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2. Wie funktionieren Wunder?

Die Wunder, und insbesondere auch die Wunder des JESUS VON NAZARETH, spielen in der traditionellen Theologie eine nicht un- wichtige Rolle: Sie werden als Beglaubigungen angesehen, dass JESUS tatsächlich der Sohn Gottes war und sich in ihm die endgül- tige Offenbarung Gottes ereignet habe. Typischerweise wurden die Wunder dabei „supranaturalistisch“ als übernatürliches Durchbre- chen der Naturgesetze durch Gott aufgefasst. Nun wurden aber in der frühen Moderne die so verstandenen Wunder zum Problem. Sie stießen zunehmend auf Skepsis, da ü- bernatürliche Vorkommnisse in einer Welt natürlicher Gesetzmä- ßigkeiten keinen Platz mehr zu haben schienen. So war es wieder- um kein „Wunder“, dass sich aufgeklärte Geister in rationalisti- schen Erklärungen der Wunder versuchten: ¾So erklärte etwa der Aufklärungstheologe KARL FRIEDRICH BAHRDT (*1741; †1792) den Seewandel Jesu durch im See Genezareth schwimmende Bauhölzer. DAVID FRIEDRICH STRAUß (*1808; †1874) vertrat die Meinung, die Heilungswunder hätten zwar eine psycho- somatische Basis, die dann aber vor allem durch fromme Dichtungen ausgeschmückt worden sei. ¾Und schlussendlich erklärte RUDOLF BULTMANN 1948 die Wunder als physische Geschehnisse für komplett erledigt: „Die Wunder des Neuen Testaments sind damit als Wun- der erledigt [...]. Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen [...] und gleichzeitig an die [...] Wunderwelt des Neuen Testaments glauben“163. Nachdem die moderne Theologie die Wunder also als archaischen Unsinn abgefertigt hatte, betreten sie ausgerechnet im modernen Unterhaltungsfilm wieder die Bühne:

š Filmauswertung: (USA 1999); R:

Der Film, der auf einem sechsteiligen Fortsetzungsroman von STEPHEN KING beruht, handelt von der Geschichte des früheren Gefängniswärters Paul Edgecomb (), der in einem Altersheim des Jahres 1996

163 BULTMANN (1948 / 1967), S. 18. DER AUFTRITT DES JESUS VON NAZARETH 87

(hier gespielt von DABBS GREER) seiner Freundin Elaine Connelly (EVE BRENT) von den vergangenen Geschehnissen im Block E des Cold Moun- tain Gefängnisses Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts erzählt. Dieser Zellenblock wird aufgrund der Farbe seines Bodens The Green Mile genannt. Als in diesen trostlosen Todestrakt eines Tages ein hünen- hafter Schwarzer namens John Coffey (MICHAEL CLARKE DUNCAN) einge- liefert wird, geschehen mysteriöse Dinge: Coffey holt eine Maus, die ei- nem der Todgeweihten gehört und die von dem sadistischen Gefängnis- aufseher Percy Wetmore (DOUG HUTCHISON) zertreten worden war, vom Tod ins Leben zurück. Kurz darauf wird Edgecomb durch Coffey von einem Blasenleiden geheilt. Zwischenzeitlich ist auch deutlich, dass Cof- fey die ihm zur Last gelegten Morde an zwei neunjährigen Mädchen nicht begangen hat. Er wurde verhaftet, als er im Gegenteil versucht hatte, seine übernatürliche Heilungsgabe zu nutzen, um die bereits getöteten Mädchen wiederzubeleben. Schließlich heilt Coffey auch noch Melinda Moores (PATRICIA CLARKSON), die Frau des Anstaltsleiters Hal Moores (JAMES CROMWELL) von einem tödlichen Gehirntumor.

Abb.: The Green Mile (USA 1999); R: FRANK DARABONT „Da floss ein Teil von dieser Kraft, die ihm gegeben war“.

Obgleich alle Beteiligten in der Green Mile wissen, dass Coffey kein Mörder, sondern im Gegenteil ein Wunderheiler ist, wird er aufgrund des Schuldspruchs des Geschworenengerichts schließlich auf dem elektri- schen Stuhl hingerichtet. Edgecomb weigert sich danach, an irgend einer weiteren Hinrichtung mitzuwirken. Zur Funktionsweise der Heilungswunder äußert der alte Paul Edgecomb ganz am Ende des Films noch eine Vermutung: