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SWR2 Musikstunde Große Cellisten (3), 6.6.2012 Teil 3: und Pieter Wiselwey

Eine hohe Stirn, schon ziemlich schütteres Haar und oft ein verschmitztes Lächeln, das sind die ersten Eindrücke, die man hat vom Cellisten Anner Bylsma. Und man merkt ihm gleich an, dass er alles mit größter Überzeugung tut: unterrichten, spielen und schimpfen. "Es gibt einen Haufen Scheißdirigenten", stellt er unumwunden fest, "das Problem ist, sie sehen genauso aus wie die Meisterdirigenten - und nehmen sich genauso wichtig." Seine Abneigung gegen unqualifizierte Orchesterleiter geht so weit, dass er 1962, mit 28 Jahren seine sichere Stelle als Solocellist im Amsterdamer nach sechs Jahren kündigt und fortan den Weg des frei schaffenden Musikers geht und zwar den Weg der authentischen Aufführungspraxis, muss man deutlich hinzufügen. Anner Byslma will sich nicht profilieren, möchte nicht auf Konzertpodien die großen romantischen Schlachtrösser fetzen, sondern Musik ist ihm eine Lebensaufgabe, die Suche, die Forschung nach der historisch informierten Interpretation, und hier wird er einer der ganz Großen unserer Zeit.

Musik 1: C.P.E.Bach: 3.Satz aus dem Cellokonzert 5‘03 M0097323 003

„Indem ein Musicus nicht anders rühren kann, muss er notwendig sich selbst in alle Affekte setzen können, welche er bei den Zuhörern erregen will―, fordert Carl Philipp Emanuel Bach von vollendeten Interpreten. Hier spielte Anner Bylsma den 3.Satz aus seinem Cellokonzert in A-Dur, zusammen mit dem Orchestra oft the Age of Enlightenment unter Gustav Leonhard. Affekte, also Gefühle mit seinem Cellospiel zu transportieren und auszulösen ist Anner Bylsma ein wichtiges Anliegen. Ein entscheidender Faktor auf dem Weg dahin ist sein eigenes und immer waches Erstaunen über Musik. Bylsmas größter Feind heißt Routine, und bei solchen Begriffen wie Repertoire kommt ihm das Grausen. „Die sogenannte Krise der klassischen Musik liegt nicht an der Musik, sondern an den Musikern―, stellt er fest, „wenn ein Konzert gut ist, sind die Leute immer noch enthusiastisch, doch es gibt so viele langweilige, aufgeblasene Schüler, die keine Meister sind.― Deshalb sucht sich Anner Bylsma seine Mit-Musiker sehr genau aus. Er findet sie in der Alten Musik-Szene seiner Heimat, den Niederlanden. Frans Brüggen, Jaap Schröder und 3

Gustav Leonhard sind seine Kammermusikpartner, und er gründet mit seiner Frau, der Geigerin Vera Beths und dem Bratschisten Jürgen Kussmaul sein eigenes Ensemble mit Namen L'Archibudelli. Aber auch als Kammermusiker kämpft Anner Bylsma gegen Automatismen, und versucht immer wach zu bleiben. „Ich weiß, dass es viel Zeit braucht, bis wir uns in unserem Beruf wohl fühlen und eine Ecke finden― sinniert er, ―dann aber sind wir die glücklichsten Menschen.―

Musik 2: Telemann: Vite aus dem Flötenquartett D-Dur 4‘35 M0011423 012

Anner Bylsma zusammen mit seinen Musikerfreunden Frans Brüggen, Jaap Schröder und Gustav Leonhard mit dem 6. Satz „Coulant― aus dem Flötenquartett in a-Moll von Georg Philipp Telemann. Bach, Telemann, diese alten Meister sind für Anner Bylsma noch verhältnismäßig jung. Seine musikalische Spurensuche beginnt noch früher, im 17. Jahrhundert. Bach fiel nicht vom Himmel, weiß man heute, und seine Cellosuiten auch nicht. Eine ganze Reihe begabter Vorläufer haben ihn und gerade seine Solosuiten erst möglich gemacht. Unter anderem heißen sie Domenico Gabrielli, Girolamo Frescobaldi und Giuseppe Jacchini. Ihnen und ihren Ricercari, Canzonen und Sonaten widmet Bylsma eine ganze CD- Einspielung und damit die erste Aufnahme dieser Werke überhaupt. Mit größter Bewunderung schwärmt er von der Frische, der Erfindungskraft und dem Humor dieser Musik - und spielt sie auch so. Eine muntere Zeitreise zu den Anfängen des Cellospiels und ihren Meistern, denn alle Komponisten waren auch gleichzeitig Virtuosen auf dem sonoren Bassinstrument. So klingen die Sonaten von Giuseppe Jacchini nicht nur charmant und fantasievoll, sondern auch erstaunlich virtuos. Er verlangt dem Cello schon richtig was ab, vor allem, wenn man bedenkt, dass es sich gerade erst aus dem Schatten der Gambe herausgeschält hat.

Musik 3: Jacchini: Sonate in C-Dur 3‘55 7364683 009

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Sonaten aus dem 17. Jahrhundert findet Anner Bylsma wesentlich spannender als aus dem 18. Jahrhundert, dem so genannten galanten, hier spielte er die Sonate in c-Dur von Giuseppe Jacchini, begleitet an der Orgel von Bob van Asperen. Bei der Auswahl seiner favorisierten Komponisten ist Anner Bylsma immer wieder gut für Überraschungen. Richten die meisten Cellisten beim Namen Joseph Haydn verklärt den Blick gen Himmel, schüttelt er nur den Kopf: "Mein Gott ist größer", verkündet er einem Interview, "er heißt Boccherini, ist magischer und mysteriöser. Aber man spielt ihn immer wie Haydn. Man kann Stücke von bestimmten Komponisten so spielen, dass man die Größe nicht mehr erkennt, da werde ich sauer." Das allerdings kann man sich bei dem freundlichen Niederländer nur schwer vorstellen, aber seine großartige Aufnahme mit Boccherinis Cellokonzerten zeigen ihn als überzeugten Anhänger des italienischen Meisters. „Nur ein Cellist kann solche Cellokonzerten komponieren―, stellt er kompetent fest. Wesentlich tonmalerischer und klanggewaltiger findet er Boccherinis Konzerte als die Haydns, den er eher für einen guten Architekten hält. „Vor allem kommt das dann zum Tragen―, so Bylsma, „wenn man sie auf einem Barockcello spielt, mit Darmsaiten, weil sich dann die ganzen klanglichen Nuancen, die Boccherini so meisterhaft eingebaut hat frei entwickeln können. Boccherini ist im Grund ein Farbenkomponist―, so Bylsma, „ manchmal sehe ich in ihm den ersten Impressionisten―.

Musik 3: Boccherini: Cellokonzert G-Dur 3‘59 M0012111 003

Anner Bylsmer hat ihn mit seiner Begeisterung neu entdeckt, den Cellisten und Komponisten Luigi Boccherini, hier spielte er den 3. Satz aus Boccherinis Cellokonzert in G-Dur, begleitet vom Orchester Tafelmusik unter Jean Lamon. Anner Bylsma überlässt nichts dem Zufall, schon gar nicht bei den Solosuiten von . Natürlich, jeder bedeutende Cellist macht sich seine eigenen persönlichen Gedanken zu diesem Bibelwerk der Celloliteratur. Aber Byslma geht ganz zurück an den Ursprung. „Am Anfang ist da ein Gefühl großer Unzulänglichkeit―, schildert er seine Begegnung mit den Werken Bachs, „es ist, als spiele man Schach gegen einen genialen Gegner, der zehnfach überlegen ist. Nur zu schnell beginnt man, an der eigenen Interpretation zu zweifeln.― Dann blickt er auf die typische Spielweise des 17. Jahrhunderts, also noch zurück hinter Bach. Aber sie hat Bach geprägt, sie hat er im Ohr. Ein Legato, also die Bindung von Tönen ist zu dieser Zeit noch höchst selten und wird nur ganz gezielt eingesetzt. Aus solchen Überlegungen entwickelt Bylsma seine Agogik. 5

Allerdings betrachtet er jede seiner Bach-Interpretationen als einen Ist-Standpunkt und würde auch vieles jederzeit wieder ändern. „Ich glaube, dass niemand mit seiner Interpretation der Suiten je ganz zufrieden sein kann. Es wird immer so viel unausgesprochen bleiben―. Für seine Einspielung der Suiten steht Anner Bylsma das so genannte Servais Stradivari Cello aus dem 1701 zur Verfügung. Als dunkel und leuchtend beschreibt er den Klang des Instruments und als enorm inspirierend. „Wenn ich dieses Cello spiele, „schwärmt er „bin ich nicht durch irgendwelche Grenzen des Instruments gebunden, sondern nur durch die Grenzen meiner Vorstellungskraft. Normalerweise spielt man auf einem „geistigen― Cello, einem Cello, welches man im Kopf hat. Man versucht, das hölzerne Ding, das man zur Verfügung hat, so klingen zu lassen, wie man sich das vorstellt. Mit dem „Servais― wurde meine geistige Vorstellung übertroffen — es war wie Magie.―

Musik 5: Bach: Allemande aus der 1. Suite 4‘45 M0096159 002

Anner Byslmas Einspielung der sechs Bach-Suiten gilt als eine der wunderbarsten Aufnahmen der Solo-Suiten überhaupt, hier war die Allemande aus der 1. Suite in G-Dur von Johann Sebastian Bachs, gespielt auf dem berühmten Servais-Stradivari, das einst dem belgischen Virtuosen Francois Servais gehörte. 1850 hatte der zum ersten Mal einem Cello einen Stachel verpasst um es nicht mehr mit den Beinen halten zu müssen, sondern auf den Boden stellen zu können. Nicht nur praktischer, sondern auch der Beginn des großen romantischen Cellotons. Den sucht Anner Bylsma wahrlich nicht, weshalb er den Stachel auch wieder abgeschraubt hat. Er spielt das Cello in seiner Ursprungsform. Wie authentisch, wie historisch informiert, da allerdings verbreitet Anner Bylsma keine Dogmen. Seine musikalischen Ideen verkündet er und lebt sie, aber er zwingt sie niemandem auf. Noch nicht einmal seinen Schülern. Deshalb gehen die mitunter auch andere Wege als der Meister selbst. So auch sein wahrscheinlich bekanntester Schüler und Landsmann Pieter Wispelwey. Unumwunden gibt er zu, dass er Luigi Boccherini hasst, den sein Lehrer doch so liebt und für das größte Genie hält. Außerdem verweigert sich Wispelwey allen Etiketten. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er hier in dieser Musikstunde auf SWR 2 in der Rubrik „Die Historischen― gar nicht erscheinen dürfen. 6

Statt „Barockspezialist― nennt er sich lieber Spezialist für Interpretationspraxis und zwar für alle alles! (Ausrufezeichen). Nachdenken sollte man über alle Komponisten und ihre Werke, und nicht bloß über Alte Musik, meint der sympathische Niederländer. Lassen wir ihn für heute mal bei den historisch informierten Cellisten und verkünden gleichzeitig, er kann sehr Vieles sehr gut auf seinem Cello, aber historisch informiert spielen, das kann er besonders gut.

Musik 6: Vivaldi: Allegro aus dem Cellokonzert G-Dur RV.413 2'20 M0007517 018

Eine Aufnahme aus dem Jahr 1996 mit Cellokonzerten von Antonio Vivaldi, Pieter Wispelwey und das Orchester Florilegium mit dem 1. Satz aus dem Konzert RV.421. Pieter Wispelwey studiert zwar bei Anner Bylsma in Amsterdam, aber auf einem modernen Cello und nicht speziell Barockmusik. Die Alte Musik Bewegung, zumindest im Hochschulbereich steckt in den 80er Jahren noch in den Kinderschuhen, selbst in ihrem El Doardo, den Niederlanden. Ein Barockcello nimmt Wisplewey erst später in die Hand und macht sich da ganz autodidaktisch auf die Suche. Er probiert aus, was klingt am besten, was ist möglich, was verträgt die Komposition? „Man merkt ziemlich schnell, dass intensives Vibrato nicht geht, starker Druck auf die Saiten oder ein beherzter Zugriff― erklärt er in einem Interview― und er spürt, dass Barockinstrumente unterschiedlich sind, dass man für jedes eine individuelle Technik entwickeln muss. Als er sich wohl fühlt mit sich und seinem Barockcello, nimmt gleich ohne falschen Respekt die größte Hürde und veröffentlicht eine CD mit den Bach-Suiten. 28 Jahre alt ist er da – und – der immense Erfolg gibt ihm Recht. Von allen Seiten erntet er hellste Begeisterung, Preise und Auszeichnungen für diese ungewöhnliche Bach- Interpretation. Historisch informiert ja, aber auch sinnlich, lustvoll, tänzerisch und zugleich tiefgründig. „Wichtig ist ein Gleichgewicht zwischen der gelehrten und der sinnlichen Ebene, zwischen dem Physischen und dem Emotionalen― erklärt er, „so gern ich auch nachdenke über Bach, entscheidend ist, dass seine Musik das Ohr erfreut, dass es lebendig klingt und berührend.―

Musik 8: Bach: Prelude aus der 5.Suite 5‘51 M0261085 031

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Ein tiefgründiger Bach, und ein emotionaler dazu, Pieter Wispelwey mit dem Prelude der 5.Cello-Solosuite in c-Moll. Intellekt und Sinnlichkeit, Spiel und Geist, Kopf und Bauch, diese ewige, komplexe Auseinandersetzung ist nicht nur bei Bach Pieter Wispelweys zentrales Thema. Immer wieder kreist er um diese Fragestellung. Anscheinend mit Erfolg, bei ihm funktioniert die Synthese. Vielleicht weil er, egal ob Barockmusik, Romantik oder Moderne alles mit großer Begeisterung angeht und natürlich mit enormer technischer Brillanz. Heute spielt er auf den großen Bühnen weltweit, alles: von Barock bis Moderne und das ist wohl auch typisch für ihn: er kennt keine Nischen und keine Spezialisierungen, auch wenn sein schlanker und unpathetischer Celloklang selbst bei einem Chopin beeinflusst scheint von seiner Erfahrung mit der Alten Musik.

Musik 7: Chopin: Mazurka 2‘44 M0013528 003

Auf seinem französischen Cello von 1860 nimmt Pieter Wispelwey zusammen mit dem Pianisten Chopins Walzer, Mazurken und Preludes, eine Bearbeitung von Dawydow, hier die Mazurka in a-Moll op.67 Nr.4. Wie viele große Musiker sucht Pieter Wispelwey seine Inspiration auch jenseits des eigenen Instruments. Ein Orientierungspunkt ist für ihn vor allem die menschliche Stimme. So lernt er, wie er sagt auch viel von Dietrich Fischer-Dieskau. Dass Dramatik und Expressivität nichts zu tun haben mit einem gepressten Ton, ein Klang flexibel und geschmeidig bleiben sollte. Seiner ist es, Wispelwey forciert so gut wie nie, versucht immer die Eigenschwingung des zu bewahren. Letzten Endes sind das aber alles nur Wege zum Ziel. Wenn ein Pianist versucht eine Basslinie wie ein Cello zu spielen, ein Cellist seine Cantilene wie ein Bariton zu singen, ein Sänger sich bemüht seinen Part über sein Instrument hinauszutragen, auf eine spirituelle Ebene, dann, so Wispelwey arbeiten sie alle, jeder auf seine Weise an der einen großen musikalischen Idee. Sie ist das Entscheidende, der Urzweck, sozusagen. Schön gesagt, und ohne jedes Pathos. Das nämlich liegt dem immer noch jungenhaften, unprätentiösen Typ gar nicht. Im Konzert streift er über das weiße Hemd auch schon mal gerne breite Hosenträger, verzichtet auf gehobene Seriosität und scheint nur interessiert am Wesentlichen. „Ich bemühe mich einfach ehrlich zu sein―, bekennt er „und alles zu geben, was ich habe, mehr kann ich nicht tun.―

Musik 9: Faure: Elegie 6’50 / M0017943 005