52 Imagekampagnen gegen „Israelfeindlichkeit“ ....................................... 57 Der Anti-BDS-Beschluss des Deutschen Bundestags .......................... 59 Umkämpfte Erinnerung ................................................................................. 65 Die Neue Linke um 68 .............................................................................. 66 Israel, die Neue Linke und die Anfänge der Antisemitismusforschung .................................................................. 70 Der Sechstagekrieg und die antizionistische Wende .......................... 75 Die starken politischen Begriffe. Zum Verhältnis von Antizionismus und Antisemitismus ............................................... 79 Deutsche Identität und jüdische Vielfalt .................................................... 82 Deutsches „Gedächtnistheater“ und jüdisches Unbehagen ............... 82 Zionismus und Antisemitismus – (k)ein Gegensatz? ......................... 86 Der Berliner Antisemitismusstreit und die zionistische Idee ............ 88 „Verbrennt mich!“ – Unheilige Allianzen: Die neuen Freunde Israels 90 Neuer israelbezogener Antisemitismus ....................................................... 97 Antijüdische Ressentiments und israelbezogener Antisemitismus 99 Arbeitsdefinition Antisemitismus – Anmerkungen zu einem entgrenzten Begriff ......................................................................... 105 Die „islamische Weltrevolution“ und der Kampf der Kulturen ........ 110 J’accuse oder die „hoffnungslose Naivität für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten“ .................................................................... 120 Anhang 1. Bielefelder Appell .................................................................................. 126 2. Antwortschreiben Wiebke Esdar, MdB, SPD ................................. 130 3. Antwortschreiben Britta Haßelmann, MdB, Bündnis 90/Die Grünen ...................................................................... 132 4. Offener Brief an Angela Merkel .......................................................... 133 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 137 Streitfall Antisemitismus – ein neuer Historikerstreit? Antisemitismus, Feindschaft und Hass gegenüber Juden, weil sie Juden sind, gehören zu den ältesten wahnhaften Obsessionen, die in einer mehr als 2000-jährigen Geschichte immer wieder ihre vernichtenden Wirkungen entfaltet haben bis hin zur systematischen, fabrikmäßigen Ermordung der europäischen Juden im Nationalsozialismus. Es brauchte den Abstand einer Generation, bevor Antisemitismus nach diesem ungeheuerlichen Ereignis zum Gegenstand der Forschung werden konnte, und weitere zwei Jahrzehnte, bis sich in Deutschland und unabhängig davon auch in Israel ab Mitte der 1980er Jahre ein Forschungsschwerpunkt Antisemitismus – an der TU Ber- lin mit einem eigenen Institut und dem weltweit ersten Lehrstuhl – etablie- ren konnte. Stark historisch ausgerichtet, widmet sich die interdisziplinäre Forschung den individual- und sozialpsychologischen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen von Antisemitismus, untersucht unter Bezug auf unterschiedliche Theorietraditionen beispielsweise des Marxismus, der Psy- choanalyse, der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie die soziologi- schen und politischen Aspekte des Themas und fragt nach den Funktionen von Antisemitismus in sozialen und historisch-politischen Kontexten, bei- spielsweise für die Aufrechterhaltung von politischer Herrschaft. Die nach dem Holocaust unabdingbare Ächtung des „alten“ Antisemitismus führte bekanntlich nicht zu seiner Überwindung, sondern zur Tarnung tradierter Ressentiments und zu einer Transformation in einen neuen Antisemitismus, der sich als solcher nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen gibt, ja, sogar bestreitet antisemitisch zu sein. Er äußert „sich nicht nur laut und vulgär, sondern auch subtil und verklausuliert.“1 Das eröffnet ein neues und weites Spektrum für unterschiedliche Wahrnehmungen, Unterstellungen, Speku- lationen und Deutungen. Den Fragen, wann Antisemitismus strafrechtlich relevant ist bzw. welche Straftaten als antisemitisch einzustufen sind und wo die juristisch zu ziehende Grenze zwischen freier Meinungsäußerung, Belei- digung und Volksverhetzung verläuft, ist eine weitere hinzuzufügen: Woran erkenne ich latenten, subtilen Antisemitismus, der vorgibt keiner zu sein und wie lässt er sich wirksam bekämpfen? 1 Josef Schuster. Vorwort zu Samuel Salzborn. Globaler Antisemitismus. Eine Spu- rensuche in den Abgründen der Moderne. 2. Aufl. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2020. S. 7. 16 Streitfall Antisemitismus – ein neuer Historikerstreit? Darüber ist ein Streit entbrannt, der sich vor allem auf den sogenannten israelbezogenen oder antiisraelischen Antisemitismus fokussiert. Ausgehend von der Annahme, traditioneller Antisemitismus tarne sich derzeit vor- nehmlich als Kritik an Israel, geraten Kritiker*innen der israelischen Politik schnell unter Antisemitismusverdacht, während der traditionelle rechte und rechtsradikale Antisemitismus aus dem Blickfeld gerät. Ein doppeltes Pro- blem, denn erstens scheint der Antisemitismus von rechts diese Tarnkappe inzwischen gar nicht mehr zu benötigen, sondern agiert rhetorisch und in unmittelbarer Aktion unverhohlen antisemitisch, zweitens ist die behaup- tete klare Grenze zwischen Israelkritik und Antisemitismus alles andere als eindeutig. Aktuell deutlich wird das an der internationalen Boykottbewe- gung BDS, die von sich selbst behauptet, Antisemitismus zu bekämpfen, von israelischer Seite und einigen prominenten Wissenschaftler*innen aber als antisemitisch eingestuft wird. Andere, zum Beispiel der Nestor der deut- schen Antisemitismusforschung, Wolfgang Benz, viele jüdisch-israelische Wissenschaftler*innen und auch die zuständigen Gremien derEU , das Hochkommissariat für Auswärtige Angelegenheiten widersprechen dem. Dennoch hat sich der Deutsche Bundestag im Mai 2019 eindeutig posi- tioniert und in Form einer Willenserklärung eine Anti-BDS-Kampagne ins Leben gerufen, deren jüngstes Opfer der international angesehene und mit vielen Preisen ausgezeichnete afrikanische Philosoph, Achille Mbembe, geworden ist, zusammen mit der Intendantin der Ruhrtriennale, die ihn als Eröffnungsredner eingeladen hatte. Die Ebene der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde mit die- sem Skandal – nicht zum ersten Mal – furios verlassen, der politische Streit wirkt aber im buchstäblichen Sinn mit Macht auf den wissenschaftlichen Diskurs zurück. „Weltbilder prallen aufeinander“, heißt es im Feuilleton der WELT, an anderer Stelle ist von Gesinnungsprüfungen und Hexenjagden auf vermeintliche Antisemit*innen die Rede und manche sehen einen neuen Historikerstreit am Horizont heraufziehen. Eine nicht ganz abwegige Asso- ziation: In den beiden großen geschichtspolitischen Kontroversen der Bun- desrepublik, der sogenannten Fischer-Kontroverse zur Kriegsschuldfrage des Ersten Weltkriegs und der Historiker-Debatte Mitte bis Ende der 1980er Jahre zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ging es jeweils um mehr als um die Konkurrenz historischer Narrative, es ging um das historisch-politische Selbstverständnis der Republik und die Lehren, die aus der Vergangenheit zu ziehen sind. Mit seinem Buch Griff nach der Weltmacht und der These einer alleinigen deutschen Kriegsschuld hatte der Hamburger Historiker Fritz Fischer in den 1960er Jahren nicht nur die konservative Historikerzunft Streitfall Antisemitismus – ein neuer Historikerstreit? 17 herausgefordert, sondern den Konsens der jungen Bundesrepublik infrage gestellt,