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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 25. September 2000 Betr.: Schmidt, Neonazis, Cruiser, SPIEGELreporter ehrmals schon hat SPIEGEL-Politikchef Gerhard Spörl Altkanzler Helmut MSchmidt interviewt – man kennt sich von der „Zeit“. Als Schmidt 1983 dort Mit- herausgeber wurde, saß auch Spörl in der Redaktion. Vergangenen Freitag sprachen Spörl und Wirtschaftsressortleiter Armin Mahler mit dem Elder Statesman über den schwächelnden Euro und den boomenden Ölpreis. „Ihr müsst langsam re- den“, wurden sie begrüßt, „ich bin zwar erst knapp 82 Jahre alt, aber meine Ohren sind schon 92.“ Dann griff er zur Mentholzigarette, legte den Kopf zur Sei- te und beantwortete die Fragen der SPIEGEL-Re- dakteure. „Konzentriert und präzise wie eh und je“,

M. ZUCHT / DER SPIEGEL so Spörl. Und wie eh und je vergab Schmidt auch Schmidt, Mahler, Spörl Noten: „Schröder ist nicht ohne Mut“ (Seite 124).

as geht in den Köpfen jener gewalttätigen Rechtsextremisten vor, die Menschen Wjagen, Friedhöfe schänden, Angst und Schrecken verbreiten? Drei Aussteiger aus der Neonazi-Szene haben sich den SPIEGEL-Redakteuren Carolin Emcke, 33, und Christoph Mestmacher, 35, offenbart. Sie erzählten von Hitler-Freaks, Neogermanen, biertumben Skinheads und schrägen Ritualen, und sie versuchten zu erklären, wie ihr Weg ins rechtsextreme Abseits führte – und wieder heraus. Mehrfach trafen sich Emcke und Mestmacher mit den Aussteigern, fuhren zu den Orten ihrer Straftaten und prüften die Aussagen. „Unglaublich, in welcher bizarren Welt sie lange lebten“, so Mestmacher, „heute können sie das selbst kaum mehr verstehen“ (Seite 42).

isweilen erntet SPIEGEL-Reporter Bruno BSchrep schon mal ein mitleidiges Lächeln, wenn er mit seinem 1986 gebauten BMW 325i in eine Parklücke biegt – ist eben nicht mehr ganz neu der Wagen. Doch bei jugendlichen Cruisern in Hameln, die sich mit meist älteren, hochfrisierten und tiefer gelegten Autos ge-

fährliche, illegale Rennen liefern, kommt der / ARGUS R. JANKE Oldtimer gut an. „Die waren richtig angetan, als Schrep ich mit meiner Kiste vorfuhr“, sagt Schrep, „nur der Regenschirm auf der Hutablage irritierte sie ein wenig.“ Und, natürlich, dass Spoiler, Alufelgen und Doppelauspuff fehlen. Derart gerüstet, rasen Jugendliche in Ha- meln und anderswo nachts über öffentliche Straßen, foppen die Polizei und riskieren das eigene und anderer Menschen Leben (Seite 92).

arum wird ein Buch wie „Harry Potter“ 30 Millionen Mal Wgekauft? Warum fasziniert ein Roman über einen Sturm von 1991 plötzlich Menschen aller Kontinente? Das Buchgeschäft ist ein Mysterium, das Autoren, Verleger, Kritiker und Leser gern durchschauen möchten. Die Titelgeschichte der Oktober-Aus- gabe von SPIEGELreporter spürt dem Geheimnis der Bestseller nach. Außerdem im Monatsmagazin: eine Reportage über eine Frau, die ihr Gedächtnis verlor; Gespräch mit BDI-Chef Hans-Olaf Henkel über Helmut Kohls Spender und Weinabende bei Castro.

Die nächste SPIEGEL-Ausgabe wird wegen des Tages der Deutschen Einheit bereits am Samstag, dem 30. September, verkauft und zugestellt.

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 39/2000 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Die neue Ölpreis-Krise ...... 114 Wie eine Pendlerfamilie den Ölpreis- Schock verkraftet...... 118 Wem gehört die Einheit? Seite 22 Die Ängste der Saudi-Herrscher...... 120 SPIEGEL-Gespräch mit Altkanzler Vor dem zehnten Jahrestag der deutschen Vereinigung streiten sich Sozialdemokra- Helmut Schmidt über Opec-Kartell, Euro und ten und Union wie in Kalten-Krieg-Zeiten darum, wer die besseren Patrioten sind. seinen Rat an die Schröder-Regierung...... 124 Der Altkanzler Kohl reklamiert Wie sich eine Energiewende organisieren lässt ..... 127 die Einheit für sich, sein SPD- Deutschland Nachfolger Schröder bemüht Panorama: Doping-Urteil belastet Olympia-Team / sich, in die Rolle des Gesamt- Neue Zweifel an Kochs Aussagen ...... 17 deutschen hineinzuwachsen – Deutsche Einheit: Zwietracht um das Jubiläum... 22 obwohl er einst wie Oskar La- Affären: Wofür bekam Ex-Verfassungsschutz- fontaine den Staatsvertrag abge- Präsident Holger Pfahls sechs Millionen Mark?...... 26 lehnt hatte. Fast jeder Held von Neuer Verdacht gegen Elf-Lobbyist Holzer ...... 28 Hauptstadt: Bürgermeister Gregor Gysi?...... 32 1989 bekommt nun seine eigene Affären: Wollte die Düsseldorfer Justiz Feier. Doch eine ehrliche De- Helmut Kohls Anwalt in Misskredit bringen?...... 34 batte um die Versäumnisse der Vertreibung: Junge tschechische Intellektuelle Vereinigung und die fortdauern- entdecken die verdrängte Vergangenheit ...... 37 KEYSTONE KEYSTONE de Spaltung der Nation ist noch Rechtsextremismus: Drei Aussteiger erzählen über das braune Netzwerk...... 42 Einheitsfeier vor dem Berliner Reichstag 1990 immer nicht in Sicht. Grüne: SPIEGEL-Gespräch mit Renate Künast und Fritz Kuhn über die Ökosteuer...... 68 Justiz: Wie sich ein Stasi-Offizier durch Flucht in die Verjährung rettet ...... 74 Waffen: Lobby verhindert schärferes Gesetz...... 76 Hochschulen: Unis suchen sich Studenten aus..... 78 Aussteiger aus der Nazi-Szene Seite 42 Rechtsmedizin: Baby-Obduktionen schockieren Eltern...... 82 Sie fuhren mit Skins auf Demon- Abfall: Angeblicher Wunderofen zur strationen, nahmen an konspirati- Müllbeseitigung erweist sich als Flop ...... 84 ven Sonnenwendfeiern teil und Medikamente: Kassen setzen auf billigere Internet-Apotheken ...... 88 fachsimpelten mit Alt-Nazis übers vierte Reich: Drei Aussteiger er- Gesellschaft zählen über die Rituale der braunen Szene: Schulzeit-Nostalgie in der Disco / Szene. Sie stürzten Grabsteine auf Marketing-Ausbildung für ältere Arbeitslose...... 91 einem jüdischen Friedhof um und Autorowdys: Gefährlicher Nervenkitzel bei illegalen Wettrennen ...... 92 besprühten die Wormser Synagoge

mit Nazi-Parolen. Für diese Taten / VERSION C. DITSCH Stars: Das bewegte Leben von Paula Yates ...... 100 B. BOTLÄNDER steht das Trio nun vor Gericht. NPD-Aufmarsch, Aussteiger-Trio Wirtschaft Trends: Engpässe bei UMTS-Zulieferern / Die Aktienverkäufe des Bill Gates ...... 111 Geld: Boom der Investmentbanken / Wer profitiert von Olympia? ...... 113 Neuer Markt: Die Pleiteserie hat begonnen...... 130 Seite 130 Lufthansa: Firmen gegen Miles & More ...... 132 Erste Pleite am Neuen Markt Internet: T-Online in Turbulenzen ...... 133 Große Sprüche und rote Zahlen: Nur 13 Monate nach ihrem Start am Neuen Markt Medien stellte die Frankfurter Gigabell einen Insolvenzantrag. Experten rechnen mit weite- Trends: Schlappe für NDR-TV-Chef Kellermeier / ren Pleiten von Tricksern und Hochstaplern an der deutschen Hightech-Börse. Personalrochade bei den Springer-Zeitungen ...... 135 Fernsehen: Flaue Olympia-Quoten / Roger Willemsen verlässt „Aspekte“...... 136 Vorschau...... 137 Reality-TV: „Big Brother 2“ – Perversion in Perfektion ...... 138 Tod eines Pop-Idols Seite 100 Dokumentationen: Das TV-Drama „Deutschlandspiel“ im ZDF ...... 141 „Punk-Prinzessin“, „Pop-Queen“ oder „Lady Zeitschriften: Sigrid Löfflers „Literaturen“...... 146 Di des Underground“ wurde Paula Yates ge- Serie: Die Welt im 21. Jahrhundert nannt, in Großbritannien berühmt als platin- Bürgergesellschaft: Claus Leggewie blondes Schlagzeilen-Idol, TV-Moderatorin und über neue Formen politischer Mitsprache...... 152 Star-Gefährtin: Mit 40 Jahren ist sie an Wodka Digitale Demokratie: SPIEGEL-Gespräch und Heroin gestorben. Sie hatte den rasenden mit Bestsellerautor Douglas Adams über Ruhm gewollt, den heißen Party-Glamour, die Internet und schlanken Staat ...... 162 Staatsmacht: In Ländern der Dritten Welt Blitzlichtgewitter, und zugleich nach Häuslich- zerfällt der Staat ...... 168 keit, Geborgenheit und Mutterglück (mit vier Töchtern) gestrebt – ein Leben auf Volltouren, Ausland eine Selbstinszenierung und Selbstzerstörung

Panorama: Entschädigung für Angehörige DPA bis zum Schluss. israelischer Olympioniken / Perus Oppositions- führer Toledo fordert Neuwahlen ...... 179 Yates, Tochter Tiger Lily USA: Endspurt der Präsidentschaftskandidaten.... 182 Großbritannien: Blairs Charisma verblasst ...... 184

6 der spiegel 39/2000 Frankreich: Schwarze Gelder für Chirac? ...... 190 Norwegen: Hohe Spritpreise verschaffen Rechten Zulauf ...... 192 Russland: Erpresster Medien-Mogul ...... 196 Europäische Union: Elmar Brok (CDU) über die Europaskepsis der Union...... 199 Philippinen: Strafgericht auf Jolo ...... 200 Mexiko: Terror gegen demokratischen Aufbruch ...... 204 Afrika: Jagd auf Sahara-Touristen ...... 212 Ukraine: Das Völkergemisch in den Waldkarpaten ...... 216 Europa: Hürden für Hund und Katz...... 224 Kultur Szene: Intrigen bei den Berliner Philharmonikern / Stephen Kings Vater-Suche ...... 227 Theater: Neue Chefs, alte Leiden – Saisonbeginn deutschsprachiger Bühnen...... 230 DPA Sprinter, Schwimmerin van Almsick in Sydney SPIEGEL-Gespräch mit Ilse Ritter über ihre Karriere und den Hamburger Neustart...... 235 REUTERS Kino: Das Berliner Filmmuseum wird eröffnet..... 240 Literatur: Michael Ondaatjes neuer Roman Enttäuschte Olympia-Hoffnungen Seiten 288 bis 304 „Anils Geist“...... 244 Interview mit Michael Ondaatje über Franziska van Almsick, einer der wenigen Stars im deutschen Team, konnte die seine Liebe zum Kino...... 248 Medaillenerwartungen nicht erfüllen. Nun hoffen die Sportler auf Erfolge in der Bestseller ...... 246 Kunst: Berliner Ausstellungsboom...... 252 Leichtathletik. Wie schwer sich Gold vermarkten lässt, zeigt das Schicksal der Olym- Kulturpolitik: Warum in Island die piasieger von 1996 Andreas Wecker, Ralf Schumann und Ilke Wyludda. Künste blühen ...... 256 Wissenschaft · Technik Prisma: Hilft Fisch gegen Depressionen? / Weniger Wetterkatastrophen in Sicht ...... 263 Internet: Verbraucher als Warentester ...... 266 Raubzüge in der Sahara Seite 212 Im Netz beantworten Experten jede Frage...... 270 Verkehr: Ein Bochumer Ingenieur will den Wer durch die Wüste reist, kann was Gütertransport unter die Erde verbannen ...... 274 erleben: Wegelagerer in der Sahara Elektronik: 3D-Fernsehen vor dem Durchbruch ...... 279 plündern systematisch westliche Medizin: Schlampereien bei Abenteuer-Touristen aus und brausen der Versorgung von Wundkranken...... 280 anschließend mit den erbeuteten Luftfahrt: Experten fordern Datennetz Geländewagen davon. Die Banditen für bessere Sicherheit...... 284 tragen Kalaschnikows, haben sich mit Sport korrupten Zöllnern und Militärs ver- Deutsche Mannschaft: Franziska van Almsick bündet und schrecken auch vor Mord als Symbolfigur für den Misserfolg ...... 288

und Totschlag nicht zurück. K. DÄRR Was eine Goldmedaille wirklich wert ist – die Olympiasieger von 1996...... 290 Reisende in der Sahara Schwimmen: Rätselhafte Schwäche der Chinesinnen ...... 296 Helden: Interview mit dem Sportkritiker Barry Spurr über den Kult um ...... 300 Athleten: Das Tagebuch zweier Beachvolleyballerinnen...... 302 Tribunal der Verbraucher Seite 266 Fernsehen: Highlights der Spiele...... 304 Schlechte Zeiten für miese Produkte: Zehntausende von Konsumenten berichten im Briefe ...... 8 Internet über ihre Erfahrungen mit Handys, Aktien und Autowerkstätten. Sie schrei- Impressum ...... 14, 308 ben nicht nur zum Vergnügen – die besten Kritiker ernten Geld und Ruhm. Leserservice...... 308 Chronik ...... 309 Register ...... 310 Personalien...... 312 Hohlspiegel/Rückspiegel...... 314 Frecher Nachwuchs im Theater Seiten 230, 235 Neue Spielzeit, neue Chefs: An vielen Krugs Comeback deutschsprachigen Bühnen hat der Nach- Schauspieler Manfred Krug wuchs das Heft in die Hand genommen. Doch über seine Schlagerkarriere. seine freche Lust an „Junk, Kiff und Shit“ – Außerdem in kulturSPIE- wie es Ilse Ritter im SPIEGEL-Gespräch GEL, dem Magazin für Abon- nennt – endet oft in schierem Klamauk. nenten: Popstar Björk sowie die Comic-Autoren Henrik

L. ZUBLER / KEYSTONE PRESS ZÜRICH / KEYSTONE L. ZUBLER Züricher Premiere „Hotel Angst“ Fetz und Thorsten Felden.

der spiegel 39/2000 7 Briefe

Leider hat der Bericht wenig mit der Wirk- lichkeit zu tun. Nicht nur sind die Urein- „Wann werden SPIEGEL-Leserinnen wohner von Australien, die wirklichen mal wieder versorgt mit Antlitz, Australier, hemmungslos benachteiligt worden, nein, auch andere Bevölkerungs- Silhouette oder Totale eines gut geölten gruppen tun sich schwer, in diesem Land zu überleben. Schicken Sie Ihren Repor- Männerkörpers? Fast flehentlich ein ter mal „in bush“, und er wird sich wun- Wunsch am Rande: auch für uns bitte dern, was ihm Farmer zu erzählen haben. Oder vielleicht geht er einmal in die Zen- Sportler, keine Politiker.“ tren der Städte und fragt die Arbeitslosen nach Arbeit oder vielleicht die Banken Margarete Jonas aus Bochum zum Titel nach Gewinnen. Australien ist wie jedes „Hightech-Olympia Sydney“ andere Land ein sehr gewöhnliches Land. SPIEGEL-Titel 37/2000 Der einzige Unterschied zu vielen anderen Ländern, inklusive Deutschland, besteht darin, dass hier eine Menge Platz ist für Aussies zu den Ureinwohnern ist. Zu tun ganz wenig Menschen – und diese räumli- Gemästete Helden bleibt bei der Fülle von Verbrechen und Un- che Großzügigkeit genießen wir in vollen Nr. 37/2000, Titel: Hightech-Olympia Sydney – gerechtigkeiten, die sich die Einwanderer Zügen. Höher, schneller, weiter. zu Schulden kommen ließen, noch viel. Meadowbrook (Australien) Eberhard Wenzel Wo liegen die Grenzen des Menschen? Hamburg Andrea Maaß Griffith University

Ausführlich widmen Sie Wie kann der SPIEGEL sich den Bürgerprotesten, die Olympischen Spiele die es am Bondi Beach, überhaupt noch ernst neh- Sydneys schönstem Strand, men, wenn die Komparati- gegen den Bau des Beach- ve „höher, schneller, wei- volleyball-Stadions gab. ter“ nur noch Synonyme Fernsehzuschauern und für „höheren“ Verbrauch, Olympia-Touristen mag es „schnelleren“ Einsatz und ein Staunen entlocken „weitere“ Unkontrollier- nach dem Motto: Nur ein barkeit von immer neuen paar Meter vom Pazifik Dopingmitteln sind? entfernt – schöner kann Braunschweig Horst Grabert keine Arena der Welt lie- gen. Wie ich aus Berichten deutscher Aussiedler weiß, Unverschämt teuer bewerten die meisten Ein- Nr. 37/2000, Energie: Europa und heimischen den Bau des der Ölpreis-Hammer Stadions anders: als frag-

würdigen Sieg des Sports DPA Es ist zum Heulen! Wo- über die Ökologie, als Fre- Aborigines bei der Olympia-Eröffnungsfeier: Geste unter den Augen der Welt zu, denken die Bürger, ist vel an der Natur. Erleben die Öko-Steuer eingeführt wir hier nicht die traurige Wiederkehr des Bei der großartigen Eröffnungszeremonie worden? Natürlich um mit teureren Ener- Immergleichen unter dem Deckmantel der der Olympischen Spiele in Sydney und giepreisen endlich dafür zu sorgen, dass ohnehin abgenutzten olympischen Idee? der unsäglich borniert-tumben Kommen- 280-PS-Wagen und Uralt-Lkw von unse- Erkrath (Nrdrh.-Westf.) Ina Heck tierung des Herrenmenschen Beckmann ren Straßen verschwinden. Wurde nicht ging mir so durch den Kopf, was wohl in auch deswegen Schröder zum Kanzler Wenn nicht alles trügt, werden die wi- Berlin gewesen wäre, wenn die deutsche gewählt? dernatürlich gemästeten Athleten und Hauptstadt den Olympia-Zuschlag be- Ilmenau (Thüringen) Tim Kröger Helden von heute die Frührentner, Invali- kommen hätte. Wer hätte die Rolle der den und Krüppel von morgen sein. Und Aborigines gegeben? Die Ossis? Vielleicht Schafft die Politik es endlich, ein öffent- der Dank des Vaterlandes ist ihnen hätte dann Manfred Stolpe das Olympia- liches Verkehrssystem zu schaffen, das (un-)gewiss. feuer entzündet? eine wirkliche Alternative zum Auto dar- Hückeswagen (Nrdrh.-Westf.) Ernst Dittrich München Gerhard Kowalski stellt, können wir dem Ölpreis ganz ge-

Während einer Reise durch Australien wur- de ich vor kurzem mit der Aborigines- Vor 50 Jahren der spiegel vom 27. September 1950 Problematik konfrontiert; umso mehr freu- Schmiergeld für Bonn Bestechung bei der Hauptstadt-Entscheidung te ich mich über die doch sehr politische gegen Frankfurt am Main. Sowjet-Agenten enttarnt Berlin ist Hochburg Entscheidung, die Läuferin Cathy Freeman der Spionage. Uno-Offensive im Koreakrieg Belgrad hilft USA bei der als Aborigine-Frau das olympische Feuer Analyse der Kreml-Politik. Standrecht, Todesstrafe und Pressezensur der beeindruckenden Eröffnungsfeier ent- Norwegen streitet um neues Kriegsgesetz. Schüsse in der Adria Jugoslawische Küstenwache zielt auf italienische Fischer. Weiße Mäuse zünden zu lassen. Man wird sehen, ob dies im Genick Münchner Zimmermädchen fallen bei erster Nachkriegszau- eine symbolische Geste war, zu der sich die berei in Ohnmacht. Suche nach Atlantis Neue Ortung in der Nordsee. Australier unter den Augen der Weltöffent- Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de lichkeit gezwungen sahen, oder ob dies Teil Titel: Schauspieler Douglas Fairbanks jr. eines Wandels im Verhältnis der weißen

8 der spiegel 39/2000 Werbeseite

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Werbeseite lassen entgegensehen. Ei- sich in Mainz eine teure nen Anspruch auf billiges Wohnung mietete. Dann Benzin gibt es nicht. Auch sollte er eine Steuerermäßi- in Zukunft wird sich der gung erhalten. Stattdessen Preis nach den Markt- wohnt er billig auf dem verhältnissen richten. Wer Land, verpestet täglich die jetzt Steuersenkungen for- Umwelt und erhält dafür dert, der muss auch einen noch ein Steuergeschenk, Deckungsvorschlag für die und diese Kilometerpau- fehlenden Einnahmen ma- schale will der Ministerprä- chen. sident auch noch erhöhen. Ellerau (Schlesw.-Holst.) Wohnen auf dem Lande ist Peter Groth sehr schön; aber dafür soll- te man dann auch bezahlen. Aral erhöht die Preise, Norderstedt Günter Ansorge und das Volk schimpft auf die Regierung. Das verste- Ich unterstütze jede Ben- he, wer will, ich nicht. Wenn zinpreiserhöhung durch die simple Kampagnen uns so in Opec und die Bundesregie- Wallung bringen, ist mir rung. Nur so wird es viel- angst und bange um die leicht bald auf den Straßen Streitkultur in unserer De- etwas leerer, wenn ich am mokratie. Wochenende zu meiner Bad Neustadt (Bayern) Jagdhütte fahre. Autofahren Jürgen Blottner muss wieder wie vor 70 Jah- ren zu einem Privileg der Was sich jetzt bei den gehobenen Stände werden. Kraftstoffpreis-Protesten in Dass ausgerechnet diese Europa und im weiteren Bundesregierung mich in Sinne auch bei den Welt- diesem Anliegen unter- wirtschafts-Festivals wie in stützt, hätte ich allerdings Seattle und Australien ab- nicht erwartet. spielt, ist erst ein leichtes Altleiningen (Rheinl.-Pf.) Vorgeplänkel dessen, was Wolfgang E. Schaefer noch kommen kann, wenn die demnächst bevorstehen- de Auszehrung der Vorrä- ZEITUNG KNOOP / BILD T. Manipulierte Meinung te die Ölpreise unhaltbar Lkw-Blockade (in Hamburg) Nr. 37/2000, Europa: Abstimmung nach oben treibt und der Leichtes Vorgeplänkel? über Osterweiterung? Ausplünderungskapitalis- mus, vulgo Globalisierung, sich selbst zu Eine Demokratie ohne Volksabstimmung Schanden fährt. zu wichtigen Fragen zwischen den Wah- Tyresö (Schweden) Jürgen T. Honig len ist keine Volksherrschaft, sondern eine „regierungsbestimmende Demokratie“. Der eigentliche Skandal liegt darin, dass ich Diese Staatsform neigt zu einer machtbe- mit meinem Pkw noch immer günstiger sessenen Parteienlandschaft und ist somit lange Strecken fahre als mit der Bundes- keine Regierung des Volkes durch das bahn. Eine Verteuerung des Individual- Volk. Wir benötigen mehr visionäre Über- verkehrs sollte sich doch wohl in einer Ver- legungen wie die Günter Verheugens, um besserung der öffentlichen Verkehrsmittel eine vernünftige demokratische Volks- auch im Sinne der Bezahlbarkeit wieder- herrschaft zu gestalten und nicht aus finden. Öffentliche Verkehrsmittel sind ein- Gleichgültigkeit einer versteckt-schlei- fach unverschämt teuer, basta! chenden Diktatur wieder Tür und Tor zu Köln Rolf Triloff öffnen. Auetal (Nieders.) Wolf-Dietrich Muswieck Wir sollten unsere Macht als Verbraucher nutzen und bündeln. Wenn wir europa- Im Mai verabschiedete die EU-Kommis- weit einen der großen Ölmultis aufs Korn sion auf Antrag von Herrn Verheugen eine nehmen und ihn konsequent bestreiken, umfangreiche „Kommunikationsstrategie“ werden wir sehen, wie schnell der „Riese“ zum Thema Erweiterung. Diese soll dem umkippt. Und wenn ein Riese kippt, stol- „Informationsbedarf abhelfen und Erwei- pern die anderen sehr bald hinterher! terungsängste zerstreuen“, Budget: 300 Gelsenkirchen Dieter Konrad Millionen Mark. Die Strategie knüpft an die Erfahrungen mit dem Euro an. Statt Da barmt doch tatsächlich ein Minister- Volksbefragung soll mit dem Geld der Bür- präsident um seinen ach so mobilen Ar- ger deren Meinung manipuliert werden. beitnehmer, der täglich von einem Eifel- Ein riesiger Propagandafeldzug wird uns dorf nach Mainz fahren muss. Mobil wäre die Einbeziehung von Bulgaren und Zyp- er, wenn er sein Häuschen verkaufte und rern, Türken und Rumänen in die EU als

12 der spiegel 39/2000 Briefe großen Vorteil für alle anpreisen. Vor zwei Jahren versprachen uns dieselben Leute, der Euro werde so hart und stabil wie die Mark. Wiesbaden Bruno Hake

Therapie für Neonazis Nr. 37/2000, Rechtsextreme: Chancen für NPD-Verbot; Interview mit dem Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem über Demonstrationsverbote für Rechtsradikale; Wie der brandenburgische Innenminister Schönbohm Opfer und Gegner von Neonazis schikaniert

Dass der Rechtsstaat so „stark gewor- den ist“, dass „er es sich leisten kann, seinen Schutzschirm über alle zu hal- ten“ (Hoffmann-Riem) – so etwas darf niemand nach den nicht abreißenden Gewalttaten der Rechtsradikalen behaup- ten. Das ist Demagogie. Es gab Tote, Herr Hoffmann-Riem! Wo war da Ihr „Schutz- schirm“? Und die Frage lautet doch: Wer soll eigentlich vor wem geschützt werden? Dettum (Nieders.) Ret Langmeier

Wieder einmal beweist sich hier: Der Fisch stinkt vom Kopfe. Die Untaten der Neonazis in Brandenburg finden also nicht nur die Zustimmung breiter Bevölke- rungskreise, sondern erfahren auch eine perfide Deckung ausgerechnet durch die, die eigentlich Abhilfe schaffen sol- len. Wenn Ihr Bericht zutrifft und die jüngsten Politikerappelle gegen den Neonazi-Terror keine Sonntagsreden ge- wesen sein sollen, darf es hier nur eine Konsequenz geben: den Innenminister austauschen. Wilhelmsdorf (Bad.-Württ.) Klaus Jerschkewitz

Fußballspielen als Bewegungstherapie für Neonazis. Nicht schlecht, denn als Mann- schaft hinter Menschen herrennen und ih- nen in die Knochen treten können sie ja schon. Es ist schon ein wegweisendes Zei- chen für die Zukunft, wenn Innenminister Schönbohm Neonazis mit Fußbällen be- lohnt und gleichzeitig Lichterketten gegen rechts ausbläst. Engelskirchen (Nrdrh.-Westf.) Peter Rötzel T. GRABKA / ACTION PRESS / ACTION GRABKA T. NPD-Demonstration (in Berlin) Schutzschirm für alle der spiegel 39/2000 13 Briefe

Fehlender Strick Nr. 37/2000, Todesursachen: Warum viele Mörder ungeschoren davonkommen; Interview mit dem Rechtsmediziner Bernd Brinkmann über vertuschte Mordfälle und die Schlamperei der Ermittler

Leider kann ich die von Professor Brink- mann geäußerten Vorwürfe, dass Ärzte von den Ermittlungsbehörden massiv unter Druck gesetzt wurden, nur bestätigen. Vie- le Jahre war ich in einem großen Land- kreis Notarzt. Hatte ich abends oder nachts nach einem Einsatz auf dem Leichen- schauschein angekreuzt „Todesursache nicht geklärt“, so konnte ich fest davon ausgehen, dass spätestens am nächsten Morgen die Kripo oder Staatsanwaltschaft telefonisch monierte, wie ich denn dazu käme. Schließlich hätte ich doch kein Mes-

W. SCHUERING / L. CHAPERON W. ser im Rücken oder einen Strick um den Sanitätssoldatinnen (bei der Grundausbildung): Angst unter den Männern Hals gefunden und damit keine sicheren Zeichen für einen unnatürlichen Tod. Der sondern zahlreiche Kasernen auf die Be- Druck auf die Ärzte wurde dann durch die Zeugnis der Armut dürfnisse von Soldatinnen umgestellt wer- schleswig-holsteinische Regierung noch er- Nr. 37/2000, Bundeswehr: Soldatinnen – den müssen. höht durch eine Änderung der Bestim- Alptraum der Militärs Hamburg Robert Körös mungen zur Leichenschau. Der Passus über nicht geklärten natürlichen oder un- Sie sind schon mehr als ein Armutszeugnis, Es gibt sicher gute Gründe, Frauen in natürlichen Tod wurde ersatzlos gestrichen, die Aussagen unserer ach so männlichen der Bundeswehr auch zum (freiwilligen) und der leichenschauende Kollege kann Landesverteidiger und Beschützer. Es Dienst an der Waffe zuzulassen. Solan- sich nun nur entscheiden zwischen „natür- scheint große Angst unter den Männern ge Art. 12a Abs. 4 Satz 2 des der Bundeswehr zu herrschen, dass Frau- Grundgesetzes nicht im Wege der en einmal mehr unter Beweis stellen, min- Verfassungsänderung nach Art. destens so erfolgreich wie Männer sein zu 79 GG geändert ist, ist es der können. Bundeswehr verfassungsgemäß Baldham (Bayern) Götz Klingenberg verboten, Frauen – freiwillig oder gegen ihren Willen – an der Waf- Wann wird sich das Verfassungsgericht mit fe einzusetzen. Die Entscheidung der Frage der Benachteiligung von Män- des Europäischen Gerichtshofs in nern auseinander setzen, die etliche Mo- Luxemburg vom 11. Januar 2000 nate ihres Lebens dem Militär oder dem Zi- (C 285/98) hat keine rechtliche vildienst zu opfern haben? Wo bleibt das Verbindlichkeit für die Bundes- soziale Pflichtjahr für alle? republik Deutschland. Darauf hat Finowfurt (Brandenburg) mit vollem Recht auch der Vor- Hartmut Ginnow-Merkert sitzende des Rechtsausschusses

des Bundestags, Rupert Scholz / ARGUM STOCKMEIER F. Dass der Bundeswehr ein „Geschlechter- (CDU), hingewiesen, mit dem ich Ärzte bei Obduktion: Massiv unter Druck krieg“ droht, ist übertrieben und schürt juristisch nicht häufig und poli- diesen eher. Wahrscheinlicher ist, dass der tisch fast nie übereinstimme. Aber: Wenn lichem“ und „unnatürlichem“ Tod. Diese Wehretat steigt, da nicht nur Offiziere und er Recht hat, dann hat er Recht. klare Differenzierung ist aber nur durch Mannschaften „verhaltenssicher“ gemacht, Hamburg Prof. Dr. jur. Claus Arndt eine Sektion durch einen Rechtsmediziner oder Pathologen möglich. Kiel Dr. Ralf W. Schmitz Chirurg VERANTWORTLICHER REDAKTEUR Falsche Frage dieser Ausgabe für Panorama, Deutsche Einheit, Vertreibung, Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit An- Rechtsextremismus, Grüne, Hochschulen: Dr. Gerhard Spörl; für Nr. 37/2000, Spendenaffäre: Wann stürzt Roland Koch? Hauptstadt, Affären, Justiz, Waffen, Rechtsmedizin, Abfall, Medi- schrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. kamente, Titelgeschichte (S. 118), Luftfahrt, Chronik: Ulrich Die E-Mail-Adresse lautet: [email protected] Schwarz; für Affären, Trends, Geld, Titelgeschichte (S. 114, S. 124 Jeder weiß vom Schmiergeld-Loch. Nur bis 127), Neuer Markt, Lufthansa, Internet, Reality-TV: Gabor Stein- gart; für Szene, Stars, Fernsehen, Dokumentationen, Zeitschrif- nicht Koch. Oder doch? ten, Theater, Literatur, Bestseller, Kunst: Dr. Mathias Schreiber; für Bad Vilbel-Heilsberg (Hessen) Günter Funcke Die Welt im 21. Jahrhundert: Jürgen Petermann; für Panorama Ausland, USA, Großbritannien, Frankreich, Norwegen, Russland, Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Europäische Union, Philippinen, Mexiko, Afrika, Ukraine, Europa, Wie lange sich Koch noch halten kann, fra- Postkartenbeihefter der Firma Hannoversche Leben, Han- Titelgeschichte (S. 120): Dr. Olaf Ihlau; für Prisma, Internet, Verkehr, nover, und des SPIEGEL-Verlag/Abo, Hamburg. In der Elektronik, Medizin: Olaf Stampf; für Deutsche Mannschaft, gen Sie? Wenn das mal nicht die falsche Schwimmen, Helden, AthletenFernsehen: Michael Wulzinger; für Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe befindet sich in einer die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register, Personali- Frage ist! Die richtige wäre: Wie haarsträu- Teilauflage ein Beihefter der Firma Peek & Cloppenburg, en, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: bend wird denn ein Skandal in Zukunft Düsseldorf. Eine Teilauflage enthält Beikleber der Firma Stefan Kiefer; für Layout: Wolfgang Busching; für Hausmitteilung: Clarks Shoes, Bingen. Der Gesamtauflage dieser SPIE- Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich sein müssen, damit er den politisch Ver- Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) GEL-Ausgabe liegt eine Beilage der Firma FAZ, Frankfurt TITELBILD: Illustration DER SPIEGEL antwortlichen zum Rücktritt zwingt? am Main, einer Teilauflage die Verlegerbeilage SPIEGEL- Maintal (Hessen) Alexander Kühn Verlag/kulturSPIEGEL, Hamburg, bei.

14 der spiegel 39/2000 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Deutschland DPA Einmarsch der deutschen Olympia-Mannschaft in Sydney

OLYMPIA Doping spaltet das deutsche Team eit stärker als bisher bekannt, belastet das Thema Doping

Wdie deutsche Olympia-Mannschaft in Sydney. Mehr als ein PRESS ACTION Drittel der 26 Trainer im Deutschen Leichtathletik-Verband Weitsprung-Trainer Tiedtke, Tochter Susen (DLV) sind Beschuldigte in Doping-Verfahren gewesen. Dazu zählen der Hürden-Coach Eberhard König, der Speerwurf- heute 29, mit Anabolika versorgt. Obwohl sie unter Neben- Fachmann Bernd Bierwisch und Mehrkampf-Trainer Klaus wirkungen litt, musste die Werferin weiter die Mittel schlucken. Baarck. Die Vorwürfe spalten die Mannschaft in Ost und Besonders brisant ist der Fall des Bundestrainers der Kugel- West – alle Betroffenen stammen aus der Ex-DDR. stoßerinnen, Klaus Schneider. Er wurde in der polizeilichen In dem ausgerechnet am Eröffnungstag veröffentlichten, noch Vernehmung von Kathrin Neimke, 34, beschuldigt, Pillen ver- nicht rechtskräftigen Urteil der Großen Strafkammer des Land- teilt und auf die Nebenwirkungen nicht hingewiesen zu haben. gerichts Berlin gegen die ehemaligen DDR-Sportführer Manfred Mit Schneider zusammen war Neimke noch bei den Spielen 1992 Ewald und Manfred Höppner, die wegen Beihilfe zur Körper- Dritte und 1996 Siebte geworden. verletzung im Juli zu 22 und 18 Monaten Haft verurteilt worden Einigen Betreuern gelang es indes, sich noch vor Sydney aus waren, werden einige der Trainer als Beispiele für Doping- der Affäre zu ziehen. Sie hatten durch Zahlung einer Geldbuße Sünder genannt. Der DLV hatte den Einsatz der Belasteten als eine Verurteilung vermieden. Auf diese Weise ist etwa auch das Olympia-Trainer für unbedenklich erklärt. Verfahren gegen Jürgen Tiedtke, der als Weitsprung-Coach Der Betreuer der Speerwurf-Medaillenhoffnung Tanja Damas- seiner Tochter Susen zum Olympia-Team zählt, mittlerweile ke, Lutz Kühl, hatte, wie es in der 72-seitigen Urteilsbegründung eingestellt worden. Gegen andere wurde das Verfahren wegen heißt, einst die Berliner Diskuswerferin Dörte Bornschein, Geringfügigkeit eingestellt.

CDU-FINANZAFFÄRE davon „keine Ahnung“ gehabt und sei von den Verschwörern um den lang- Verspäteter Kredit jährigen Schatzmeister Casimir Prinz Wittgenstein „hintergangen“ worden. as hessische Wahlprüfungsgericht, Als Beleg, dass er seinen Wahlkampf Ddas diese Woche in Wiesbaden tagt, sauber finanzieren wollte, nennt Koch ist neuen Ungereimtheiten bei der Fi- den „Kreditrahmen bei der Commerz- nanzierung des Wahlkampfs von Ro- bank“. Weil das Wahlprüfungsgericht land Koch auf der Spur. Der hessische bislang keinerlei Akten aus dem Ermitt- CDU-Landesvorsitzende und spätere lungsverfahren gegen Wittgenstein und

Ministerpräsident hatte am 23. Februar A. VARNHORN andere erhalten hat, wollen die Richter 1999 einen Kreditvertrag mit der Com- Koch im Landtagswahlkampf 1999 jetzt prüfen, ob die Blockade durch die merzbank-Filiale Wiesbaden/Rhein- Regierung den Tatbestand der „Beweis- straße über 2,5 Millionen Mark zur mensetzt, geht dem Verdacht nach, die vereitelung“ erfüllt. In diesem Fall „Vorfinanzierung von Wahlkampfkos- Wahl sei wegen der „sittenwidrigen“ könnten die Richter die Indizien, die ten“ – so der Kreditzweck laut Vertrag Schwarzgeld-Finanzierung ungültig. schon jetzt die CDU belasten, als wahr – abgeschlossen. Da lag die Wahl jedoch Nach CDU-Angaben sind zwar rund 1,4 unterstellen und die Wahl für ungültig bereits zwei Wochen zurück. Das Ge- Millionen Mark aus dem geheimen erklären. Nächste Instanz wäre der so richt, das sich aus zwei Berufsrichtern Schweizer Geldvorrat in die Kampagne genannte Staatsgerichtshof, das Verfas- und drei Landtagsabgeordneten zusam- eingeflossen. Koch sagt aber, er habe sungsgericht des Landes.

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SUBVENTIONSAFFÄRE Thüringer Delikatesse eue Indizien in der Thüringer „Pilz- NAffäre“ erhärten die Vorwürfe ge- gen die CDU-Landesregierung, sie habe die Ermittlungen massiv behindert. Das Bundeskriminalamt, die Staatsanwalt- schaft und zwei Richter wollten am 15. Juni Akten zu den Millionen-Subventio- nen für das CD-Werk des Unternehmers Pilz im Thüringer Wirtschaftsministe- rium und in der Staatskanzlei sicherstel-

len. Daraufhin rief Justizminister An- G. EGGENBERGER dreas Birkmann den Präsidenten des Haider, Audi-Allradfahrzeug Oberlandesgerichts Hans-Joachim Bauer an – angeblich nur, um diesen über die VOLKSWAGEN „Maßnahmen zu unterrichten“. Bauer, inzwischen mit CDU-Segen Chef des Landesverfassungsgerichts, hat aber in Gratis-Auto für Haider einem „Aide-mémoire-Vermerk“ festge- halten, dass er auf Birkmanns Anruf hin n Erklärungsnöte bringt die Vorliebe von Österreichs Rechtspopulisten Jörg Hai- dreimal den zuständigen Richter anrief. Ider für schnelle Autos und deutsche Wertarbeit den Volkswagen-Vorstand. Die Er empfahl den Richtern, der Staats- VW-Tochter Audi hatte dem international geächteten Landeshauptmann Kärntens kanzlei fernzubleiben. Bauer selbst einen Gratiswagen zur Verfügung gestellt. Hintergrund: Haider hatte sein altes weist im Vermerk auf die „mir bekannte Fahrzeug – einen BMW – abgegeben und wollte auf Audis Spitzenmodell umstei- ,Delikatesse‘ meines Verhaltens“ hin. gen. Für die vierwöchige Wartezeit bis zur Auslieferung der Nobellimousine stell- Der Richter beugte sich ihm. Bauer ver- ten die Ingolstädter dem Rechtsaußen gratis einen allradgetriebenen Wagen mit In- teidigt die Anrufe: Er habe nur „harmlo- golstädter Kennzeichen zur Verfügung. Als Haider mit der schnittigen Karosse in se Hintergedanken“ gehabt. eine Radarkontrolle geriet, flog der Freundschaftsdeal auf. Vergangene Woche Die Staatsanwaltschaft Erfurt hat Vorer- schickte VW eigens seinen Sprecher Klaus Kocks nach Wien, um die „politisch bri- mittlungen gegen Birkmann eingeleitet, sante Nummer“ zu bereinigen, so Kocks. Ergebnis: Der Gratiswagen ist zurück in da dieser das Wirtschafsministerium vor Deutschland. Haider fährt inzwischen seine Audi-Limousine, aber auf Staatskosten. der Durchsuchung gewarnt haben soll.

UNTERSUCHUNGSAUSSCHUSS Ströbele: Stimmt, sogar in der Verfas- kann sich selbst als Untersuchungskomi- sung. Aber der Kongress kann den Zeu- tee konstituieren. „Immunität für Zeugen“ gen Immunität zusichern. Das ist der SPIEGEL: Kenneth Starr, der das Ehepaar Schlüssel: Ohne Immunität läuft nichts, Clinton mit beinahe religiösem Eifer Der Grünen-Abgeordnete Hans- sagten uns Abgeordnete wie Ermittler. verfolgte, hat die Rolle des Sonder- Christian Ströbele, 61, über Das Aussageverweigerungsrecht muss ermittlers fast ad absurdum geführt. Ist Untersuchungsausschüsse in Deutsch- berücksichtigt werden. Und beinahe alle das ein Vorbild für Deutschland? land und den USA Untersuchungen verdankten ihren Er- Ströbele: Er war ein Beispiel zum Abge- folg solchen Zeugenaussagen. wöhnen. Starr hat uns gegenüber seine SPIEGEL: Sie sind mit Bundestagskolle- SPIEGEL: Vergangene Woche hat der Rolle auch sehr selbstkritisch geschil- gen in den USA, um zu recherchieren, Whitewater-Sonderermittler, der das Fi- dert. Unabhängige Sonderermittler wird wie der US-Kongress parlamentarische nanzgebaren der Clintons bei einem Im- es künftig in den USA nicht mehr ge- Untersuchungen durchführt. Was ist mobilienprojekt untersuchte, nach jahre- ben. Aber übertragbar für Deutschland übertragbar? langen Nachforschungen die Arbeit ab- ist ein Apparat, der die Arbeit der Aus- Ströbele: Direkt nichts, aber geschlossen. Zur Anklage schüsse unterstützt. Hier werden Er- wir können lernen, wie wird es demnach mangels mittlungen von Dutzenden Juristen ge- Zeugen zur Aussage ver- Beweisen nicht kommen. steuert, manchmal arbeiten Hunderte pflichtet werden können, Ströbele: Eine Erfolgsgaran- von FBI-Leuten mit. Davon können wir wenn sie sich nicht selbst tie gibt es nie. Aber der in Deutschland nur träumen. belasten wollen. Beim der- Kongress hat im Watergate- SPIEGEL: Sollte etwa die Kohl-Befragung zeitigen CDU-Spendenun- Abhörskandal sehr effektiv im CDU-Spendenausschuss live über- tersuchungsausschuss kom- gegen Präsident Richard tragen werden? men uns die Zeugen abhan- Nixon ermittelt, auch die Ströbele: In einzelnen Fällen könnte ich den. Ein Riesenproblem: Nachforschungen im Iran- mir vorstellen, dass Auftritte von Unter- Von vier berufen sich drei Kontra-Skandal waren ein suchungsausschüssen gesendet werden auf das Recht der Aussage- Erfolg. Obendrein gibt es in – aber nur mit Zustimmung der Betrof- verweigerung. den USA viel häufiger Un- fenen. Statt des Filters durch Journalis-

SPIEGEL: Das gibt es in den M. DARCHINGER tersuchungsausschüsse, je- ten bekäme die Bevölkerung damit ein USA aber auch. Ströbele der Parlamentsausschuss unverfälschtes Bild.

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KIRCHE man, „möglichst unbürokratisch und großzügig vorgehen“. Die katholischen Zwangsarbeiter gesucht Bischöfe schätzen die Zahl der noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter ie katholische Kirche will der staat- auf 200 bis 300. Nach ihnen wird jetzt Dlichen Stiftung zur Entschädigung vor allem in Osteuropa gefahndet. Bei von NS-Zwangsarbeitern zuvorkom- nach dem 15. Februar 1999 Verstorbe- men. Nachdem sie in der Vergangenheit nen erhalten Ehepartner oder Kinder wegen ihres verspäteten Eingeständnis- die Entschädigung. Bislang hat erst ses heftiger Kritik ausgesetzt war, ein Betroffener aus Kanada Ansprüche sollen schon im Oktober die ersten Ent- angemeldet. schädigungen an ihre ehemaligen Zwangsarbeiter ausgezahlt werden. Insgesamt stehen dafür fünf Millio- nen Mark zur Verfügung. Betroffe- ne „erhalten in der Regel eine ein- malige Leistung in Höhe von 5000 Mark“, im Einzelfall auch mehr – so die Vergaberichtlinien, die auf der Herbst-Vollversammlung der Bischöfe in Fulda in dieser Woche beschlossen werden. Die Gelder sollen ausschließlich über die ka- tholischen Hilfswerke Caritas und

Renovabis direkt an die Betroffe- BILDERDIENST ULLSTEIN nen verteilt werden. Dabei will Zwangsarbeiter (1944)

STEUERFAHNDUNG Neue Ermittlungen gegen Kiep ergangenen Donnerstag haben hessische Steuerfahnder die Villa des früheren VCDU-Bundesschatzmeisters Walther Leisler Kiep in Kronberg und dessen Büroräume in Frankfurt durchsucht. Grund: Die Frankfurter Staatsanwaltschaft hat gegen den Ex-Politiker ein neues Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung eingeleitet. Nach Ein- schätzung früherer Weg- gefährten gehen die Er- mittler der Frage nach, ob Kiep von der Auflö- sung einer CDU- Schwarzgeldquelle, der Liechtensteiner Stiftung „Norfolk“, finanziell profitiert habe. Von den auf einem Konto der Stiftung zu diesem Zeit- punkt noch vorhande- nen rund 1,5 Millionen Schweizer Franken soll Kiep rund 500000 Fran- ken erhalten haben. Entsprechende Angaben hatten der frühere CDU-Generalbevoll- mächtigte Uwe Lüthje und CDU-Finanzberater Horst Weyrauch ge- macht. Lüthje und Wey- rauch wollen sich die restliche Million geteilt haben. Kiep bestreitet

M. ZUCHT / DER SPIEGEL die Entgegennahme des Kiep Geldes.

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Am Rande Haarig Das wäre doch mal eine gewagte Schlag- zeile: „Sündenpfuhl in Suhl!“ Reimt sich schön, ist aber ein klarer Verstoß gegen das alte Journalisten- gesetz, mit Namen keine Späße zu treiben. Erst recht nicht mit Suhl, weil in Suhl neuer- dings jeder Verstoß gegen jedes Ge-

setz umgehend mit der Verhaftung K.-B. KARWASZ geahndet wird. Generäle (bei einer Tagung in Hamburg) Der anhängige Fall betrifft das ge- werbescheinpflichtige Haareschnei- BUNDESWEHR Deshalb hat die Heeresleitung erst die den bei Vollmond, also außerhalb der künftige Zahl der Generäle festgelegt und dann die Truppe in Divisionen ein- gesetzlichen Ladenöffnungszeiten. Generäle gerettet? geteilt. Sparvorschläge aus dem Ministe- Das ist zwar nicht nur in Suhl, ie angestrebte Verkleinerung des rium, die Divisionen künftig in Regi- Thüringen, ein Sündenfall, wird aber, Ddeutschen Heeres soll sich nach menter zu unterteilen, denen ein Oberst so weit bekannt, nur dort verfolgt, dem Wunsch der Heeresleitung nicht (Grundgehalt: 7759,38 Mark) vorstünde, weshalb die Friseurin Ilka Brückner nennenswert auf die Zahl der Generäle wurden verworfen, um keine Spitzen- nun im Gefängnis gesessen hat. auswirken. Während die Truppe nach jobs zu gefährden. Stattdessen soll es Mit haarigen Folgen: Schon schlimm den Reformplänen von Verteidigungs- bei der Einteilung in Brigaden bleiben, genug, dass Menschen in und um minister Rudolf Scharping (SPD) von die von einem Brigadegeneral (Grund- Suhl davon überzeugt sind, bei Voll- rund 230000 Mann um mehr als ein gehalt: 12969,24 Mark) kommandiert mond strömten die körpereigenen Viertel auf etwa 170000 Soldaten werden. Diese Woche will der Heeres- Giftstoffe in die Haarspitzen und schrumpfen soll, will der Führungskreis inspekteur sein Konzept Scharping vor- ließen sich dann schnipp, schnapp der Armee unter Vorsitz von Heeres- legen. Es sieht sieben Divisionen à zwei von Frau Brückner entsorgen. Viel inspekteur Helmut Willmann die Brigaden sowie einen zusätzlichen Stab schlimmer, dass dies der Stoff ist, aus Führungsposten (bisher knapp 110 Ge- vor, der wie die Divisionen von einem dem jetzt im deutschen Osten die neräle) „nur geringfügig“ abbauen. Zwei-Sterne-General befehligt wird. Helden gemacht werden. Als Doña Quijote von der Dauerwelle kämpft die Mondscheinfriseurin nun um ihr BERLIN-FLÜGE Recht auf Nachtarbeit. Schon fliegen Nachgefragt ihr die Herzen der Entrechteten und Billig mit dem Bund Vergifteten zu, schon hat der Justiz- Zufrieden mit Olympia minister Birkmann vor dieser Kohl- erkehrsminister Reinhard Klimmt haas mit Kamm und Schere kapitu- V(SPD) bietet Ost-West-Touristen ein liert und die vorzeitige Freilassung Rückflugticket zwischen Berlin und Halten Sie die Olympischen verfügt. Was kommt jetzt noch? Köln/Bonn für nur 160 Mark an. Grund Spiele in Sydney mit ca. 10 000 Werden ostdeutsche Metzger ihre für die Schnäppchen-Aktion: Der Bund Sportlern und 300 Disziplinen Schweine künftig nur noch beim hat jede Menge Restplätze in den für überdimensioniert? Suhlen schlachten, damit das Fleisch Beamten-Shuttles frei. Seit dem Umzug Gesamt Männer Frauen glücklicher schmeckt? Dürfen Ost- von Bonn in die Hauptstadt an der Es gibt zu viele Bauern ihre Rüben künftig vor Son- Spree hat die Bundesregierung für die Sportler und 19 24 15 nenaufgang ernten, damit sich das Pendler aus den Ministerien und Behör- Sportarten Gemüse beim Rausziehen nicht so den feste Kontingente bei Fluggesell- erschrickt? Und wächst daraus eine schaften gechartert. Doch die Zahl der Die Spiele haben 53 51 56 Sammlungsbewegung, eine Volks- Regierungsreisenden ist viel niedriger die richtige Größe partei, ein neues ostdeutsches Selbst- als erwartet. Um wenigstens einen Teil bewusstsein? Alles scheint jetzt mög- der millionenschweren Verluste auszu- Bei den nächsten Spielen sollte es lich, und deshalb ist die Frage ei- gleichen, werden jetzt die Restplätze für derzeit zehn Flüge von der Fluggesell- noch mehr Sportler 9 11 8 gentlich auch völlig nebensächlich: schaft Germania verramscht. Die Erlöse und Disziplinen geben Warum, Mondscheinfriseurin Ilka für die Bundeskasse erreichen nach An- Brückner, sind im Osten ausgerech- gaben des zuständigen Bundesamtes für Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 19. und 20. net die Kahlköpfe so vergiftet? Güterverkehr „monatlich bis zu sechs- September; rund 1000 Befragte; Angaben in Prozent; stellige Summen“. an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“ oder „ist mir egal“

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Werbeseite DPA Feier zur Wiedervereinigung vor dem Berliner Reichstag am 3. Oktober 1990: „Wer sollte denn da reden?“

DEUTSCHE EINHEIT Die Gräben brechen wieder auf Die Feierlichkeiten zum 3. Oktober geraten zur Neuauflage des Kalten Krieges. Während sich die CDU als Vereinigungspartei präsentiert, wehren sich die regierenden Sozialdemokraten gegen den Vorwurf, sie seien vaterlandslose Gesellen gewesen.

um zehnten Jahrestag der deutschen dies noch einige eingeübte Statusdiploma- ber 1989 beim Parteitag – an seinem 76. Ge- Einheit wird Willy wieder wichtig. ten im eigenen Land und in anderen Län- burtstag – hatten die meisten Genossen, je ZKlar wie kein anderer in seiner Par- dern aufscheuchen mag.“ So sprach Willy nach Gemütslage gütig oder grollend, den tei hatte er die Vereinigung West- und Ost- Brandt am 18. Dezember 1989. Kopf geschüttelt über die national-patrio- deutschlands vorausgesehen, kaum dass In diesen Tagen, da der ehemalige CDU- tische Erweckung des Alten. Nun werde die Mauer gefallen war. Ehrenvorsitzende Helmut Kohl das Mono- er wohl tüddelig, befand die jüngere Ge- „Die Einheit von unten wächst“, hatte er pol auf die Vereinigung für sich reklamiert, neration. den Delegierten seiner Partei zugerufen, erinnert sich die SPD dankbar an ihren Doch in diesen Tagen kommt den in „und sie wird weiter wachsen, auch wenn 1992 verstorbenen Altkanzler. Im Dezem- höchste Staatsämter aufgerückten Sozial-

Feiern zum Jahrestag 29. September Neustadt/Weinstraße, Berlin, Reichstag Hambacher Schloss 27./28. September Regierungserklärung von Kanzler Gerhard Schröder Festveranstaltung der FDP-Bundestagsfraktion Berlin, Tränenpalast zum zehnten Jahrestag der deutschen Kongress der Konrad-Adenauer-Stiftung Wiedervereinigung „Europa und die deutsche Einheit“ 1. Oktober Gäste: Hans-Dietrich Genscher, Referenten: Helmut Kohl, Jacques Delors, Berlin, Haus der Deutschen Wirtschaft Walter Scheel, Otto Graf Lambsdorff, Jean-Claude Juncker, Wladyslaw Barto- Festakt „Zehn Jahre CDU für ein Deutschland“ Wolfgang Mischnick, Wolfgang Gerhardt, szewski und andere Redner: Helmut Kohl, Angela Merkel Rainer Brüderle und andere

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demokraten ihr verstorbenes Vorbild zu- schwer vereinbar. SPD-General Franz menführen beider Deutschlands erbracht pass. Scharf und böse streiten die Parteien Müntefering meint: „Nach Einschnitten zu haben, eint die zerstrittene, program- vor dem Nationalfeiertag um ihren je- wie dem von 1989 hat es in der Geschich- matisch ausgezehrte Partei stärker denn je. weiligen Anteil an der deutschen Einheit te immer 20 bis 30 Jahre gedauert, bis sich „Wir sind die Partei der Einheit“, rief und ihren Eintrag im Geschichtsbuch. etwas Neues herausgebildet hat.“ CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz ver- Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) Für eine ehrliche Debatte über Ver- gangene Woche in Herford bei einem Partei- lieferte im Bundestag vorvergangene Wo- säumnisse, Irrtümer und Verdienste im Zu- forum vor 150 Zuhörern und erntete zum che den bisher giftigsten Höhepunkt: sammenhang mit der deutschen Einheit ist ersten Mal an diesem Abend Beifall. Mün- „Es gab vor zehn Jahren keinen maß- die Zeit wohl noch nicht reif. Wie stets in tefering wolle „die historischen Irrtümer geblichen Politiker der Sozialdemokra- Phasen des Umbruchs beschwören die Par- der SPD ebenso auf Null herunterreden wie tischen Partei Deutschlands, der die deut- teien ihre Herkunft: Die Union bekräftigt, unsere historischen Verdienste. Das werden sche Einheit wirklich gewollt wir nicht durchgehen lassen.“ hat, keinen!“ Dass die SPD keine Feier zum An Brandt hatte Merz offen- 3. Oktober mache, sei kein Wun- kundig nicht gedacht. Mit trä- der: „Wer sollte denn da reden?“ nenerstickter Stimme wies Bun- Genauer sehen die Christde- desfinanzminister Hans Eichel mokraten lieber nicht hin. Das (SPD) die „Flegelei ohneglei- ist auch besser: Ihre Helden von chen“ zurück. Er sei sofort nach 1990 – neben Kohl auch Wolf- dem Fall der Mauer nach Her- gang Schäuble, Ex-Minister leshausen an die Grenze gefah- Günther Krause und Ex-DDR- ren, um die kilometerlange Ministerpräsident Lothar de Schlange von Trabis und Wart- Maizière – beschimpfen sich ge- burgs anzuschauen. Merz ma- genseitig. Drei von ihnen schlu- che es ihm „schwer, mit Ihnen gen sich zuletzt mit Staatsan- zusammen am 3. Oktober dieses wälten und Gerichten herum. Jahres eine gemeinsame Feier Da Schäuble sich weigert, mit zu begehen“. Und SPD-Chef Kohl zu reden, beraumte die Gerhard Schröder attackierte CDU-Vorsitzende Angela Mer- die Unionsparteien, kalte Ver- kel bereits Ende August eigens

achtung im Blick, bei einer Ver- M. URBAN eine Einheits-Veranstaltung für anstaltung zu Ehren Brandts als Kanzler Schröder*: Im Osten geläutert Schäuble an. Bei der rühmte sie „erbärmliche Gesellschaft“. den kurzzeitigen Kohl-Nachfol- Der Eklat im Bundestag war freilich nur sie halte die Werte des Westens hoch; die ger als „Architekten der Einheit“, während der Anfang. Diese und kommende Woche SPD wehrt sich – wie seit 130 Jahren – ge- Kohl die Dinge 1990 lediglich „koordiniert“ wird landauf, landab beim Gedenken an gen den Vorwurf mangelnder nationaler habe. Auch de Maizière zieht es vor, mit die Einheit der Streit um die Geschichts- Zuverlässigkeit. dem „Kanzler der Einheit“ keinen Kon- politik neu belebt. Plötzlich brechen ideo- Den Wettbewerb eröffnet Helmut Kohl. takt zu pflegen. logische Gräben zwischen Bürgerlichen Weil er am offiziellen Staatsakt am 3. Ok- In der Attitüde der Regierungspartei will und Sozialdemokraten wieder auf, die mit tober in Dresden nicht reden darf, erhält die Schröder-SPD hingegen vergessen ma- dem Pulverdampf des Kalten Kriegs ver- der Kanzler der Einheit seine eigene Feier chen, dass sich die meisten Genossen für schwunden schienen. Während die politi- am Sonntag in Berlin. Am Freitag im Bun- den Osten sehr lange nicht sonderlich in- sche Klasse sich in der Praxis immer we- destag wird Kanzler Schröder die staats- teressierten. Der niedersächsische Minis- niger voneinander unterscheidet, präsen- tragende Bilanz der Einheit ziehen. Zum terpräsident Schröder hatte den Staatsver- tiert sie sich ausgerechnet beim Gedenken gemeinsamen Schlusspunkt am 3. Oktober trag zur Wirtschafts- und Währungsunion an die Einheit völlig uneins. in der Semperoper führt die Politiker 1990 auf Weisung seines damaligen Vor- Hinter dem kleinkarierten Parteienge- höchstens die vage Erinnerung an Be- bilds Oskar Lafontaine im Bundesrat ab- zänk steckt die Verunsicherung über die ei- nimmregeln und der Respekt vor auslän- gelehnt. Erst jüngst im Parlament outete gene Zukunft. Je größer der Abstand zum dischen Gästen wie Frankreichs Staatsprä- sich Schröder aus Versehen wieder als Wes- Einheitsjahr 1990 wird, desto klarer tritt sident Jacques Chirac zusammen. si. Er bedauerte, die Wirtschaft wachse im die tiefe geschichtliche Zäsur zu Tage, die Aus Sicht der neuen CDU-Führung ist Osten noch nicht so „wie bei uns“ – und sich mit der Vereinigung Deutschlands und der 3. Oktober ein willkommener Anlass, meinte natürlich den Westen. dem Zusammenwachsen Europas verbin- von der tristen Gegenwart abzulenken. Der Seit seiner zweiwöchigen Inspektions- det. Die Maßstäbe der westdeutschen Stolz, den wesentlichen Anteil am Zusam- reise durch die neuen Länder kehrt der Nachkriegsära taugen immer weniger, neue Kanzler freilich den geläuterten Gesamt- Ziele sind mit den alten Gewissheiten * Am 13. September in Schwerin. deutschen heraus. Selbst ein Skeptiker wie

Berlin Halle 3. Oktober „Zehn Jahre danach – Berlin feiert“ Konzerthalle „Ulrichskirche“ Dresden Mit einem dreitägigen Volksfest begeht Berlin auf Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher tritt im Semperoper zahlreichen Bühnen (Unter den Linden/Pariser Rahmen einer Feierstunde auf. Zentrale Einheitsfeier Platz/Reichstagsgebäude/Brandenburger Tor) den Mödlareuth Hauptredner: Jacques Chirac; Gäste: Johannes Jahrestag der Einheit. Musiker und Künstler aus In dem ehemals geteilten Dorf an der Rau, Gerhard Schröder, Kurt Biedenkopf, Angela Ost und West treten auf, Zeitzeugen (Hans- thüringisch-bayerischen Grenze („Little Berlin“) Merkel, Wolfgang Gerhardt, Renate Künast, Fritz Dietrich Genscher, Lothar de Maizière, Richard feiert die CDU mit Edmund Stoiber (CSU) und Kuhn und andere Schröder) treffen sich in einer Talkshow. Bernhard Vogel (CDU).

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wären.“ Unter Lafontaine freilich, so der Historiker Heinrich August Winkler, der den Sozialdemokraten nahe steht, hätte es die Einheit 1990 wohl nicht gegeben. In der „janusköpfigen SPD“ des Einheitsjahrs habe der „postnationale“ Lafontaine die jüngeren westdeutschen, der patriotische Brandt die älteren und ostdeutschen Sozi- aldemokraten vertreten, analysiert Winkler. Wenn er wieder vereinigt werden wolle, dann höchstens mit Frankreich, tönte der Saarländer Lafontaine im kleinen Kreis. In Potsdam, bei einem Treffen von SPD-Funk- tionären, schleuderte ihm 1990 ein Genos- se aus Brandenburg wüste Beschimpfungen entgegen. Niemand im Raum erhob hefti- gen Widerspruch. Statt der nationalen Einheit am 3. Ok- tober feierte die SPD 1999, zehn Jahre nach Gründung der Ost-SPD, lieber den Frei-

DPA heitsgedanken. Hier haben sich die Sozial- Kanzler Kohl*: Den Strom der Geschichte beschleunigt demokraten wenig vorzuwerfen, höchs- tens, dass sie zu lange auf die mutmaßli- der sachsen-anhaltinische Ministerpräsi- den Holocaust. Politisch unkorrekt vor chen Reformkräfte in der SED setzten. dent Reinhard Höppner (SPD) meint re- „dem Ausland“ handelte bereits, wer als Zu den Mythen der Geschichte gehört, spektvoll: „Der hat was gelernt.“ Sein Fußball-Nationalspieler zur deutschen dass die Union unter Führung Helmut Brandenburger Amtskollege Manfred Stol- Hymne die Lippen bewegte. Kohls die Wiedervereinigung vorausgese- pe erklärt: „Der Schröder traf auf Leute, „Die soziale Frage steht über der natio- hen habe. Als der DDR-Devisenbeschaf- die ihm gesagt haben, dass sie was geschafft nalen Frage“, beharrte SPD-Kanzlerkan- fer Alexander Schalck-Golodkowski die haben. Das waren nicht mehr die Jammer- didat Lafontaine im Einheitsjahr 1990 in faktische Zahlungsunfähigkeit des Arbei- Ossis. Das hat ihn beeindruckt.“ völliger Verkennung der Stimmung. Der ter-und-Bauern-Staats eingestand, setzte Schröder auf dem Weg zum Einheits- Nationalstaat, so Lafontaine, müsse durch Bonn aber keineswegs auf ein rasches Ende kanzler? Fest steht, dass ihn die zweijähri- europäische Integration aufgehoben und des Ost-Berliner Regimes. Beide Seiten ge Regierungsverantwortung im Bund, ge- politisches Handeln „an universalistischen vereinbarten 1988 neue Zehn-Jahres-Ver- nauso wie viele andere rot-grüne Politiker, Kriterien“ ausgerichtet werden. träge mit höheren Transferzahlungen. dramatisch verändert hat. Nach den Stu- Kohl tat beides – er erkaufte die Zu- Der bayerische Ministerpräsident Max dentenunruhen von 1968 hatten sie ihr stimmung zur deutschen Einheit in Frank- Streibl (CSU) verkündete noch im Oktober politisches Engagement im Konflikt mit der reich gegen die Zusicherung der europäi- 1989, er halte nichts davon, wenn man Staatsgewalt begonnen. schen Einigung, inklusive der Einführung „Wiedervereinigungsdebatten“ anfange, Im Jahr 2000 besetzen die die „uns im Westen und im Regierungs-Linken nicht nur Osten in Schwierigkeiten brin- die höchsten Ämter des Staa- gen: Jeder solle in seinem tes, sondern identifizieren Block bleiben, die DDR drü- sich auch mit ihnen. Bun- ben und wir hier“. desinnenminister Otto Schi- Es waren ausländische Be- ly (SPD), der sich einst als obachter, die über ein schär- Grüner bei Sitzblockaden ge- feres Auge verfügten. Der gen Atomraketen von der polnische Schriftsteller Adam Straße tragen ließ, droht heu- Schaff erklärte Lafontaine im te Lkw-Fahrern mit dem Frühsommer 1989 in einem Bundesgrenzschutz, noch Madrider Hotel, die deutsche bevor die Blockade begon- Frage werde bald das wich-

nen hat. Mittlerweile begin- X / STUDIO PIEL / GAMMA P. tigste Thema sein, denn die nen Schröder, Joschka Fi- Ex-Kanzler Brandt*: „Die Einheit von unten wächst“ Wiedervereinigung stehe vor scher und Schily sogar, sich der Tür. Der SPD-Mann be- mit Begriffen wie Heimat und National- des Euro. Kohl beschleunigte den Strom schied die Prophezeiung mit ungläubigem stolz auszusöhnen. der Geschichte, statt wie viele westdeut- Blick – und befand sich in bester Gesell- Drei Jahrzehnte hatten sie jeden An- sche Sozialdemokraten sich dagegen zu schaft: Ausgerechnet in Polen, bei einem klang daran leidenschaftlich als konser- stemmen. Berlins damals Regierender Bür- Besuch in Warschau, wurde am 9. No- vative Verirrung bekämpft. „Nie wieder germeister Walter Momper (SPD) behaup- vember 1989 auch Kanzler Kohl vom Fall Nationalismus“ lautete die Lehre der 68er- tete, es gehe nur um ein „Wiedersehen“ der Mauer überrascht. Bewegung aus den Verbrechen, die Deut- der Deutschen in Ost und West. „Wir wa- Dass die Union so tue, als habe sie da- sche in zwei von ihnen angezettelten Welt- ren die wahren Enkel Adenauers, wir wa- mals ein Konzept für die Wiedervereini- kriegen begingen. Die Teilung Deutsch- ren allesamt rheinische Separatisten“, gung gehabt – dies habe ihn im Bundestag lands verstanden sie als gerechte Strafe für räumt Finanzminister Eichel ein. so wütend gemacht, erklärt Sozialdemo- Dennoch beharrt er: „Als wenn die krat Eichel: „Nichts hatten sie, die waren * Oben: mit Hans-Dietrich Genscher, Hannelore Kohl und Wiedervereinigung nicht gekommen wä- genauso getrieben wie wir.“ Richard von Weizsäcker bei der Feier zur deutschen Wie- Stefan Berg, Ulrich Deupmann, dervereinigung am 3. Oktober 1990 in Berlin; unten: am re, wenn Willy Brandt, Helmut Schmidt Tina Hildebrandt, Christian Reiermann 25. Februar 1990 in Leipzig. oder Hans-Jochen Vogel Kanzler gewesen

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AFFÄREN „Vermutlich bewaffnet“ Die Flucht des Ludwig-Holger Pfahls erscheint immer abenteuerlicher: Der einstige Staatssekretär und Geheimdienstchef spielt nicht nur in der Affäre um Panzerlieferungen eine Rolle, sondern auch im Fall Leuna. Pfahls soll über sechs Millionen Mark kassiert haben – doch wofür?

as Jahr 1999 schien für Ludwig-Hol- Leuna-Raffinerie und damit bei der Frage, lungen, über die „Le Monde“ vergangene ger Pfahls ein besonders erfolgrei- ob die Politik unter dem einstigen Kanzler Woche berichtete, legen jedoch nahe, dass Dches zu werden. Sein Arbeitgeber Helmut Kohl käuflich war. der deutsche Lobbyist Holzer zwischen DaimlerChrysler hatte dem für das Ge- Der Raffinerie-Käufer Elf Aquitaine hat- 1992 und 1994 rund sechs Millionen Mark schäft in Südostasien verantwortlichen Ma- te rund 80 Millionen Mark „Beraterhono- über Konten panamaischer Firmen an Ex- nager ein „Ziel-Jahreseinkommen“ von rar“ an zwei „Lobbyisten“, den Franzosen Staatssekretär Pfahls überwiesen habe. rund 650000 Mark zugesagt. Der Vorstand Pierre Léthier und den Deutschen Dieter Bislang hatte Lobbyist Holzer die Auf- stellte Pfahls, wie er ihm „privat and Holzer, gezahlt. Schnell kamen in Frank- gabe des Ex-Staatssekretärs Pfahls bei dem strictly confidential“ schrieb, zusätzlich reich Gerüchte auf, ein Teil des Geldes sei Leuna-Deal eher heruntergespielt. Der eine Tantieme und Erfolgsbeteiligung von weitergeflossen in die Kassen der CDU. habe bei den Verhandlungen „keinerlei weiteren 227500 Mark in Aussicht. Léthier und Holzer bestritten stets, dass Rolle“ gespielt außer bei der Organisation Tatsächlich wurde das Jahr 1999 dann sie Geld an die CDU oder Politiker der da- eines Treffens im Kanzleramt, sagte Holzer. auch ein ganz besonderes für Pfahls, aller- mals regierenden Koalition als Belohnung Tatsächlich schickte Pfahls seinem dings in ganz anderem Sinne. Der einstige für den Leuna-Verkauf weitergereicht hät- Freund Holzer am 23. November 1992 eine Spezi von Franz Josef Strauss, der vor ten. Schweizer und Luxemburger Ermitt- Rechnung, die auf eine eher kleine Dienst- seinem Spitzenjob bei DaimlerChrysler bereits Karriere als Verfassungsschutzprä- sident und Staatssekretär im Verteidi- gungsministerium gemacht hatte, wurde zu einem der meistgesuchten Deutschen. Heute hängt sein Steckbrief in Hunder- ten Polizeirevieren, für das Zielfahn- dungsreferat ZD 14 des Bundeskriminal- amtes (BKA) hat der Fall 91/99 absolute Priorität. Und der Bundesnachrichten- dienst fragt schon mal diskret bei den Part- nerdiensten in aller Welt an, ob sie mit ei- nem Tipp aushelfen könnten. Es gibt viele Spuren, einige führen nach Europa. Pfahls könnte nach Erkenntnissen der Ermittler in London und Zürich gewe- sen sein. Aber sicher ist das alles nicht, noch führte keine Spur zum Erfolg. Immerhin scheint jetzt eines der Rätsel um den Mann, dem wie kaum einem an- deren in Deutschland eine große Karriere sowohl in der Politik als auch in der Wirt- schaft gelang, gelöst: Warum nur ist Pfahls, dem die Augsburger Staatsanwaltschaft die Annahme von 3,8 Millionen Mark Schwarz- geld vom bayerischen Geschäftsmann Karl- heinz Schreiber im Zusammenhang mit Panzerexporten nach Saudi-Arabien vor- wirft, untergetaucht? Hätte Pfahls das Ver- fahren mit Hilfe guter Anwälte nicht locker durchstehen können? War die Flucht des einstigen Geheimdienstchefs eine Panik- reaktion, oder fürchtete er weitere Ermitt- lungen und Enthüllungen? Letzteres ist offenbar der Fall. Pfahls soll nicht nur in der Affäre um den Export der Panzer eine Rolle spielen, sondern auch in

dem Skandal um die Privatisierung der A. BECHER

Konzernzentrale von Elf Aquitaine (in Paris) Rund 80 Millionen Mark „Beraterhonorar“ 26 leistung hinweist. Pfahls forder- Wahre Hilfe von den Emp- te „für rechtliche Beratung im fängern erwartete Pfahls an- Zusammenhang mit der Frage scheinend nicht. Hilfreich war der Durchführung von Investi- eher schon die Familie Holzer. tionsvorhaben der Firma Elf Nachdem Sohn Nikolaus ihn im Aquitaine in den neuen Bun- Krankenhaus umsorgt hatte, be- desländern“ eine Summe von gleitete Vater Holzer den mit „5000,- DEM + 14 % MWSt“. Haftbefehl Gesuchten am 3. Juli Pfahls war zuvor der Gast- 1999 auf dem ersten Teil der Rei- geber eines Treffens des Elf-Ver- se, dem Flug CX 451 von Taipeh handlungsführers mit seinen nach Hongkong. Lobbyisten Léthier und Holzer Die Ermittler glaubten zu die- am 18. April 1992. Und im Juli sem Zeitpunkt noch, dass sich 1992 begleitete Pfahls den dama- Pfahls wie versprochen in die ligen Elf-Chef Le Floch zu einem nächste Maschine nach Europa Treffen ins Bundeskanzleramt. setzen und stellen würde. Doch Nachdem der Raffinerie-Deal im Transitbereich des Flugha- abgeschlossen war, wurden dem fens Hongkong warteten, wie Elf-Lobbyisten Holzer am 3. Fe- Holzer später der Augsburger bruar 1993 über Liechtenstein Staatsanwaltschaft schilderte, 152 Millionen Francs „Erfolgs- „zwei Personen“ auf Pfahls, die honorar“ überwiesen. Sechs er für „Hongkonger Beamte“ Wochen später durfte sich Pfahls gehalten habe. Die drei seien den Ermittlungen der Schweizer dann gemeinsam weggegangen. Justiz zufolge über einen Millio- Die Hongkonger Behörden nen-Segen durch seinen alten wollen von einem solchen Tref- Freund freuen. So sollen am 18. fen nichts wissen. Indizien spre- März 1993 3,6 Millionen Mark chen auch dafür, dass der Auf-

auf das Konto der Sildon Enter- DPA enthalt in Hongkong schon nach prises bei der Banque Interna- Kanzler Kohl*: „Großen Wert auf Distanz zu Pfahls gelegt“ knapp zwei Stunden beendet tional du Luxembourg (BIL) war. In Taipeh hatte Pfahls ein überwiesen worden sein. Am nächsten Tag riere-Politiker inzwischen nichts mehr zu Ticket unter dem Namen „Mr. Falls“ bei seien weitere 1,5 Millionen Mark auf ein tun haben. Sie schloss Pfahls aus der Par- der Fluglinie Cathay Pacific für die Strecke Konto der BIL gefolgt, diesmal zu Gunsten tei aus – weil der Flüchtige seine Mit- Hongkong–London–München gekauft. Auf der Folden Properties. Hinter beiden pana- gliedsbeiträge nicht überwiesen hatte. dieser Strecke flog Pfahls alias Falls aller- maischen Firmen vermuten die Ermittler Ansonsten hatte der Geheimdienstchef dings nie. Stattdessen reiste er offenbar am Pfahls. Insgesamt sollen ihm mindestens a. D. seine Flucht offenbar gründlich vor- selben Abend um 23.25 Uhr mit der Virgin sechs Millionen Mark zugekommen sein. bereitet. Zeit dazu hatte er in einem tristen Atlantic nach London. Auf der Passagier- Ermittler folgen sogar Hinweisen auf bis zu Krankenzimmer in Taiwans Hauptstadt liste von Flug VS 201 ist „Mr. Falls“ ver- zehn Millionen Mark. Taipeh, in dem er sich laut Arztbericht mit zeichnet. Doch für welche Leistungen könnte „Schwindelgefühlen und Taubheit der Für diese Reise nach Europa spricht aus Pfahls die Millionen bekommen haben, rechten Gliedmaßen“ angemeldet hatte. Sicht der Fahnder ein weiteres Indiz. Am etwa für die beiden Treffen? Hat er das Besuchen durfte ihn, neben seiner Frau, 4. Juli wurde um 5.53 Uhr von Pfahls’ Geld behalten oder weitergereicht? Und vor allem ein Vertrauter: Nikolaus Holzer, Motorola-Handy im Londoner Vodafone- wenn ja, war der Empfänger die Union? der Sohn seines Freundes Dieter Holzer. Mobilfunknetz telefoniert. Die CSU, jahrzehntelang Pfahls’ politi- Pfahls hatte Holzer junior bei Daimler- Pfahls-Freund Holzer dementiert, ir- sche Heimat, will mit dem einstigen Kar- Benz in Singapur als Assistenten einge- gendetwas mit dem spurlosen Verschwin- stellt, der sich vor allem um seine den zu tun zu haben. Seit dem seltsamen persönliche Betreuung kümmer- Abschied auf dem Flughafen in Hongkong te. Bei seinen Besuchen im Kran- will er nichts mehr von Pfahls gehört ha- kenhaus wollte Holzer junior ben. Auch ob der überhaupt noch lebt, will möglichst nicht erkannt werden er nicht wissen: „Ich kann es nicht sagen.“ und tarnte sich einmal gar mit An so viel Ahnungslosigkeit wollen BKA filmreifer Verkleidung: Holzer zog und Justiz nicht glauben. Der Augsburger sich einen Arztkittel über und ver- Staatsanwalt Winfried Maier überlegte zeit- steckte das Gesicht hinter einem weise, Holzer und seine Söhne in Unter- Mundschutz. suchungshaft zu nehmen. Am 21. Dezem- Der Patient Pfahls war häufig ber 1999 sprach Maier bei seinem Behör- aufgebracht wegen des Haftbe- denleiter Reinhard Nemetz vor. Vater Hol- fehls aus Deutschland. Alle hät- zer und seine Söhne Nikolaus und Alfred ten doch gewusst, was er gemacht kämen laut Mitteilung des Bundeskrimi- habe. Pfahls schrieb deshalb ein nalamtes „als Fluchthelfer für den Be- halbes Dutzend Briefe, in denen schuldigten Pfahls in Betracht“. Maier for- er sich über den Haftbefehl be- derte, die Einleitung eines Ermittlungsver- schwerte – einer soll auch an Hel- fahrens wegen Strafvereitelung zu prüfen, mut Kohl gegangen sein. ebenso eine mögliche Verhaftung der drei wegen Verdunklungsgefahr.

JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO + EUROPA JÜRGENS OST * Beim ersten Spatenstich für die Leuna- Aber es passierte nichts. Stattdessen Strauss, Pfahls (r., 1984): Ausschluss aus der CSU Raffinerie am 25. Mai 1994. machte Nemetz am 17. Januar dieses Jah-

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res aktenkundig, er wisse nicht, welche Verdachtsmomente das sein sollten. Sechs Wochen zuvor hatte Nemetz selbst notiert, es bestehe der Verdacht, dass sowohl Die- „Kriminell erworbene Gelder“ ter Holzer als auch seine Söhne Nikolaus und Alfred für den Beschuldigten Pfahls Schweizer Fahnder gehen jetzt auch dem Verdacht „als Fluchthelfer agierten“. der Geldwäsche gegen den Elf-Lobbyisten Dieter Holzer nach. Auftrieb dürften die neuen Erkenntnis- se über Pfahls und die Millionen-Zah- er Genfer Untersuchungsrich- Doch die Augsburger Staatsanwälte lungen an panamaische Firmen jetzt dem ter Paul Perraudin ist Dieter forderten im Januar erst mal eine wei- Parteispenden-Untersuchungsausschuss ge- DHolzer schon lange auf der tere Präzisierung. Bereits eine Woche ben. SPD und Grüne werden wissen wol- Spur. Jetzt folgt Perraudin einem Ver- später formulierte Perraudin unmiss- len, ob der Staatssekretär a. D. die Mil- dacht, der über die Leuna-Affäre hin- verständlich den Verdacht der Geldwä- lionen für sich behalten hat oder ob er ausweist: Holzers Liechtensteiner Fir- sche gegen Holzers ma Delta International Establishment Firma und bat die könnte als Geldwaschanlage gedient Kollegen um Amts- haben. hilfe: „In Bezug auf „Die Ermittlungen haben den Ver- Herrn Dieter Holzer dacht ergeben“, so Perraudin in ei- würden Sie mir ei- nem Schreiben vom 27. Januar dieses nen Gefallen tun, in- Jahres an die Staatsanwaltschaft Augs- dem Sie polizeiliche burg, das dem SPIEGEL vorliegt, dass Vorermittlungen sei- die Delta International „im Zentrum ne Person betreffend eines Systems zur Weiterverteilung aufnehmen würden, kriminell erworbener Gelder“ stehen die ein Strafregis- könnte. Die Holzer-Firma habe „über ter sowie eine Be- ein Netz von Konten insbesondere in schreibung seiner fi- der Schweiz und Luxemburg in den nanziellen als auch vergangenen Jahren mehr als 200 Mil- beruflichen Aktivitä- lionen Schweizer Franken bewegt“. ten beinhalten.“ Dem

Auf die Spur war Perraudin ge- Wunsch wurde bis DPA stoßen, als er dem Weg von 161 Millio- heute nicht nachge- Finanzoase Liechtenstein: Heimat der Geldwaschanlage? nen französischen Francs folgte, die Elf kommen. an die Holzer-Firma für Vermittlung Das Schreiben zeigt offen das Miss- anderen als Strohmann diente. Diese Spur beim Leuna-Deal zahlte. trauen des Schweizer Untersuchungs- könnte einen konkreten Hinweis für die Doch während die Leuna-Affäre Er- richters gegenüber der deutschen Jus- Behauptung liefern, unter Kanzler Kohl mittler in Frankreich, Liechtenstein, tiz in diesem Fall: „Um jegliches Risiko seien Regierungsentscheidungen käuflich Luxemburg und in der Schweiz be- von Durchstechereien zu vermeiden – gewesen. schäftigt, hält sich das Interesse deut- was die Personen angeht, die Zu- Die meisten, die mit Pfahls zu tun hatten, scher Staatsanwälte in Grenzen. Per- gang zu dem Rechtshilfeverfahren in mühen sich inzwischen um möglichst raudin fürchtet gar, dass Details sei- Deutschland haben – ist es mir üb- großen Abstand. Mitunter wirkt es fast so, ner Ermittlungsergebnis- rigens nicht möglich, im als hätte keiner den einstigen Staatssekretär se, wenn er sie in einem Einzelnen die im Schwei- gekannt. Altkanzler Kohl behauptete vor Rechtshilfeersuchen den zer Verfahren inkriminier- dem Parteispenden-Untersuchungsaus- Deutschen mitteilt, nicht ten Geldflüsse zu be- schuss: Pfahls sei in seiner Zeit als Staats- geheim bleiben. schreiben.“ Nicht einmal sekretär niemand gewesen, „der sozusagen Am 10. August vergan- die Vernehmungsprotokol- bei mir ein und aus ging“. Im Gegenteil, er genen Jahres schickten die le, „speziell von Dieter habe „großen Wert auf eine Distanz zu Augsburger Staatsanwälte Holzer und Pierre Lé- Herrn Pfahls gelegt“. ein Rechtshilfeersuchen thier“, stellte er den Kol- Möglicherweise ist der Flüchtige gar an den Genfer Kollegen legen zur Verfügung. nicht mehr so weit entfernt von jenen, die Perraudin. Der antworte- Die letzten Monate wa- Wert auf Distanz legen. Pfahls war auf sei- te, dass er bei den Leu- ren nicht dazu angetan, ner Flucht offenbar nicht nur in London, na-Geldern wegen des Perraudins Vorbehalte ab- sondern auch in der Schweiz. Dort stießen Verdachts auf „Betrug, zubauen. Denn sein Schrei- die Fahnder auf das Pfahls-Konto 471500 Urkundenfälschung und ben scheint keinen Ein- bei der Bank Von Ernst in Zürich. Es wur- Geldwäscherei“ ermittle druck hinterlassen zu ha- de am 9. November 1999 geschlossen – vier

und dass Holzer mögli- EINBERGER / ARGUM T. ben. Seit Monaten wird die Monate nach Beginn der Flucht. cherweise für einem Teil Geschäftsmann Holzer Akte Leuna in Deutschland Die Ermittler gehen sogar davon aus, des Geldes nur als Stroh- „Netz von Konten“ von Staatsanwaltschaft zu dass der frühere Verfassungsschutzprä- mann „der wirklich An- Staatsanwaltschaft gescho- sident eine Pistole bei sich trägt. Das spruchsberechtigten“ fungiert haben ben – und immer winken die Ermittler Zollkriminalamt in Köln schickte an die könnte. Zugleich bat Perraudin die ab. Derzeit prüft die Saarbrücker Staats- Dienststellen den zentralen Hinweis, der deutschen Kollegen um Unterlagen anwaltschaft, ob sie eine Geldwä- Gesuchte sei „vermutlich bewaffnet“. Die zur Leuna-Affäre aus ihrem Ermitt- scheermittlung gegen Holzer eröffnen Beamten von Polizei und Zoll sollten ihre lungsverfahren. soll. Markus Dettmer „Eigensicherung beachten“. Markus Dettmer, Dietmar Hawranek, Wolfgang Krach, Georg Mascolo

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Werbeseite MELDEPRESS Rotes Rathaus in Berlin Versuchsfeld für neue Bündnisse

burger Straße schon zu ihm gesagt: „Herr Gysi, wenn Sie Regierender Bürgermeister sind, muss diese Ampel weg.“ Die Gedankenspiele des Zampanos pas- sen in die Pläne der PDS-Strategen im Karl-Liebknecht-Haus, dem Hauptquartier

ARIS der Partei. Nach Sachsen-Anhalt und PDS-Politiker Gysi: Gedankenspiele eines Zampanos Mecklenburg-Vorpommern, wo PDS und SPD bereits kooperieren, haben sie Berlin zum Experimentierfeld erklärt. „Die Haupt- HAUPTSTADT stadt“, glaubt Bundesgeschäftsführer Diet- mar Bartsch, „ist der Schlüssel zur West- Ausdehnung der PDS.“ „Den kalten Krieg beenden“ Schon vor Monaten hatte Gysi als neue Losung für den Kampf um Berlin ausgege- Berlins politische Szene gerät in Bewegung. Die SPD ben: „Wir müssen den kalten Krieg been- den.“ Mit gutem Beispiel ging er selbst vor- liebäugelt mit dem Bruch der Großen Koalition, an und diskutierte öffentlich mit dem West- PDS-Vormann Gysi mit einer Kandidatur fürs Bürgermeisteramt. Berliner CDU-Haudegen Klaus Landowsky, seit 1990 Chef der Unionsfraktion im Abge- in Gedicht aus alten Tagen geht Mit- Vorsitz der PDS-Bundestagsfraktion nie- ordnetenhaus. Mehrfach traf sich Gysi in arbeitern der PDS-Bundestagsfrak- der, doch an einen Ausstieg aus der Politik den vergangenen Monaten sogar mit Alt- Etion beim Gedanken an den eigenen denkt er nicht. Im Gegenteil: Gysi, der sich kanzler Helmut Kohl (CDU) zum Plausch. Fraktionschef seit Wochen durch den Kopf demnächst auch als Fernseh-Talkmaster Gysis Lockrufe zeigen langsam Wirkung. – ein Vers des antifaschistischen Schrift- versuchen will, hat bereits versprochen, Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung stellers Erich Weinert über den Genossen bei der nächsten Bundestagswahl wieder lösen sich die Fronten in der einst geteilten Josef Stalin: „Im Kreml ist noch Licht.“ aktiv im Wahlkampf mitzumischen, wo- Stadt auf, schwinden lang gepflegte Feind- So ist es auch beim Genossen Gregor möglich sogar abermals als Kandidat. bilder. Erstmals setzen Sozialdemokraten Gysi. Wann immer die PDS-Angestellten Seine Berliner Genossen freilich hoffen ernsthaft auf ein Bündnis mit den einst ihr Bürohaus in Berlin-Mitte verlassen, sitzt noch auf einen anderen Einsatz ihres Vor- verhassten, aus dem Osten kommenden der Chef noch an seinem Schreibtisch. Bis mannes – als Listenführer bei den nächsten Postkommunisten. Die Christenunion des in die Nacht wälzt er Papiere, liest Bücher Abgeordnetenhauswahlen in der Haupt- Regierenden Bürgermeisters Eberhard und schreibt Briefe. Sein Kalender ist bis stadt. Die stehen turnusgemäß in vier Jah- Diepgen liebäugelt – aus Sorge, den Koali- Ende des Jahres voll mit Terminen. Und ren an. Gysi, der seine Ambitionen anfangs tionspartner zu verlieren – mit den vor- seine Mitarbeiter fragen sich: „Arbeitet so lau dementierte, hat mittlerweile offenbar mals als „Chaoten“ beschimpften Grün- einer, der aufhören will?“ Die Antwort, so an der Idee Gefallen gefunden, ins Berliner Alternativen, deren politische Laufbahn in glauben alle, könne nur „nein“ lauten. Rote Rathaus einzuziehen. Ein Taxifahrer, besetzten Häusern begann. Zwar legt der Star der Partei Anfang amüsiert er sich, hätte neulich „allen Erns- Mit dem Ablösen der Feindbilder ist kommender Woche wie angekündigt den tes“ an der Ecke Friedrichstraße/Oranien- auch das Ende der Großen Koalition aus CDU und SPD in Sicht, die seit der ersten Gesamt-Berliner Wahl die Bürgermeister Gysi Stadt regiert. Grünen-Fraktionschef „Wäre für Sie persönlich ein „Ist die PDS Ihrer Meinung Wolfgang Wieland: „Wir wollen den Regierender Bürgermeister nach eine normale, Laden platzen lassen.“ Gregor Gysi akzeptabel?“ demokratische Partei?“ Eine Emnid-Umfrage im Auftrag des SPIEGEL bestätigt den Trend zur Angaben Total West Ost Total West Ost in Prozent neuen Toleranz in der einstigen Mau- ermetropole: Selbst 23 Prozent der Emnid-Umfrage für den ja 36 23 55 ja 46 34 63 SPIEGEL vom 19. bis 20. West-Berliner halten Gysi für einen September; rund 1000 nein nein akzeptablen Regierenden Bürger- befragte Berliner 55 66 39 43 52 29 meister, bei den CDU-Anhängern weiß nicht/ weiß nicht/ sind es immerhin noch 12 Prozent. ist mir egal 9 11 6 ist mir egal 11 14 8 Besonders die Jüngeren scheinen von ihm angetan; rund 40 Prozent der

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Berliner zwischen 18 und 45 Jahren könn- Langsam nimmt auch die Zusammen- ten sich mit dem Gedanken an einen Haus- arbeit von PDS und SPD konkrete Formen AFFÄREN herrn Gysi im Roten Rathaus anfreunden. an. Dabei sind die Berliner Bezirke Ver- Ähnlich entspannt ist der Umfrage zufol- suchsstrecke für neue Bündnisse in der Erkenntnis ge das Verhältnis der Hauptstadt-Bewoh- Stadt geworden. Gemeinsam wollen So- ner zur PDS. 34 Prozent der West-Berliner zialdemokraten, PDS und Grüne im ver- halten die Gysi-Truppe für eine normale einten Ost-West-Bezirk Friedrichshain- beim Bier demokratische Partei, bei den CDU-An- Kreuzberg den früheren SED-Mann Dieter hängern sind es immerhin 25 Prozent. Platzt Hildebrandt zum Bürgermeister küren – Das Vorgehen der Justiz gegen das Regierungsbündnis aus SPD und CDU, für SPD-Promi Walter Momper ein „Test- würden 27 Prozent der Unions-Anhänger lauf für die Koalitionsbildung“ bei der Ab- den CDU-Bundestagsabgeordneten eine Koalition ihrer Partei mit den Grünen geordnetenhauswahl. Im Gegenzug wird Ronald Pofalla kostete einen bevorzugen, 31 Prozent der SPD-Wähler ein voraussichtlich die PDS im neuen Bezirk Generalstaatsanwalt den Job – ein Zusammengehen von rot-rot. Prenzlauer Berg-Pankow-Weißensee einen Bauernopfer der Politik? Sozialdemokraten zum Bür- Die dritte Kraft Zweitstimmenverteilung germeister machen. teuerfahnder sind eigentlich ver- bei der letzten Wahl zum Sitzverteilung im Berliner Berliner Abgeordnetenhaus Die PDS-Oberen sehen es schwiegene Menschen. Doch die bei- Abgeordnetenhaus in Prozent mit Freuden. Die Besetzung Sden Fiskus-Beamten, die am 12. Ja- der formell eher unbedeu- nuar dieses Jahres in dienstlicher Mission Ost-Berlin West-Berlin Bündnis 90/Die Grünen tenden Bezirksämter ist bei bei dem Bonner Oberstaatsanwalt Bernd 18 Sitze CDU 26,6 49,5 den Genossen zur Chef- König auftauchten, gerieten ziemlich ins SPD 42 Sitze SPD 18,8 25,9 sache avanciert. Regelmäßig Plaudern. PDS 38,0 4,5 lässt sich Parteistratege König und seine Kollegen aus der Poli- B’ 90/ 6,9 10,7 Bartsch über die Kaderfra- tischen Abteilung ermitteln wegen des Ver- Grüne gen in der Hauptstadt be- dachts der Untreue in Millionenhöhe gegen richten. Und er frohlockt Deutschlands prominentesten Beschuldig- über die neue Vielfalt. ten, Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl. Ge- CDU Zu der gehört auch das nau darum ging es offenbar den Besuchern. PDS 33 Sitze 75 Sitze Experiment in dem neu ge- Sie hätten Hinweise, so die Fahnder, dass formten Bezirk Mitte-Wed- ein Mitarbeiter des CDU-Bundestagsabge- Offiziell reden führende Unionspolitiker ding-Tiergarten, in dem der Reichstag und ordneten Ronald Pofalla an Autoschiebe- und Sozialdemokraten über die Große Ko- das künftige Bundeskanzleramt liegen. reien großen Stils beteiligt gewesen sei – alition noch immer so wie bis zuletzt die Chef soll hier der CDU-Mann Joachim Zel- und fragten an, ob weitere Recherchen das DDR-Oberen über die „unverbrüchliche ler werden, ein Ostdeutscher, der auch mit Kohl-Verfahren „gefährden“ würden. Freundschaft“ zur Sowjetunion. SPD-Lan- Stimmen der PDS rechnen kann. Seine deschef Peter Strieder, selbst Senator in Wahl verabredet haben bereits Union und Diepgens Regierung, verkündet lauthals, Grüne – ein weiteres Novum im Berliner das CDU/SPD-Team werde bis zum Ende Polit-Labor. der Legislaturperiode 2004 durchhalten. Auch auf Landesebene streckt die CDU Landowsky schwärmt gar, das Klima sei mittlerweile ihre Fühler nach den Grünen noch „nie so gut gewesen wie heute“. aus. Berlins CDU-Generalsekretär Ingo Doch intern sprechen die Akteure ganz Schmitt unterbreitete ihnen vergangene anders. Die einen erhoffen, die anderen Woche ein „offizielles Gesprächsangebot“. befürchten ein Ende der geschlossenen Schließlich könne sich seine Partei nicht Zweierbeziehung im Jahr 2002, dem Jahr länger von der SPD damit „erpressen las- der Bundestagswahlen. sen“, dass diese mit der PDS liebäugle. Diepgen ist hochnervös. Seine Zustim- Grünen-Fraktionschefin Sybill Klotz erwi- mung zur Steuerreform der rot-grünen derte: „Man kann nicht mehr sagen, dass Bundesregierung im Bundesrat im Juli eine Koalition auf Landesebene mit der rechtfertigte er gegenüber Unionsoberen Union ausgeschlossen ist.“ intern mit der Angst vor vorgezogenen Bevor allerdings aus solchen Gedanken- Neuwahlen in der Hauptstadt. Mit seinem spielen Wirklichkeit wird, müssen wohl Ja zum Regierungsentwurf habe er einen noch ein paar alte Frontkameraden die po- Bruch der brandenburgischen Koalition litische Bühne der Stadt verlassen – der von SPD und CDU verhindern wollen. grüne Wieland oder der schwarze Landow- Sonst hätten dort, so Diepgen, die Sozial- sky beispielsweise. demokraten mit der PDS regiert. Auswir- Deren Vokabular stammt noch aus alten kungen auf die Hauptstadt wären dann, Zeiten. Landowsky plant angesichts der argumentierte das Stadtoberhaupt, unver- drohenden rot-roten Machtergreifung – meidlich gewesen. vielleicht in Verkennung der Lage in seiner Des Bürgermeisters Sorgen sind nicht Anhängerschaft – die nächste Wahl zu ei- unberechtigt. Inzwischen trifft sich sein an- nem „Plebiszit“ gegen eine „sozialistische Ex-Kanzler Kohl, Anwalt Holthoff-Pförtner*: Ein geblich so treuer Koalitionär Strieder nicht Regierung“ zu machen. mehr wie früher nur heimlich in Hinter- Dem steht Wieland mit Blick auf ein Der Oberstaatsanwalt schien irritiert. zimmern mit PDS-Politikern. Ganz locker schwarz-grünes Bündnis nicht nach: „Um „Im Prinzip“, sagt er, habe er „nicht ge- plauschte er jüngst im „Grünen Salon“ der mit denen gemeinsam Berlin zu regieren, wusst, was die eigentlich wollen“. Tatsäch- Volksbühne vor Publikum mit der künfti- haben wir uns nicht 30 Jahre gegenseitig Stefan Berg, gen PDS-Chefin Gabriele Zimmer und mit Schlamm beworfen.“ * Am 29. Juni im Berliner Parteispenden-Untersuchungs- Henryk Hielscher PDS-Vize Diether Dehm. ausschuss.

34 der spiegel 39/2000 lich aber gibt es Berührungspunkte: Kohl wird von dem Essener Anwalt Stephan Holthoff-Pförtner verteidigt, in dessen Kanzlei Jurist Pofalla Geld verdient, und Pofalla, der bei einem CDU-Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen als Justizminister vorgesehen war, hatte das Mandat Kohl vermittelt. Inzwischen keimt der Verdacht, die un- gewöhnliche Visite habe gar keiner Ermitt- lung gedient – sondern der Ausforschung. Nordrhein-Westfalens CDU-Oppositions- führer Jürgen Rüttgers argwöhnt, mögli- cherweise sollten „Kohls Anwälte diskredi- tiert werden“. Er verlangt, der Berliner Parteispenden-Untersuchungsausschuss, der vornehmlich dem Ex-Kanzler und dessen Geldverschiebungen nachsteigt, müsse sich des dubiosen Falls annehmen.

Ein prominentes Opfer hat die Affäre B. THISSEN bereits gefordert. Jochen Dieckmann Justizminister Dieckmann, Chef Clement: Die Politiker sehen sich frei von jeder Schuld (SPD), Justizminister im Kabinett von Wolfgang Clement, entließ am Dienstag Die Quelle – ein bierseli- Woher ihr Wissen stamm- vergangener Woche nach Absprache mit ger Schwadroneur an der te, offenbarten die Autoren dem Ministerpräsidenten den Düsseldorfer Theke. Allerdings hinderte nicht. Die Erkenntnisse, hieß Generalstaatsanwalt und Parteifreund Wal- dieser Umstand einen Lau- es lediglich, seien „durch ter Selter, weil dem „vermeidbare Fehler“ scher nicht daran, die Steu- Einsichtnahme in die Steu- unterlaufen seien. Gegen einen von Sel- erfahndung zu alarmieren. erakten im Rahmen von ters Ermittlern läuft ein Disziplinarver- Ergebnis der Ermittlungen: Vorfeldermittlungen gewon- fahren. Die Politiker sehen sich frei von Pofalla hatte zwei Darlehen nen“ worden. Pofalla selbst jeder Schuld. aufgenommen, um sich ein wurde von niemandem be- Seit Jahren schon interessiert sich der Haus in Essens vornehmem fragt – ein klarer Verstoß Fiskus für Holthoff-Pförtner und Pofalla Stadtteil Bredeney kaufen zu gegen den grundgesetzlich gleichermaßen. So sei „in 1996“ bekannt können. Akte geschlossen. verankerten Anspruch auf „Kein Anlass zu Ermittlun- „rechtliches Gehör“.

gen“, notierte der Beamte. M. DARCHINGER In ihrem Vermerk teil- In Holthoff-Pförtners Es- Abgeordneter Pofalla ten die Steuerfahnder der sener Kanzlei, von wo aus Watschen für die Ermittler Staatsanwaltschaft gleich auch die Unternehmens- mit, wo zwecks weiterer gruppe Hopf (Hotels, Recyclingfirma) ge- Erkenntnis unbedingt durchsucht werden managt wird, arbeiten fast ununterbrochen müsste: bei drei Banken und Sparkassen, Prüfer des Finanzamts Essen. Die letzte daheim bei Pofalla und seiner geschiede- Außenprüfung startete im Oktober 1999 – nen Frau, auch im Bundestag. und sie läuft noch immer. Ohne weitere eigene Ermittlungen be- Um die Jahreswende herum began- jahte die Staatsanwaltschaft in Kleve den nen Kollegen der Prüfer, sich auch für pri- von den Steuerfahndern geäußerten vate Gelder des Juristen und thailändi- Tatverdacht gegen Pofalla und informierte schen Honorarkonsuls zu interessieren. Sie am 17. April Bundestagspräsident Wolf- hatten den Hinweis erhalten, Holthoff- gang Thierse über die Absicht, ein Er- Pförtner habe plötzlich 16 Millionen Mark mittlungsverfahren wegen Steuerhinter- kassiert – und deshalb flöhten sie seine ziehung einzuleiten. Dies ist, weil ein Steuerakte. Abgeordneter Immunität genießt, das üb- Bei deren Überprüfung stießen die liche Verfahren. Beamten auf einen Namen, der ihnen Gleichzeitig bat Behördenleiter Wolf- längst bekannt war – Pofalla, CDU- gang Pott „um die Genehmigung des Voll- Abgeordneter aus dem Wahlkreis Kleve. zugs der Durchsuchungen und Beschlag- Auch dessen Akte wurde wieder gezo- nahmen“, falls das Amtsgericht entspre- gen; neben der alten, geklärten Immobi- chende Beschlüsse fassen würde. Offenbar lien-Angelegenheit entdeckten die Beam- um Druck zu machen, wies Pott auf eine ten angebliche Kapitalgeschäfte. Verdacht: Besonderheit hin: Am 18. Mai könne, be-

T. GRABKA / ACTION PRESS / ACTION GRABKA T. Steuerhinterziehung. züglich einer möglichen Steuerverkürzung, Fall für die Berliner? Zweimal im März dieses Jahres bespra- die Verjährung eintreten. chen Steuerfahnder und Staatsanwälte den Das ist ausgesprochen merkwürdig. geworden, heißt es in einem Vermerk der Fall Pofalla, am 28. März formulierten die Mehrere Juristen – vom Sachbearbeiter des Steuerfahndung, dass dem Abgeordneten Finanzbeamten einen siebenseitigen Ver- Verfahrens bis zu Mitgliedern des Berliner „in 1994 ein Betrag von 1,4 Mio DM zuge- merk. Darin errechneten sie „für die Jah- Immunitätsausschusses – hatten glatt über- flossen sein soll“. Verdächtig: „Zahlungs- re 1993 bis 1997“ einen kräftigen „Vermö- sehen, dass bei Pofalla so die Verjährungs- grund und Herkunft des Betrages wurden genszuwachs“, der „ungeklärt“ sei – über frage gar nicht gestellt werden durfte. Für nicht benannt.“ 700000 Mark. die Mitglieder des Bundestags und des

der spiegel 39/2000 35 „Gesetzgebungsorgans eines Landes“ sieht das Strafgesetzbuch eine andere Regelung vor. Bei ihnen „ruht“ die Verjährung ab „Kenntnis“ über den Fall – Eile war also gar nicht geboten. Amtschef Pott hätte es eigentlich genau wissen müssen; bis Ende März war er, un- ter anderem, im NRW-Justizministerium genau für dieses Thema zuständig. Am 4. Mai beantragte die Staatsanwalt- schaft beim Amtsgericht elf Durchsu- chungs- und Beschlagnahmebeschlüsse, am selben Tag wurden sie ohne Diskussion erlassen. In „auffälliger Geschwindigkeit“ („Frankfurter Rundschau“) von nur knapp zwei Arbeitstagen erreichten sie den Bundestag in Berlin – die bisher schnells- te Aktion dieser Art dauerte immerhin zehn Tage. Dass in Nordrhein-Westfalen Landtags- wahlen anstanden und eine spektakuläre Aktion gegen Schattenminister Pofalla Fra- gen aufwerfen würde, war den Mitgliedern des Immunitätsausschusses durchaus be- wusst. Andererseits hätte sich bei zöger- licher Behandlung des Falls, so ein Ver- merk, der Bundestag den Vorwurf „der Verschleppung und der Gefährdung des mög- lichen Erfolgs“ einer Razzia gefallen lassen müssen. Drei Tage vor der Wahl und nach ein- stimmigem Beschluss des Immunitätsaus- schusses, am 11. Mai, schlug die Fahndung

zu. 26 Beamte waren ZEITUNG / BILD M. GSTETTENBAUER spektakulär im Einsatz. Ex-Ermittler Selter Ergebnis der Bemü- Vermeidbare Fehler hungen: null. Später kritisierte NRW-Justizminister Dieckmann indirekt, die Aktion habe gegen den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ ver- stoßen – eine Watschen für die Ermittler. Kleinlaut stellten die Staatsanwälte das Verfahren gegen Pofalla ein, vernichtend attestierte ihnen eine Strafkammer „rechts- widriges“ Vorgehen (SPIEGEL 34/2000). Der Kammervorsitzende Rudolf Kliver empörte sich über eine in etlichen Dienst- jahren nie erlebte „Ignoranz“ der Ankläger. Bis zum Schluss verteidigte General- staatsanwalt Selter das Vorgehen seiner Leute. „Fehler im Zuge der Ermittlungen“ habe er „nicht festgestellt“. Dieser Starr- sinn reichte dem Justizminister – er schass- te Selter und entschuldigte sich öffentlich bei Pofalla. Wie Dieckmann wird sich auch der Finanzminister erklären müssen. Am Don- nerstag dieser Woche treffen sich Fis- kus-Staatssekretär Harald Noack und der Anwalt von Holthoff-Pförtner. Das Rät- sel um die 16 Millionen ist übrigens gelöst – der Kohl-Verteidiger hatte ein Hotel auf Jamaika verkauft. Georg Bönisch, Georg Mascolo

36 der spiegel 39/2000 Deutschland SUDETENDEUTSCHES ARCHIV SUDETENDEUTSCHES Deutsche auf dem „Brünner Todesmarsch“ bei Pohrlitz (1945): „Das ganze Blut, der Schmerz, es war so grausam“

Die Initiative „Jugend für interkulturel- VERTREIBUNG le Verständigung“ rührt mit ihrem Aufruf an ein Tabu, das nicht nur in Brünn bis heute gepflegt wird – die Vertreibung von „Da tobte der Mob“ drei Millionen deutschsprachigen Mitbür- ger nach dem Zweiten Weltkrieg. Junge tschechische Intellektuelle brechen ein Nachkriegstabu: Sie Als sich Präsident Václav Havel nach der samtenen Revolution von 1990 für die verlangen von der mährischen Stadt Brünn eine Entschuldigung Zwangsaussiedlungen entschuldigte, erfuhr für die Vertreibung der Sudetendeutschen 1945. Eine Kommission er dafür bei seinem Volk wenig Verständnis. soll jetzt die verdrängte Vergangenheit aufarbeiten. Auch die Bemühungen der deutsch-tsche- chisch-slowakischen Historikerkommission ie Männer kamen nachts. Sie ris- riss nicht nur die seit Jahrhunderten ge- um eine gemeinsame vorurteilsfreie Ge- sen Helena Brislinger von ihrer wachsene Identität der mährischen Stadt; schichtsbetrachtung unter Einschluss der DMutter weg und schleppten sie in sie war auch noch besonders grausam: Op- Vertreibung fanden kaum Resonanz. Den einen Taubenstall. Auf dem stinkenden Bo- fer waren vor allem Kinder, Frauen, Alte meisten Tschechen sind die 1945 erlasse- den stellte sich einer auf die Hände der 14- und Kranke, denn die deutschstämmigen nen Dekrete ihres ersten Nachkriegspräsi- Jährigen, die anderen fielen nacheinander Männer zwischen 14 und 60 Jahren muss- denten Eduard Bene∆ sakrosankt, in denen über sie her. Damit Helena nicht schreien ten in Arbeitslager. Und die Kriegsverbre- die Enteignung und Vertreibung der Deut- konnte, hatten ihr die Männer ein Stück cher, gegen die sich die Wut hätte richten schen verfügt wurden. Holz in den Mund gedrückt. können, hatten sich längst abgesetzt. Jahrzehntelang waren die Gräuel an den „Das ganze Blut, der Schmerz, es war so „Der Todesmarsch war bei weitem kein Sudetendeutschen zudem von der kom- grausam“, sagt Helena Brislinger, heute 70, spontaner Ausbruch während der Okku- munistischen Propaganda als legitimer stockend, „ich war ja noch nicht einmal pation angesammeltem Hasses, sondern Rausschmiss deutscher Faschisten abgetan aufgeklärt.“ 55 Jahre redete sie nicht dar- eine gezielt geplante, auch von den politi- worden – schließlich hatten auch die Sie- über, weder mit ihrem früheren Ehemann schen Repräsentanten der Stadt Brünn or- germächte auf ihrer Potsdamer Konferenz noch mit den eigenen Kindern, wie es ihr ganisierte Aktion“, stellt jetzt eine landes- am 2. August 1945 eine Überführung deut- und vielen anderen deutschsprachigen Ein- weite Initiative junger tschechischer Intel- scher Bevölkerungsteile gebilligt, und zwar wohnern der tschechoslowakischen Stadt lektueller fest und verlangt: „Die Stadt in „geordneter und humaner Weise“. Da Brünn (Brno) ergangen ist, als sie am 30. Brünn muss sich dafür entschuldigen.“ waren schon zwei Monate vergangen seit Mai 1945 innerhalb weniger Stunden ihre Wohnungen verlassen mussten und unter brutalen Misshandlungen aus dem Land Die Vertreibung getrieben wurden. von etwa drei Millionen Sudetendeut- Wie viele der rund 26000 Menschen auf schen aus der Tschechoslowakei nach dem 80 Kilometer langen Fußmarsch Rich- 1945 belastet das Verhältnis zwischen tung Österreich und weiter nach Wien an Tschechien und Deutschland bis Entkräftung oder Krankheit starben, wie heute. Präsident Václav Havels Ent- viele von den bewaffneten tschechoslowa- schuldigung für das Unrecht und die kischen Begleitern getötet wurden, weiß Bemühungen deutscher Staatsober- niemand genau. Mehr als 2000 Tote gab es häupter wie Richard von Weizsäcker, nachweislich. das Verhältnis zu entspannen, wirken Überlebenden wie Helena Brislinger ist nur langsam. Forderungen nach Ent- der „Brünner Todesmarsch“ zum Trauma schädigung und Rückgabe beschlag- geworden. Ihrer Heimatstadt Brünn und nahmten Eigentums wecken in Tsche- deren verbliebenen Bürgern auch. chien zudem immer wieder Ängste. Die rücksichtslose ethnische Säuberung Weizsäcker, Havel (1993) im Nachklang zum Zweiten Weltkrieg zer- PRESS ACTION 37 Deutschland jenen blutigen, wilden Exzessen wie dem Brünner Todesmarsch. „Natürlich haben die Nazis während der Okkupation unvergleichlich mehr Verbre- chen begangen“, sagt der Politologiestu- dent Ondºej Li∆ka, 23, von der Jugend- initiative, „das ändert aber nichts daran, dass die Vertreibung der Brünner Deut- schen allein auf Grund ihrer ethnischen Zugehörigkeit auch ein Verbrechen war.“ Dem Aufruf Li∆kas und seiner etwa 50 Kommilitonen haben sich landesweit etli- che Parlamentsabgeordnete, Schriftsteller und Professoren angeschlossen. Bei den Stadtoberen Brünns findet der Appell indes nur verhaltenen Anklang. Gewiss, es sei ja immer recht nützlich, über die Vergangen- heit zu reden, sagt Oberbürgermeister Petr Duchon, aber „entschuldigen werden wir

uns nicht“. Immerhin setzte der Stadtrat EINBERGER / ARGUM T. eine Kommission ein, die nun Archive Sudetendeutsches Treffen (in Nürnberg 1998): „Wir sind so oft schikaniert worden“ durchforsten und Zeugen anhören will. „Das ist schon ein großer Schritt“, meint „diese Personen dürfen mit sich nehmen, ges im Jahre 1945 sind viele deutschstäm- der Kommissionsvorsitzende Jiºi Löw, was sie tragen können, jedoch keineswegs mige Einwohner aus Brünn und Umgebung „denn viele Menschen haben immer noch Juwelen und Sparbücher.“ ums Leben gekommen. 890 Opfer sind hier nicht vergessen, dass Hitler uns nicht nur „Meine Mutter hatte mir gesagt, wir ma- bestattet. Wir gedenken ihrer.“ den Krieg gebracht, sondern auch dem chen einen Ausflug“, erinnert sich Maria Vladimír Koºínek, 84, kann sich an die Kommunismus ausgeliefert hat.“ Jetzt sei Pekáºová, „aber warum mussten wir dann Barbarei nicht erinnern. Als Soldat musste aber der Zeitpunkt gekommen, sich dem die Nacht im Freien verbringen, und war- er den Zug begleiten. Von Verbrechen aber Thema Vertreibung zu stellen: „Ich bin um weinten so viele Menschen?“ Am näch- will der rüstige Rentner nichts gesehen ha- froh über den Anstoß der Studenten.“ sten Tag ging es in kilometerlanger Kolon- ben. „Niemand wurde geschlagen oder um- ne aus der Stadt, am Zentralfriedhof vor- gebracht, das ist völlig absurd.“ Sicher, ein bei. „Da wurden schon viele Alte von den paar seien wohl an Infektionen gestorben, bewaffneten Bewachern geschlagen, weil hätten Selbstmord begangen. Er selbst habe sie zu langsam waren“, sagt Pekáºová. geholfen, wo er nur konnte: einem Müt- Die Sonne brannte, Durst quälte, ihre terchen die Hand gehalten, Kindern Milch Notdurft mussten die Menschen im besorgt und Plünderungen verhindert. Straßengraben verrichten. Dort lagen bald Die Brünnerin Wilhelmine Samstag, auch verlorene Habseligkeiten, Rucksäcke, heute 89, lacht darüber bitter. Erst wenige Koffer, Taschen – und die ersten Opfer: Tage bevor sie nach Österreich getrieben Gebrechliche und Schwangere, die nicht wurde, war ihr jüdischer Mann aus einem mehr weitergehen konnten. deutschen KZ zurückgekehrt. Nun saß er „Ich habe gesehen, wie ein junger Mann als Deutschstämmiger schon wieder in ei- meine herzkranke Lehrerin mit dem Kol- nem Lager, und seine Frau schleppte sich ben seines Gewehres totgeschlagen hat“, mit zwei kleinen Kindern in brütender Hit-

M. APPELT / AGENTUR ANZENBERGER / AGENTUR M. APPELT sagt Pekáºová, „das Gehirn quoll ihr aus ze auf der Straße nach Wien. Student Li∆ka vor Gedenkstätte bei Pohrlitz dem Kopf. Mutter hat mich schnell weiter- „Da tobte der Mob“, erinnert sich der „Brünn muss sich entschuldigen“ gezogen.“ An einem Fluss vor der Ort- ehemalige Parlamentspräsident Milan schaft Pohrlitz (Pohoºelice) stritt ein Auf- Uhde, „aber viele spürten auch eine tiefe Über Zeitungen in Deutschland, Öster- passer mit einer Frau, riss ihr das Baby aus Wut auf alles Deutsche.“ Es sei nicht mehr reich und Tschechien sollen Zeitzeugen ge- dem Arm und warf es ins Wasser. unterschieden worden zwischen mörderi- funden werden. Vor dem Krieg waren ein In Pohrlitz machte der schauerliche Zug schen Herrenmenschen, Mitläufern oder Viertel der 270 000 Brünner Bewohner am Abend halt, einige Menschen schliefen Gegnern der Nazis. „Die Rache war falsch Deutsche. Jetzt leben hier nur noch ein in leeren Lagerhallen und Ställen, andere und hat die Falschen getroffen“, sagt der paar hundert, die damals bleiben oder spä- unter freiem Himmel. In ihrer Not tran- geborene Brünner Uhde. Er unterstützt die ter zurückkehren durften. Bis heute haben ken viele verseuchtes Wasser, nachts ka- Initiative der Studenten: „Wir dürfen das die meisten von ihnen Angst zu sagen, dass men Männer mit Taschenlampen und Geschehen nicht länger verdrängen.“ sie Deutsche sind. „Das sitzt tief in uns schleppten junge Frauen weg. Vor fünf Jahren gab es schon einmal ei- drin“, sagt Maria Pekáºová, 62, „wir sind so Als es Tag wurde, musste die Kolonne nen Versuch. Damals hatten vier tschechi- oft schikaniert und bedroht worden.“ weiter, Hunderte aber blieben entkräftet sche Intellektuelle – darunter der Schrift- Maria war sieben, als sie am Abend des zurück: Hochschwangere, Kleinkinder, steller Ludvík Vaculík – Strafanzeige gegen 30. Mai 1945 mit ihrer Familie zu einem Greise und Kranke. Tagelang vegetierten Unbekannt wegen Völkermordes erstattet. Sammelplatz getrieben wurde. „Deutsche, sie hilflos dahin, ungezählte starben und Die halbherzigen Ermittlungen wurden er- die im Bereich der Stadt Brünn wohnen, wurden in Massengräbern bestattet. gebnislos eingestellt. und zwar alle Frauen und Kinder, ferner Das österreichische Schwarze Kreuz Diesmal geht es nicht um die juristi- Männer unter 14 und über 60 Jahre sowie durfte bei Pohrlitz vor einigen Jahren eine sche Aufarbeitung. „Wenn wir uns heute arbeitsunfähige Männer werden aus der kleine Gedenkstätte einrichten. In deut- entschuldigen, ist das ein Zeichen der Stadt geführt“, hatte der Nationalausschuss scher und tschechischer Sprache steht dort Versöhnung“, sagt der Student Ondºej für Groß-Brünn tags zuvor beschlossen, geschrieben: „Nach Ende des II. Weltkrie- Li∆ka. Hans-Ulrich Stoldt

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Werbeseite Aussteiger Hans, Carla, Tina

„Benzin undRECHTSEXTREMISMUS Streichholz“ Erstmals gewähren drei Aussteiger einen Einblick in die Neonazi-Szene. Mit Mühe entkamen sie einer kriminellen Schattenwelt, in der bierselige Glatzen und glühende Hitler-Verehrer dem Germanenkult frönen. Jetzt müssen sie sich vor Gericht für etliche Straftaten verantworten.

ie Schatten der Vergangenheit Decke, die jene Rußspuren verbergen, „Schrecklich“ findet Carla, 36, jene Zeit. hängen immer noch in der Woh- die die Öllampen rechts und links vom Hit- Ihre Tochter Tina, 17, „will mit dem ganzen Dnung. Da ist der drei Quadratmeter ler-Relief hinterlassen haben. Im Schlaf- Scheiß nichts mehr zu tun haben“. Hans, große schwarze Sternenhimmel im Wohn- zimmer, wo heute das Filmplakat des Ta- 24, der Kopfmensch, sucht vergeblich nach zimmer, wo früher die Hakenkreuzfah- rantino-Klassikers „From Dusk Til Dawn“ einer Erklärung, die irgendwie wissen- ne an die Wand gemalt war. Da sind hängt, prangten früher Hitler, Heydrich schaftlich klingt: „Damals kamen wohl die beiden schneeweißen Kleckse an der und Heß. Benzin und Streichholz zusammen.“ We-

Das rechte Geflecht stärkt. Die kürzlich von Innenmi- nister Otto Schily verbotene, mili- Die NPD wurde am 28. November 1964 in Günter Deckert, verurteil- tante Skin-Bewegung „Blood and Hannover gegründet. In der Führungsebene ter Holocaust-Leugner, ver- Honour“ (Blut und Ehre) durfte sammeln sich etliche Mitglieder der 1952 ver- stärkte die NPD ihre aus- sich auf der Großkundgebung botenen „Sozialistischen Reichspartei“, die länderfeindliche Politik. „2. Tag des nationalen Wider- sich offen auf die NSDAP berufen hatte. In den achtziger Jahren stands“ in Passau darstellen. In den sechziger Jahren steigt die Mitgliederzahl verübten NPD-Mitglieder Mittlerweile versucht sich Voigt an- der NPD auf 28000 an. Wahlerfolge von bis zu Anschläge, erstmalig wird gesichts des drohenden NPD-Ver- 9,8 Prozent verhelfen der NPD zum Sprung in ein Berufsverbot gegen ei- bots von den gewaltbereiten Un- sieben Landesparlamente. 1969 wird die Nach- nen Funktionär der Partei terstützergruppen zu distanzieren. wuchsorganisation „Junge Nationaldemokra- verhängt. Skinheads Die Mitgliederzahl ist wieder auf

ten“ (JN) gegründet, heute mit 350 Mitgliedern schützten Mitte der achtzi- AP rund 6000 angestiegen. Andere der größte und aktivste Zusammenschluss jün- ger Jahre den Landespar- Deckert Organisationen der Neonazi-Szene gerer Rechtsextremisten. teitag in Nordrhein-West- werden von der NPD weiter unter- 1970 machte die NPD Schlagzeilen, als 14 falen. Unter dem Einfluss der JN und bestärkt stützt. So erhielt die Vorsitzende der „Hilfs- Mitglieder wegen des Verdachts auf Bildung vom heutigen Parteivorsitzenden Udo Voigt organisation für nationale politische Gefan- einer kriminellen Vereinigung verhaftet wurden. wird die Zusammenarbeit mit Skins und neo- gene und deren Angehörige e. V.“ (HNG) in Die Mitgliederzahl sank kontinuierlich. Unter nazistischen „freien Kameradschaften“ ver- Passau einen „Solidaritätspreis“ in Höhe von

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gen möglicher Racheakte aus der Szene Offen sprechen die drei auch über die Mit der totalen Hingabe, die früher der hat der SPIEGEL die Namen der Ausstei- finstere Faszination der Glatzen und ihrer braunen Szene galt, widmen sie sich jetzt ger verändert. Einpeitscher. Sie fühlten sich aufgehoben ihrem Ausstieg. Über die Internet-Home- Es ist noch kein Jahr her, dass die Toch- und zugehörig. Vor allem aber glaubten sie page „nazis.de“, einer Selbsthilfe-Seite, ha- ter, die Mutter und deren Verlobter im in- sich anderen Menschen überlegen. Farbi- ben sie Unterstützung gefunden. neren Zirkel der deutschen Neonazi-Szene gen brüllten Mutter und Tochter „Nigger“ Carla sitzt vor dem Computer und be- steckten: Sie fuhren mit Schläger-Skins auf hinterher, im Supermarkt nahm Hans kei- antwortet unermüdlich elektronische Post. Demonstrationen, erlebten bedingungslo- ne Cornflakes-Packung, die zuvor eine Eine jüdische Briefpartnerin aus dem sen Führerkult und nahmen an konspirati- Ausländerin berührt hatte. Internet hatte soeben Zweifel an Carlas ven Sonnenwendfeiern teil. Sie fachsim- Die Geschichte der drei Aussteiger illu- Ausstiegswillen geäußert. Da stürzt der pelten mit verurteilten Straftätern und striert, wie schnell der Einstieg in die Sze- Rechner ab. Carla ist aufgelöst. Weint. Sie führenden Neonazis über das „Vierte ne vollzogen ist, wie umfassend sich das schüttelt den Kopf und verflucht mit trä- Reich“. Mutter und Tochter schändeten ei- braune Netz eines Lebens bemächtigt. nenerstickter Stimme die Technik. nen jüdischen Friedhof. Die üblichen Erklärungsmuster reichen Carla weint oft. Wegen der Erinnerung Bald schon stehen sie in Mainz vor Ge- dabei nicht aus, das Phänomen Rechtsex- an das, was sie gemacht hat, aus Enttäu- richt. Auf einen Anwalt verzichten sie, ver- tremismus zu entschlüsseln. Denn das Trio schung über die Zweifel an ihrem Ausstieg, teidigen könne man ihre Straftaten nicht. mag zwar nicht in Musterfamilien groß ge- beim Gedanken an eine mögliche Haftstra- Carla, Tina und Hans sind Aussteiger, die worden sein, aber keiner von ihnen kommt fe. „Gleichgültig“ sei sie gewesen, „das war die rechte Szene aus eigenem Antrieb ver- aus dem sozialen Elend. Sie stammen aus mein größter Fehler“. Aber sie war auch lassen haben. der Mitte der deutschen Normalität. neugierig, auf diese geheimnisvolle Son- Im SPIEGEL berichten die drei erstmals „Wir waren keine Opfer von irgendwel- nenwendfeier zum Beispiel, mit der alles von Zirkeln und Ritualen, die der Öffent- chen Umständen“, erklären Carla und begann. lichkeit bislang verborgen waren; sie er- Hans übereinstimmend. In ihrem Leben zählen aus einer Welt, in der Anführer und sei zwar einiges schief gelaufen, so Carla, Ein krasses Abenteuer Ideologie des mörderischen Nazi-Systems „aber es gab genug Situationen in denen in einem Gewirr von Gruppen und Grüpp- ich hätte sagen müssen: ‚Horch mal, du bist Endlich war es so weit: Hüttenbauen im chen verehrt und verbreitet werden. 35 Jahre alt. Stopp!‘“ Wald, Lagerfeuer, im Freien kampieren mit Sie erlebten die Nähe zwischen der NPD, ihrer Jugendorganisation „Junge Na- tionaldemokraten“ (JN) und gewaltberei- ten Skins. Diese symbiotische Beziehung zwischen der vermeintlich biederen Partei und militanten, neonazistischen Skingrup- pen wie „Blood and Honour“ (Blut und Ehre), mittlerweile in Deutschland verbo- ten, veranlasst die Innenminister von Bund und Ländern, ein Verbot der NPD zu prüfen. Das Trio hatte Zugang zu streng abge- schirmten Organisationen wie der „Hilfs- organisation für nationale politische Ge- fangene und deren Angehörige“ (HNG) oder der „Artgemeinschaft“, beide als ein- getragene Vereine steuerbegünstigt. In der Artgemeinschaft predigt der einschlägig vorbestrafte Neonazi Jürgen Rieger, 54, die artgleiche Vermehrung.

2000 Mark. Die HNG ist als eingetragener Ver- REUTERS ein ein Sammelbecken von Neonazis aller NPD-Aufmarsch in Rostock (1998) Schattierungen. Vorsitzende der braunen Orga- nisation ist Ursel Müller, die 1999 mit ihrem Als Beginn der Zeitrechnung gilt „nicht die Ge- organisation verboten. Ihr gehörten nach Mann Curt wegen „Aufstachelung zum Rassen- burt eines Christus“, sondern „die Hochblüte eigenen Angaben 100 Mitglieder an, die sich hass“ auf Bewährung verurteilt wurde. In ihren des Gestirnheiligtums Stonehenge“. Die Or- nicht nur als „Musikbewegung“ verstanden, „HNG-Nachrichten“ ruft sie Leser dazu auf, ganisation hat bundesweit 1000 Anhänger, sondern als rassistische Eliteorganisation. Urteile gegen „national denkende Menschen von denen ein großer Teil aus der ehemaligen Zu illegalen Konzertveranstaltungen von möglichst lückenlos zu dokumentieren. Um die und aktiven Neonazi-Szene stammt. Die Artge- „Blood and Honour“ pilgerten bis zu 2000 Verantwortlichen später einmal zur Rechen- meinschaft war Mitorganisator der jährlichen Skinheads. Gelegentlich traten Skingruppen schaft ziehen zu können“, brauche man mög- „Hetendorfer Tagungswoche“, einem zen- wie der „Weisse Arische Widerstand“ lichst viele Informationen. tralen Treffen von Rechtsextremisten in der (WAW) auch als Musikband auf. Am Ein anderes Netzwerk der rechtsextremen Sze- Nähe von Celle. 5.Dezember 1996 wurde ein Tonträger der ne ist „Die Artgemeinschaft-Germanische Ein weiterer Multiplikator in der Szene ist die WAW beschlagnahmt, auf dem Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Le- rechtsextreme Skin-Bewegung mit gut 9000 unverhohlen der Holocaust geleugnet wurde: bensgestaltung e. V.“ Die völkisch geprägte Anhängern. In ihren Reihen hat die inter- „Wo sitzen Deuschlands schlimmste Feinde? Vereinigung wird von dem einschlägig bekann- national operierende Gruppierung „Blood and In der Jüdischen Gemeinde! Die widerwär- ten Neonazi Jürgen Rieger aus Hamburg an- Honour“ Kultstatus. Seit dem 14. September tigen Krummnasen mit ihrem Märchen vom geführt. sind der deutsche Ableger und seine Jugend- Vergasen.“

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der versprochenen Geländeübungen und Orientierungsmärsche waren sie in einer versoffenen Horde gelandet, die mit selt- samen Heldentaten wie dem „Kekswich- sen“ prahlte. Dabei stellen sich Skins um einen Keks auf, onanieren um die Wette und zielen mit ihrem Sperma auf das Knab- berwerk. Wer als Letzter kommt, muss un- ter dem Johlen der anderen den Keks ver- tilgen. Vielleicht gaben die Skins auch ein- fach nur an. Es war Hans, der die Frauen zum Blei- ben bewog. Mit seinem korrekten Scheitel und dem Bärtchen unter der Nase sah er aus wie ein Überbleibsel aus der Hitlerzeit – sauber, anständig, ganz anders als die tumben Skins. Hans wusste mehr, hatte schon viel bes- sere Sonnenwendfeiern erlebt, mit der Art- gemeinschaft zum Beispiel, einem rechts- extremen Zirkel, dessen Mitglieder sich dem germanischen Glauben und „Härte und Hass“ gegen ihre Feinde verschrieben haben. Hans schwadronierte von Kader- organisationen und versprach, wonach sich Carla und Tina gesehnt hatten: „Ein kras- ses Abenteuer.“

Bei den Altnazis So albern der Kitschkult im Wald anmute- Neonazis bei Sonnenwendfeier*: Galaxie in Hakenkreuzform te, so schwer war es gewesen, an eine Ein- ladung zu kommen. Die Teilnahme an je- national gesinnten Aktivisten. Aufgeregt Honigtrunk erst nach Entfachen des ger- ner Sonnenwendfeier war für Mutter und machten sich Carla und Tina auf den manischen Feuers, aber daran hielt sich Tochter Teil des Verbotenen, das sie ge- Weg Richtung Pirmasens zu ihrer ersten keiner der zwei Dutzend Anwesenden. sucht hatten. Konspirativ wurde der Ort in Sonnenwendfeier. Den Veranstaltungsort Befremdet gingen die Neulinge in den der Szene gehandelt. Er war geheim für kannten, so ihr Eindruck, nur Eingeweih- Wald, um Holz zu sammeln. Dabei beglei- Außenstehende und somit wichtig. te, schließlich vermuteten sie: Dort treffen teten sie die abschätzigen Blicke der Älte- Carla und Tina stellten zuvor ihre Zu- sich die Spitzen der nationalen Bewegung. ren. In Erwartung großer Abenteuer hatten verlässigkeit unter Beweis – bei Ursel und Die Sonnenwendfeier, auf der einst Kel- Carla und Tina T-Shirt, Jeans und Turn- Curt Müller aus Mainz-Gonsenheim. Die ten und Germanen die längste Nacht des schuhe angezogen. Die Männer wünsch- beiden Altnazis führen neben ihrer Gärt- Jahres begingen, hatte im Mythenmix der ten sich dagegen ein deutsches Mädel sitt- nerei die größte legale Neonazi-Vereini- Nationalsozialisten ihren festen Platz. Qua- sam im Kleid. gung, die Hilfsorganisation für nationale si religiöser Feuerzauber, weihevolle Sprü- Herbi, der seine Jünger stocknüchtern in che und dramatische Kranzverbrennungen Erinnerung hat, mühte sich mit Hans, der zu Ehren der Parteimärtyrer sollten vor al- Feier etwas Würde zu verleihen. Das fiel lem die Hitlerjugend in den Bann des Brau- nicht leicht nach all dem selbst gepansch- nen ziehen. ten Met, wie er das Gebräu aus billigem Umso gewaltiger war die Enttäuschung Wein und Honig nannte. für Carla und Tina. Statt gestählter Kämp- Der Hobby-Germane, der fest daran fer trafen sie angetrunkene Skins und ki- glaubt, die Galaxie sei wie ein Hakenkreuz chernde Mädchen von der rechtsradikalen geformt, wies Carla in die „heilige“ Zere- „Jungen Landsmannschaft Ostpreußen“. monie ein. Sie bekam ein weißes Bettlaken, Zeremonienmeister war Wilhelm Her- angeblich vor drei Wochen geweiht. Wi- bi, den viele nur „Feld-, Wald- und Wie- derstrebend streifte Carla das Tuch über. sen-Nazi“ nannten, obwohl er mal NPD- Nur in diesem Aufzug, bedeutete ihr Her- Landesvorsitzender von Rheinland-Pfalz bi, dürfe sie die Feuersprüche aufsagen. war. Herbi will von Auschwitz nichts wis- Mit drei anderen Frauen, für jede Him- sen: „Das, was eine Anne Frank, ein Si- melsrichtung eine, gruppierte sie sich um mon Wiesenthal oder ein Ellie Wiesel mit- das aufgeschichtete Holz. Weihevolle Re-

gemacht haben, waren geregelte Lagerauf- den wurden vorgetragen, dann waren die AP enthalte in einer schlechten Zeit. Da gab es Frauen an der Reihe. „Ich bin der Norden Der Ex-NPD-Funktionär und Rechts- Betten und Decken.“ und bringe das Feuer“, rief die erste. Die anwalt Jürgen Rieger gilt als wichtigs- Mutter und Tochter traten eher schüch- anderen folgten. Das Feuer wurde entfacht, ter Verteidiger von Rechtsextremisten. tern in den Kreis der Metseligen. Zwar hat- die alkoholisierte Schar lallte ein paar Lie- Wegen Körperverletzung und Verwen- te es geheißen, es gebe den betäubenden der. Das Besäufnis nahm seinen Lauf. dung verfassungsfeindlicher Symbole Mutter und Tochter fühlten sich unwohl. selbst mehrfach verurteilt. * 1997 im niedersächsischen Hetendorf. Enttäuscht wollten sie aufbrechen. Statt

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Werbeseite Deutschland politische Gefangene und deren An- ihrem öden Leben anbot. Mit 16 experi- gehörige e. V. mit über 500 Mitgliedern. mentierte sie mit Drogen. Als ihre beste Die HNG betreut so genannte nationale und einzige Freundin an einer Überdosis Gefangene wie den skrupellosen Polizis- Heroin starb, suchte Carla Trost in einer tenmörder Kay Diesner, den Brandstifter Brieffreundschaft zu einem sechs Jahre äl- von Solingen, Christian Reher, oder den teren Mann in München. Dass er NPD- berüchtigten Hardcore-Skin Christian Hehl. Funktionär war, störte die 18-Jährige nicht. Der eingetragene Verein schickt den In- Der Brieffreund bot das Ticket in die haftierten direkt in die Zelle seine „Nach- Freiheit. richten der HNG“. Das Blättchen bietet 1983 heiratete sie den Nationalisten und frische Informationen aus der Szene und zog nach München. Dort, in der Wohnung gibt Mitgliedern Tipps für den korrekten des NPD-Mannes, stand sie später zum ers- Briefwechsel mit Gefangenen. Die Um- ten Mal in ihrem Leben unter der Reichs- sorgten bedanken sich artig – „Heil Dir, kriegsfahne.

liebe Ursel“ – mit ein paar Zeilen für die KOEHLER J. Die große Freiheit war es nicht. Ihr Mann Leserbriefseiten. Ex-Rechtsanwalt Manfred Roeder wur- jobbte als Bote, Carla faltete in der NPD- Das Haus der Müllers gleicht einem Hit- de 1982 als Terrorist zu 13 Jahren Haft Geschäftsstelle Flugblätter und verschickte ler-Museum. Der Führer hängt als Bleistift- verurteilt. Dennoch wurde er nach die „Deutsche Stimme“, Hauspostille der zeichnung über der Küchentür, gleich drei seiner Freilassung von der Führungs- NPD. Die Miete bezahlte ihr Großvater. Die Holzbüsten stehen im Regal. Horst Wessel, akademie der Bundeswehr 1995 als Parteiversammlungen ödeten sie an. der Barde Adolf Hitlers, ziert den Klo-Ein- Referent eingeladen. Er rief 1998 zum Zur Enttäuschung ihrer Freunde brach- gang. Stolz verkündet Ursel Müller, diese „Umsturz auf der Straße“ auf. te Carla noch 1983 eine Tochter zur Welt – Dinge seien schon lange ihr Eigentum. Tina. Dennoch gewann ihr Vater einen pro- Für Ideologie ist Curt zuständig. Seine minenten Taufpaten: Günter Deckert, in- Briefe schmückt er mit Stempeln wie „Po- teten für sie immer Lügen und Gewalt, zwischen mehrfach verurteilter Holocaust- litisch Verfolgter der Demokratie“, „Neo- manchmal sogar Tod. Leugner und früherer Chef der NPD. nazi. Betrachten wir das Wort als Ehre“ Im Glauben, eine Halbwaise zu sein, Carlas Traum von der glücklichen Fa- oder „Das Dogma Auschwitz musst Du wuchs sie nahe Mainz bei ihrer Mutter und milie währte im deutschnationalen Milieu glauben, sonst legt man Dich in Daumen- einem ältlichen Universitätsprofessor auf. nicht lange. Der Ehemann verlangte Ge- schrauben“. Ursel, offizielle Chefin der Bei einem Autounfall sei ihr Vater gestor- horsam, wurde handgreiflich und drohte HNG, übernimmt dagegen den mütterli- ben, erzählte die Mutter, eine Oberstudi- schon mal dem Kind. Sie klammert sich an chen Part. Weihnachten, so erzählt man enrätin. Ihre ganze Kindheit hindurch er- den Traum von der Familie, er bleibt im- sich, soll sie schon mal Plätzchen in Ha- fuhr Carla nicht, dass jener greise und un- mer öfter fort von zu Hause. kenkreuzform backen. zugängliche Professor ihr Vater ist. Carla bringt ein zweites Kind zur Welt, Bei den Müllers finden Tochter Tina und Wie viele Kinder, die ohne Vater auf- endlich einen Sohn. Doch als der Säugling Mutter Carla, wonach sie ihr Leben lang wachsen, wollte das Mädchen schon früh den plötzlichen Kindstod stirbt, ist die Ehe gesucht hatten: eine Familie, ein Zuhause. ihren Mann stehen, spielte Fußball und endgültig zerrüttet. Die dritte Schwanger- Vertrauensvolle Beziehungen hatte Carla baute Baumhäuser. Carla begeisterte sich schaft, Folge einer Vergewaltigung in der bis dahin selten erlebt. Bindungen bedeu- für alles, was sich als Fluchthelfer aus Ehe, bricht Carla ab. Sie lässt sich scheiden, tritt aus der NPD aus, kehrt mit ihrer Tochter Tina nach Mainz zu ihrer Mutter zurück und stürzt sich in ihr nächstes Abenteuer. Die eben noch folgsame Frau eines Deutschnationa- len verliebt sich in einen GI, einen Hispano-Amerikaner. Gemeinsam wollen sie in die USA auswandern. Doch Tochter Tina darf wegen des ge- teilten Sorgerechts nicht mit. Carla ent- scheidet sich, ohne Kind nach Amerika zu gehen. Sie verliert das Sorgerecht. Ihre Tochter muss wieder nach München zie- hen, wo sie ihr Vater bald darauf in ein Heim steckt. Vorerst genießt Carla das Leben inmitten der GIs. Sie lebt in Wohnwagenparks, robbt bei Überlebenskursen durch den Schlamm und tobt sich aus. Doch die Sehnsucht nach der Tochter wird stärker. Sie will zurück. 1993 quittiert ihr neuer Ehemann den Dienst in der US-Army und folgt Carla nach Deutschland. Die nächste Katastro- phe bahnt sich an. Zwar kann sie endlich ihre Tochter besuchen, aber der Gatte hängt an der Wasserpfeife, versackt, bis Carla ihn 1995 aus der gemeinsamen Woh-

DER RECHTE RAND * 1991 bei einem „Rudolf-Heß-Gedenkmarsch“ in Bay- Hitler-Verehrer Curt, Ursel Müller*: „Heil Dir, liebe Ursel!“ reuth.

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An diesem Donnerstag stehen sie vor ei- nem mächtigen Stahltor, bewehrt mit einer grünen Sichtblende und Stacheldraht auf der Mauer. Gelegentlich schießt Ursel Mül- ler mit einem Eimer Wasser aus der Burg und verscheucht die „Systempresse“. Ein kleiner Schaukasten mit dem Bild des Hit- ler-Stellvertreters Rudolf Heß signalisiert den beiden Besucherinnen, dass sie richtig sind. Zwar bleibt das Tor verschlossen, aber ein Winken aus dem Festungsfenster macht Mutter und Tochter Hoffnung. Sie schreiben Briefe – und Müllers ant- worten tatsächlich. Das Tor sei vormittags für ein paar Stunden geöffnet, sie könnten ja mal vorbeischauen. Zwischen Mutter und Tochter entbrennt vor dem zweiten Besuch ein heftiger Streit. Wer darf das T- Shirt mit dem Aufdruck „Ein Herz für Deutschland“ tragen? Tina gewinnt. Wenig später stehen sie im Müllerschen Gärtnereibetrieb. Die HNG-Chefin bindet Verbotene Wiking Jugend (1994): Folkloristisches braunes Weltbild Blumen, gibt sich herzlich und vermittelt den beiden das Gefühl, sie prüfe die Gesin- nung wirft. Fortan kämpft sie um das Sor- hard Frey, die „National-Zeitung“. Die Sol- nung der Neuzugänge. Die Frauen bestehen gerecht für ihre Tochter. datenporträts finden sie spannend. die ersten Tests. Auch als Ursel Müller mit Tina hat unterdessen eine neunjährige Plötzlich fallen ihnen Zeitungsberichte Schändungen jüdischer Friedhöfe prahlt, Heimkarriere hinter sich. Ein Aufenthalt über kriminelle Ausländer auf. Berichte zeigen Mutter und Tochter keine Abscheu. bei Pflegeeltern scheitert an der Tabletten- aus der geheimnisvollen Welt der Neona- Ursel Müller, im Mai 1999 wegen Auf- sucht der Ersatzmutter, die auch Carlas zis finden sie so aufregend, dass Mutter stachelung zum Rassenhass auf Bewährung Briefe aus der Neuen Welt abgefangen hat. und Tochter Kontakt in die rechtsextreme verurteilt, nennt dagegen die Erinnerungen Wieder landet sie im Heim. Ihr Vater be- Szene suchen. der Frauen „Märchen“. Zu Friedhofs- sucht sie selten. Am 20. April 1999, Führers Geburtstag, schändungen aufzurufen „würde mir nie Carla erhält 1997 das Sorgerecht zurück. fahren sie nach Mainz-Gonsenheim. In der in den Sinn kommen“, lässt sie den SPIE- Mutter und Tochter gewöhnen sich schnell Gegend ist Carla aufgewachsen. Und jeder GEL wissen. wieder aneinander. Die Mittdreißigerin Einheimische weiß, dass hier die Müllers Die ebenso kalte wie herzliche Alte wird und der Teenager geben sich jene Gebor- wohnen. Von denen heißt es, sie begrüßten schnell zu einer Art Ersatzmutter. Carla genheit, die beide vermisst haben. und verabschiedeten gleichgesinnte Gäste hilft ihr beim Putzen. Sie fühlt sich ernst Das Leben gewinnt an Ordnung. Tina zackig mit erhobenem rechtem Arm, was genommen, fühlt sich wichtig, wertvoll, ak- geht auf die Realschule, Carla arbeitet bei Ursel Müller bestreitet. zeptiert. Edeka, gibt in der Nachbarschaft Nachhil- Die Frauen haben den Eindruck, dass fe in Englisch und putzt bei ihrer Mutter. Ursel Müller spürt, sie wollen mehr als Doch wieder droht die Langeweile. Als Ideologie und Herzlichkeit. Nach gut drei müssten sie ihre Jugend nachholen, suchen Monaten ruft Ursels Bekannter Wilhelm Mutter und Tochter das Abenteuer, das Herbi an und lädt zur Sonnenwendfeier, Schräge, das Ausgeflippte. Sie hängen in auf der „im Schweiße des Angesichts ge- Mainz mit US-Soldaten herum. Dass Far- schuftet wird“, bevor das Feuer brennt. bige darunter sind, stört sie nicht. Sie probieren verwegene Rollen aus und Rede im Feuerschein rasieren sich die Schädel – so wie Demi Moore. Die Hollywood-Schauspielerin Die Einladung hatte zu viel versprochen – mimt im Film „Die Akte Jane“ einen weib- bis auf Hans. Er war keiner von diesen lichen GI, der sich in der Machowelt der Proll-Glatzen, sondern diente bei der Bun- US-Armee behauptet. Ab sofort ziehen sie deswehr und arbeitete an seinem Bild als im gefleckten Kampfdress der Army durch künftiger Ideologe der neonazistischen Be- die Gegend und züchten sich Muskeln an. wegung. Bei den Jungen Nationaldemo- Doch die Rollenspiele enden so abrupt, kraten in Hessen war er zum Beisitzer in wie sie begonnen haben. Kleinste Bege- den Landesvorstand aufgerückt. Seine ge- benheiten ändern ihre Haltungen radikal. schliffene Rede im Feuerschein beein- Nach einem missglückten Flirt mit einem druckt die Frauen.

schwarzen Soldaten entdecken Mutter und M. SCHRÖDER / ARGUS Die Vergangenheit mutete Hans stets Tochter ihre Abneigung gegenüber allem Friedhelm Busse wurde 1971 aus der märchenhaft und abenteuerlich an. Sein Nichtdeutschen. NPD ausgeschlossen, nachdem er Großvater erzählte Heldengeschichten vom Fernsehdokumentationen über Hitlers deren Legalitätskurs für gescheitert Krieg und erklärte den Antisemitismus auf Wehrmacht wirken wie eine Einstiegsdro- erklärt hatte. Vielfach verurteilt, über- die katholische Art: „Die Juden haben un- ge. Im Frühjahr 1999 erinnert sich Carla nahm Busse 1988 den Vorsitz der FAP. seren Herrgott ans Kreuz genagelt, die wer- an ihre Zeit in der NPD-Zentrale in Mün- Bezeichnete Hitler als den „größten den ihr Fett schon wegkriegen.“ chen. Sie lesen die Hauspostille des rechts- Staatsmann des Jahrtausends“. Wenn der Junge Hans mit Freunden extremen Verlegers und DVU-Chefs Ger- Spielzeugarmeen bewegte, kommentierte

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te abgebildet. Hans ist zufrieden, schließ- lich hatte er sich ohne Scheu den Kame- ramännern und Fotografen gestellt. „Bes- ser, die nehmen mich als so einen Hauer von Skin“, denkt er. An die Bierbäuche der Glatzen mit den gewaltigen Tätowierungen kann sich Hans dennoch nicht gewöhnen. Auch andere Na- tionale versprechen Wehrsportübungen und Zeltlager, dabei wollen sie nur saufen. Er wird von den Kameraden verhöhnt, weil er sich wäscht und nicht mittrinkt. Notgedrungen akzeptiert er die Bande, weil sie für Präsenz auf den Straßen sorgt. Dass sie ihn als „Scheitel“ verlachen, ihn verprügeln, als sich versehentlich in der Mannheimer „Schmuckerstube“ ein Schuss aus seiner Schreckschusspistole löst, nimmt er hin. Denn inzwischen hat auch Hans seine Clique gefunden, die JN. Mit ihnen begeht der Szene-Lehrling seine erste Straftat. Im

VERSION August 1998 bepflastert er mit drei NPD-Aufmarsch in Leipzig (1998): Saufgelage statt Wehrsportübungen Jungnationalen die Rheinpromenade in Worms mit JN-Propagandamaterial. Opa fachkundig das Kampfgeschehen: Ma- schreibt dem DVU-Parteichef Frey einen Plötzlich fahren vier Polizeiautos und schinengewehre nannte er „Hitlersensen“ Brief, in dem er sein „Entsetzen“ mit- zwei Busse vor. Hans springt in eine Hecke. und die Gasmaske, prahlte er, habe er da- teilt. Beeindruckt hält der Hauptschüler Als seine Kameraden verhaftet werden, er- mals in zehn Sekunden aufgesetzt. wenig später Freys Antwortschreiben in hebt er sich: „Hallo, ich bin auch noch da“, Das folkloristisch braune Weltbild präg- den Händen. ruft er, um nicht als Feigling zu gelten. te die Kinderzeit. Ein Jägerfreund des Va- Hans machte den Hauptschulabschluss, Die Beamten erweisen sich als harmlos. ters nannte den Hochsitz „Wolfsschanze“, eine Dreher- und Bäckerlehre und ver- Nach einer Nacht auf dem Revier werden andere besiegelten das Ende eines Halalis suchte sich als Rodeoreiter in einer Show- den Jungnazis die JN-Aufkleber wieder mit Bierflaschen, die als Hakenkreuz auf- truppe. Die „National-Zeitung“ begleitet ausgehändigt. Die Ermittlungsbehörden gestellt wurden. Zum Abschied ließen die ihn. Im Werbeprospekt aus einem rechts- dürfen nur ein Exemplar beschlagnahmen. Weidmänner Hermann Göring hochleben. extremen Versandhandel wurde er auf den Auf dem Rückweg verkleben sie die restli- Fasziniert studierte der dickliche Hans mit nationalen Liedermacher Frank Rennicke chen Sticker. 14 die „National-Zeitung“. aufmerksam. Hans bestellte eine CD. Durch die JN lernt er einstige Kader der Als der damalige Bundeskanzler Helmut Rennicke, ehemaliges Mitglied der heu- verbotenen „Freiheitlichen Deutschen Ar- Kohl während der Zwei-plus-Vier-Ver- te verbotenen Wiking Jugend, ist der neue beiterpartei“ (FAP) kennen. Auf einer Un- handlungen endgültig auf die ehemaligen Barde der Bewegung, den alle kennen, garnfahrt trifft er erstmals einen der Wich- Ostgebiete verzichtet, empört er sich. Hans vom Nachwuchsskin bis zum Altnazi. Hans tigen im braunen Netzwerk: Friedhelm schrieb dem braunen Sänger und fragte, Busse, 71, Ex-FAP-Chef, bis zu seinem Par- wie er der nationalen Sache dienen könne. teiausschluss 1971 Mitglied der NPD, ver- Wieder kam die Antwort prompt. In ei- urteilt wegen Volksverhetzung, Sprengstoff- nem Laden in Ludwigshafen könne er sich und Waffenbesitz und Weiterführung einer informieren und gleich für die NPD-Demo verbotenen rechtsextremen Organisation. anmelden, am 1. Mai 1998 in Leipzig. Der grauhaarige Altnazi ist eine Legen- Der erste Kontakt mit der Szene ist ein de, weil er Adolf Hitler die Hand geschüt- Schock für Hans. Ein wuchtiger Glatzkopf telt haben will. Der eifrige Junge kommt stellt sich ihm in den Weg: Christian Hehl, an. Busse verkauft Hans eine Jubiläums- 30, wegen Körperverletzung und Volksver- ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ für 70 hetzung mehrfach verurteilter Neonazi. Mark, dafür mit Widmung: „Ohne Mut kei- Der Schläger darf sein eigenes Geschäft be- ne Freiheit! Keine Freiheit ohne Mut!“ treiben, bis der Szene-Treffpunkt auf Druck Am 3. Mai 1999 tritt Hans den Wehr- einer Bürgerinitiative geschlossen wird. dienst an; in Kniebundhose, hellbraunem In „Hehls World“ gibt es alles, was Glat- Hemd, mit Kartenmeldetasche und einem zen glücklich macht: einschlägige T-Shirts, Hitlerbart unter der Nase meldet er sich in Musik, Messer und vor allem Termine. Ein- der Klotzberg-Kaserne in Idar Oberstein. geschüchtert meldet sich Hans für die Leip- Es dauert ein halbes Jahr, bis die Truppe,

PANORAMA / NDR PANORAMA ziger Demo an. die Verteidigungsminister Rudolf Scharping Der 30-jährige Christian Hehl ist zen- Seine Vorstellungen von der Szene sind für ihr erbarmungsloses Vorgehen gegen al- trales Bindeglied zwischen Hooligan- rührend. Weil er sich zu Hause angelesen les Braune lobt, erkennt, dass sie einen be- und Neonazi-Szene. Der Mitbegründer hat, dass die Nationalen sauber und or- kennenden Neonazi an der Waffe ausgebil- der Hool-Truppe „The Firm“ reist als dentlich sind, kommt er wie Haiders Berg- det hat. Erst als Hans am 13. September auf Schläger von Demo zu Demo, ein bub zum Bus, in weißem Hemd und Trach- der Stube zu laut über „Judenschweine“ Hakenkreuz-Tattoo verdeckt er mit tenjanker. Die bierseligen Skins johlen. herzieht und einen Obergefreiten für die Pflaster, um nicht belangt zu werden. In der „Bild am Sonntag“ wird der or- JN werben will, wird gegen ihn ein sie- dentliche junge Mann auf einer halben Sei- bentägiger Arrest verhängt. Vereidigt wur-

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Tina und Hans ihre erste gemeinsame Straftat. Sie setzen sich ins Auto und fahren nach Worms. An der historischen Stadt- mauer parken sie Carlas Wagen. Hans, als zu behäbig für die Aktion befunden, muss auf dem Beifahrersitz ausharren. Carla und Tina schleichen sich langsam Richtung Judengasse durch die Nacht. Ihr Ziel ist die Synagoge von Worms. Während die Mutter zur Spraydose greift, steht die Tochter Schmiere. „Juda verrecke“, „Deutschland erwache“, Hakenkreuze und Wolfsangel werden auf die Nordwand der Synagoge gesprüht. Einmal in Fahrt be- schmiert Carla auch das benachbarte Ra- schi-Haus, ein Gemeindezentrum. Gut einen Monat später, nach einem An- griff „linker Zecken“ auf das Auto des hes- sischen JN-Vize Frank Ludwig, unterneh- men sie eine Vergeltungsaktion. Sie ver- lassen eine Geburtstagsparty und fahren zum Sitz der Antifa im Stadtzentrum von

STADTARCHIV WORMS STADTARCHIV Gießen. Sie sprühen derart auffällig Ha- NS-Parole an der Wormser Synagoge: Spraydose aus dem „Sondereinsatz-Koffer“ kenkreuze ans Haus, dass eine Polizei- streife sie abgreift; die Nacht verbringen sie de er zuvor dennoch, auf die freiheitlich- Bei einer Vernehmung durch den Bttr- auf der Wache. Für diese Tat müssen sie demokratische Grundordnung. Am 11. No- Chef, 2./BeobPzArtLehrBtl 51 am 05.05.99 sich vor Gericht verantworten. vember 1999, sechs Monate nach seinem gaben Sie an, dass Sie gemeinsam Nur drei Tage später sind sie auf dem Dienstantritt, schreibt Brigadegeneral Axel mit Gleichgesinnten Ausbildungen wie Weg nach Biblis. Sie wollen zum Konzert Bürgener, einen Brief an Hans. z. B. Zeltlager oder Anschleichen, sowie Dem „Herrn Gefreiten“ wird mitgeteilt, Bekämpfen eines MG-Nestes nachemp- dass er wegen „Gefährdung der militäri- funden haben (ohne Waffeneinsatz). Sie schen Ordnung“ fristlos aus der Bundes- haben mehrmals an Demonstrationen wehr entlassen wird. Das Dokument führt wie z. B. gegen die Wehrmachtsausstel- detailliert auf, wie offen der Neonazi seit lung teilgenommen. Dienstantritt seine verfassungsfeindliche Grundeinstellung offenbarte: Die große Liebe In einem Gespräch mit BttrChef, 2./Be- obPzArtLehrBtl 51 am 03.05.99 gaben Sie Als die Sonnenwendfeier steigt, dient Hans an, dass Sie aktives Mitglied der Jung- noch in Idar-Oberstein. Ihm gefällt zwar organisation der Nationaldemokrati- nicht, dass ihm Carla an diesem Abend sei- schen Partei Deutschlands seien und nen Schlafsack entwendet und er in Herbis ihren politischen Werdegang innerhalb Auto übernachten muss. Doch er findet der Partei auf Landesebene suchen. Gefallen an der burschikosen Frau – seine Sie befürworten und bejahen die Wiking- erste große Liebe. Jugend, Ihre Mitgliedschaft sei an deren Hans wird den Müllers vorgestellt. Die Verbot gescheitert. Zur Zeit ist ein Ver- HNG kannte er nur vom Hörensagen. Das fahren nach §86a StGB ( Verwenden von nationalsozialistische Mausoleum in Gon- Kennzeichen verfassungswidriger Orga- senheim beeindruckt ihn. Im „kleinen nisationen) gegen Sie anhängig. Walhall“, einer Art Bar im Wohnhaus, darf er eine echte Hakenkreuz-

fahne bewundern. Und von WIND AGENTUR Curt Müller kann er noch Geschändeter jüdischer Friedhof in Alsheim viel über den Nationalsozia- „Wir haben Gärtnerarbeiten gemacht“ lismus lernen. Carla und Tina wollen von Frank Rennicke. Doch sie werden von auch dazugehören. Mit der Polizei gestoppt. In ihrer Montur glei- arischblond gefärbten Haa- chen sie so sehr der SA, dass sie wieder auf ren, Braunhemd und Sprin- der Polizeiwache landen: wegen Verstoßes gerstiefeln marschiert Tina gegen das Uniformierungsverbot. fortan in die Schule. Abends Drei Tage später, Hans ist krank und bringt sie mit ihrer Mutter übernachtet in der Klotzberg-Kaserne in Aufkleber an Laternenmas- Idar-Oberstein, folgt die letzte Straftat. ten und Eingangstüren an. Wieder wollen sie sich Ursel Müller be- Die Aufkleber, auch größere weisen, die für den Hass in ihren Köpfen mit dem Motiv Rudolf Heß, sorgte. Carla und Tina schreiten zur Tat:

ARCHIV INFOLADEN GIEßEN gibt es kostenlos bei Müllers. „Wir wollten ein Fanal setzen!“ Nazi-Schmierereien in Gießen In der Nacht zum 26. Au- Vorher hatten sie in der Szene gehört, „Hallo, ich bin auch noch da!“ gust 1999 begehen Carla, was es bei der Schändung von jüdischen

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Anfang Dezember fahren beide Richtung Harz, um an einer Julfeier, der Winter- sonnenwende, teilzunehmen. Geladen hat- te die Artgemeinschaft. In diesem Zirkel verkehren die vermeintlichen Vordenker der rechtsextremen Bewegung. Der ein- getragene Verein beruft sich auf die „germanischen Sittengesetze“. Angeführt vom Hamburger Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger, wird das „Sittengesetz unserer Art“ postuliert, dass die „gleichgeartete Gatten- wahl, die Gewähr für gleichgeartete Kin- der“ und „Härte und Hass gegen Feinde“ vorschreibt. Unter dem Deckmantel religiöser Ver- anstaltungen trifft man sich im Verborge- nen. Mitglieder der Artgemeinschaft er- halten folkloristisch klingende Einladun-

VERSION gen: „Am Sonnabend Abend findet unser Frank Rennicke ist der Barde der Be- bunter Abend um den Metkessel mit Sin- wegung. Der Ex-Funktionär der Wi- gen, Volkstanz und spontanen Beiträgen king Jugend beglückt die rechte Szene von Gefährten statt.“ Wohin die Mitglieder seit 1985 mit nationalem Liedgut. Weil fahren müssen, erfahren sie erst nach ihrer er auch Chansons von Reinhard Mey verbindlichen Anmeldung. singt, gilt er als Schlüsselfigur für den Das rechtsextreme Pärchen kommt spät Einstieg in die rechte Szene. in dem ostdeutschen Wintersportort an. Noch auf dem Parkplatz der Ferienanlage streiten sie sich. Carla will das verhasste Friedhöfen zu beachten gilt: immer Hand- Kleid nicht anziehen. Doch sie fügt sich. schuhe anziehen, dazu Gummistiefel und Der Saal des Gasthofs ist gut gefüllt. Papieroveralls, wie Lackierer sie benutzen, Etwa 150 Anhänger des neofaschistischen aus dem Baumarkt. Nach der Tat sofort Germanenkults haben sich versammelt. Als beseitigen und schweigen. erstes kommt den beiden der ehemalige In der Nacht zum 28. September 1999 Rechtsterrorist Manfred Roeder entgegen. setzen sich Mutter und Tochter wieder ins Auch Steffen Hupka, 85, ist dabei. Der Auto. Erneut fahren sie Richtung Worms. NPD-Funktionär, Ex-Führungskader der Kurz hinter einer ehemaligen Tankstelle verbotenen „Nationalistischen Front“ parken sie das Auto auf einem Feld- (NF), ist direkt nach dem Fall der Mauer weg. Handschuhe an, Spraydose aus dem nach Quedlinburg in den Ostharz gezogen. „Sondereinsatz-Koffer“, der immer im Auto Er koordiniert die neofaschistischen Akti- liegt, und los. Carla klettert auf die fast zwei vitäten in Sachsen-Anhalt. Meter hohe Mauer des jüdischen Friedhofs Auf einem Stuhl sitzt eine alte Frau, der in Alsheim, zieht ihre Tochter Tina, sie artig die Hand geben. Florentine Rost die Knieprobleme hatte, in der Dunkel- van Tonningen, 84, eng befreundet mit der heit hoch. Tochter Heinrich Himmlers, Gudrun Bur- Sie stürzen 35 Grabsteine um, einige zer- witz. Auf Wunsch erzählt sie Anekdoten brechen. Während Tina weiter Gräber von Himmler. schändet, sprüht Carla mit schwarzer Far- Die leise sprechende Frau war mit Mei- be „Juda verrecke“, „Deutschland erwa- noud Marinus van Tonningen verheiratet, che“, „Zion stirb“, ein Hakenkreuz und Sturmbannführer der Waffen-SS und im andere Symbole der rechten Szene an die Dritten Reich Präsident der niederlän- Friedhofsmauer. Wenig später verschwin- dischen Nationalbank. In ihrer Villa trafen den Turnschuhe und Spraydose im Rhein. sich über Jahre die verbliebenen Getreuen Der einsetzende Regen beruhigt sie. des verstorbenen deutschen Neonazi- Hans wird über die Aktion unterrichtet: Führers Michael Kühnen. Van Tonningen „Wir haben Gärtnerarbeiten gemacht.“ kümmert sich in den Niederlanden, wie Zwar sorgt er sich, weil der Tatort zu nah an Ursel Müller in Deutschland, um die so ge- der Wohnung der inzwischen regional be- nannten politischen Gefangenen. „Con- kannten Rechtsextremisten liegt. „Wir sind sortium de Levensboom“ heißt ihre Or- doch voll im Fahndungsraster der Polizei“, ganisation. denkt der Neonazi. Allerdings beruhigt auch Carla und Hans plaudern mit Hans-Jür- ihn der Regen, der die Spuren verwässern gen Hertlein, Landesführer des „Stahl- soll. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellt. helm“ in Rheinland-Pfalz. Die Organisa- Hans, mittlerweile aus der Bundeswehr tion ruft in ihrem Kampfblatt „Frontsol- entlassen, widmet sich als Arbeitsloser dat“ dazu auf, für „die neue Zeit zu kämp- noch intensiver der Bewegung. Noch ein- fen“, in der Deutschland wieder eine sou- mal taucht er mit Carla, die inzwischen veräne Regierung habe. ahnt, dass die Straftaten auch zu Strafen Wenig später unterhält sich Hans mit führen, in die Welt der Neonazis ein. Jürgen Mosler, 44, Ex-Generalsekretär der

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Werbeseite Deutschland verbotenen FAP. Auch Frank Rennicke zu seinem Vater. Sie probieren eine Bezie- noch. Weder seine Verlobte noch deren fehlt nicht in diesem illustren Kreis. hung auf Distanz. Wieder kippt die Stim- Tochter will er belasten. In einem Hinterzimmer bieten Antiqua- mung bei Carla und Tina. Eben noch mit Er gibt zu, zu wissen, wer den jüdischen riate und Devotionalienhändler ihre Waren Begeisterung in der Neonazi-Szene, wollen Friedhof in Alsheim geschändet hat, nur feil. Unter der Hand werden auch indizier- sie jetzt von all dem nichts mehr wissen. Namen will er nicht nennen. Während Car- te Musikkassetten verkauft, etwa vom Doch Hans vermisst Carla. Nach einem la die Nacht in einer Zelle verbringt, wird „Weißen Arischen Widerstand“ (WAW). Be- Silvesterbesäufnis mit heftigem Streit ver- Tina nach Hause geschickt. Erst am nächs- vor der Kessel mit dem süffigen Honigtrank söhnen sie sich wieder. Hatte Hans seiner ten Morgen, ohne zu wissen, ob Tina sich vom Zeremonienmeister Rieger durch das Lebensgefährtin bisher mit der Glorifizie- zu ihren Taten bekannt hat oder nicht, dreimalige Leeren eines Methorns freigege- rung des Nationalsozialismus zu einem beichtet auch Carla. ben wird, müssen die Gäste den „Auftanz“, simplen Weltbild mit Überlegenheitsga- Der schweigende Hans wird mit der Be- eine Art Polonaise, absolvieren. rantie verholfen, setzt sie ihm jetzt mit boh- merkung entlassen, er werde noch von der renden Fragen zu. Warum die Nazis Polizei hören. Nach gut zwei Wochen will Der Ausstieg Bücher verbrannten, will Carla wissen, er sich dort freiwillig gemeldet und darauf wenn die Bewegung so toll gewesen ist? gedrängt haben, auszusagen. „Dann habe Am nächsten Morgen brechen beide, auf ich halt erzählt, wie das mit der Synagoge Drängen von Carla, wieder Richtung Das Urteil in Worms war“, erklärt Hans mit leiser Mainz auf. Auf erbauliche Vorträge muss Stimme. Hans verzichten. Carla plagen mittlerwei- Am Morgen des 24. Februar, um sieben Die Ermittler erfahren von ihm auch le Alpträume. Sie wird das Gefühl nicht Uhr, steht die Polizei vor ihrer Tür. Tina Hintergründe aus der rechten Szene, die los, abgehört zu werden. Zu Ursel Müller und Hans werden in getrennten Fahrzeu- nicht für die Straftaten relevant waren. Mit und der HNG war sie schon nach den gen nach Mainz aufs Polizeirevier gebracht. dieser Aussage ist Hans zum Verräter ge- Straftaten auf Distanz gegangen. Langsam Carla muss während der folgenden Haus- worden. Alle drei verzichten auf einen bröckelt der Spaß am nationalen Wider- durchsuchung in der Wohnung bleiben. Ei- Handel mit der Staatsanwaltschaft – Wis- stand und die Motivation, sich den Regeln gentlich ist sie erleichtert. sen gegen ein mildes Urteil –, hoffen aber, der Bewegung zu unterwerfen. „Mir hat Während Tina im Mainzer Polizeipräsi- dass ein Geständnis nicht von Nachteil ist. dann auch meine Musik gefehlt. Ich hab öf- dium vernommen wird, überlegt die Mut- Vier Tage nach der Hausdurchsuchung schreiben Mutter und Tochter einen Brief an die jüdische Gemeinde in Mainz und entschuldigen sich für ihre Taten. Carla gibt den Brief persönlich ab. Der ange- richtete Sachschaden, so erfahren sie im Juli dieses Jahres durch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft aus Mainz, beträgt 20000 Mark. Es droht eine Haftstrafe von bis zu fünf Jahren. Auf einen Anwalt für den bevorstehenden Prozess am Jugend- schöffengericht in Mainz verzichten sie, „weil die Taten, die wir begangen haben, nicht zu verteidigen sind“. Hans, dem die Abkehr von der Szene schwerer fällt („Das waren ja meine Freun- de“), schreibt seinen Entschuldigungsbrief erst Ende März. So wie er sich früher die antisemitische Ideologie seines Idols Julius Streicher erarbeitet hat, erliest sich Hans nun seine Kritik am eigenen Weltbild. So wie er früher antisemitische Propaganda verbreitet hat, will er jetzt mit seinem Wis- sen über die Mechanismen und die Dyna- mik der rechtsextremen Bewegung berich- ten. Er sieht sich schon als Anlaufstelle für Journalisten. „Jeder kann bei uns seine Meinung frei Neonazi-Utensilien von Aussteiger Hans: Für die Taten entschuldigt äußern. Voraussetzung ist allerdings: Sie entspricht der von uns veröffentlichten“, ter an die Red Hot Chilli Peppers gedacht. ter, alles auf ihre Kappe zu nehmen, um lautet einer der Stempel auf den Briefen Das kannste alles nicht mehr hören“, denkt der Tochter die Zukunft nicht zu verbau- Curt Müllers, die er den dreien immer sich Carla. en. Sie hat Angst, dass Tina nach einer noch hinterherfaxt. Er fordert die aus- Immer häufiger kommt es zum Streit mit Verurteilung keine Lehrstelle bekommt. geliehenen Bücher von den ehemaligen Hans. Nachdem sich Carla ihrer Tochter Tina will erst mit Rücksicht auf Carla HNG-Mitgliedern ein. Doch das eine, anvertraut hatte, rückte sie ihre alten CDs nicht aussagen, packt dann doch aus, nach- das sie ihm noch nicht zurückgeschickt ha- und Bücher wieder nach vorne ins Regal. dem ihr die vernehmende Beamtin gesagt ben, lagert in der Asservatenkammer der Kurz vor Silvester kommt es zum Eklat mit hatte, sie wisse ohnehin schon alles. Un- Polizei. Es ist ein in Neonazi-Kreisen be- ihrem Verlobten, der inzwischen allein der terdessen ist auch ihre Mutter auf dem Weg liebtes Buch: „Gedenkstätten der Opfer Szene die Treue hält. zu ihrem Verhör. Schon auf der Fahrt zum des Nationalsozialismus“. Die aufgeführ- Carla nimmt die Heß-Plakate und Präsidium will sie alles erzählen. Nur Hans, ten Adressen dienten als Wegweiser für Führerbilder ab, stopft die antisemitischen der inzwischen auf das Polizeirevier in Attentäter. Carolin Emcke, Hetzschriften in einen Koffer. Hans zieht Mainz-Lerchenberg verlegt wurde, zögert Christoph Mestmacher

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Werbeseite M. URBAN Grünen-Sprecher Künast, Kuhn: „Es gilt zu beweisen, dass Doppelspitzen funktionieren“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Zeigen, was grün ist“ Die Parteichefs Renate Künast und Fritz Kuhn über die Ökosteuer, das Verhältnis zu Kanzler Gerhard Schröder und die Chancen zur Profilierung in der Koalition

SPIEGEL: Frau Künast, Herr Kuhn, die FDP der sozialen Marktwirtschaft noch bei den Schäuble als auch Merkel die Ökosteuer ruft ihren Kanzlerkandidaten aus. Wer von Zukunftsfragen. Das gilt beim Verkehr wie noch vor zwei Jahren befürwortet haben. Ihnen macht bei den Grünen diesen Job? in allen anderen umweltpolitischen Berei- Die Ökosteuer bleibt. Künast: Warum sollten wir uns an diesem chen. Die FDP macht uns nicht Bange. Kuhn: Das Problem ist doch nicht die Steu- Firlefanz beteiligen? Wir haben mit Josch- SPIEGEL: Die Ökosteuer schon eher, obwohl er. Nehmen wir das Heizöl: Hier hat sich ka Fischer einen herausragenden Vize- Sie doch jubeln müssten. Der Spritpreis der Preis gegenüber dem Frühjahr um fast kanzler und stecken nicht in einer Not- steigt rasant, wie Sie es immer wollten. 60 Pfennig erhöht. Davon sind 4 Pfennig situation wie die Herren Möllemann und Kuhn: Für Ökologen kommt es nicht in ers- Ökosteuer. Trotzdem ignorieren wir nicht Gerhardt. ter Linie auf die Höhe des Energiepreises die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Kuhn: Bei uns stehen die Inhalte im Vor- an. Als Umweltpolitiker interessiert mich, dergrund und nicht der Klamauk. dass die Lenkungswirkung der Ökosteuer Künast: Nehmen Sie den jüngsten Be- funktioniert. Dann wird Energie effizienter schluss der Liberalen, die Wehrpflicht aus- eingesetzt, nicht nur durch Sprit sparendes zusetzen. Der zeigt: Die FDP ist eine Par- Autofahren. Es ist ein zentrales Reform- tei der Nicht-Entscheider. stück dieser Regierung, die soziale Markt- SPIEGEL: Das ist spitzfindig. Die Botschaft wirtschaft um eine ökologische Kompo- lautet: Die FDP ist gegen die Wehrpflicht. nente zu verbessern. Und das war bisher der Job der Grünen. SPIEGEL: Dann bleibt es dabei, dass Sie der Künast: Die FDP kopiert die Grünen, al- Opposition Jahr für Jahr eine Steilvorlage lerdings sehr schlecht. Wir wollen Zwangs- für eine Kampagne gegen die „K.-o.-Steu- dienste seit jeher abschaffen. Wir wollen er“ liefern. Und da soll Kanzler Schröder die wichtigen sozialen und ökologischen gelassen bleiben? Aufgaben, die Zivildienstleistende heute Kuhn: Die Kampagne der Union ist in ho- vollbringen, mit einem Freiwilligen Öko- hem Maße verlogen... logischen Jahr bewältigen, damit der So- SPIEGEL: ... aber wirksam; denn die Koali- zialstaat nicht kollabiert. tion hat offenbar Angst bekommen, bessert Kuhn: Die FDP hat keine schlüssigen Kon- nach, sorgt für Entlastung – ein Volltreffer. zepte – weder bei der Weiterentwicklung Künast: Nein. Die Kampagne würde dann

zu 100 Prozent treffen, wenn am Ende M. DARCHINGER Das Gespräch führten die Redakteure Christoph Mest- die CDU glänzend dabei herauskäme. Tut Koalitionspartner Fischer, Schröder macher, Gerd Rosenkranz und Hajo Schumacher. sie schon deswegen nicht, weil sowohl „Der Kanzler braucht die Grünen“

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SPIEGEL: Was ist mit den Kleinrentnern, die jetzt ihre Heizöltanks füllen müssen? Kuhn: Da das Wohngeld gegenwärtig ent- lang der Kaltmiete läuft, werden wir mit ei- nem einmaligen Heizkostenzuschuss einen sozialen Ausgleich schaffen. SPIEGEL: Dennoch erkennt man ein Muster. Die Grünen sind an allem schuld – und Kanzler und Finanzminister verteilen die Wohltaten. Künast: Blödsinn. Wir achten darauf, dass die soziale Entlastung nicht die Lenkungs- wirkung der Ökosteuer untergräbt. SPIEGEL: Durch die Entfernungspauschale werden zwar Bus, Bahn und Fahrrad mit dem Auto gleichgestellt – eine alte Forde- rung der Grünen –, aber die Pauschale wird gleichzeitig erhöht und bietet deshalb noch mehr Anreiz für ein ökologisch fragwürdi- ges Pendlerdasein. Kuhn: Der Druck zum Pendeln kommt vor allem von den Boden- und Wohnungsprei- sen. Außerdem müssen die Städte kinder- freundlicher werden. Die Entfernungspau- schale ist eine ökologische Strukturreform, denn sie verbessert die Position von Schie- ne und Bus gegenüber dem Auto. Sie ver- eint Ökologie und Gerechtigkeit. SPIEGEL: Sie gelten als Dream-Team bei den Grünen, weil Sie als erstes Vorstandsduo nicht über- und gegeneinander reden, son- dern miteinander. Kuhn: Wir sind in der Tat ein mindestens zweijähriger empirischer Großversuch. Es gilt zu beweisen, dass Doppelspitzen funk- tionieren können… SPIEGEL: … fast so gut wie Angela Merkel und Edmund Stoiber. Kuhn: Das muss ich aufs Schärfste zurück- weisen. Künast: Wir sind konkurrenzlos. Kuhn: Spaß beiseite. Die Erfolgskriterien sind, dass die grüne Partei handlungsfähi- ger wird, klarer geführt und dass die Pro- filbildung besser funktioniert. SPIEGEL: Das haben wir von Ihnen beiden schon in Ihren Antrittsreden im Juni in Münster vernommen. Ihr Strategiepapier liest sich, als hätten Sie es bei Ihren Vor- gängerinnen auf der Festplatte gefunden. Was ist neu? Künast: Von wegen Festplatte. Wir sind jetzt einen großen Schritt weiter. Im Parteirat haben wir ein klares Zwei-Jahres-Pro- gramm durchgesetzt mit den Schwerpunk- ten ökologische Modernisierung, soziale Gerechtigkeit, Europa und Bürgerrechte. Das zeigt, dass wir handlungsfähig sind. Dass wir diese Themen auch besetzen, hat die Partei übrigens im Kampf gegen den Rechtsextremismus bewiesen. SPIEGEL: Sie haben das Thema zwar ange- stoßen, aber nach einer guten Woche wur- de es nicht mehr mit den Grünen verbun- den, sondern es war eine gesamtgesell- schaftliche Debatte. Künast: Jetzt reicht’s aber – ich lasse mir unsere Erfolge nicht kleinreden. Wenn wir die Einzigen sind, die vier Wochen lang der spiegel 39/2000 69 Deutschland wie ein einsamer Rufer in der Wüste ste- Künast: Wir bestehen auf einer Debatte sonen zu profilieren. Unsere Aufgabe ist hen, sagen Sie, wir würden uns nicht über dieses wichtige Modernisierungs- zu zeigen, was grün ist. durchsetzen. Wenn wir alle gezwungen ha- thema… SPIEGEL: Um Fraktionschef Rezzo Schlauch ben, dieses Thema ernst zu nehmen, sagen Kuhn: ... und wir schlafen nicht friedlich zu zitieren: „Wir sind die Preußen der Ko- Sie, niemand rede mehr über uns. vor uns hin, nur weil es die Einwande- alition.“ Das heißt: Ruhe im Karton. Kuhn: Wenn wir eine gesellschaftliche De- rungskommission gibt. Künast: Ich bin nicht Preußin, ich bin Ber- batte wirklich anstoßen, halte ich das für ei- Künast: Die volkswirtschaftlich zwingende linerin. Es geht nicht um Streit um des Strei- nen Riesenerfolg. Damit ist es natürlich Zuwanderung erfordert eine wahnsinnige tes willen. Und mit dem Verhältnis zu Ger- nicht getan. Wir müssen jetzt dafür sor- Integrationsleistung, um nicht die Fehler hard Schröder machen Sie uns nicht kirre. gen, dass das kein Sommerlochthema der Gastarbeiterpolitik aus den sechziger Kuhn: Er ist ein erfolgreicher Kanzler, der bleibt. Wir führen die Partei inhaltlich mit und siebziger Jahren zu wiederholen, als die Grünen braucht, weil die Modernisie- diesen vier Punkten, die Renate eben ge- man meinte, die Menschen gehen wieder, rung Deutschlands ohne uns nicht voran- nannt hat, in den Wahlkampf. wenn sie genug geschuftet haben. Die Gast- kommt. Die SPD ist doch in Teilen struk- SPIEGEL: Bei grünen Kernthemen wie der arbeiter sind völlig zu Recht hier geblieben, turkonservativ, sie fühlt sich den alten Lob- Einwanderungspolitik wurde Ihre Partei haben Familien gegründet und waren auf bys verpflichtet. Das Bewusstsein, dass mit kaum wahrgenommen. sich allein gestellt. Integration heißt auch: den Grünen mehr Reformpolitik zu ma- Künast: Das verbessern wir. Zurzeit disku- Ängste nehmen, bei Einheimischen wie bei chen ist als mit dem strukturkonservativen tieren wir ein Eckpunktepapier für ein na- den Zuwanderern. Lager, wächst auch in der SPD. tionales und ein europäisches Einwande- SPIEGEL: Die Arbeitsteilung verlief bislang SPIEGEL: Für Gerhard Schröder war die Zu- rungsrecht. Otto Schilys Absicht, mit der anders: Die Grünen haben Angst verbrei- sammenarbeit mit den Grünen bisher im- Einwanderungskommission das Thema aus tet, Schröder hat besänftigt. mer erfolgreich. In Niedersachsen folgte auf Rot-Grün eine rote Alleinregierung. Kuhn: Geschichte wiederholt sich nicht. Die Zukunft dieser Regierung wird sich anders darstellen. SPIEGEL: Glauben Sie eigentlich zur Halb- zeit der Wahlperiode, dass Sie sich mit der Übernahme der drei Problemressorts Um- welt, Gesundheit und Außenpolitik einen Gefallen getan haben? Kuhn: Das glaube ich schon. Mit der Er- folgsbilanz, nehmen Sie nur das neue Na- turschutzgesetz oder den Klimaschutz, schneiden wir sehr gut ab. Andrea Fischer hat es auf einem sehr schwierigen Feld ge- schafft, das Gesundheitssystem sozial ge- rechter zu gestalten, übrigens unter Stär- kung der Patienten, ohne dass die Kosten explodieren. Und Joschka Fischers Vorstoß zur europäischen Integration wird den Grünen insgesamt in den nächsten Jahren noch viel nützen.

C. DITSCH / VERSION C. DITSCH SPIEGEL: Die Verantwortung für den Koso- Demonstration gegen Fremdenhass (in Dessau)*: „Integration heißt auch: Ängste nehmen“ vo-Krieg gilt ab sofort als Standortvorteil für die Grünen? der öffentlichen Debatte zu nehmen, ak- Künast: Wenn das der alleinige Zweck von Kuhn: Glauben Sie denn, dass die Ausein- zeptieren wir nicht. Diese Diskussion muss Regierungshandeln wäre, kann ich nur sa- andersetzung um das Kosovo für die Grü- parallel zur Arbeit der Kommission geführt gen: Das reicht uns nicht! nen einfacher gewesen wäre, wenn wir werden, schon allein, um den Bürgern ihre Kuhn: Wir haben klare Konzepte. Natürlich kein Außenministerium gehabt hätten? Ängste zu nehmen. Sonst schüren wir doch müssen wir in der Regierung Kompromisse Dann gäbe es diese Koalition nicht mehr. wieder Fremdenfeindlichkeit. machen. Doch wenn die Partei mit klaren Der Fischer-Plan war immerhin Grundlage Kuhn: Wir waren in der Opposition Spe- Inhalten steht, wird es nicht mehr bei jedem für die Beendigung des Krieges. zialisten darin, Themen zu besetzen. Jetzt Kompromiss eine Verratsdebatte geben. Wir Künast: Eines muss doch klar sein: Nie- lernen wir zunehmend erfolgreicher, wie müssen uns allerdings sensibler als bisher mand kann Teil einer Regierung sein und wir als Regierungspartei Debatten bewah- darum kümmern, welche emotionalen Hal- glauben, er trage nur einen Teil der Ver- ren und weiterentwickeln. tungen zu Themen wie der Ökosteuer in antwortung. Wir sind die Regierung. Damit SPIEGEL: Bisher war Schröder immer einen der Gesellschaft vorherrschen. müssen wir selbstbewusst umgehen. Wir Schritt schneller. Kaum hatten die Grünen SPIEGEL: Eine Umfrage haben wir mit gro- haben Gestaltungsmöglichkeiten, die an- eine Chance, sich zu profilieren, hat der ßem Interesse gelesen: Die grünen Sym- dere nicht haben. Aber man kann sich Kanzler eine Kommission eingesetzt. pathisanten sind diejenigen, die Schröder, nicht nur die Rosinen rauspicken. Künast: Noch einmal: Wir lassen uns in die- insbesondere seinen Habitus, noch vor SPIEGEL: So viel Harmonie irritiert uns. ser Frage nicht den Schneid abkaufen. Das CDU- und PDS-Anhängern am stärksten Gibt es Punkte, wo Sie richtig weit ausein- Asylrecht muss als individueller, einklag- ablehnen. Müssen Sie dem großen Koali- ander sind? barer Anspruch erhalten bleiben. tionspartner nicht mehr abverlangen? Kuhn: Da gibt es einen. SPIEGEL: Sie wollen die Schmerzgrenze Ih- Künast: Als Erstes stellt das, wenn es denn Künast: Mir fällt auch einer ein. Sagst du es? res Koalitionspartners ausloten? so ist, sicher, dass diese Menschen grün Kuhn: Also: Der Hauptstreit geht um die wählen. Das ist doch ein positiver Ansatz. Frage, wer den besseren Friseur hat. * Am 16. Juni nach der Ermordung des Mosambikaners Kuhn: Wir halten ansonsten nichts davon, SPIEGEL: Frau Künast, Herr Kuhn, wir dan- Alberto Adriano. sich innerhalb einer Koalition gegen Per- ken Ihnen für dieses Gespräch.

70 der spiegel 39/2000 Werbeseite

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wurde er vom Berliner Landgericht wegen JUSTIZ mehrfacher Aussageerpressung während seiner Stasi-Tätigkeit rechtskräftig zu ei- Tunnel nach nem Jahr und zehn Monaten Freiheitsent- zug verurteilt – damals auf Bewährung. Fünf Jahre lang drohte ihm ein weiterer Thüringen Prozess. Bereits am 26. Juni 1995 war Pät- zel von der Berliner Staatsanwaltschaft an- Am zehnten Jahrestag der Einheit geklagt worden, wegen Aussageerpressung und Rechtsbeugung in einer der absur- verjähren die meisten Straftaten desten Agentengeschichten, die von der aus DDR-Zeiten. Ein Stasi-Oberst Stasi je inszeniert wurden. Doch die An- ist untergetaucht, um sich bis klageschrift samt 180 Aktenordnern Be- dahin vor Strafverfolgung zu retten. weismittel schlummerte bis Frühjahr dieses Jahres unbearbeitet bei der 3. Strafkammer ie Häuser um die Berliner Ober- des Berliner Landgerichts. spreestraße sind frisch renoviert Erst ein Richterwechsel brachte seit Be- Dund herausgeputzt. Errichtet Ende ginn des Sommers Bewegung in das Ver- der fünfziger Jahre als Siedlung für An- fahren. Ein Termin für die Hauptverhand- gehörige des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), leben hier noch heute zahlreiche frü- here Mitarbeiter der Stasi. Zu den wenigen Prominenten, die in dem kleinen „Alt-Neubau- gebiet“ im Stadtteil Nieder- schöneweide wohnen, gehört Herbert Pätzel, 67, einst Oberst im Reiche von Geheimdienst- chef Erich Mielke. Aufgetaucht ist Pätzel zu Hause freilich schon lange nicht mehr. Wohnung und Garten- grundstück sind verwaist. Der einst mächtige Mann ist auf der Flucht, die Berliner Justiz sucht ihn per Haftbefehl. Rechtsbeugung und Aussage- Stasi-Offizier Pätzel (3. v.r.)*: „Vorbild für Mitarbeiter“ erpressung in einem besonders bizarren Fall werfen ihm die Staatsanwäl- lung wurde auf den 20. Juli festgesetzt – te vor. daraufhin setzte Pätzel sich ab. Warum das Kommende Woche, in der Nacht zum Verfahren fünf Jahre lang verschleppt wur- Dienstag, darf Pätzel gefahrlos wieder auf- de, begründet die Berliner Justizbehörde tauchen. Mit den früheren Genossen in sei- so: „Die Kammer war wie viele andere ner Nachbarschaft kann er dann kräftig fei- überlastet, Haftsachen gingen vor.“ ern: Am 3. Oktober, zehn Jahre nach der Eine Bestrafung ihres Peinigers werden Wiedervereinigung, verjähren nicht nur bei die Geschädigten nun wohl nicht mehr er- Pätzel die ihm vorgeworfenen Taten. leben – wie überhaupt die strafrechtliche Der Tag, an dem das offizielle Deutsch- Aufarbeitung des DDR-Unrechts aus Sicht land in Dresden das große deutsch-deut- vieler Opfer zehn Jahre nach der Einheit sche Jubiläum begeht, verschafft belasteten unbefriedigend geblieben ist: Rund 62000 ehemaligen ostdeutschen Richtern, Staats- Ermittlungsverfahren führten seit 1990 zu anwälten, Stasi-Mitarbeitern oder Gefäng- bundesweit 1000 Anklagen und 650 Pro- nisaufsehern endgültig Straffreiheit – und zessen, von denen 400 mit einer Verurtei- das Ende der von ihnen beklagten „Sie- lung endeten. 33-mal wurden dabei Frei- gerjustiz“. Sämtliche „mittelschweren De- heitsstrafen ohne Bewährung verhängt. Vor likte“ aus DDR-Zeiten dürfen dann nicht einem Jahr – exakte neuere Zahlen gibt es länger verfolgt werden. Verfahren, in de- nicht – waren noch 200 Verfahren offen. nen bis 2. Oktober nicht wenigstens ein Die meisten wurden inzwischen eingestellt. Urteil verkündet wurde, müssen zwingend Dass Pätzel nicht davonkommen wür- eingestellt werden. Nur Mord und Tot- de, hatten vor allem ein Dutzend Bürger schlag sind hiervon ausgenommen. aus dem thüringischen Bad Salzungen ge- Pätzel war bei der Stasi Verhörspezialist hofft. Auf ihre Kosten leistete sich der ehr- und laut Kaderakte „durch seine intensive geizige Offizier, so die Staatsanwaltschaft, und ausdauernde Vernehmungsarbeit Vor- einen der größten Flops der Stasi-Ge- bild für seine Mitarbeiter“. 1975 stieg er schichte: Demnach schrieb Pätzel Anfang zum stellvertretenden Leiter der für die der siebziger Jahre gerade seine Disserta- politische Strafjustiz zentral zuständigen Hauptabteilung IX auf. Im November 1999 * 1972 auf einem sowjetischen Kriegsschiff in der Ostsee.

74 der spiegel 39/2000 Westen sogar auf sowjetische Kriegsschif- fe. Davon, dass man nirgendwo Spuren des James-Bond-Verschnitts finden konnte, ließ sich Pätzel nicht beirren. Als die Stasi-Leute unter Pätzels Regie T. weiter befragten, dachte der sich – wie aus den Akten hervorgeht – eine weitere gro- teske Geschichte aus. Von der Bundes- republik aus habe er im Dezember 1963 einen Tunnel in die DDR hinein gegraben. Am Tunnelausgang in Thüringen habe ihn um die Weihnachtszeit ein Agent namens „Rupprecht“ abgeholt und zu einer Frau namens „Rosemarie“ gebracht. Obwohl der Leiter der Suhler Abwehr- abteilung des MfS die Story schlicht als „Quatsch“ bezeichnete und eine weitere Bearbeitung des Falles ablehnte, glaubte Pätzel alles. Die Stasi-Leute in Suhl hatten

DPA herausgefunden, dass T. sämtliche Agen- Einheitsfeier in Berlin 1990 tennamen von einem Zellengenossen auf- Beginn der Verjährungsfrist geschnappt hatte. Auf Fotos, die ihm die Stasi vorlegte, identifizierte T. die Mitglie- tion an der Stasi-Offiziershochschule in der der angeblichen Spionagegruppe. Bei Potsdam. In ihr sollte es um „Agenten mit einer Autofahrt tippte er auf zwei Häuser, spezieller Auftragsstruktur“ gehen. Alles, in denen angeblich „Rosemarie“ gewohnt was Pätzel noch fehlte, war ein aktueller habe. Zu ihrem Unglück lebte dort tatsäch- Fall. Den lieferte ihm ein westdeutscher lich eine Frau, die Rosemarie hieß. Hochstapler namens Hermann T. Der Insgesamt wurden auf Grund von T.s zwielichtige Mann hatte laut Ermittlungen Angaben zwölf Personen verhaftet und nach Haftstrafe, Gaunereien und zahlrei- teils bis zu 34 Stunden lang ohne Pause chen persönlichen Schwierigkeiten ver- durch Pätzels Vernehmungsmühle gedreht. sucht, von der Bundesrepublik in die DDR Der habe, so die Staatsanwaltschaft, dann überzusiedeln und zum MfS überzulaufen. die Anweisung erteilt, „Geständnisse zu Statt hofiert zu werden, wurde T. jedoch erarbeiten“. Eines der Opfer, Gerhard verhaftet und am 6. April 1970 wegen Spio- Schiek, gab zu Protokoll, sein Verneh- nage zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Die mungsbeamter habe ihm ein Buch in die Stasi glaubte, einen echten westlichen Top- Hand gedrückt. Schiek: „Während ich das Agenten erwischt zu haben. Bei Befragun- las, schrieb er mein Geständnis. Ich unter- gen durch den Vernehmungskünstler Pät- schrieb, ohne es gelesen zu haben.“ zel erfand T., so die Ermittlungen, einen Schiek wurde zu siebeneinhalb Jahren ganzen Agentenring, zu dem sich DDR- Haft verurteilt, andere bis zu 15 Jahren. Bürger zusammengeschlossen hätten. Ge- Vertreten wurden einige der vermeintli- gen die völlig Unbescholtenen führte die chen Agenten von Rechtsanwalt Wolfgang Stasi fortan einen „Operativen Vorgang“ Vogel, der nach eigenem Bekunden erst unter dem Decknamen „Waldläufer“. über einen Kassiber aus Bautzen die Das MfS ging davon aus, T. habe für drei Wahrheit darüber erfahren hatte, wie die bundesdeutsche, zwei amerikanische so- Geständnisse seiner Mandanten zu Stande wie den britischen Geheimdienst gearbei- gekommen waren. Da Angehörige der In- haftierten von dem Kassiber wussten, droh- te der Fall im Westen bekannt zu werden. Die Stasi glaubte, Vogel, über dessen guten Draht zu einen westlichen Top-Agenten Staatschef Erich Honecker die Stasi Be- erwischt zu haben scheid wusste, wandte sich deswegen di- rekt an Mielke. Weil der Angst gehabt habe, tet. Zudem sei er als Ranger, Fallschirm- Honecker könne von dem Flop erfahren, springer, Kampfschwimmer, Kapitän für habe ihm der Geheimdienstchef damals zu- Mini-U-Boote, Funker und Sprengexperte gesichert, die Häftlinge freizulassen, erzählt ausgebildet worden. 25-mal sei er, vom Vogel. Im Gegenzug habe er versprechen Westen kommend, mit U-Booten an der müssen, „über die Sache nicht mit dem Ge- Ostseeküste gelandet, um dort Agenten nossen Generalsekretär zu reden“. zu treffen, Waffendepots sowie Kleinst- Mielke setzte eine Prüfungskommission raketen zur Vernichtung von Objekten der ein, die feststellte, dass der Agentenring Nationalen Volksarmee zu installieren. frei erfunden war. Der inzwischen mit Um Belege für die abenteuerlichen Er- seiner Dissertation zu diesem Thema zählungen T.s zu finden, der sich allmählich promovierte Pätzel wurde – bei gleich zum Ideengeber für Pätzels Doktorarbeit bleibenden Bezügen – als Offizier im be- entwickelte, begleitete der Stasi-Mann den sonderen Einsatz ins DDR-Staatsarchiv vermeintlichen Super-Agenten aus dem versetzt. Peter Wensierski

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gangen. Insgesamt kursieren nach Schät- WAFFEN zungen der Gewerkschaft der Polizei in der Bundesrepublik 15 Millionen „Anscheins- Stumpfes waffen“, die den echten Pistolen täuschend ähnlich sehen. Wie gefährlich Attrappen sein können, zeigte sich am vergangenen Stilett Dienstag in Ulm. Dort erschossen zwei Polizeibeamte einen verwirrten Vietname- Innenminister Schily will sen, der „zum Schutz“ stets ein Spielzeug- gewehr bei sich trug. das Waffenrecht verschärfen. Bei Stichwaffen ist den Ländern Schilys Den Ländern ist der Entwurf ebenfalls zu lasch. Zwar will der Gesetzentwurf zu lasch. Minister die so genannten Wurfsterne, das sind zackenförmige Wurfgeschosse, ver- ie beiden 15-Jährigen, Erdal und Ta- bieten, doch das „Taschenmesserprivileg“, ner, stürmten am 20. Januar einen klagt NRW-Behrens, gelte weiter. Jeder DFriseursalon in Berlin-Spandau. Erst könne auch künftig gefährliche Stichwaffen schossen die beiden Schüler dem Türken kaufen, weil die als Taschenmesser gelten. Gajur I. mit einer Gaspistole ins Gesicht, Hamburg und Berlin wollen zumindest dann stachen sie mit einem Messern auf Butterfly- und Faustmesser verbieten las- ihn ein. Der Grund für den versuchten sen. „In diesem Punkt“, sagt der Hambur- Mord: Der Mann sollte nicht gegen sie ger Innenstaatsrat Wolfgang Prill, „sind wir aussagen. unerbittlich.“ Schily dagegen will aus recht-

Wenige Wochen zuvor hatte der 16-jähri- DPA lichen Gründen auf ein schärferes Messer- ge Martin P. in Bad Reichenhall vier Men- Beschlagnahmte Waffen (in Dortmund) verbot verzichten. Er befürchtet Klagen schen erschossen, das Schauspielerpaar „Noch großer Nachbesserungsbedarf“ von Jägern und Schlachtern. Claudia Amm und Günter Lamprecht wur- Als weitere Schwachpunkte des Gesetz- de im Kugelhagel verletzt. Der Azubi hat- Leichtfertig habe das Bundesinnenmi- entwurfs prangern die Länder an, dass: te sich im Waffenlager seines Vaters be- nisterium der Waffenlobby, so der Vorwurf, • auch künftig Waffen erwerben könne, dient. Zwölf Gewehre und fünf Revolver allzu große Zugeständnisse gemacht. Es wer wegen Trunkheitsdelikten vorbe- befanden sich im Schrank des bayerischen gebe „noch großen Nachbesserungsbedarf“, straft ist; Schützenbruders. folgert Nordrhein-Westfalens Innenminis- • die Zahl scharfer Waffen, die ein Ein- Wann immer in den vergangenen Mo- ter Fritz Behrens (SPD). zelner besitzen darf, nicht klar festge- naten spektakuläre Bluttaten die Öffent- Dem Waffengesetz droht ein ähnliches schrieben sei; lichkeit ängstigten, versprachen die Politi- Schicksal wie jahrelang den Vorschlägen • die sachgemäße Aufbewahrung der Waf- ker rasche Konsequenzen. Anfang August gegen Kampfhunde: Weil kein Konsens fen nicht hinreichend kontrolliert wer- verkündete Bundesinnenminister Otto möglich scheint, wird weiter palavert – den könne; Schily (SPD) den Durchbruch: Nach „in- bis die nächste brutale Bluttat die Öf- • es zu viele Ausnahmen für Waffennarren tensiven Abstimmungsgesprächen mit den fentlichkeit aufschreckt und die Politiker gebe, die sich unter dem Deckmantel Ländern“, so Schily, rechne er mit einer unter Zugzwang setzt. von Vereinen und Verbänden tummeln Unzufrieden sind einige könnten. Länder, darunter NRW und Vor allem die lockeren Waffenregeln für Bayern, etwa mit dem vorge- Schützenvereine, so die Kritik, sei ange- sehenen „kleinen Waffen- sichts ansteigender rechter Gewalttaten ge- schein“. Zwar müsse jeder, der fährlich. Einige Bundesländer, wie Bayern, sich eine Schreckschuss-, Reiz- fordern zudem die Schaffung einer „Bun- stoff- oder Signalschusswaffe desbehörde zur Festlegung verbotener Ge- zulegen will, dem Verkäufer genstände“, damit nicht demnächst in ein polizeiliches Führungs- Stralsund Waffen auf dem Index stehen, zeugnis vorlegen. Das aber sei die in Straubing erlaubt sind. zu wenig, so der Einwand: Ein Ihren Argwohn, dass Schilys Beamte sich solches Zeugnis sage nichts von der Waffenlobby haben über den Tisch über die wahre Zuverlässigkeit ziehen lassen, sehen die Länderinnenmi- des Käufers aus. Wenn jemand nister durch Äußerungen aus der Branche eine Gaspistole erwerben wol- bestätigt. Unverblümt schreibt das „Forum le, schlägt deshalb Nordrhein- Waffenrecht“, seine Vorschläge und Anre-

J. H. DARCHINGER J. Westfalen vor, solle eine Be- gungen seien vom Berliner Sicherheitsmi- Minister Schily: Von der Lobby über den Tisch gezogen? hörde eigens einen speziellen nister und seinen Staatssekretären „in ho- Erlaubnisschein ausstellen. hem Maße“ aufgegriffen worden – in der breiten Mehrheit für eine rasche Verschär- Noch weiter gehen die Hamburger. Um Organisation haben sich die wichtigsten In- fung des Waffengesetzes. Überfälle zu verhindern, möchte Innense- teressenvertreter wie der Verband Deut- Da hat sich der Minister getäuscht. Aus nator Hartmuth Wrocklage alle Gas- und scher Büchsenmacher und Waffenfach- den Ländern hagelt es mittlerweile Einga- Schreckschusswaffen farblich kennzeich- händler oder die Patronensammler-Verei- ben und Proteste gegen den Gesetzent- nen. Schließlich würden nach den Erkennt- nigung zusammengeschlossen. wurf. Selbst aus SPD-regierten Ländern nissen des Bundeskriminalamts mehr als Man habe eine „Etappe geschafft“, so kommt Kritik: Es sei besser, gar kein neues die Hälfte aller schweren Verbrechen wie „Forum“-Chef Hans Herbert Keusgen tri- Gesetz zu machen, als den Schily-Entwurf Menschenraub, Geiselnahme und räuberi- umphierend, aber es gebe noch viel Ar- zu verabschieden – der sei ein stumpfes sche Erpressung sowie viele Banküberfäl- beit: „Die ,Länder-(Tor)Tour‘ hat erst Stilett gegen die zunehmende Gewalt. le mit diesen „erlaubnisfreien Waffen“ be- begonnen!“ Udo Ludwig, Georg Mascolo

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zin-ethischen Fragen wie der geplanten HOCHSCHULEN Trennung siamesischer Zwillinge in Groß- britannien Stellung nehmen. Kastriertes In dieser Woche werden Schäfer, Hoch- schild und ihre Mitbewerber erfahren, ob sie die Professorenjury überzeugen konn- Verfahren ten. Franziska Schäfer jedenfalls hat ein „gutes Gefühl“. Durch das Gespräch muss- Im Wintersemester dürfen sich die te sie sich schon vor Studienbeginn inten- siv mit ihrem Wunschfach beschäftigen: Universitäten Studenten für „Ich glaube, wer einem Dozenten erklären zugangsbeschränkte Fächer selbst muss, warum er Medizin studieren will, aussuchen – doch kaum eine weiß schon mal, worauf er sich einlässt.“ Fakultät macht davon Gebrauch. Dass die Mediziner in Berlin bei der Auswahl ihrer künftigen Studierenden mit- nja Hochschild machte sich keine reden durften, verdanken sie dem großen Hoffnungen auf einen Stu- neuen Staatsvertrag über die Ver- ZVS-Kriterien für Studienplätze in Fächern Adienplatz in Medizin. „Ich dachte, gabe von Studienplätzen in zulas- mit Numerus clausus mit meinem Abi-Schnitt von 2,4 komme sungsbeschränkten Fächern. In Nu- ich sowieso nicht sofort rein“, sagt die Ber- merus-clausus-Fächern wie Medi- alt neu 40% 25% linerin. Hochschild, 19, wollte die Wartezeit zin, Pharmazie oder Psychologie Wartezeit Wartezeit für ein Auslandspraktikum nutzen. können die Universitäten jetzt ei- 60% 55% Doch mit dem Ablehnungsbescheid von nen Teil der Studienplätze nach ei- Abiturnote Abiturnote 20% der Dortmunder Zentralstelle für die Ver- genem Ermessen verteilen. Hoch- gabe von Studienplätzen (ZVS) bekam sie Bislang richtete sich die ZVS bei schulver- Anfang September eine Einladung von der den begehrten Massenfächern nach Aufteilung ohne Quoten für Ausländer, Härtefälle u. a. fahren Freien Universität Berlin (FU) – zum Vor- zwei Kriterien: Ein Großteil ging stellungsgespräch ans Uni-Klinikum. an Bewerber mit festgelegter Abi- Studienfächer mit Numerus clausus Eine Woche später saß die Abiturientin turnote, der Rest wurde an jene zum Wintersemester 2000/2001 im Dekanat des Fachbereichs Humanme- Schulabgänger vergeben, die be- dizin und musste zwei Medizinprofessoren reits genügend Wartesemester an- Medizin Pharmazie Zahnmedizin Psychologie Rede und Antwort stehen. „Die wollten gesammelt hatten. Tiermedizin Architektur wissen, warum ich Medizin studieren Das neue Verfahren bezieht die möchte“, erzählt Hochschild, „aber auch, Universitäten in den Auswahlpro- wie ich mich fühlen würde, wenn ich eine zess ein: Nur noch 55 Prozent der Leiche sezieren müsste.“ Plätze werden nach Notendurchschnitt, Ausschließlich aus dieser Gruppe dürfen Auch Franziska Schäfer, 20, hat sich in 25 Prozent nach Wartezeit vergeben. Die die einzelnen Fakultäten ihre Studenten Berlin persönlich für einen Medizinstu- restlichen 20 Prozent sind für das so auswählen – nach gesetzlich festgelegten dienplatz vorgestellt. „Vor der ersten Fra- genannte Hochschulverfahren reserviert. Maßstäben. Entscheidend ist auch dabei ge habe ich erst mal tief durchgeatmet, weil Diese Ergänzung gibt Bewerbern wie der Notendurchschnitt, doch die univer- ich so aufgeregt war“, sagt sie, „aber dann Hochschild und Schäfer, die wegen ihrer sitären Auswahlkommissionen können zu- gingen die 20 Minuten ganz schnell rum.“ Schulnoten knapp durch das Raster der dem Berufsausbildung und Praxiserfah- Fachliches, erzählt sie, sei kaum gefragt zentralen Vergabestelle fallen, eine zu- rung berücksichtigen. Und sie können ihre worden, dafür sollte sie zu heiklen medi- sätzliche Chance. Kandidaten zum Gespräch bitten. versitäten unabhängig von der ZVS über die Auswahl bestim- men. Einige gehen dabei schon eigene Wege. An der TU Mün- chen müssen sich zum Winterse- mester Interessenten für die Ba- chelor-Studiengänge Molekulare Biotechnologie und Biochemie einer „Eignungsfeststellung“ un- terziehen, zu der auch ein Ge- spräch gehört. Und wer in Heidelberg Psy- chologie im Nebenfach belegen möchte, muss verschiedene Tests und ein Interview mit Professo- ren überstehen. Manfred Ame- lang, Heidelberger Psychologie- professor, ist Befürworter von Auswahlgesprächen. Am Hoch- L. CHAPERON B. BOSTELMANN / ARGUM B. BOSTELMANN schulverfahren der ZVS nimmt Medizinstudenten (in München), Mediziner Schmidt: „Ein erster Eindruck von der Persönlichkeit“ seine Fakultät dennoch nicht teil. „Wenn wir 100 Prozent der „Ich denke, solche Gespräche sind ein „Das liegt sicher auch daran, dass die Hauptfachstudenten selbst aussuchen könn- brauchbares Verfahren, um Studenten aus- Hochschulen gar nicht darauf eingestellt ten, würden wir das tun“, erklärt Amelang, zusuchen“, urteilt Lutz G. Schmidt, Pro- sind, sich um die Auswahl der Studenten „aber so machen wir auf keinen Fall mit.“ fessor für Psychiatrie am Berliner Uni-Kli- selbst zu kümmern“, vermutet ZVS-Spre- In einigen Fächern kam das neue ZVS- nikum und Mitglied des Auswahlkomitees. cher Bernhard Scheer. Einzig die medizi- Verfahren gar nicht erst zum Zug. Die „Wir wissen natürlich noch nicht, ob die nischen Fakultäten haben bereits Erfah- Biologie-Fakultät der Kölner Uni zum Bei- Bewerber, die wir empfehlen, auch erfolg- rung mit der Bewerberauslese. Bis 1998 der spiel war einer von bundesweit drei Bio- reicher studieren“, sagt der Mediziner, Medizinertest abgeschafft wurde, galt für logie-Fachbereichen, die selbst Bewerber „aber man bekommt schon einen ersten angehende Ärzte eine Sonderregelung: Ein einladen wollten. Der Kölner Botaniker Eindruck von der Persönlichkeit.“ Teil konnte sich im Auswahlgespräch für ei- Michael Melkonian freute sich bereits auf Außer den Medizinern mag sich jedoch nen Studienplatz qualifizieren. „ein ganz neues Hochschullehrergefühl“. kaum ein Fachbereich für das neue Mit- Vielen Universitäten geht die neue Re- Durch die Vorauswahl erhoffte sich der spracherecht begeistern. Fast 90 Prozent gelung indes nicht weit genug. „Ein kastrier- Professor motiviertere Studenten und sin- der betroffenen Fakultäten lassen lieber al- tes Verfahren“ nennt Klaus Landfried, Prä- kende Abbrecherquoten. „Bis jetzt“, klag- les beim Alten. Von den 44 Hochschulen sident der Hochschulrektorenkonferenz, te Melkonian, „kamen die Studenten wie etwa, die zum Wintersemester das Fach das neue System. Landfrieds Kritik: Dieje- die Jahreszeiten.“ Psychologie anbieten, wollten sich nur vier nigen Studenten, die im Auswahlverfah- Das wird auch so bleiben. Im Fach Bio- selbst ein Bild von den Bewerbern machen. ren abgelehnt werden, können ihnen als logie ist der Numerus clausus bundesweit Insgesamt stehen den rund 65000 Studi- Nachrücker trotzdem noch über die ZVS wegen sinkender Studentenzahlen zum enplätzen, die die ZVS vergibt, ganze 726 zugewiesen werden. Wintersemester gefallen, so dass alle Be- gegenüber, für die die Hochschulen selbst In Fächern, die einem örtlichen Nume- werber zugelassen werden konnten – ganz geeignete Schulabgänger bestimmen. rus clausus unterliegen, können die Uni- ohne Gespräch. Julia Koch Werbeseite

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liche Kindstod festgestellt, vor zehn Jahren waren es noch doppelt so viele. Aufklärung über die Anfang der neunziger Jahre er- forschten Gefahren für das Kindesleben, wie Rauchen und Bauchlage, haben die Sterblichkeitsrate deutlich sinken lassen. Doch im entscheidenden Punkt sind die Mediziner noch nicht weitergekommen: „Wir kennen die Risikofaktoren, aber nicht die Ursachen“, sagt Bernd Brinkmann von der Deutschen Gesellschaft für Rechtsme- dizin in Münster. Aber, so der Professor vorsichtig, „es gibt Hinweise auf geneti- sche Störungen, die Gewicht erhalten, wenn ein Virus hinzukommt“. Beispiels- weise, wenn die elektrische Erregung des kontrahierten Herzmuskels zu lang sei (so genanntes QT-Syndrom). „Für eine kon-

C. THIELE / IMAGES.DE / IMAGES.DE C. THIELE krete Aussage haben wir aber noch zu we- Sektion in der Berliner Charité: „Ein Gehirn muss in Gänze untersucht werden“ nige Erkenntnisse.“ So schockierend Details einer Obduk- chung des gesamten, in Formalin aus- tion für Laien auch sind, für Eltern kann die RECHTSMEDIZIN gehärteten Hirns finden.“ Suche nach der Ursache für den Tod ihres Der Konflikt zwischen Rechtsmedizi- Kindes durchaus hilfreich bei der Bewälti- Gefährliche nern und trauernden Eltern bricht immer gung ihrer Trauer sein. Etwa wenn sich her- wieder auf. In einem vom Bundesministe- ausstellt, dass ihr Baby nicht durch falsche rium für Bildung und Forschung mit meh- Behandlung oder Versäumnisse starb. Bauchlage reren Millionen Mark geförderten Projekt Eine zusätzliche psychische Belastung werden seit Ende 1998 in 16 Städten nahe- indes ist die Sektion allemal. Das Bundes- Um dem plötzlichen zu alle Kindstodfälle untersucht. Zwar wer- forschungsministerium gab deshalb die An- den die toten Babys wegen der zunächst weisung, dass Organe nur dann komplett Kindstod auf die Spur zu kommen, unklaren Todesursache zumeist ohnehin entnommen werden dürfen, wenn die El- werden tote Babys systematisch obduziert – für viele Angst in der Nacht Risikofaktoren für den plötzlichen Kindstod Eltern ein Schock. Risiko ur dreieinhalb Monate wurde Mi- normal5fach 10fach lena alt. Am Morgen des 19. April Ndieses Jahres lag sie blau angelau- Bauchlage des Kindes fen in ihrem Bettchen, die Arme waren Mutter jünger schon kalt und steif. 40 Minuten kämpfte als 21 Jahre der Notarzt um das Leben des Kindes, rauchende Mutter dann gab er auf. Schulzeit der Mutter Woran Milena starb, konnte der Arzt kürzer als 12 Jahre nicht feststellen, und so ordnete das Ge- Nichtstillen richt wie in solchen Fällen üblich eine Sek- tion an. Plötzlicher Kindstod lautete die zu warme Kleidung Diagnose. Schon der schwammige Begriff Kind schläft im Quelle: BMBF-Studie verrät die Hilflosigkeit der Mediziner: Das Bett der Eltern zum plötzlichen Kindstod

Phänomen ist weitgehend ungeklärt. FRISCHMUTHP. / ARGUS Das Institut für Rechtsmedizin an der Universität Hamburg bat die Mutter um auf gerichtliche Anordnung obduziert. tern zustimmen. Bei Fachleuten ist die Or- ihr Einverständnis für weitere Untersu- Doch für weitere Untersuchungen im Rah- der umstritten. „Ein Gehirn muss in Gän- chungen, eine Woche später wurde das men der Studie brauchen die Wissen- ze untersucht werden“, erklärt etwa der Kind beigesetzt. Bei Lektüre des Obduk- schaftler die Zustimmung der Eltern. Kieler Rechtsmediziner Manfred Oehmi- tionsberichts bekam die Mutter einen 280 Säuglinge haben Rechtsmediziner chen, „alles andere ist Tinnef.“ Schock: Ihr Kind wurde ohne Gehirn be- im Rahmen des Projekts bislang seziert – Bei gerichtlichen Sektionen haben die erdigt. Das lag nämlich noch zur fein- und dabei wichtige Erkenntnisse über Ri- Eltern „aus ermittlungstaktischen Grün- geweblichen Untersuchung im Institut. Die sikofaktoren gewonnen, die den Säuglings- den“ ohnehin weder ein Recht auf Auf- Frau warf den Rechtsmedizinern vor, sie tod befördern. Die optimale Mutter, so das klärung noch auf Herausgabe der Organe. nicht ausreichend aufgeklärt zu haben. Ergebnis eines unveröffentlichten Zwi- „Wenn ein Leichnam rechtmäßig in „Wir wollten schonend mit den An- schenberichts, ist demnach mindestens 21 Gewahrsam genommen wurde, gibt es gehörigen umgehen“, entschuldigte sich Jahre alt und Nichtraucherin, hat Abitur, für die Angehörigen keine rechtlichen Institutsleiter Klaus Püschel. Doch in der stillt ihr Baby und legt es stets – nicht all- Möglichkeiten mehr“, erklärt der Ham- Sache bleibt er standhaft. „Ich kann mir zu warm angezogen – auf den Rücken ins burger Anwalt Wilhelm Funke in nüchter- nicht aus einer weichen Masse gleich zu separate Kinderbett (siehe Grafik). nem Juristendeutsch die Rechtslage. Der Anfang das richtige Stück herausschnei- 3500 bis 4000 Kinder bis zu zwölf Mo- Tote müsse lediglich nach der Untersu- den. Versteckte Sauerstoffmängel oder Blu- naten sterben jährlich in Deutschland. Bei chung „ordnungsgemäß dichtgemacht“ tungen können wir erst bei der Untersu- rund 600 Säuglingen wurde 1999 der plötz- werden. Andreas Ulrich

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Dabei ist selten eine Industrieanlage so markig in den Markt gedrückt worden wie ABFALL der angebliche Überofen: mit vollmundigen Versprechungen und nach allen Regeln der Waschmittelwerbung. In der Versuchsanla- Defektes Wunder ge am Lago Maggiore – immer picobello sauber wie bei Clementi- Einst galt der Thermoselect-Müllofen als „Ei des ne – begrüßte Thermo- Müllbeseitigung select die Besucher mit Kolumbus“. Jetzt steht die Technik nach ■ Restmüllmengen zwei plappernden Papa- Pannen in der Karlsruher Pilotanlage auf der Kippe. ■ Kapazitäten für Verbrennung geien und Antonín und andere technische Verfahren Dvoºáks Hymne „Aus der Neuen Welt“. Dazu 30,2 in Millionen Tonnen jährlich lief ein unappetitliches Quelle: prognos Video mit geschwür- 23,8 übersäten Kindergesich- 21,0 20,9 18,9 tern, angeblich typische 16,3 Folgeerscheinungen übli- cher Müllverbrennung. „Wie besoffen“, no- tierte die „Stuttgarter Zeitung“, kehrten dar- aufhin Volksvertreter 1998 2005 2010 aus Italien zurück, bei ei- nigen, behauptet der Karlsruher Thermoselect-Kritiker und Grü- nen-Stadtrat Harry Block, sei das wörtlich zu nehmen gewesen. „Bei der guten Be- wirtung war mancher schon zu, bevor er ankam.“ Der Feldzug der Thermoselect-Müll- werker überrollte Kommunalpolitiker aus aller Welt, vor allem aber die nur zu gern wundergläubigen Delegationen aus Deutschland, die sich just vor dem Entsor- gungskollaps wähnten: 1993 hatte nämlich die Bundesregierung beschlossen, dass Thermoselect-Müllofen in Karlsruhe: „Da ist was oberfaul“ vom Jahr 2005 an Hausmüll nur noch ein- geäschert auf die Deponie darf. Bei 24 Mil- as „Wunder“ traf die Pilgergruppen zum unbefristeten Dauerbetrieb. Beißen- lionen Tonnen Restabfall im Jahr 1993 pro- aus deutschen Rathäusern mit vi- der Spott der Thermoselect-Gegner: phezeiten Experten einen Bedarf von bis Dsueller Wucht: Grau, ach grau war „Thermodefekt“. zu 70 neuen Müllöfen. alle Kommunalpolitik, rot, knallrot dage- Schlimmer noch: Nach dem jüngsten Im Kampf um diesen Milliardenmarkt gen die Kathedrale der Abfallwirtschaft, Stillstand – Ende offen – droht den ge- sahen herkömmliche Rostfeuer gegen die die der Schweizer Stararchitekt Mario Bot- planten Thermoselect-Öfen im fränkischen neue Technik plötzlich alt aus. Denn auch ta im italienischen Fondotoce für einen Ansbach, im hessischen Hanau und im Fachleute kamen mit Glanzaugen von der neuen Müllofen der Firma Thermoselect nordrhein-westfälischen Herten das Aus; Versuchsanlage zurück, die Thermoselect kreiert hatte. ein Projekt im Schweizer Tessin ist ver- ab Ende 1991 in nur einem halben Jahr Da bestärkte schon der erste Blick auf gangene Woche bereits gekippt. Statt auf hochgezogen hatte. die ferrarifarbene Testanlage in den frühen Milliardengeschäfte zu hoffen, muss sich Zumindest in der Theorie bestach die neunziger Jahren Tausende Wallfahrer aus die EnBW, die den roten Technik-Tempel in Methode des Schweizer Ingenieurs deutschen Stadtverwaltungen im Glauben, Deutschland vermarktet und beim Liech- Günther Kiss, Abfall bei 600 Grad zu Bri- am Lago Maggiore das „Wunder der Müll- tensteiner Lizenzgeber Thermoselect AG ketts zu pressen und anschließend in ei- entsorgung“ entdeckt zu haben: ein Su- einsteigen will, nun auf ein finanzielles nem 2000 Grad heißen Hochtemperatur- perofen, der die Luft nicht verpestete, der Desaster gefasst machen. reaktor fast restmüllfrei in Gas und Müllhalden in Rohstoffberge ver- Schlacke aufzulösen. Nach mehreren Rei- wandelte und nebenbei noch ganze nigungsstufen sollte mit dem Gas Fern- Siedlungen beheizen konnte. wärme und Strom erzeugt werden, die Jetzt ist der Lack ab. Bei der Schlacke als Granulat für den Straßenbau europaweit ersten Thermoselect- taugen. Phänomenal niedrige Schadstoff- Großanlage im Karlsruher Rhein- werte, vom TÜV testiert, ließen den Ba- hafen schwelt es selten im Ofen, denwerk-Chef Eberhard Benz prompt von brennt es dafür an allen Ecken einem „Ei des Kolumbus“ sprechen und und Enden. Seit zwei Jahren die Lizenzen kaufen, die mit dem Baden- torkelt das 220 Millionen Mark werk später an die EnBW fielen. teure Vorzeigeprojekt des Strom- Dabei gibt es schon seit Jahren Warner. riesen Energie Baden-Württemberg Einige verweisen auf den obskuren Hinter-

(EnBW) von Panne zu Panne, SEPP SPIEGL grund der Wundertechnik: Die Thermo- scheitert regelmäßig an der Hürde EnBW-Chef Goll: Alles oder nichts select AG sitzt nicht nur im Geldwäscher-

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Werbeseite Deutschland paradies Liechtenstein, sie weigert sich auch hat“, sinniert Kretz und droht bereits mit beharrlich, offen zu legen, mit wessen Mil- Müllentzug. lionen sie arbeitet. Andere, wie Ralf Ketel- In Herten ist schon vor Monaten das Ge- hut vom Hamburger Epea-Umweltinstitut nehmigungsverfahren für einen Thermo- oder der Abfallexperte des Darmstädter select-Ofen gestoppt worden, im bayeri- Öko-Instituts, Günter Dehoust, monierten schen Ansbach läuft ein Ultimatum: Wenn „eine wahnsinnig dünne öffentliche Da- die Anlage dort bis zum nächsten Juni tenlage“ zum Verfahren. Und bereits 1995 nicht fertig ist und funktioniert, muss die bohrte eine Bund-Länder-Kommission zur Thermoselect-Truppe den Rohbau auf ei- Müllverbrennung am wunden Punkt: Ihr gene Kosten wieder abreißen. In Hanau fehlte der Beweis, dass der Ofen auch im stehen die Zeichen schon jetzt auf Stopp: Dauerbetrieb und unter Volllast durchhält. Frankfurter Verwaltungsrichter haben den Ein Versuch bei den TÜV-Messungen in vorgesehenen Standort vorläufig blockiert, Fondotoce scheiterte schon nach drei Stun- zur Begründung gab es Sätze wie Ohrfei- den, jetzt erweist sich die Volllasttauglichkeit gen: Die Musteranlage in Karlsruhe sei für die Karlsruher Anlage und die ganze „mit zu vielen Risiken behaftet“, die „Si- Thermoselect-Technik als Überlebenskrite- cherheit nicht gewährleistet“. rium: 225000 Tonnen Hausmüll soll die Fa- Die schlimmste Schlappe aber kassierte brik schlucken – pro Jahr; bis heute sind es EnBW-Chef Gerhard Goll mit Thermo- laut Thermoselect nur 72000 – in fast zwei select im Tessin. Dass in Japan eine Anla- Jahren. Gerade mal vier Wochen am Stück ge einige Monate lang Hausmüll verarbei- kann die EnBW-Tochter Thermoselect Süd- tet hat und jetzt Industriemüll verschwelt, west als längsten Dauerlauf vorweisen; selbst da langte es im Schnitt nur zu 50 bis 70 Prozent Auslastung, wie Sprecherin Frie- derike Eggstein einräumt. „I’m not amused“, rüffelt der Karlsruher Umweltdezernent Ullrich Eidenmüller die fehlende Betriebsreife, „die Hoffnung höret nimmer auf“, flüchtet sich Claus Kretz, Landrat des Landkreises Karlsruhe, in Sinnsprüche für Todkranke. Die Geduld der beiden Mülllieferanten strapaziert hat eine schier endlose Fehler- serie des Pleiten-, Pech- und Pannenofens: Mal haperte es bei den Müllkränen, mal beim Schlackeabfluss am Hochtempera-

turreaktor, mal beim Beton eines Abwas- H.-G. OED serbeckens. Eine Pumpe explodierte, die Hausmüllabfuhr (in Bonn) Innenhülle des Kessels machte früher als Kampf um einen Milliardenmarkt erwartet schlapp, an der Zuführung zum Ofen dampfte heißes Gas aus einem Riss. angeblich ohne Probleme, interessierte die Und jetzt der Höhepunkt: Während der Kantonsregierung nicht. Für ihr Projekt TÜV am Hauptkamin tatsächlich die ver- zählte als Referenz nur der Karlsruher sprochen niedrigen Schadstoffwerte no- Murksbau. Und deshalb verlangten die Eid- tierte, lagen am Schlot für den Notbetrieb genossen jetzt eine Bürgschaft über 40 Mil- Schwermetalle, Dioxine, Furane und Stäu- lionen Franken. Die werden fällig, wenn be weit über den Genehmigungsgrenzen. der Ofen in Karlsruhe auch Ende Februar „Da ist was oberfaul“, mutmaßt Epea- noch keine zwei Monate Dauerbetrieb ge- Geschäftsführer Michael Braungart. Schließ- schafft hat. lich werde an beiden Schornsteinen das Weil aber keiner weiß, wann die badi- gleiche Gas verfeuert, da erschienen so sche Müllfabrik wieder läuft, war der Po- gravierende Unterschiede seltsam. ker auch dem Karlsruher Stromgiganten Seitdem prüft der Staatsanwalt, ob er zu heiß. Er feilschte um Fristverlängerung; ermitteln soll – der Tipp kam vom Bund für prompt ließen die Schweizer vergangenen Umwelt und Naturschutz Deutschland. Dienstag den Thermoselect-Ofen fallen. Dessen Experten mutmaßen, die Thermo- „Ich rechne erst im Januar oder Febru- select-Ingenieure könnten die Schadstoff- ar mit der Wiederinbetriebnahme“, ora- werte durch das Einblasen von normalem kelt derweil schon Landrat Kretz; EnBW- Erdgas trickreich senken. Sprecher Klaus Wertel klammert sich an Derzeit steht die Anlage monatelang den Satz, dass die Anlage trotz aller Pan- still, bis eine neue Brennkammer für den nen „im Kern“ funktioniert habe; Ther- Notbetrieb nachgerüstet ist. Andernfalls moselect sei nur ein Opfer seiner eigenen, hätte das Regierungspräsidium Karlsruhe zu optimistischen Vorgaben. den Ofen selbst gestoppt. Wohl wahr: Das Verfahren sei serienreif, Damit geht es für Thermoselect jetzt um der großtechnische Einsatz stehe unmittel- alles oder nichts: „Wenn die Nachbesse- bar bevor, schrieb Thermoselect dem Bun- rung wieder nicht greift, müssen wir dis- desumweltministerium. Damals, im Herbst kutieren, ob das alles überhaupt noch Sinn 1990. Jürgen Dahlkamp

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MEDIKAMENTE Viagra aus Kerkrade Internet-Apotheken locken die Patienten mit Billig-Angeboten. Die Apotheker- verbände protestieren.

as Geschäft sieht ganz altmodisch aus: Für gewöhnlich lächelt der DMann hinter dem Tresen freund- lich, reicht Schmerztabletten oder Venen- salben über die Theke. Wenn genug Zeit ist, hält Jacques Waterval den Kundinnen

in seiner 70 Jahre alten „Apotheek van HEMPEL J. Wersch“ im niederländischen Kerkrade Apotheker Waterval: Anschlag auf den Verbraucherschutz? an der deutschen Grenze auch die Tür auf. sich auf die europäische Richtlinie für Zeit hat der Niederländer aller- E-Commerce, den Handel im Internet. Da- dings immer seltener: Der 37-jähri- nach gilt das Recht des Landes, in dem die ge Apotheker und seine Geschäfts- Firma sitzt – und in den Niederlanden ist partner, die Hamburger Venture- der Medikamentenversand erlaubt. Außer- Kapital-Firma Techno-Nord, sind dem gestatte das Arzneimittelgesetz die angetreten, das deutsche Gesund- Einzeleinfuhr von Pillen nach Deutschland, heitssystem umzukrempeln: mit ih- sofern sie in der EU zugelassen sind und rer europaweit arbeitenden Inter- nur zum Eigenverbrauch dienen. net-Apotheke „0800DocMorris“. Deutsche Apotheker argumentieren an- Krankenversicherer wie Apotheker ders. Ihnen ist die Internet-Apotheke ein beobachten das Experiment glei- „Anschlag auf Verbraucherschutz und Arz- chermaßen gespannt – die Kassen DocMorris-Internet-Seite: Pillen per Mausklick neimittelsicherheit“, so Hans-Günter Frie- rechnen sich für teure Medikamen- se, Präsident der Bundesvereinigung deut- te sinkende Preise aus, die Pillenhändler sollen die Privatversicherer chronisch kran- scher Apothekerverbände. Nach Ansicht fürchten um ihr Geschäft. ken und damit teuren Patienten besondere des Deutschen Apothekerverbandes (DAV) Watervals Idee ist simpel: Seit drei Mo- Anreize bieten: Wer im Internet bestellt, verstößt die Netzapotheke gegen das Ver- naten können Patienten per Mausklick bei soll etwa die Arzneikosten nicht mehr aus- sandhandelsverbot von Medikamenten. DocMorris bestellen. Die Medikamente legen müssen. Die Kasse könnte direkt mit Der DAV versuchte schon, DocMorris mit kommen aus einem Versandlager in Kerk- der Apotheke abrechnen. einer einstweiligen Verfügung den Stecker rade, die Rechnung ist bis zu 50 Prozent Nach den Privaten sind jetzt auch die herauszuziehen. „Man muss den Anfängen niedriger als in der deutschen Apotheke. gesetzlichen Kassen angesichts notorisch wehren“, sagt Volker Dinnendahl, Vorsit- Bei verschreibungspflichtigen Arzneien überzogener Arzneimittelbudgets hellhörig zender der Arzneimittelkommission der müssen die Kunden ein Rezept per Post geworden: Waterval und sein Marketing- deutschen Apotheker. Ende Oktober soll hinterherschicken. Erst dann wird geliefert. Direktor Jens Apermann reden mit mehre- das Landgericht Frankfurt über den Antrag Watervals Renner sind Lifestyle-Pillen: Via- ren gesetzlichen Versicherern über das In- verhandeln. gra, Schlankheits- oder Rauchentwöh- ternet-Angebot. „Das sind zum Teil erheb- Dinnendahl argumentiert, dem Kunden nungsmittel. Die Dreimonatspackung der liche Preisvorteile“, sagt etwa Johannes könne letztlich „der Preis egal sein“, Antibabypille „Diane“ ist für 38 statt für Wittkamp, Stellvertreter des Vorstands bei schließlich zahle die Kasse – als würde die 57 Mark zu haben. Eine Packung Viagra der Hanseatischen Krankenkasse. Auch sich das Geld nicht über die Beiträge wie- kostet bei DocMorris 220 Mark, bei der die Techniker Krankenkasse ist angetan: derholen. Apotheke um die Ecke zahlt der Hilfe- „Denkbar wäre, dass DocMorris die Ver- Und das reichlich: Im vergangenen Jahr suchende 312 Mark – scheele Blicke in- sorgung unserer Diabetiker übernimmt“, gaben die deutschen gesetzlichen Kassen klusive. so Pressereferentin Sylvia Knittel. Die Be- nach Angaben des Bundesverbands der Be- Die Krankenkassen wittern ein riesiges triebskrankenkasse der Post will hingegen triebskrankenkassen rund 36,1 Milliarden Sparpotenzial. „Wir haben keine Probleme über einen Partner selbst eine Internet- Mark für Arzneien aus. Davon ließen sich damit, die Kosten zu erstatten, wenn Ver- Apotheke aufbauen – möglicherweise mit mehrere Milliarden sparen, wenn die Vor- braucher bei zuverlässigen Anbietern über Rabatten für die eigenen Versicherten. teile eines europäischen Versandhandels das Internet bestellen“, sagt Wolfgang Gers- DocMorris will bei einer Kooperation mit konsequent genutzt würden, hofft Norbert tenhöfer, Sprecher der Deutschen Kran- den gesetzlichen Kassen auf Zuzahlungen Schleert vom Bundesverband der Allge- kenversicherung, in der Branche die Num- der Patienten verzichten. Die Gebühren von meinen Ortskrankenkassen. mer eins: „Wir halten das für eine sinnvol- acht bis zehn Mark pro Rezept entfielen. Ein Horrorszenario für Apothekenmann le Sache.“ Der Deutsche Ring weist seine Rechtlich bewegt sich die Netzapotheke Dinnendahl: „Dann kommt das große Apo- Versicherten seit vergangener Woche auf allerdings in einer dunkelgrauen Zone. thekensterben, und Patienten auf dem Land Internet-Apotheken wie DocMorris hin. Zwar behauptet Apermann: „Das ist alles müssen 50 Kilometer zur nächsten Apo- Geht es nach den Plänen von DocMorris, gesetzlich vollkommen korrekt“, und beruft theke fahren.“ Cordula Meyer

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ARBEIT Comeback der Reife? Simone Falk, 29, Projektleiterin der Deutschen Direktmarketing-Akademie in Berlin, über die Ausbildung älterer Arbeitsloser zu Marketingspezialisten

SPIEGEL: In den USA steigt die Zahl der Unternehmen, die Menschen über 50 anstellen wollen. Kommt dieser Trend auch nach Deutschland? Falk: Ja. Allein schon durch den demo- grafischen Wandel. Einzelhandel und Dienstleister entdecken jetzt wieder Ältere als erfahrene Mitarbeiter mit ausgezeichnetem Teamgeist. SPIEGEL: Die Botschaft scheint hier noch nicht überall angekommen. Von Michael Reh fotografierte Süchtige Falk: Leider. Während das Bild älterer Menschen in den USA mit Reife, Selbst- JUNKIES bewusstsein und Souveränität verbun- den ist, werden Senioren bei uns in ei- nem Atemzug mit Hilflosigkeit genannt. Model für einen Tag SPIEGEL: Welche Ziele hat Ihr Pilotpro- jekt „Fachberater Marketing 50plus“? b ein Drogensüchtiger als solcher bezeichnet wird, hängt vom Milieu ab, in dem Falk: Unsere Fortbildung nutzt die Er- Oer lebt: Der süchtige Arbeitslose gilt als Junkie, der süchtige Spitzenverdiener als fahrung der Älteren. Nur jemand etwa Mensch mit kleiner Schwäche. Ein Hamburger Projekt setzte sich im Sommer zum aus der Altersklasse kann überzeugen- Ziel, dieses eingefahrene Klischee zu erschüttern: Eine Woche lang stylte der Foto- des Marketing für ältere Zielgruppen graf Michael Reh, 38, Heroin-Abhängige zu Models. Es ging ihm dabei nicht um den machen. Effekt eines simplen „Vorher–Nachher“, Reh wollte „die Möglichkeiten sichtbar ma- SPIEGEL: Ältere können Ältere besser chen, die in einem Menschen gleichzeitig existieren“. Die (von der Hamburger Insti- ansprechen und beim Einkauf beraten? tution „Subway e. V.“ in einem Methadon-Programm betreuten) Süchtigen wurden Falk: Ja. Kein jung- deshalb auch nicht nach den Wünschen des Projekt-Teams neu eingekleidet und ge- dynamischer Kreati- stylt, sondern entschieden selbst, wie und zu welcher Persönlichkeit sie sich verän- ver, der Hochglanz- dern wollten. Rehs Fotografien – jetzt unter dem Titel „Keine Zeit für Eitelkeit“ im broschüren entwirft, Secolo-Verlag als Buch erschienen – zeigen die pure Freude an der Verwandlung. macht sich zum Bei- spiel Gedanken über die stärkere Blend- empfindlichkeit älte- rer Menschen. Oder FREIZEIT Klassiker der Achtziger, die sich selbst die Wortwahl. Ein unter Einfluss von Alkohol wunderbar junges Publikum fin- Sehnsucht nach der zum Mitgrölen eignen: Absoluter Favo-

T. MEYER / OSTKREUZ T. det den Ibiza-Urlaub rit der Möchtegernpennäler ist die Falk „geil“. Ältere können Schulzeit englische Version des alten Nena-Hits oft mit diesem Wort „99 Luftballons“. nichts anfangen, jedenfalls nichts im tliche britische Twens haben die Zusammenhang mit Urlaub. EZeit, in der sie Schüler waren, of- SPIEGEL: Und mit dem von Ihnen pro- fensichtlich in guter Erinnerung. Bis zu pagierten Direktmarketing soll sich das 700 Vergnügungssüchtige zieht es jeden ändern? Samstag zur School Disco in die Londo- Falk: Ja, weil Sie damit einen direkten ner Westend-Discothek „Legends“. Das individuellen Kontakt zum Kunden her- Besondere an dem Club: Die Raver sind stellen können, wie etwa bei der adres- angehalten, sich zu verhalten, als befän- sierten Werbung. den sie sich in der heißesten Phase der SPIEGEL: Menschen über 60 galten Pubertät. Wer auf die Tanzfläche will, bisher als markentreu und sparsam. muss eine Schuluniform tragen. Club- Stimmt das Bild noch? Promotor Bob Sanchez erklärt den Er- Falk: Nein, die Zeiten, als die Groschen folg der Idee: „Die Leute erleben hier fürs Erbe zusammengehalten wurden, eine Zeit wieder, in der sie sich noch sind vorbei. Wir haben es mit kaufkräf- nicht wegen der Freundin oder über tigen Kunden zu tun. Die sollte man den Kredit fürs Haus sorgen mussten.“ nicht vergraulen durch eine Verkäufe- Springseile und Gummitwist sind in der

rin, die mit piepsiger Stimme zu schnell Sehnsuchtsdisco gern gesehen. Musika- SIMPSON P. spricht. lisch setzen die Veranstalter auf jene Londoner School Disco

der spiegel 39/2000 91 Gesellschaft

Burn-out*, Start zum illegalen Autorennen (in Hameln): „Mein Wagen saugt dich durch den Luftfilter und spuckt dich hinten wieder aus“

AUTOROWDYS „Deine Kiste leder ich jetzt ab“ Sie suchen Risiko und Nervenkitzel: jugendliche Autoverrückte, so genannte Cruiser, die mit eigenhändig zu Rennwagen umgebauten Serienautos um die Wette rasen, die Polizei foppen und sich und andere in Lebensgefahr bringen. Von Bruno Schrep

rüher wäre bestimmt noch Christian sierter Motoren, auf den Dunst von ver- 19 Uhr. Florian, 20, den alle Flo nennen, vorbeigekommen, Christian mit dem branntem Öl und verschmortem Gummi, guckt missmutig zum grauen Himmel. Es Fschwarzen Golf. Christian, von dem auf den Anblick phantasievoll hingeboge- tropft. „Gefährlich“, sagt Florian, deutet auf die anderen aus der Clique anerkennend ner Karosserien. die extrem breiten Reifen seines schwarzen versichern, er sei stets „geheizt wie wahn- Spannung ist spürbar. Ständig klingeln BMW 325i. „Zu wenig Haftung.“ sinnig“. Handys, werden kurze Botschaften aus- Dabei ist Florian heute richtig heiß. „Man Doch seit dem 13. Mai kann Christian getauscht. Aus geöffneten Autofenstern sieht sich, man prahlt sich gegenseitig die nicht mehr am Treffen der Hamelner Au- dröhnen Techno-Rhythmen. Einige Fahrer Ohren voll“, gesteht er. „Dann muss ein Ste- tocruiser teilnehmen. Abends kurz nach haben die Kühlerhauben ihrer Wagen hoch- chen entscheiden, wer der Schnellste ist.“ sechs wagte der 22-Jährige auf der Bundes- geklappt, stecken die Köpfe tief in das Florian war einer der ersten Cruiser an straße 64 ein riskantes Überholmanöver und Gewirr aus Kabeln, Kolben und Chrom. An- der Tankstelle. Das muss so eineinhalb Jah- krachte mit seinem Dienstwagen frontal ge- dere geben Vollgas, lassen im Stand die Mo- re her sein, genau weiß er es nicht mehr. Er gen einen Lkw. Christian war sofort tot. Am toren aufheulen. Ein Ungeduldiger fährt mit hatte gerade einen Fernsehbericht über Au- Straßenrand steht jetzt ein Holzkreuz. quietschenden Reifen um die Tankstelle her- tocruising in Hamburg gesehen, über irre Auch ohne Christians schwarzen Golf um, immer wieder. Freitag ist Renntag. aufgeputzte Karossen, über illegale Ren- parken an diesem Freitagabend im Sep- tember über 30 Wagen an der Shell-Tank- stelle im niedersächsischen Hameln, dar- Autocruising unter der rote Polo von Christians Bruder. kommt aus den USA, beschränkte sich Der Platz liegt an einer der schäbigsten zunächst nur auf langsames Kolonnen- Ecken der ansonsten puppenstubenhaft fahren von polierten Straßenkreuzern. herausgeputzten Kleinstadt: Gleich ne- Seit James Deans halsbrecherischer benan qualmt der Schlot der Müllverbren- Raserei in dem Filmklassiker „... denn nungsanlage, alle paar Minuten rattert ein sie wissen nicht, was sie tun“ lieferten Güterzug vorbei. sich die Cruiser, meist jugendliche Au- Für die jungen Männer, die meisten zwi- tofans, aber auch lebensgefährliche schen 18 und 25, existiert die Umgebung Privatrennen. Anfang der neunziger Jah- nicht. Ihre Sinne sind einzig auf die Wahr- re schwappte die Welle nach Deutsch- nehmung von Autos fixiert: auf das Röhren land, zunächst vor allem in Großstädte.

eigenhändig bis zum Äußersten hochfri- Inzwischen gibt es auch in der Provinz PHOTOFEST zahlreiche Cruiserszenen. Filmszene mit James Dean und Natalie Wood * Absichtliches Aufheizen der Reifen.

92 der spiegel 39/2000 FOTOS: R. JANKE / ARGUS R. JANKE FOTOS: nen vor jubelnden Zuschauern, über nächt- und Ölwanne lagen auf der Straße. Total- Wenn ihn einer reizt, vielleicht auf der liche Verfolgungsjagden mit der Polizei. schaden.“ Autobahn, kommt es schon mal zum Zwei- Ein Traum. In den BMW, Baujahr 87, Anschaffungs- kampf PS gegen PS, Mann gegen Mann. Nie hätte Florian damals für möglich ge- preis: 500 Mark, den er seit Dezember fährt, Solche Duelle werden oft auch an Ampeln halten, dass tief in der Provinz eine ähnli- hat Florian zwar einen 210-PS-Motor ein- mitten in Hameln ausgetragen, bei Grün che Szene entstehen könnte. Doch dann gebaut, einen Sechszylinder-Einspritzer. geht’s los. Wer bei der ersten Kurve vorn kamen an den Wochenenden immer mehr Doch der Rest wird und wird nicht fertig: liegt, hat gewonnen. Tüftler und Bastler zur Tankstelle, präsen- „Ne Lackierung brauch’ er noch, verstehs- Faszinierender als Rasen findet Patty nur tierten stolz ihre aufgemöbelten Vehikel, te, die kostet 3500, dann noch ’ne Fahrer- Schrauben. Liebevoll schildert er, wie sich protzten mit Heckspoilern und polierten tür mit elektrischem Fensterheber, guck dir ein Auto unter seinen Händen in einen Alu-Felgen. bloß die alte an, fehlt dann nur noch Rennwagen Marke Eigenbau verwandelt, Vergaßen darüber, dass sie meist alte ’nen Radio für’n Tausender, „wie er tiefer wird“, „wie Modelle chauffierten, Golfs, BMWs, Polos damit endlich wieder bü- er breiter wird“, „wie er und Kadetts, vorwiegend aus den achtziger schen Gewummer in der lauter wird“, „wie er Jahren, teilweise schon aus den Listen der Kiste ist.“ schneller wird“. Gebrauchtwagenhändler gestrichen. Zeit zum Wühlen hat 20 Uhr. Es regnet heftig. Die Fahrer kamen nicht nur aus Hameln, Florian genug, nur kein Viele Autos sind schon weg. auch aus Holzminden und Emmern, aus Geld für die Teile: Seit Be- „Ich ruinier mir doch nicht Dörfern wie Hehlen und Heyen. Sie kamen endigung seiner Maurer- meinen Wagen“, verab- mit der Sehnsucht, endlich einmal bewun- lehre ist er arbeitslos. schiedet sich ein Opel-Fah- dert und anerkannt zu werden, gierig nach Wenn er Lust hat, verdient rer, braust davon. „Der Nervenkitzel, nach Abenteuern. Autover- er sich bei einer Spedi- klingt doch sowieso wie rückt, ohne Ausnahme. tionsfirma ein paar Mark eine leere Coladose“, flachst Florian ist der Verrückteste von allen. zum Arbeitslosengeld da- Florian hinterher. Der Ein großer Junge, der ungern erwachsen zu, wenn er keine Lust hat, Cruiser Florian Renntag scheint zu Ende, werden will. Ein Spaßmacher und Sprüche- werkelt er an seinem bevor er begonnen hat. klopfer, dem niemand böse sein kann. BMW, manchmal über 40 „Vorn muss er „Abwarten“, sagt Patty. „Vorn muss er schleifen, hinten muss der Stunden die Woche – ein schleifen, hinten Die Cruiser aus dem Auspuff Funken schlagen“, charakterisiert Ende ist nicht absehbar. muss der Auspuff engsten Kreis bleiben. Jörg er das ideale Auto. „Ein richtiges Auto wird Funken schlagen“ mit der verwegenen Pira- Seine Leidenschaft begann früh. „Schon nie ganz fertig“, tröstet ihn tenkappe ist dabei, mit 40 mein erstes Spielzeugauto habe ich heiß Patty, sein bester Kumpel. Jahren der Älteste und Er- geliebt“, erinnert er sich – Autos sind für Der 21-jährige Kfz-Schlosser streicht die fahrenste, der weniger riskiert als die an- ihn bis heute Spielzeuge geblieben. Wenn Räder seines Wagens gerade mit „Reifen- deren: „Ich bin einer, der nicht rast.“ Ob- er mit 200 Stundenkilometern über Land- Balsam“ ein, eine Flüssigkeit, die bei re- wohl Jörg Familie hat, zieht es ihn magne- straßen hetzt, übermütig, voller Spaß am gelmäßiger Benutzung die Pneus glänzen tisch in seine kleine Werkstatt: „Die Zeit, Rausch der Raserei, ignoriert er die töd- lässt wie eine Speckschwarte. Auch an Pat- die ich habe, verbring ich am Auto.“ liche Gefahr für sich und andere. „Du tys Gefährt, ebenfalls 210 PS, dunkelblau, Steven, dessen schicker weißer BMW musst nur dein Fahrzeug beherrschen“, muss noch viel verbessert werden. nach einem Ausritt in den Wald zerdep- verkündet er selbstbewusst. Den Vorgänger hat Patty vor ein paar pert in Jörgs Werkstatt steht, fällt aus zum Zweimal ging’s bisher daneben. Beim Wochen an eine Mauer gesetzt, mit Kara- Ausschlachten. Steven fährt inzwischen ei- ersten Mal rutschte er in den Graben, als cho. „Rollsplit“, erklärt er bedauernd, nen Mercedes ohne Auspuff. Wenn er aufs er wie ein Rallyefahrer mit quer gestell- „einfach weggerutscht, zack.“ Mit dem Gas tritt, klirren in Hameln die Fenster- tem Wagen durch eine Kurve preschen halbfertigen Neuen rast Patty noch wilder scheiben. „Bisschen auffallen sollte man wollte. Beim zweiten Mal übersah er mit durchs Weserbergland als sein Freund Flo- schon“, meint er. seinem tief gelegten Auto einen hoch ste- rian, am Wochenende manchmal stunden- Auch Harry wartet noch, Harry, der Ral- henden Gullydeckel: „Kurbelwelle, Kolben lang. Der Weg ist das Ziel. lyefahrer, der so spannend von den Rallyes

der spiegel 39/2000 93 Gesellschaft FOTOS: R. JANKE / ARGUS R. JANKE FOTOS: Reifenspuren (in Hameln), Nobelkarossen (in Hamburg): „Tausend Mark, wenn du schneller bist“ erzählen kann, die er vor ein paar Jahren 21 Uhr. Der Regen hat fast aufgehört. Beim Start gegen Daniels Fiesta bedient gefahren ist. Er gilt als virtuosester Wa- „Also los“, ruft Florian. Nadine alle Vorurteile: Der Polo hüpft auf genlenker der Clique, risikofreudig und Am Ziel, einer abgelegenen Privatstraße, der Stelle hoch, bleibt mit abgewürgtem doch besonnen, ein Vorbild. Harry trinkt geht alles ganz schnell. „Komm, Lutze, Motor liegen: Nadine hat den Rückwärts- Unmengen Cola. „Alkohol ist tabu“, sagt mach den Starter“, kommandiert einer. gang eingelegt, Gejohle. Doch beim zwei- er, die anderen nicken. Alle trinken Cola. Es ist stockdunkel, nur die Lichter der ten Versuch fährt sie dem Ford davon, Ohne schweren Unfall blieben bisher nur Scheinwerfer spiegeln sich im Asphalt. wird erst kurz vor dem Ziel abgefangen. Lutze und Daniel. Lutze, ein stets korrekt Zwei Autos nehmen nebeneinander Auf- Beifall. gekleideter Möbelverkäu- stellung, Motoren heulen „Jetzt noch ein Burn-out“, fordert ein fer, wird akzeptiert, ob- auf. BMW gegen BMW. Zuschauer – Fachbegriff für mutwilliges wohl er kein Cruiser ist, „Deine Kiste leder ich jetzt Aufheizen der Reifen. sondern ein technikverses- ab“, prophezeit Florian aus Micha ist der Erste. Er zieht bei seinem sener Oldiespezialist. Sein dem geöffneten Wagenfens- Opel-Astra mit Vorderradantrieb die Hand- uralter roter BMW, den ter, spielt mit dem Gas- bremse, gibt dann Vollgas. Der Wagen alle andächtig bewundern, pedal. „Heute nicht“, lacht bäumt sich auf wie ein gereizter Stier, quiet- repariert er nur mit Ori- Patty. „Mein Auto saugt schend drehen die Räder durch. Beißender ginalteilen. Der Wagen, dich durch den Luftfilter weißer Qualm hüllt das Auto ein. Baujahr 1974, ist älter als und spuckt dich hinten Harry, der Rallyefahrer, zieht nach, auch die meisten Cliquen-Mit- wieder aus.“ Florian muss unbedingt mitmachen. Beide glieder. Der Starter, zwischen lassen ihre Autos mit Vollgas auf der Stel- Daniels blauer Ford den Autos postiert, klatscht le rotieren wie Brummkreisel, immer Fiesta ist eigentlich eine in die Hände: „Los!“ 50 schneller, immer lauter. Die anderen Crui- rollende Lautsprecheranla- Meter: Patty liegt vorn. 100 ser springen zur Seite. Teile des glühenden, ge. Mit seinen drei ameri- Meter: Florian schiebt sich flüssig werdenden Gummis fliegen in den kanischen Boxen, zusam- Cruiserin Nadine heran. 150 Meter: Beide Radkasten, der Rest bleibt auf der Fahr- men über 1000 Watt stark sind gleichauf. 200 Meter: bahn kleben. Es stinkt. und fast 2000 Mark teuer, „Meine Mutter Beide kommen ins Schleu- Florian steigt aus, fasst kurz die Hinter- könnte Daniel leicht eine wollte schon dern. 250 Meter: Das Ren- reifen an. „Die sind ja Matsch“, jubelt er, Halle beschallen. Wenn er immer einen nen endet unentschieden. „nur noch Matsch.“ Dann die Ernüchte- die Anlage mit den zwei Jungen haben“ Florian flucht auf die im- rung: „Die sind hin.“ Endstufen in seinem Klein- mer noch nasse Fahrbahn: Plötzlich tauchen Scheinwerfer auf. wagen aufdreht, beginnt „Ich krieg die Kraft nicht Blaulicht flackert. „Scheiße, die Bullen.“ die Frontscheibe zu vibrieren und Daniels auf die Straße.“ Patty flachst: „Du kannst Die Polizei kommt mit vier Einsatz- Kopf so zu dröhnen, dass ihm die Straße einfach nicht schneller.“ wagen. Alle Cruiser müssen Ausweis, Füh- vor den Augen verschwimmt. Dann wer- Bei den nächsten Rennen gibt es Sieger. rerschein und Kfz-Schein vorlegen. Die Be- den mehr als 147 Dezibel frei, knallt Krach BMW schlägt Audi, Opel hängt Ford ab, amten inspizieren jedes Auto, schreiben in die Ohren wie bei einem startenden Golf fährt Kadett davon. Anzeigen, stellen unangenehme Fragen. Ist Düsenflugzeug. Plötzlich ist Nadine da, eine der wenigen der Auspuff da zugelassen? Hat der TÜV Bei einem Wettbewerb um den höchst- Frauen der Szene. Natürlich blond, natür- dieses Rennlenkrad genehmigt? Was ist mit möglichen Schalldruck gewann Daniel letz- lich Friseuse. Was nicht dem Klischee ent- diesem Fahrwerk? tes Jahr den ersten Preis, wurde zum „Mis- spricht: Ihren Polo, Baujahr 1989, 55 PS, „Ihr seid gefahren wie die Henker“, ter Boombastic“ gekürt – dabei ist der ge- hat die 21-Jährige weitgehend selbst zum schimpft ein Uniformierter, betrachtet lernte Kfz-Mechaniker zur Zeit eigentlich Flitzer umgerüstet, eine Friseuse, die kopfschüttelnd die dampfenden Gummi- ein Verlierer: Ohne Job, mit der vagen Aus- schrauben kann. Dass sie mit den Män- spuren. „Dass sich heute Abend keiner sicht auf einen Umschulungsplatz als Büro- nern aus der Clique konkurriert, manchen mehr hier blicken lässt“ – jähes Ende einer kaufmann und der Hoffnung, mal „ir- Angebern etwas vormacht, erklärt sie mit Cruisernacht. gendwas mit Computern“ machen zu kön- elterlichem Einfluss: „Meine Mutter woll- Samstagabend, 19 Uhr. Katzenjammer. nen, „das hat Zukunft“. te schon immer einen Jungen haben.“ Die Nachricht vom gestrigen Polizeieinsatz

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Werbeseite FOTOS: R. JANKE / ARGUS R. JANKE FOTOS: Polizeieinsatz (am Oortkatenufer in Hamburg): „Scheiße, die Bullen kommen“ hat sich herumgesprochen, der Motorraum blitzt der- Einen wie Vugal, den kleinen Türken, der Parkplatz an der Shell- art blank, dass man daraus kriegen die Fahnder sowieso nicht: Er ist Tankstelle ist fast leer. Nur essen könnte. Das Baujahr einfach zu schnell. Dabei fährt Vugal nur Florian, Patty und Lutze seines Liebesobjekts will einen Fiat Uno, einen Straßenfloh. Doch in sind da, rätseln, wer sie ver- Werner nicht verraten: diesen Winzling hat der 23-Jährige einen pfiffen hat. Pattys Ex- „Eine schöne Frau fragt Turbolader gepackt, der den Uno in eine Freundin? Ein Anwohner? man ja auch nicht nach Rakete verwandelt. Neider, die nicht mitfahren dem Alter.“ In der Berzeliusstraße in Billbrook, wo durften? Manche fahren hier im April drei Cruiser gegen einen Baum Die Stimmung wird erst nicht nur zum Spaß. „Tau- schleuderten und sich schwer verletz- besser, als Harry, der Ral- send Mark, wenn du ten, hängt Vugal am Sonntagabend alle lyefahrer, laut hupend vor- schneller bist“, lockt ein Kontrahenten spielend ab, sogar einen fährt, triumphierend einen Cruiser Jörg Sportwagenpilot, wedelt Mercedes. Wenn Vugal beschleunigt, Pokal schwenkt. Harry hat mit zehn Hundertern. sieht es aus, als würden die anderen seinem Ruf Ehre gemacht „Die Zeit, die Michael mit dem frisierten stehen bleiben. Er fährt, als wenn er un- und die stinkbiedere Fami- ich übrig habe, Opel Ascona 3000 willigt sterblich wäre. lienrallye eines Autohauses gehe ich immer ein, muss nur noch kurz Was passiert, wenn er mit seinem dünn- gewonnen, nebst Lorbeer- ans Auto“ zum Geldautomaten. Als blechigen Floh gegen ein Hindernis prallt, kranz und einem Freiflug Michael ganz knapp ge- hat sich Vugal allerdings schon ausgemalt: im Fesselballon für zwei winnt, fordert der ver- „Dann bleibt von mir nicht viel übrig.“ Personen. Allein, sein Sechszylinder läuft blüffte Herausforderer Revanche um alles: In einer Hamburger Klinik liegt die 35- jetzt nur noch auf fünf Töpfen. „Los, wir fahren um die Kisten. Hier ist jährige Backwaren-Verkäuferin Anke S. In der Kneipe, in der Harrys Sieg gefei- mein Kfz-Schein.“ Milz und Leber sind gerissen, ihre ert wird, fassen die Raser aus dem Weser- Die Polizei fährt ständig linke Hand und ihr linkes bergland einen mutigen Beschluss: Im hinterher. Sperren die Beam- Bein sind zertrümmert. Nach Frühjahr wollen sie sich mit ihren Autos auf ten den Rungedamm ab, flit- vier Operationen steht noch die Pisten der berüchtigten Hamburger zen die Cruiser nach Berge- nicht fest, ob sie je wieder Cruiser-Szene wagen. „Wenigstens ein- dorf. Bevor da die Kontrolle laufen kann. mal“, schwört Florian. beginnt, hat sich die Szene Die Radfahrerin wurde Sonntagabend, 18.30 Uhr, Hamburg- per Funktelefon nach Bill- nachts um 3.45 Uhr, auf dem Allermöhe. Gegen das, was hier abläuft, brook verabredet. Wird dort Weg zur Arbeit, im Hambur- wirkt die Hamelner Szene wie ein harm- Alarm ausgelöst, rasen die ger Vorort Norderstedt von loses Kindervergnügen. Cruiser schon am Deich in einem entgegenkommenden Am Rungedamm, mitten im Gewerbe- Oortkaten um die Wette – Auto 15 Meter durch die Luft gebiet, drängen sich Hunderte von Schau- ein Katz-und-Maus-Spiel, das geschleudert. Ein Zeuge hatte lustigen. Sie stehen direkt am Straßenrand, sich jedes Wochenende wie- unmittelbar zuvor zwei Wa- dicht an dicht. Die Autos, die im Zwei-Mi- derholt. gen in hohem Tempo neben- nuten-Rhythmus vorbeijagen, manchmal Dabei wird viel versucht, einander herrasen sehen. Die haarscharf, sind oft ein Vermögen wert. um die Szene einzudämmen: Polizei vermutet, dass die Fah- Für Zehntausende Mark gestylte Renner Verdeckte Ermittler mel- rer ein Privatrennen austru- sind dabei, auch dicke Nobellimousinen. den die Treffpunkte, Einsatz- gen. Beide flüchteten. Unter den Chauffeuren sind Bankange- kommandos legen sich mit Die Eltern von Anke S. stellte, Unternehmer, Zocker. Radarfallen auf die Lauer. setzten für Hinweise auf den Um Werners knallroten Mercedes 190 Gerichte verhängen Fahrver- Unfallfahrer eine Belohnung mit dem breitgelegten Heck versammeln bote, Verkehrsschupos konfis- von 5000 Mark aus. Bisher ha- sich Dutzende Neugieriger und staunen. zieren Zündschlüssel. Ein- ben jedoch alle, die womög- „120000 Mark habe ich reingesteckt“, ver- schüchtern lassen sich davon Unfallopfer Anke S. lich etwas wissen, dichtge- rät Werner stolz, „wenn das reicht.“ Selbst nur wenige. Fahrer geflüchtet halten. ™

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Werbeseite Kultur

STARS Tod einer Punk-Prinzessin Zu Lebzeiten wurde sie verehrt als „Lady Di des Underground“: Jetzt löste der Tod von Paula Yates Trauer und Bestürzung unter Englands Frauen aus. Sie sei eine gewesen, hieß es, die ihnen gezeigt habe, „dass du verdammt noch mal tun kannst, was du willst“. Von Thomas Hüetlin

das alles barfuß – allein dieser letzte Ein- kauf sagt eine ganze Menge über das Leben und Sterben von Paula Yates, die am vor- vergangenen Sonntag tot von ihrer vier- jährigen Tochter Heavenly Hiraani Tiger Lily im Bett gefunden wurde. Wie viele Frauen ihrer Generation woll- te sie alles, und meistens wollte sie es so- fort: schöne Partys, tollen Sex, eine fabel- hafte Familie, eine spannende Karriere. Dazu wollte sie bei all diesem Ehrgeiz und all diesen Verpflichtungen das Gefühl ha- ben, frei zu sein. Und als daraus nichts wurde, als sie mitansehen musste, wie ihre Pläne, die auch ihre Träume waren, ka- puttgingen, da sollte wenigstens die Küche sauber sein. Nur, mit blank gewienerten Kacheln und den vier Töchtern, die Yates zurück- lässt, sieht der Rock’n’Roll-Tod, den sie starb, noch hässlicher aus. Eine Mischung aus Smirnoff, Heroin und Barbituraten hatte sie im Schlaf erbrechen lassen, und sie sei an diesem Erbrochenen erstickt, hieß es. Sofort spekulierten die Zeitungen auf Selbstmord. Schließlich hatte sie es in den Jahren vorher schon versucht. Ein- mal mit einer Schlinge um den Hals, einmal mit einem Cocktail aus Valium und Bai- ley’s. Allein: Stets wirkten ihre Anstalten,

FOTOS: ACTION PRESS ACTION FOTOS: sich das Leben zu nehmen, eher wie Glamour-Girl Yates, Tochter Tiger Lily, Partner Hutchence (1997): Schokolade, Heroin Hilfeschreie, am Leben zu bleiben. „Mei- ne Güte, da hätte ich ja beinahe Marilyn ie war eins von den Mädchen, die Monroe gespielt“, sagte sie, nachdem sie gern shoppen gehen, und so ist es aus ihrer Valium-Bailey’s-Vergiftung er- Sziemlich logisch, dass der Letzte, der wacht war. sie lebend sah, ein Verkäufer war. Es waren Sprüche und Auftritte wie die- Der Mann heißt Zahid Safi, und er ist se, die Yates zu einer englischen National- keiner von denen, die in der Bond Street Ikone werden ließen, die über zwei Jahr- bei Gucci hochhackige Schuhe so fürsorg- zehnte als unzerstörbar galt. Eine „Lady lich aus den raschelnden Kartons klauben, Di des Underground“ tauften sie die Zei- als seien sie nicht aus Plastik, sondern aus tungen, eine „Prinzessin des Punk“, und echtem Gold. Zahid Safi ist asiatischer Ab- Yates genoss es, solche Etiketten zu spielen. stammung, und ihm gehört ein „Food and Als jetzt die Nachrufe über sie geschrieben Wine Shop“ in Notting Hill, dem Wohn- wurden, klang es, als würde die Anführe- viertel, wo Paula Yates ihr 3-Millionen- rin einer landesweiten Mädchengang be- Mark-Haus besaß. trauert. „Sie war stets das Girl, das alles als Sie sei in seinen Laden gekommen an Erste tat“, schrieb der „Daily Telegraph“. jenem Samstagabend, erzählt Safi, und „Furcht erregend schlau, außergewöhnlich habe zwei, drei kleine Flaschen Smirnoff witzig, intuitiv und originell, war sie eine gekauft, dazu Schokolade für die kleine freie Denkerin, deren Schuhe auch noch zu Tochter und einen Küchenreiniger. An- ihrer Handtasche passten“, pries sie der sonsten sei ihm noch aufgefallen, dass sie „Guardian“. „Sie zeigte den Frauen, dass barfuß war. Kleine Smirnoff-Flaschen, Schokolade Yates bei Filmpremiere in London im Juni für die Tochter, ein Küchenreiniger und Smarties-Schachtel unterm Bett 100 Werbeseite

Werbeseite du verdammt noch mal tun kannst, was Wie es sich für ein Starlet gehört, wur- du willst.“ de zumindest die Sache mit den Männern Natürlich passte zu diesem Was-du-willst und den Nachtclubs zur Obsession. Ge- bestens, dass sie eine Figur der Postmo- fragt waren allerdings nicht mehr spani- derne war; eine Funkenmarie des Anything sche Strandbars mit alternden Playboys, Goes; des Zeitalters, in dem alles erlaubt sondern London, Punkrock und junge Re- sein musste. Vom Punk hatte sie die Lust bellen, die Verbotenes taten. am Skandal und die direkte Sprache ge- Nach einer Affäre mit dem Musiker lernt. Nur, sie wollte mehr. Sie wollte den Richard Hell stieg die 18-Jährige in Dublin ganz großen Auftritt. in den Fond eines Daimler und machte sich Das Dumme war nur, dass sie zumindest an dem Hosenstall des Sängers Bob Geldof anfangs kein besonderes Talent besaß, wel- zu schaffen. Als die beiden fertig waren, ches ihr erlaubt hätte, ganz vorn bei der meinte sie kokett: „Das ist es doch, was ihr Scheinwerferaristokratie zu stehen. Natür- Rockstars von uns Mädchen erwartet.“ lich, sie sah gut aus – aber nicht gut genug, Weil die Köpfe zwar voller Anarchie, die um als Model Geld zu verdienen. Okay, sie Hosentaschen aber meist leer waren, gab besaß ein paar Platten – aber nicht den in- ihr Geldof am nächsten Morgen 80 Pence neren Zwang, selbst welche aufnehmen zu (damals gut drei Mark), damit sie mit dem müssen. Und klar, sie wusste sich in Posen Bus nach Hause fahren konnte. Sie blieb. zu werfen – aber für die Poseure von Hol- Später wurde geheiratet. Später bedeutete lywood war sie viel zu bodenständig. für Punkrocker viel später. Und so wun- Machte ja nichts. Paula Yates fand auch so derte sich niemand, als aus dem Später Einlass zu jeder Party, die wichtig war. Und acht Jahre wurden. weil sie sich mit einem tiefen Ausschnitt Die Trauung kostete 30 Dollar, der Ort stets dort herumdrängelte, wo die Fotogra- war Las Vegas, aber in der Plastikkapelle fen standen, und dazu freche Sprüche ab- standen nicht mehr ein struppiger Musi- gab, hieß es auf einmal, sie sei ein Glamour- ker und sein Groupie, sondern das Pop-

Girl. Mädchen, die so auftreten, sind stets PRESS ACTION traumpaar der achtziger Jahre. Er hatte mit gefragt in den Medien, und all diese Be- Yates, Ehemann Geldof (1995) „Live Aid“, einem der größten und wag- richte hintereinander gereiht ergaben eine „Leidenschaften nutzen sich ab“ halsigsten Wohltätigkeitsspektakel aller Art Daily Soap der Glitzerwelt: Paula Yates Zeiten, 200 Millionen Mark für hungernde – berühmt dafür, berühmt zu sein. mertür. Was folgte, war eine Art Pädago- Afrikaner auf den rettenden Weg gebracht Wahrscheinlich war dieser Zwang, das gik aus der Geisterbahn. Früh aufs Internat und war dafür von der Queen zum Ritter eigene Leben mit der ganzen Nation zu abgeschoben. Mit zwölf von der Schule ge- geschlagen worden; und Paula Yates galt als teilen, nur ein weiterer Versuch, die Zu- holt mit der Begründung: „Wir haben eine die Zukunft der Fernsehunterhaltung. neigung zu erwerben, die ihr die eigene Audienz beim Papst.“ Stattdessen mit der Ihre Art hatte wenig gemein mit der Mutter verweigerte. Diese, eine Schön- Tochter nach Mallorca gefahren und ein Tweedsakko- und Pfeifenrauchertradition heitskönigin aus dem englischen Arbeiter- paar Jahre geblieben. „Ich lebte so eine ehrwürdiger Journalistenschulen. Sie trat bad Blackpool, hatte sich so oft nachts aus Art Beach-Bunny-Existenz“, sagte Paula auf den Bildschirm, war charmant, spring- dem Haus geschlichen, um ihren Affären Yates später über ihre Teenagerjahre in der lebendig und heimste dafür auch noch in nachzugehen. Um sie zu stoppen, legte sich Sonne. „Schnellboote, Nachtclubs und New York, dem weltweit gefürchtetsten Paula samt Bettzeug vor die Schlafzim- ältere Männer.“ Kulturkampfplatz, Preise ein. Eine ihrer Sendungen zeichnete sich dadurch aus, dass sie schon frühmorgens Popstars auf einem Bett mit Leopardenfell empfing. An- züglichkeit mit Stil – Lichtjahre entfernt vom Herumgestotter der Verona Feld- buschs dieser Welt. Es waren solche Erfolge, die sie stolz und großzügig machten, nur zufrieden stellten sie Englands Glamour-Girl Number One nicht. Kinder mussten her, und sie ka- men in Form von drei Töchtern, die bald zauberhaft kichernd durch den Garten sprangen. Okay, sie mussten sich mit den merkwürdigen Namen Fifi Trixibelle, Peaches Honeyblossom und Little Pixie abfinden. Aber so ist der Rock’n’Roller anscheinend, wenn er sich fortpflanzt. Es änderte sich nichts daran, dass die Geldofs auf all die, die mit Punk und dem Schlacht- ruf „No more heroes“ groß wurden und die nicht einmal im Drogentraum an eine eigene Familie gedacht hatten, auf ein- mal wie Vorbilder wirkten. Aha, so geht es also auch. Das Idyll der Gegenkultur, des Under-

CINETEXT ground, der das neue Establishment war, Szene aus „Frühstück bei Tiffany“ mit Hepburn als Glamour-Girl (1960): Rotes Grausen sollte nicht lange halten. Von Anfang an

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Werbeseite Kultur waren die Eheleute grundverschieden ge- förmlich herausbrüllte. „Michael ist ein 1997 ein Freund am Telefon, dass ihr Lover wesen. Geldof, der zornige junge Mann Geschenk für die Frauen“, stand dort tot sei. Nackt, erhängt mit einem Gürtel, an mit dem Hang zu Schweigeminuten, die geschrieben, „der sexieste Mann des Uni- einer Hotelzimmertür in Sydney. manchmal Stunden dauern konnten; versums.“ Außerdem hatte Hutchence für Sie hat sich nie von diesem Schlag er- Yates, die vergnügte Plaudertasche, die sich Yates das Supermodel Helena Christensen holt. Und als sei es noch nicht genug, folg- in „Penthouse“ gezeigt hatte, nichts tra- verlassen. Der Triumph war vollkommen: ten weitere in kurzen Abständen. Als sie gend außer einer Tätowierung. Die Diffe- Sie war ausgebrochen aus dem Eheknast, mit einem schwarz gefärbten Brautkleid renz, die sie anfangs angezogen hatte, und sie hatte dazu, Mitte 30, kleingewach- bei der Beerdigung erschien, befahlen ihr nervte allmählich nur noch. Sie war gierig sen, inzwischen Mutter von drei Töchtern, die Hutchence-Eltern, sie solle verschwin- nach mehr Leben, er wollte seine Ruhe, eine der schönsten Frauen der Welt be- den. Danach wollten sie ihr Tiger Lily weg- und außerdem hatte er, den seine Lands- siegt. Diesmal waren sogar die Zeitungen nehmen. leute nur noch „Saint Bob“ nannten, einen baff. „Würden Sie“, fragte fassungslos das Wieder zurück in London, von Depres- neuen tiefen Einblick ins Dasein genom- englische Magazin „GQ“, das die Chris- sionen geschüttelt, erfuhr sie, dass sie selbst men: „Leidenschaften werden langweilig tensen auf dem Cover hatte, „diese Frau nicht das Kind des Ehemanns ihrer Mutter und nutzen sich ab. Die Leidenschaft gegen Paula Yates eintauschen?“ war, sondern das Ergebnis einer Affäre. Es kam ihr wohl vor, als habe sie keine Zu- kunft mehr und keine Vergangenheit. Kämpferin, die sie war, probte sie den Aufstand gegen dieses Schicksal – allein die Waffen, mit denen sie in die Schlacht zog, schienen grundverkehrt zu sein. Mit hochhackigen Schuhen und durchsichtigen Kleidern rannte sie weiterhin zu Filmpre- mieren und Fashion-Shows, hatte Affären mit Männern, die ihre Söhne hätten sein können, und glaubte dabei doch nur, Hutchence die Treue zu halten und dem wilden Leben, dem sie sich in besseren Ta- gen verschworen hatten. Als sie in diesem Jahr 40 wurde, schrieb sie: „Ich bin glücklich, Mitglied einer Ge- neration zu sein, der das Alter 40 scheiß- egal ist. Um ehrlich zu sein: Es ist ein Wun- der, dass ich überhaupt so alt geworden bin.“ Natürlich war das die größte Lüge von allen. Denn nichts war ihr egal. Nicht ihr Alter, nicht ihr Aussehen, nicht ihre Angst vor dem Verfall. Früher hätte sie wahrscheinlich gelacht über ihre Wehwehchen, die sie jetzt mit Monsterkräften zu erdrücken schienen und tagelang im Bett liegen ließen, direkt neben

R. CHAMBURY / ALPHA R. CHAMBURY der Urne mit der Asche von Hutchence, Partner Hutchence, Yates im Londoner TV (1994): „Michael ist ein Geschenk für Frauen“ die sie in einen Pyjama von Gucci ge- wickelt hatte. Nur – die Kraft ging ihr aus, schränkt die Existenz ein. Sex brennt einen Paula Yates war wieder jung – und sie und helfen wollte sie sich nicht lassen. Menschen aus.“ wollte es bleiben. Sie ließ sich den Busen Glamour kann eine schreckliche Sache Paula Yates leistete sich ein Privileg, das vergrößern, die Zähne operieren, Rippen sein, und keiner hat den langen Schatten, bis dahin vor allem verheirateten Männern entfernen, um die Taille zu schmälern. den er oft wirft, besser beschrieben als vorbehalten gewesen war: Sie sah sich nach Auch diese Errungenschaften der moder- Truman Capote in seinem Buch „Früh- Abwechslung um. Und sie brauchte nicht nen Medizin teilte sie nicht nur mit ihrem stück bei Tiffany“ mit der wundervollen lange zu suchen. Die Abwechslung hing neuen Lover, sie nahm sich ganz England Heldin, dem Glamour-Girl Holly Golight- schon seit 1982 in Form eines Fotos an an die Brust. Natürlich durften in diesem ly (Audrey Hepburn). „Kennen Sie die ihrem Kühlschrank und hörte auf den Chaos ihre drei Töchter nicht fehlen, die sie Tage“, fragt sie da, „wenn Sie das rote Namen Michael Hutchence, Sänger der mitgenommen hatte. Grausen gepackt hat?“ Ob es das Gleiche australischen Band INXS. „Wann kommt Allein, Hutchence verhalf ihr nicht nur sei wie die blaue Melancholie, fragt ein dieses blöde Bild endlich runter von unse- zu neuem Spaß am Leben, er brachte ihr Freund. „Nein“, entgegnet sie, „die krie- rem Eiskasten?“, soll Geldof zu glücklichen auch bei, Drogen und zu viel Alkohol zu gen Sie, weil Sie dick werden oder auch Zeiten noch gefragt haben. Die Antwort sei- sich zu nehmen, und als eine Nanny unterm wohl, weil es zu lange regnet.“ Das rote ner Frau hieß: „Wenn ich ihn endlich habe.“ Bett eine Smarties-Schachtel gefüllt mit Grausen dagegen sei die Hölle, und man Mitte der neunziger Jahre sahen sich Opium fand, war es um das Sorgerecht ge- wisse nicht einmal, warum. Hutchence und Yates wieder, und dieses schehen. Bob Geldof erhielt die Töchter Es muss wohl so was in dieser Richtung Mal blieb es nicht beim Fotoausschneiden. zugesprochen. Yates bekam mit Hutchence gewesen sein an diesem Wochenende in Es funkte nicht, es muss eine Art Explo- Tochter Nummer vier: Tiger Lily. Notting Hill, als Paula Yates ihr Haus betrat sion gegeben haben zwischen den beiden, Natürlich – all das kostete Kraft, aber mit kleinen Smirnoff-Flaschen, Schokola- und dummerweise konnte der betrogene sie strahlte vor Zuversicht, weil sie verliebt de für die Tochter und einem Küchenrei- Ehemann Geldof jeden Tag in den Zeitun- war und glaubte, endlich das Leben führen niger und es wieder verließ in einem Lei- gen davon lesen, weil seine Frau im zu können, von dem sie immer geträumt chensack, von dem die Zeitungen schrie- Glücksrausch ihrer Libido die Neuigkeiten hatte. Dann sagte ihr am 22. November ben, dass er burgunderfarben war. ™

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Werbeseite Trends Wirtschaft

BANKEN Warnung UMTS vom Aufsichtsamt Deutliche Verspätung eutsche Banken, die Gelder aus du- ehr viel länger, als es die Netzbe- wollen sie die Infrastruktur für die Dbiosen Quellen annehmen, müssen Streiber geplant haben, könnte sich UMTS-Netze in Rekordzeit aufbauen mit schärferer Überwachung und härte- der Aufbau der UMTS-Mobilfunknetze und spätestens im Jahr 2003 den Be- ren Sanktionen rechnen. Im Extremfall hinziehen. Schon jetzt haben zahlreiche trieb der neuen Mobilfunkgeneration könne die Abberufung der Geschäfts- UMTS-Ausrüster erhebliche Probleme, aufnehmen. führung durchgesetzt werden, drohte die notwendige Hardware für die das Bundesaufsichtsamt für das Kredit- demnächst anstehenden Testprojekte UMTS-Handy-Prototyp wesen in einem Rundschreiben an alle rechtzeitig zur Verfügung zu stel- Kredit- und Finanzdienstleistungsinsti- len. Im jüngsten „Management- tute. Damit reagiert die Berliner Behör- Report“ von Siemens, dem de auf die Affäre um die Gelder des größten deutschen Anbieter ehemaligen nigerianischen Diktators von UMTS-Hardware, heißt es Sani Abacha. Auf Konten der Abacha- zum Beispiel, dass sich die Familie bei der Luxemburger Tochter Auslieferung deutlich ver- der Hamburger Bank M. M. Warburg späten könne. Bei einigen wurden über 1,3 Milliarden Mark Komponenten, warnt der fir- sichergestellt – Geld, das der Abacha- meninterne Informations- Clan durch Raub, Unterschlagung und dienst, bestehe „eine Verzö- Korruption angehäuft hatte. Gelder aus gerung von sechs Monaten“. „korrumptiven Quellen“, monierte das Auch die Telekommunika- Aufsichtsamt, „wurden in der Vergan- tionsunternehmen Nokia, Nor- genheit auch bei deutschen Banken in tel und Alcatel tun sich Deutschland angelegt oder über deut- schwer, dringend benötigte sche Banken weitergeleitet, was bei ein- Teile zu liefern. Für die Mobil- zelnen Instituten zu einem Imagescha- funkfirmen, die für ihre neuen Lizenzen fast 100 Milliarden

Mark an den Bundesfinanzmi- DPA nister überweisen mussten, bedeutet das einen herben Rückschlag. Um die enormen Kapitalkosten mit einer Zins- belastung von bis zu fünf Millionen Mark pro Tag möglichst gering zu halten,

VERMÖGEN 120 Kluge Verkaufspolitik 153 Gates mit Kurs der Microsoft-Aktie in Dollar 887 100 und große Aktienverkäufe von 632 Gespür Bill Gates in Millionen Dollar ill Gates, Gründer 80 364 Bdes Software-Rie- AP

ARCHIV MEHRL sen Microsoft, hat bis- Gates 153 60 799 Bankenviertel in Frankfurt am Main lang Geschick dabei 569 bewiesen, Teile seines Aktienvermögens 257 786 40 den geführt hat“. Die Berliner Aufseher zu verkaufen. Selbst wenn er sich von 95 112 533 warnten alle Unternehmen der Finanz- größeren Paketen getrennt hat, ist es 84 105 branche eindringlich davor, Geschäfts- am Markt zu keinen gravierenden Re- 20 95 123 beziehungen mit zweifelhaften ausländi- aktionen gekommen. Besonders aktiv 88 schen Politikern einzugehen. Die An- war Gates im vergangenen Jahr: 1999 Quelle: Datastream, InsiderScores.com nahme von Geld, das durch Korruption verkaufte er in drei Tranchen Anteile 0 oder Unterschlagung kassiert wurde, im Wert von zusammen fast 2,5 Milliar- 1986 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 00 könne strafbar sein. Verstöße gegen die den Dollar – bevor im April dieses Jah- Sorgfaltspflicht würden die Aufsichts- res die Aktie nach dem Gerichtsurteil wieder erschienenen Liste der reichs- behörde veranlassen, die „Ordnungs- im Kartellverfahren gegen Microsoft ten Amerikaner, die die Zeitschrift mäßigkeit der Geschäftsführung in Fra- eingebrochen ist. Noch immer steht der „Forbes“ ermittelt. Demnach beträgt sein ge zu stellen“. 44-Jährige ganz oben auf der gerade Vermögen rund 63 Milliarden Dollar.

der spiegel 39/2000 111 Trends

DEUTSCHE BANK Filialtochter wird nicht verkauft T. BARTH / ZEITENSPIEGEL BARTH T. Rentner beim Seniorentag (in Nürnberg) ie Gespräche zwischen Dder Deutschen Bank und RENTE dem Versicherungskonzern Al- lianz über einen Verkauf der Mehr Geld in 2001 Filialtochter Deutsche Bank 24 an den Versicherer sind ins m Jahr 2001 will die Bundesregierung Stocken geraten. Die Vorstän- Idie Renten wieder an die Entwick- de des Kreditinstituts, das sich lung der Nettolöhne koppeln. Das geht strategisch immer stärker als aus dem Referentenentwurf zum Ren- weltweit agierende Invest- tenreformgesetz hervor, den Arbeits- mentbank ausrichtet, sind zu minister Walter Riester diese Woche der Ansicht gelangt, dass sie vorlegt. Riester kommt damit den Ge- das Filialgeschäft auch für In- werkschaften entgegen. Diese hatten vestment-Bankprodukte, also kritisiert, dass die Regierung die Alters- Aktien und Aktienfonds, drin- gelder 2001 nur entsprechend der Infla- gend brauchen. Das berichten tionsrate erhöhen wollte. Auf lange Aufsichtsräte des Instituts. Vor Sicht lässt der Minister die Forderung allem wolle die Deutsche Bank der Gewerkschaften dagegen unberück- in Zukunft für steuerlich be- sichtigt: Von 2011 an wird das Niveau günstigte Pensionsfonds ein für jeden neuen Rentnerjahrgang um schlagkräftiges Vertriebsnetz 0,3 Prozentpunkte gekürzt. Auch bei zur Verfügung haben. In die- der Förderung der privaten Vorsorge sem neuen Milliarden-Ge- hält Riester an seinen Plänen fest. Ge- schäft konkurrieren die Ban- ringverdiener erhalten ab 2001 eine ken zudem mit den Produkten jährlich wachsende Zulage zur privaten von Versicherungen. Gerade Alterssicherung, Besserverdienende deswegen sei ein Verkauf der können einen entsprechend steigenden Deutschen Bank 24 an den Betrag steuerlich absetzen. Dann Münchener Versicherungsrie- beläuft sich die Zulage auf 37,50 Mark sen, wie noch vor einigen Mo- (Verheiratete 75 Mark). Für jedes Kind naten im Verlauf des geplatz- zahlt der Staat noch einmal 45 Mark zu- ten Zusammenschlusses mit sätzlich. In den Genuss der Förderung der Dresdner Bank geplant, in- kommen nur rentenversicherungspflich-

N. SCHNARR / BAUMGARTEN zwischen so gut wie ausge- tige Arbeitnehmer; Beamte, Selbständi- Deutsche-Bank-24-Zentrale in Frankfurt schlossen. ge und ein Großteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gehen leer aus.

FUSIONEN schiedet worden. „Derartige Zah- lungen sind in der öffentlichen Wir- Gesetz gegen kung an der Grenze der Bestech- lichkeit – und nicht im Interesse der goldenen Handschlag Aktionäre“, sagt die Vorsitzende des Finanzausschusses im Bundes- anager sollen nach dem Willen tag, Christine Scheel. Die Abgeord- Mder Bundesregierung bei Unter- nete der Grünen will die Regelung nehmensübernahmen nicht mehr noch ergänzen: Sie prüft derzeit, ob mit Millionenbeträgen abgefunden das Verbot auch auf Übernahmen, werden. Einem entsprechenden die als Fusionen kaschiert sind, aus- Gesetzesentwurf zufolge wird dem geweitet werden kann. Bei einer Bieter dabei untersagt, „Vorstands- erfolgreichen Fusion der Frankfur- RIRO-PRESS VARIO-PRESS und Aufsichtsratsmitgliedern der ter mit der Londoner Börse hätten Esser Zielgesellschaft im Zusammenhang die Führungskräfte ebenfalls insge- Seifert mit der Übernahme Geldleistungen samt 50 Millionen Mark erhalten – oder andere geldwerte Vorteile zu gewähren oder in Aussicht nach angloamerikanischen Gepflogenheiten wäre dabei zu stellen“. Im Zusammenhang mit der feindlichen Übernah- ein Großteil auf den Chef der Deutschen Börse, Werner me von Mannesmann durch den Telekommunikationskonzern Seifert, entfallen. De facto wäre die Fusion nach Ansicht vieler Vodafone ist beispielsweise Mannesmann-Chef Klaus Esser Experten eine Übernahme der Frankfurter durch die Lon- mit einem goldenen Handschlag von 60 Millionen Mark verab- doner Börse gewesen.

112 der spiegel 39/2000 Geld

Kurse amerikanischer Investmentbanken in Dollar Goldman Sachs J.P.Morgan Lehman Brothers Merrill Lynch 130 190 170 70

120 175 150 65

110 160 130 60

100 145 110 55

90 130 90 50

80 115 70 45 Quelle: Datastream 70 100 50 40 JFMAMJJAS JFMAMJJAS JFMAMJJAS FMAMJ J AS

INVESTMENTBANKEN mer noch wachsenden Geschäft mit Firmenzusammenschlüs- sen und -übernahmen, das mittlerweile auch die jungen High- tech-Unternehmen der New Economy erfasst hat. Auch steigt Fusionsfieber hält an das in Aktien gehaltene Vermögen der Bevölkerung stetig an. Vor allem aber haben die US-Banken selbst durch Zusam- it einer kräftigen Hausse haben die amerikanischen In- menschlüsse und Übernahmen den Kursaufschwung besorgt. Mvestmentbanken in den vergangenen Monaten ihre Ak- Auch in Deutschland waren die Kurse der Banken in der Er- tionäre erfreut. Die auf den Handel mit Wertpapieren und die wartung, dass es zu Fusionen kommt, zwischenzeitlich gestie- Beratung von Firmen spezialisierten Häuser glänzen seit An- gen. Doch viele Analysten sind skeptisch. Dieter Hein vom fang Juni mit Kurssteigerungen zwischen 50 und mehr als 100 Bankhaus Crédit Lyonnais: „Nachdem alle Zusammenschlüs- Prozent. Auslöser dafür waren zunächst positive Gewinnüber- se kläglich gescheitert sind, ist hier zu Lande in den nächsten raschungen zum Halbjahr. Die wichtigsten Ursachen für die zwölf Monaten nicht mehr mit einer Fusion zu rechnen.“ Er hat hohen Überschüsse: Zum einen profitieren die Banken vom im- die deutschen Banken deshalb auf „reduzieren“ herabgestuft.

Olympia-Sponsoren Aktienkurse in Euro Quelle: STAATSANLEIHEN Datastream 100 70 74 45 Riskant und 90 65 70 42 hochprozentig

80 60 66 39 usländische Staatsanleihen werfen Aimmer noch hohe Zinsen ab – aber 70 55 62 36 nicht mehr so viel wie früher. Noch vor einem Jahr brachte die russische DM- Anleihe 98/05 mit einem Zins von 9,375 60 50 58 33 Prozent eine Rendite von rund 25 Pro- Adidas-Salomon Coca-Cola Eastman Kodak McDonald’s zent. Wer nach dem Kursrutsch diese 50 45 54 30 Papiere kaufte, brauchte nur die Hälfte 1999 2000 1999 2000 1999 2000 1999 2000 des Nominalwertes zu zahlen. Inzwi- schen ist der Kurs dieser Anleihe von SPONSORING 51 auf 88 gestiegen, die Rendite damit auf jetzt gut zwölf Prozent gesunken. Gewinnen mit Olympia? Auch Anleihen anderer Staaten mit schlechter Bonität wie Argentinien, ie Begeisterung für die Spiele in Sydney könnte sich schon bald auf die Aktien- Brasilien oder Venezuela bringen heute Dkurse der Hauptsponsoren positiv auswirken – glauben zumindest Analysten. weniger ein. Die Kreditwürdigkeit der Das tut wohl auch Not, denn die Kurse der meisten Sponsoren sind tief gestürzt. meisten Schwellenländer ist gestiegen, Trotzdem sieht Michael Mantlik von der Vereins- und Westbank etwa die Adidas- und bislang hat noch jeder Staat nach Aktie im Aufwind. Der Sportartikelhersteller, einer der Hauptsponsoren des deutschen der Zarenzeit seine Schulden bezahlt. Teams, will sich bei den Spielen als Anbieter von hochentwickelten Ausrüstungs- So werfen die verhältnismäßig sicheren gegenständen für den Leistungssport einem Milliardenpublikum präsentieren. „Eine DM- oder Euro-Anleihen der Türkei je Strategie, die Sinn macht“, so Mantlik, „schließlich müssen sich die Sportaktikel- nach Laufzeit nur noch Renditen zwi- Produzenten immer stärker gegen sportlich designte Produkte von Modefirmen weh- schen 6,6 und 8,6 Prozent ab. Sehr risi- ren.“ Patrick Hasenböhler von der Züricher Kantonalbank glaubt, dass vor allem glo- kofreudige Anleger ordern den in die- bale Konsumgüterproduzenten wie McDonald’s, Coca-Cola oder Kodak von Olympia sem Jahr aufgelegten Zehnprozenter profitieren – trotz der geschätzten 50 Millionen Dollar, die jede der Firmen an das der hochverschuldeten Ukraine: Bei IOC abführen muss. „Die Konzerne können ihren Bekanntheitsgrad und den ihrer einem Kurs von knapp 80 liegt die Ren- Marken enorm erhöhen“, sagt Hasenböhler. dite bei 19 Prozent.

der spiegel 39/2000 113 Titel Voll erwischt vom Ölschock Die Regierung unter Druck: Teures Öl, schwacher Euro und die aufkommende Nervosität an den Börsen bedrohen den Aufschwung – und damit den Erfolg von Gerhard Schröder. Der Kanzler hat es mit übermächtigen Gegnern zu tun: mit Spekulanten und Ölscheichs.

eter Gignoux ist ein Veteran an der Gewusel nicht unterzugehen. Ein ausge- Ölfront. Seit 20 Jahren handelt der streckter Zeigefinger reicht, und schon PBanker der amerikanischen Invest- weiß der Händler, dass er im November ei- mentbank Salomon Smith Barney mit Öl. nen Abnehmer für 1000 Fass Öl der Nord- Gignoux hat schon erlebt, wie der Ein- seesorte Brent gefunden hat. marsch der Irakis in Kuweit den Preis von Rund 70 Millionen Barrel wechseln so je- 18 auf zeitweise 40 Dollar emporschnellen den Tag den Besitzer. Keine Frage, seit der ließ. Und er hat verfolgt, wie das Eingrei- Ölpreis immer neue Rekordhöhen erreicht, fen der Amerikaner den Kurs binnen eines geht es den Händlern prächtig. „Wir lieben Tages wieder von 31 auf 19 Dollar stürzte. die Unsicherheit“, sagt Gignoux. Doch so eine Aufregung wie in den letz- Auch an den Devisenbörsen in Frankfurt ten Wochen war noch nie. „Ich bin ziem- oder New York sitzen die Profiteure der Öl- lich nervös“, bekennt der schwergewichti- krise. Denn die Ölwährung Dollar ist aufs ge Amerikaner, der an der Londoner In- Engste an das Geschehen an den Roh- ternational Petroleum Exchange für seine stoffbörsen gekoppelt. Bank den Terminhandel verantwortet. Mit jedem Anstieg des Barrelpreises Gehandelt wird an dieser eigenartigen strömt neues Geld in die US-Währung, Tag Börse mit der Zukunft, und die rechnet für Tag tauschen die Trader an ihren Com- sich in diesen Tagen in Barrel. In einer Art puterbildschirmen Milliardenbeträge, da- Amphitheater schreien sich Dutzende von mit die Ölempfänger die Ölproduzenten Ölhändlern Zahlen um die Ohren. Die bezahlen können. Yen gegen Dollar. Klick. Jungs der Investmentbank Prudential- Euro gegen Dollar. Klick. Bache haben grüne Trikots übergestreift, Und so ist es kein Wunder, dass die De- die Mannschaft von Paribas Futures tritt visenhändler den Euro in den vergange-

in schrillem Orange-Blau an, um in dem nen Monaten immer weiter nach unten ge- PRESS SIPA

Wirtschaft am Tropf 3. September 1980 Ölpreisschock Weltmarktpreis für Rohöl und Beginn des Krieges das deutsche Wirtschaftswachstum Dollar zwischen Iran ab 1991 Gesamtdeutschland 30 und Irak Januar 1991 ROHÖLPREIS 1. Ölpreisschock 2. Ölpreisschock Die Operation in Dollar August 1990 „Desert Storm“ pro Barrel Arbeitslose Arbeitslose Der Irak zur Befreiung 1973 0,3 Millionen 1979 0,9 Millionen überfällt Kuweits beginnt Kuweit 1976 1,1 Millionen 20 1983 2,3 Millionen WACHSTUM Veränderung + + der Wirtschafts- leistung zum 800000 1400000 1997 Anfang Asienkrise: 1999 Vorjahr Kürzungen der in Prozent 1979 Nachfrage- Revolution einbruch Opec-Fördermengen 10 in Iran führt zu beginnen auf die 5,6 5,7 Preise durch- 5,0 5,0 weiterem 4,7 Preisverfall zuschlagen 4,2 4,0 3,7 3,6 Oktober 1973 3,3 3,0 2,7 2,8 Öl-Embargo 2,3 der Araber 2,0 2,2 2,3 2,2 1,5 1,8 1,5 1,7 1,5 1,5 0,8 0,2 0,0 –1,4 –1,0 –1,1 1970 71 72 1973 1974 1975 1976 77 78 1979 1980 1981 1982 1983 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 1999 2000

114 der spiegel 39/2000 trieben haben. Fast im Gleichschritt geht’s voran – in unterschiedliche Richtungen al- lerdings: Rauf für den Ölpreis heißt runter mit dem Euro. Jeder Spekulation auf ein weiteres Plus bei den Spritpreisen steht eine Börsenwette zu Ungunsten des Euro gegenüber. Die Gemeinschaftswährung stürzte in der vergangenen Woche gleich zweimal auf ein neues Rekordtief: 85,26 Cent am Mon- tag, 84,76 Cent am Mittwoch – so lange, bis sich die Notenbanken in Europa, Japan

und den USA am Freitagmittag in einem DPA

Lkw-Blockade, Ölförderung in Kuweit: „Beten für einen warmen Winter“

109,4 110

Westdeutschland besser

105

103,8

GESCHÄFTSERWARTUNGEN Index 1991=100 100

Quelle: Ifo-Umfrage bei über 7000 Unternehmen zur konjunkturellen Lage

95

schlechter Ostdeutschland

90 90,5 88,7 2000

Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. überraschenden Kraftakt zu einer Inter- vention an den Devisenmärkten entschie- den. Ein einstelliger Milliardenbetrag wur- de eingesetzt, so ein hochrangiger Banker der Europäischen Zentralbank. Innerhalb von einer halben Stunde kletterte der Euro-Kurs auf 90 Cent. Die Welt in Aufruhr: Seit der Asienkri- se hat kein anderes Thema Notenbanker, Regierungschefs, Wirtschaftsführer und die Bürger so in Aufregung versetzt wie die steigenden Energiepreise. Schlagartig ist den westlichen Industrienationen dieser Tage vor Augen geführt worden, wie ab- hängig sie noch immer von dem schwarz glänzenden Rohstoff sind – und damit von den Mächten, die Kauf und Verkauf kon- trollieren. Der Ölschock trifft den Lebensnerv der Industriegesellschaft, die eben vom Auto nicht weniger lebt als vom Computer. Überall sind die Regierungen derzeit bemüht, die Folgen des Preisanstiegs zu mildern. Wie ernst selbst die Clinton-Ad- ministration mittlerweile die Teuerung an den Rohölmärkten nimmt, zeigt der Vor- New Yorker Börse: Die großen Spieler der Weltwirtschaft bringen Regierungen aus dem Takt schlag von Vizepräsident Al Gore, die na- tionalen Ölreserven der USA teilweise auf- Radfahrern sowie Bus- und Bahnkunden Mittlerweile jedoch spielen die Berater zulösen, um die Amerikaner zum Winter zugute kommt. Zudem will er Sozialhil- in der Regierungszentrale alle nur denk- mit billigem Heizöl versorgen zu können. fe-, Wohngeld- und Bafög-Empfänger mit baren Krisenszenarien durch. Wie hoch, Auch in Deutschland hat sich die Regie- einem einmaligen Heizkostenzuschuss so fragen sie sich, wird die Wutwelle noch rung nach langem Zögern zu einer Geste über den Winter helfen. schwappen? Wie groß ist die Gefahr, dass des Entgegenkommens durchgerungen. Das Einlenken von Rot-Grün markiert die steigenden Energiepreise Wachstum Noch während die Intervention der No- zugleich das Eingeständnis, dass die Re- und Produktivität treffen und damit auch tenbanken in vollem Gange war, verkün- gierung die Ölkrise weitaus ernster nimmt die Beschäftigung? Und vor allem: Geht dete Bundeskanzler Gerhard Schröder die als lange Zeit behauptet. Seit vor elf Tagen von der Ölkrise eine Bedrohung für die Entscheidung, künftig eine so genannte auch hier zu Lande erstmals die Berufs- Kanzlerschaft Gerhard Schröders aus? Entfernungspauschale zu gewähren, die um fahrer gegen die steigenden Preise de- Keine Frage, der Ölschock hat auch die zehn Pfennig über der bislang geltenden monstrierten, hatte sich die Koalition nach Regierung voll erwischt. Beim ZDF-Polit- Kilometerpauschale liegt und nun auch Kräften bemüht, das Thema kleinzureden. barometer sackte die Zustimmung zur SPD-Politik von einst 48 Prozent auf nur noch 39 Prozent. So wie ein unverhoffter Vorfahrt für die Besserverdiener Glücksfall, die Selbstdemontage der Op- Was die neue Entfernungspauschale dem Steuerzahler zusätzlich bringt position im Zuge der Spendenaffäre, im vergangenen Winter die Trendwende für Ledige, Steuerklasse I Verheiratete, Steuerklasse III die angeschlagene Schröder-Koalition brachte, so ist es erneut eine nur schwer Pkw-Pendler Pendler im vorhersehbare und vor allem kaum steu- Steuerersparnis öffentlichen Nahverkehr erbare Entwicklung, die den Höhenflug durch Anhebung der Statt der Fahrkarte können künftig pauschal von Rot-Grün jäh stoppen könnte. Kilometerpauschale von 80 Pfennig pro Kilometer abgesetzt werden. Das Vertrackte: Der Zupack-Kanzler 70 auf 80 Pfennig: Steuerersparnis: sieht sich von Kräften bedroht, die er nicht Entfernung Quelle: BMF wirklich kontrollieren kann – von der einfache Strecke 15 km 25 km 15 km 30 km Opec, vom Kartell der Multis und von den Spekulanten an den Börsen. Konnte Schrö- Friseurin 109 154 328 1014 40000 Mark der beim Ringen um die Steuerreform sei- brutto pro Jahr 66 0 242 294 ne Gegner noch leicht ausmachen und ge- geneinander ausspielen, sind es nun die Mechaniker 114 186 396 1210 großen Spieler der Weltwirtschaft, die die 60000 Mark Regierung aus dem Takt bringen. brutto pro Jahr 96 158 353 1006 Schon warnen Ökonomen davor, dass der junge, noch wackelige Aufschwung in Lehrerin 133 218 465 1443 Deutschland ins Stocken geraten könnte: 80000 Mark brutto pro Jahr 92 156 348 1034 • Die 60-Milliarden-Entlastung der Steu- erreform wird rund zur Hälfte von den steigenden Sprit- und Heizölpreisen auf- Abteilungsleiter 152 251 533 1656 100000 Mark gezehrt. Vielfahrer, Rentner und Ge- brutto pro Jahr 105 173 382 1141 ringverdiener zahlen unterm Strich so- gar drauf, selbst wenn ab Januar kom-

116 der spiegel 39/2000 Titel

kann, das hat die Republik erstmals 1973 mahnt, wurde bis auf weiteres verschoben. erlebt – das historische Vorbild des dama- Schröder fürchtet eine neuerliche Steuer- ligen SPD-Kanzlers Willy Brandt steht diskussion, die in diesem Fall vor allem die Schröder warnend vor Augen. Der hatte Rentner irritieren und das Ansehen von zwar den Deutschen den Ernst der Lage in Rot-Grün weiter beschädigen könnte. einer Fernsehansprache deutlich gemacht Wie nervös die Regierung ist, zeigt auch („Die Krise, an deren Anfang wir erst ste- das Hin und Her in der Diskussion um die hen, ist nicht zu verharmlosen“). Doch hin- „sozialen Korrekturen“, die der Kanzler derten all die Appelle, Maß zu halten, die in Aussicht gestellt hatte. Möglich erschien Gewerkschaften nicht daran, auf die stei- im Chaos der vergangenen Woche fast al- genden Preise mit immer neuen Lohnfor- les. Jeden Tag kursierten neue Vorschläge, derungen zu reagieren: In den so genannten neue Gerüchte, neue Zahlen. Kluncker-Runden setzten sie Tarifsteige- So berieten Schröder und seine engsten rungen von elf Prozent durch – der Anfang Vertrauten am Mittwoch, im Anschluss an vom Ende der Kanzlerschaft Brandt. die Kabinettssitzung, gleich über einen Von einer Rezession ist die Republik ganzen Katalog an möglichen Maßnahmen. noch weit entfernt. Zudem ist die Wirt- Der Krisenplan zirkulierte seit Anfang der schaft weit weniger empfindlich für die Woche im Kanzleramt. Schwankungen auf dem Ölmarkt als noch Detailliert hatten Regierungsexperten in vor 30 Jahren: Vor allem die Großindustrie diesem Papier aufgeführt, wie dem Druck hat den Energieverbrauch gesenkt. der Straße zu begegnen sei, etwa durch Dafür sieht sich die Regierung diesmal eine höhere Agrardiesel-Subvention für einer Zangenbewegung der globalen Wirt- Bauern oder eine reduzierte Kraftfahr- schaft ausgesetzt: Es ist das Aufeinander- zeugsteuer für Spediteure. Selbst das Un-

REUTERS treffen von steigendem Öl- preis und sinkendem Euro, menden Jahres die erste Stufe der gro- von Benzinwut und Weich- ßen Steuerreform in Kraft tritt. währung, diese doppel- • Das derzeit satte Wachstum erhielte ei- te Vertrauenskrise, die nen Dämpfer, wenn sich die Bürger mit die Menschen verunsichert Blick auf die steigenden Energiekosten und den Kanzler hilflos zu weniger Konsum entschließen soll- aussehen lässt. ten und die Firmen daher ihre Investi- Ölpreis rauf, Euro run- tionen zurückfahren. Der Ölschock, so ter – so geht es schließlich warnt der Internationale Währungsfonds seit Wochen. Ebenso ra- (IWF), werde bis zu einem halben Pro- sant, wie das schwarze zent Wachstum kosten, Börsianer in Gold teurer wird, verliert Frankfurt halten gar ein einprozentiges die europäische Einheits- Minus für möglich. währung an Wert. • Sollte der Preisschub unerwartet kräftig Ölpreis rauf, Euro run- ausfallen, könnte zudem die gefürchte- ter – beides trifft die Deut- te Lohn-Preis-Spirale in Gang kom- schen ins Mark. Das eige-

men. Die Gewerkschaften kämen in ne Auto gilt ihnen von je- REUTERS Versuchung, als Kompensation höhere her als Symbol der Frei- Sozialdemokraten Schröder, Eichel: Ratlos in Berlin Löhne durchzusetzen. Dies würde auf heit, die harte Währung die Gewinne und damit die Wettbe- diente ihnen als Garant des Wohlstands denkbare hatten die Beamten als Möglich- werbsfähigkeit der Unternehmen durch- für alle. keit aufgeschrieben: Die Regierung könne schlagen. Ölpreis rauf, Euro runter – vor allem die die nächste Stufe der Ökosteuer ja notfalls Längst geht es für die Regierung nicht Parallelität dieser beider Entwicklungen um drei Monate verschieben. mehr nur darum, mit ein paar Zulagen den macht die Lage so dramatisch. Dass mit der nun beschlossenen Mini- allgemeinen Unmut über den „Benzin- Doch Schröder kann, zumindest auf die lösung, Heizölzuschuss und Entfernungs- Wahnsinn“ („Bild“) zu besänftigen. Sollten Schnelle, nichts dagegen tun. Was nützen pauschale, die Gemüter beruhigt werden sich die Befürchtungen mancher Wirt- ihm die Ratschläge der Analysten, jener können, gilt selbst im Kanzleramt nicht als schaftsforscher bewahrheiten und die Kon- 28-jährigen Bengels, über die er sich so sicher. Tatsächlich verfehlt die Entfer- junktur dauerhaft Schaden nehmen, wäre gern lustig macht? Dass Ölpreis und Euro nungspauschale ausgerechnet die Gruppe das zentrale Vorhaben von Rot-Grün be- sich längst von den ökonomischen Rea- der sozial Schwachen, die ja die Nutz- droht: eine deutliche Senkung der Ar- litäten entkoppelt haben – das mag den nießer der Ausgleichshilfe sein sollten: Wer beitslosenzahlen unter 3,5 Millionen. Kanzler beruhigen, aber nicht die Märkte. keine oder nur geringe Steuern zahlt, kann Immer wieder hat Schröder den Kampf Ratlosigkeit macht sich in Berlin breit. bei der Lohnsteuererklärung auch keine für mehr Beschäftigung zur eigentlichen Aus Furcht, die Bürger durch weitere Re- Pauschale geltend machen. Aufgabe seiner Regierung erklärt, die Zahl formen zu verärgern, verfallen die rot-grü- Und den Lkw-Fahrern ist auch nicht ge- der Arbeitslosen sei der entscheidende nen Koalitionäre in eine neuerliche Zö- holfen. Diese Woche wollen Tausende von Maßstab, an dem er sich bei der nächsten gerlichkeit. Der Reformmotor gerät ins Truckern das Berliner Regierungsviertel Bundestagswahl im Herbst 2002 messen Stocken. blockieren, das Speditionsgewerbe hat für lassen wolle. Doch jeder Prozentpunkt we- So pfiff der Kanzler vergangenen Mitt- Dienstag zur großen Sternfahrt aufgerufen. niger beim Wachstum, so rechnen die Öko- woch seinen Finanzminister bei der Ren- Vor allem aber: Am eigentlichen Pro- nomen vor, kostet rund 300000 Jobs. tenreform zurück. Die Umstellung auf die blem, den Gefahren für Wachstum und Welche verheerenden Auswirkungen ein „nachgelagerte Besteuerung“ der Alters- Jobs, ändern die rot-grünen Placebos we- plötzlicher Anstieg des Ölpreises haben bezüge, vom Verfassungsgericht ange- nig. Tapfer halten Kanzler und Finanzmi-

der spiegel 39/2000 117 Titel „Das geht ans Eingemachte“ Wie eine Pendlerfamilie den Ölpreis-Schock verkraftet

nd nun zur Hölle des Hauses. Treppe runter, Tür links, der Hei- Uzungskeller, da hockt der Teufel, Typ Viessmann BEA 29, im feuerroten Blechkleid und lässt Familie Prinz für alle oberirdischen Sünden schmoren: Für die alten Thermostatventile, die nicht mehr richtig dicht halten, für die warmen Som- merabende, denen sie in diesem Regen- jahr mit dem Brenner nachgeholfen hat, und wie immer im Leben für die schlech- ten Gewohnheiten. Wenn im Parterre mal wieder einer das Fenster auf gelassen hat über bullerheißen Heizkörpern. Das hat der Rote im Keller alles auf seiner Rechnung, nichts vergessen, nie verziehen – die Quittung kam vor zwei Wochen von Heizöl Schmidt aus Ah- rensburg: 4658,42 Mark für 4964 Liter. 93,8 Pfennig der Liter! 60,7 Pfennig mehr als im März 1999! Da war man

sogar in Großhansdorf betroffen, einer / ARGUS R. JANKE Gemeinde im Hamburger Haste-was-Um- Familie Prinz im Heizungskeller: Leiden am dreifachen Fluch land, mit walmdachbehütetem Wohl- stand, wo die 250 Quadratmeter Wohn- Schlag ins Kontor Steuerentlastungen und Energieverteuerung fläche des Tonmeisters Hermann Prinz, 49, durchaus ortsüblich sind. Im Gegen- satz zum Moos auf dem Dach und der Single Familie mit 2 Kindern blätternden Farbe am Garagentor – je- Jahresbruttolohn 60 000 Mark 120 000 Mark 60 000 Mark 120 000 Mark nen Schönheitsfehlern, die ahnen lassen, Steuerentlastung 2001 dass Prinz, seine Frau Dagmar, 45, und gegenüber 2000 953 Mark 1647 Mark 734 Mark 1925 Mark die Kinder Nikolas, 15, und Andreas, 11, wohl schon vor dem Ölschock den Gür- Heizölverbrauch tel im Speckgürtel enger ziehen mussten. pro Jahr 1000 Liter 1600 Liter 1600 Liter 2000 Liter „Das geht ans Eingemachte“, stöhnt Vater Prinz über die neue Ölkrise, und Mehrbelastung Heizöl* wie er klagen nun Millionen von Mittel- 2001 gegenüber 1999 530 Mark 848 Mark 848 Mark 1060 Mark klasse-Deutschen, die vom dreifachen PKW-Fahrleistung Fluch getroffen sind: Ölheizung, Pendler- pro Jahr 15 000 km 15 000 km 15 000 km 15 000 km auto und keine Lust, die Gewohnheiten Mehrbelastung Benzin* zu ändern. Bei Prinz ist es die Gewöh- 2001 gegenüber 1999 432 Mark 432 Mark 432 Mark 432 Mark nung an zwei Autos, an zusammen zwölf Zylinder, 297 PS und an die Antwort, dass Summe es ohne die beiden Wagen nicht geht. We- Mehrbelastung/Entlastung 9 Mark 367 Mark 546 Mark 433 Mark nigstens nicht so wie bisher. Oder soll der Hobby-Musiker Prinz in *bei derzeitigen Energiepreisen; Heizöl: 1,05 Mark/Liter, Benzin: 2,05 Mark/Liter seiner Country-Band Beavers Creek etwa vom Schlagzeug auf Schellenring umstei- gen seiner Frau muss nicht nur für Alles andere wäre „ein deutlicher Ver- gen, nur damit er sein Instrument dem- zwei Kinder, sondern zu einem lust an Lebensqualität“, sagt Dagmar nächst in einem Drei-Liter-Lupo zum Großraum-Hobby passen: 60 Wellen- Prinz. Unvorstellbar erscheint ihr wie vie- Auftritt karren könnte? Also fährt er ei- und Nymphensittiche hält Dagmar Prinz len Vorstädtern der Verzicht auf das Auto, nen Chrysler Voyager, selbst wenn Prinz in ihrer Zucht hinten im Garten. Wenn so völlig undenkbar, dass ihr kein Ben- den Van nie unter zehn Liter auf 100 Ki- von denen einer zum Tierarzt ins be- zinpreis einfällt, bei dem sie die Num- lometer drücken kann und bei jeder nachbarte Trittau soll oder zum Schau- mernschilder abschrauben würde. Tankfüllung jetzt 20 Mark mehr zahlt. laufen zu den Papageienfreunden Nord Denn der Chrysler ihres Mannes fällt Und deshalb steht noch ein Ford Scor- e.V., dann reicht nur der Scorpio für alle tagsüber weg; damit fährt Hermann Prinz pio in der Auffahrt, denn auch der Wa- Fälle. die 30 Kilometer zur Arbeit in sein Ham-

118 der spiegel 39/2000 Fest in einer Hand Wertschöpfung eines Ölkonzerns am Beispiel von Exxon Mobil 1999 UPSTREAM-Bereich DOWNSTREAM-Bereich Betriebsergebnis 5,9 Milliarden US-Dollar Betriebsergebnis 1,2 Milliarden US-Dollar Kapitalrendite 4 Prozent Kapitalrendite 15 Prozent EXPLORATION FÖRDERUNG TRANSPORT MARKT RAFFINERIE PRODUKTE TANKSTELLENVERKAUF In 48 Ländern Förderung von 4 Täglicher Transport Zukauf von zu- Mehr als 40 Benzin In 118 Ländern verkauft sucht Exxon bis 4,5 Millionen von 10,5 Millionen sätzlich benötig- Raffinerien welt- Heizöl der Ölkonzern an rund Mobil nach Erdöl Barrel (Öl und Barrel in Tankern und tem Öl oder weit veredeln rund Petrochemische 40000 Tankstellen je- Gas) pro Tag in 3 Millionen Barrel Verkauf von 5,6 Millionen Bar- Vorprodukte den Tag etwa 5 Millionen 24 Ländern durch Pipelines Überschüssen rel Rohöl pro Tag Schmierstoffe Barrel Treibstoff burger Tonstudio, erspart sich so 34 U- nister zwar an ihren optimistischen Kon- Frühjahr 1973 Heizöl oder Benzin nicht als Bahn-Stationen, viermal Umsteigen und junkturprognosen fest. Schließlich prophe- ernsthaften Kostenfaktor wahr. Doch die 45 Minuten Fahrzeit am Tag. zeite der Internationale Währungsfonds sorglose Zeit hemmungsloser Verschwen- „Mit der Bahn fahr ich nur, wenn ich noch vorige Woche, die deutsche Wirtschaft dung war mit einem Schlag vorbei, als im im Winter bei Glatteis die Rampe vor der werde 2001 um 3,3 Prozent wachsen. Dass Oktober 1973 der Jom-Kippur-Krieg aus- Garage nicht schaffe“, gesteht er. Und als die IWF-Ökonomen auch vor den ver- brach – und die so genannte Ölwaffe ge- seine Frau behauptet, kürzlich mit dem steckten und vor den offensichtlichen Risi- boren wurde. Rad zum Einkaufen gefahren zu sein, ken warnen – das wird in Berlin verdrängt. Solange sich die Israelis nicht aus den fragt er ungläubig: „In diesem Jahr?“ Die Stimmung in der deutschen Wirt- besetzten Gebieten zurückzögen, drohten In den Jahren davor hat es auch wenig schaft schlägt bereits um. Zum dritten Mal die Ölminister der Golf-Anrainerstaaten, Gelegenheit im Leben der Familie Prinz in Folge sank im vergangenen Monat der werde die Opec jeden Monat ihre Förde- gegeben, sich an solche Vorstellungen Geschäftsklima-Index, mit dem das Münch- rung um mindestens fünf Prozent drosseln. zu gewöhnen. „Benzin sparen“, sagt Her- ner Ifo Institut die Stimmung bei den Un- Später verhängten die arabischen Staaten mann Prinz, „war nie ein Thema.“ Al- ternehmensführern misst. sogar ein Embargo gegen die USA und vier lein was frühere Familienkarossen ge- Dass die Angst vor einer Konjunktur- weitere Staaten. fressen haben – der Chevy mit der V8- wende real ist, zeigen auch die Zitterbörsen. In kürzester Zeit vervierfachte sich der Maschine, der Toyota Landcruiser, der Egal, ob in Frankfurt, London oder New Preis für Rohöl. Was der Club of Rome ein Heckflossen-Mercedes. York – überall brechen die Kurse ein. Seit Jahr zuvor prophezeit hatte – das Ende des Deshalb hat die Wucht, mit der nun Anfang September verlor der Deutsche Ak- Wachstums –, nun schien sich die pessimis- plötzlich Ölschock auf Ölschock über sie tienindex acht Prozent. In den USA erwisch- tische Prognose zu bestätigen. hereinbricht, die Familie umgehend in te es derweil die Werte jener Firmen, die Die Regierungen reagierten geradezu pa- Ohnmacht versetzt: „Ich weiß nicht, wor- normalerweise viel Geld in Europa verdie- nisch. In Frankreich führten Inspektoren an ich noch sparen soll, mir fällt nichts nen. Inzwischen müssen McDonald’s oder Razzien in Büros durch und prüften, ob die ein“, seufzt die Hausherrin. Coca-Cola fürchten, dass die Euro-Schwä- Raumtemperatur die offiziell genehmigten Sie fahren ja schon seit Jahren nicht che ihnen die Bilanzen verhagelt. 20 Grad nicht überschritt. In Japan wurde mehr nach Neapel in den Urlaub, ein biss- Wiederholt sich also die Geschichte? mancherorts der Betrieb von Fahrstühlen chen auch wegen des Sprits, eigentlich Kommt es wieder so wie 1973? Nur zu ge- eingeschränkt. Und in Deutschland ratio- wegen der langen Strecke. „Ja, wenn man nau erinnert sich Helmut Schmidt daran, nierten die Autobahntankstellen den Sprit, noch mal bauen könnte, mit Solardach, dass die Ökonomen schon vor 27 Jahren maximal 20 Liter gab es für jeden Kunden. Niedrigenergietechnik und allem drum „uns nicht die weltweiten Auswirkungen Die Arbeitslosigkeit überschritt erstmals in und dran…“, doch Vater Prinz lässt den der von der Opec ausgelösten Ölpreis- der Geschichte der Bundesrepublik die Mil- Satz nirgendwo ankommen – das Geld. explosionen richtig vorhersagen“ konnten. lionen-Marke. So mündet das Kopfzerbrechen am „Volkswirtschaftliche Vorhersagen über ein Als im Frühjahr 1974 das Embargo end- Kleinklein des häuslichen Energiesparens ganzes Jahr“, schrieb er später voller Häme lich aufgehoben wurde, war jedem be- endlich bei denen, die fürs große Ganze in einem Buch, „sind genauso unsicher wusst: Der Wohlstand der Industrieländer zuständig sind: den Politikern. „Komplett wie Wettervorhersagen austauschen“, empfiehlt Vater Prinz als über ein ganzes Jahr.“ Sofortmaßnahme, dazu noch ein populä- Letztlich war das Mus- res Umverteilungsprogramm auf deut- ter der bislang zwei Öl- schen Straßen: Autobahnmaut für alle, krisen immer gleich. Ob und mit dem Geld, das der ausländische 1973 und 1979 – beide Transitverkehr zahlt, die Gesamtbe- Male brach nach einem lastung für den deutschen Autofahrer un- Preisschub am Ölmarkt ter das heutige Niveau senken. die Konjunktur in den Aber weil man ja bis dahin irgendwas Verbraucherländern ein, machen muss, achtet Vater Prinz jetzt erst stets ging die Zahl der mal darauf, dass nicht zum offenen Arbeitslosen schubartig Fenster herausgeheizt wird. Und Mutter nach oben. Und immer Prinz will hier und da eine Fahrt auf- hatte die Wucht der Kri- schieben, statt dreimal in der Woche nur se alle überrascht. einmal ins nahe Ahrensburg fahren. So nahmen die In- Bringt für jede ausgefallene Fahrt fünf dustrieländer noch im Mark und das Gefühl, wenigstens etwas getan zu haben. Jürgen Dahlkamp * Jürgen Trittin, Joschka Fischer, Gunda Röstel, Kerstin Müller

auf einer Wahlkampfveranstal- / TELEPRESS PANDIS tung in Berlin 1998. Grünen-Politiker*: Von der Wutwelle getroffen

der spiegel 39/2000 119 Titel Säbelrasseln am Golf Auf der Arabischen Halbinsel gefährden islamische Extremisten und Palast-Intrigen die größten Erdölvorräte der Welt. Aus Bagdad droht der Despot Saddam Hussein dem Westen erneut mit der Ölwaffe.

Jährliche Kosten allein der Regime Wohlwollen nicht mehr erkaufen Sauds für den Schutz ihrer kann, wächst der Unmut. Sippe: 13 Milliarden Dollar. Sammelbecken der Unzufriedenen und Saddam kann der von Speerspitze gegen die Monarchie ist aus- ihm angeheizte Preisschub gerechnet eine Bewegung, die vom Kö- nur recht sein. Seit De- nigshaus im ganzen Nahen Osten jahr- zember darf der durch ein zehntelang mit seinen Petrodollar genährt Uno-Embargo geächtete wurde: der militante Fundamentalismus. Iraker, dessen Land über Im Namen des Islam, Fundament des sau- die zweitgrößten Erdölre- dischen Staats, wollen Fanatiker die Hü- serven der Welt verfügt, ter der heiligen Stätten von Mekka und den Schmierstoff für die Medina wegen ihrer „unislamischen Le- Weltwirtschaft wieder un- bensführung“ hinwegfegen. begrenzt fördern. Mit rund Arabische Geheimdienste gehen davon drei Millionen Barrel pro aus, dass mehrere tausend Bürger aus al- Tag hat Bagdads Erdöl- len Schichten inzwischen vehement ge- produktion schon fast wie- gen das Regime opponieren. Motto: „Kö- der die Höchststände von nige sind von Übel“.

SIPA PRESS SIPA 1990 erreicht. Der revolutionäre Funke könnte be- König Fahd (l.), Kronprinz Abdullah (M.): „Weiße Garde“ Dass Saddam tatsäch- sonders auf die etwa 700 000 Schiiten lich seinen Nachbarn an- überspringen. Sie leben vor allem im ie Warnung an die reichen Nach- greift, gilt als unwahrscheinlich. Die Dro- Osten, wo die meisten Ölquellen liegen. barn vom Golf sprach der Dikta- hungen scheinen für ihn wohl eher der Die Anhänger dieser islamischen Glau- Dtor persönlich aus: „Die Prinzen ideale Theaterdonner zu sein, um sich bensrichtung fühlen sich religiös bevor- in Saudi-Arabien und Kuweit sollen sich nach Monaten der Zurückhaltung auf die mundet. Denn die Saudis sind Wahhabi- vorsehen“, drohte Iraks Präsident Sad- politische Weltbühne zurückzumelden – ten und damit Anhänger einer besonders dam Hussein vorvergangene Woche im obgleich ihn irakische Oppositionskreise strengen Variante des sunnitischen Islam. Staatsfernsehen. „Ihren Verrat am ge- doch erst jüngst zum todgeweihten Krebs- Eine der stärksten schiitischen Wider- meinsamen Anliegen der Araber und ihre patienten erklärt hatten. standsgruppen bilden die fanatischen niederträchtige Zusammenarbeit mit den Saddams Säbelrasseln trifft vor allem Mudschahidin („Die für die Sache Gottes Amerikanern werden sie noch bereuen.“ die Saudis tief. Sie fürchten neue Aktio- kämpfen“). Ihnen werden enge Verbin- Die starken Worte aus Bagdad ließen nen der „Befreiungsfront der Arabischen dungen zu Glaubensbrüdern in Iran nach- nicht nur die Golf-Potentaten zittern. Halbinsel“. Die Untergrundorganisation gesagt. Mehrmals schon sollen – trotz der Auch der weltweite Ölmarkt bebte. Al- war in den siebziger Jahren von linken offiziellen Annäherung zwischen dem lein der Vorwurf des Irakers an das be- Regimegegnern in Bagdad gegründet Gottesstaat und dem Königreich – aus nachbarte Emirat Kuweit, es würde sei- worden und soll für zahlreiche Sabotage- dem ostiranischen Maschhad gesteuerte nem Land den teuren Rohstoff aus grenz- aktionen und politische Attentate ver- Saboteure Pipelines gesprengt haben. nah gelegenen Ölfeldern „stehlen“, ließ antwortlich sein. Als gefährlichste Gegner des Regimes die Kosten für das Fass auf über Zu den Aktionen zählen Angriffe aber gelten die „Afghanen“, fanatische 36 Dollar hochschnellen. auf Mitglieder der Königsfamilie, aber Muslime aus dem Königreich und arabi- Zu sehr erinnerte der Auftritt Saddams auch auf hohe Offiziere wie den stellver- schen Bruderländern, die einst als Got- an die martialischen Ansprachen, mit de- tretenden Oberkommandierenden der teskämpfer Afghanistan vom sowjeti- nen der sinistre Iraker vor zehn Jahren „Weißen Garde“. Die handverlesene Be- schen Joch befreiten. Zu ihren Leitfiguren die Krise um Kuweit eingeläutet hatte. duinentruppe dient ausschließlich der Si- gehören der blinde ägyptische Terror- Kurz darauf waren Saddams Soldaten in cherheit der Sauds. Scheich Umar Abd al-Rahman, der in das Emirat einmarschiert und irakische Bezeichnend für die Gefährlichkeit der Amerika inzwischen zu lebenslanger Haft Raketen in der saudi-arabischen Haupt- Befreiungsfront: Selbst die eigens einge- verurteilt wurde, und der ausgebürgerte stadt Riad eingeschlagen. schalteten amerikanischen Geheimdiens- Saudi-Millionär Ussama Ibn Ladin, der Seither wissen die Scheichs nur zu gut, te konnten bislang keinen der vom Re- bei den Taliban in Afghanistan Unter- dass die Präsenz ihrer Schutzmacht USA, gime vertuschten Anschläge aufklären. schlupf gefunden hat. die auf der Arabischen Halbinsel mit mehr Auch bei seinen einst so treuen Unter- Dass die Fanatiker zu spektakulären als 12000 Soldaten und mehreren Luft- tanen ist das Königshaus umstritten. Seit Gewalttaten fähig sind, zeigten 1995 und waffenstützpunkten vertreten ist, nur be- sich das durch den jahrelangen Preisver- 1996 Bombenanschläge auf US-Stütz- dingt Sicherheit vor irakischen Raketen- fall beim Erdöl und die Prasserei der rund punkte in Riad und Dhahran, bei denen schlägen und Blitzinvasionen garantiert. 5500 alimentierten Prinzen abgebrannte 24 Soldaten getötet wurden. Beide At-

120 der spiegel 39/2000 R. AZZI / WOODFIN CAMP / AGENTUR FOCUS Erdölraffinerie in Saudi-Arabien: Petro-Dollar für eine prassende Prinzenschar tentate werden den Kämpfern um Ibn hängt an „der Gnade der Ölproduzenten chen nicht aus, um den dritten großen Ladin zugeschrieben. Seit der Islamist des Nahen Ostens“, wie es der amerikani- Preisschock der Geschichte zu erklären. auch als Drahtzieher der Bombenan- sche Präsident Richard Nixon formulierte. Gewiss ist die Nachfrage nach dem schläge auf die US-Botschaften in Kenia Fieberhaft suchten die westlichen Län- Brennstoff in den vergangenen Jahren ge- und Tansania im August 1998 gilt, ist er der deshalb in den nächsten Jahren nach wachsen: Die Wirtschaft läuft in den meisten für Washington der Staatsfeind Nummer eigenen Vorkommen, fündig wurden sie Staaten wie geschmiert, insbesondere in den eins. vor allem in Alaska und in der Nordsee. USA. Auch die Tigerstaaten in Asien ha- Die größte Irritation dürfte allerdings Gleichzeitig unternahmen Industrie und ben sich von der schweren Finanzkrise vom Herrscherhaus ausgehen – wenn der Verbraucher enorme Anstrengungen, um erholt. Europas junger Boom kommt eben- durch Diabetes, Herzmuskelschwäche Energie einzusparen. falls nicht ohne den Rohstoff Öl aus. und massives Übergewicht gesundheit- Doch die Abhängigkeit vom arabischen Doch gleichzeitig hat die Opec die För- lich schwer angeschlagene König Fahd, Öl blieb so groß, dass 1979 erneut ein po- derung ausgeweitet, allein in diesem Jahr 77, stirbt. Dessen designierten Nachfolger, litisches Beben in Nahost einen Ölschock um mehr als drei Millionen Barrel pro Tag Kronprinz Abdullah, 76, erwartet ein – ohne allerdings den beabsichtigten Ef- Machtkampf mit zwei Dutzend Brüdern Begrenzte Ressourcen fekt zu erzielen und die Preise zu drücken. und Halbbrüdern – für Washington eine „Mehr als genug, weniger als genug? Wer Erdöl in Milliarden Barrel 40 schreckliche Perspektive. pro Jahr technisch weiß das schon“, wundert sich Opec-Ge- Aber auch ein künftiger König Abdul- mögliche neralsekretär Rilwanu Lukman. lah beunruhigt US-Strategen. Der Kron- Förderung* 35 Das Gesetz von Angebot und Nachfra- prinz und Kommandant der schlagkräfti- 30 ge scheint außer Kraft, die Preisbildung gen Nationalgarde, in der 57000 Mann nach Lehrbuch funktioniert nicht mehr. unter Waffen stehen, will zwar gegen 25 Andere Gründe müssen dafür sorgen, dass Fundamentalisten scharf durchgreifen. die Preise so rasant klettern. Doch Abdullah würde wohl am liebs- 20 Manche glauben, es seien vor allem die ten die bisherige Schutzmacht Amerika Jungs an der Terminbörse in London, die 15 von der Halbinsel verbannen, Rüstungs- Funde tatsächliche mit ihren wilden Spekulationsgeschäften Förderung käufe in den USA drastisch einschrän- Zehnjahres- 10 den Ölpreis in absurde Höhen treiben. An ken. „Die US-Soldaten sind der Keim der mittel der International Petroleum Exchange Zwietracht zwischen dem Haus der Sauds 5 handeln sie jenen Preis aus, der derzeit Quelle: *nach heutigem und unserer Bevölkerung“, warnte der Petroconsultans Stand der Technik über das Schicksal der globalen Ökonomie Kronprinz schon zu Beginn des Kuweit- entscheidet: Nordsee-Öl der Marke Brent Konflikts und sprach sich gegen die Sta- 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 gilt als Richtschnur für die ganze Branche. tionierung fremder Truppen aus. In den vergangenen Monaten kamen Auch in Bagdad ist die nächste Krise auslöste. In Iran, damals nach Saudi-Ara- immer mehr Spekulanten auf den Markt, schon absehbar. Bei der Uno in New York bien zweitgrößter Erdölexporteur, stürzte die mit ihrem Geld auf weiter steigende wartet ein neues Team von Waffenin- der Schah. Die Mullahs unter Führung von Preise wetteten. Mit einem Kapitaleinsatz spektoren auf die Einreiseerlaubnis in den Ajatollah Chomeini ergriffen die Macht von etwa 4000 Dollar kann auch jeder Pri- Irak – vergebens. Zum Höhepunkt des und zogen in den Krieg gegen den Irak – vatanleger über seine Bank einen Kon- US-Präsidenten-Wahlkampfs plant Sad- genügend Sprengstoff, um die Preise von trakt über die Lieferung von Öl im No- dam offenbar einen neuen Showdown mit 13 auf fast 40 Dollar explodieren zu lassen. vember im Wert von 34000 Dollar verein- der Supermacht. Immer waren es politische Konflikte, die baren. Wenn der Ölpreis steigt, würde er Die Rache des Diktators für Vergel- den Barrel-Preis nach oben trieben und die diesen Kontrakt mit Gewinn an ein Un- tungsschläge der USA wäre nur allzu Weltwirtschaft schwächten. Heute fehlt ein ternehmen verkaufen, das das Öl tatsäch- offensichtlich – Saddam würde dem solcher Auslöser, trotzdem steigen die Prei- lich braucht. Westen den Ölhahn zudrehen. se ins Maßlose – eine historisch einmalige So hat das Treiben in der Londoner Bör- Dieter Bednarz, Volkhard Windfuhr Situation. Sie lässt Politiker, Ökonomen se immer weniger mit dem realen Ölgeschäft und selbst die Opec-Vertreter völlig ratlos. zu tun. Mal schnellt der Preis nach oben, Die üblichen Begründungen jedenfalls rei- wenn sich etwa vor der Küste von Vene-

der spiegel 39/2000 121 Titel zuela ein Sturm zusammenbraut, der dort jahreszeitraum, sogar um vier Prozent, Te- die Förderung beeinträchtigt, oder im fer- xaco gar um sieben Prozent. nen China eine Raffinerie in Flammen steht. Die knallharte Kalkulation schützt die 1973 bei der ersten Ölkrise gab es solch Konzerne vor unliebsamen Überraschun- eine Terminbörse noch nicht. Doch nun gen durch die Opec, vor jenem zerstritte- spekulieren in London selbst Ölländer wie nen Haufen, der genau 40 Jahre nach sei- Algerien oder Iran. Und auch die Ölmultis ner Gründung plötzlich wieder so einig er- mischen bei diesem seltsamen Börsenge- scheint. Und mächtiger denn je. schäft munter mit. So verdiente BP 1998 Es ist, wie bei den Konzernen, die Aus- rund 215 Millionen Dollar allein mit dem sicht auf satte Gewinne, die die Erdöl- Handel von Terminkontrakten. organisation derzeit zusammenschweißt. Vorbei sind jedenfalls die Zeiten, als sich So werden die elf Mitgliedsländer in die- „Big Oil“ mit vergleichsweise geringen Ge- sem Jahr schätzungsweise rund 211 Milli- winnmargen und niedrigen Umsatzrendi- arden Dollar aus dem Export von Erdöl ten zufrieden gab. Spätestens seit den Me- einnehmen, mehr als doppelt so viel wie gafusionen von der britischen BP und der noch 1998. amerikanischen Amoco sowie der beiden Vor zwei Jahren hatte kaum jemand in US-Konzerne Exxon und Mobil steht die der westlichen Welt eine Renaissance des gesamte Branche unter besonderer Beob- Kartells für möglich gehalten. Als der Preis achtung der Börsianer. pro Barrel irgendwo unter zehn Dollar no- Die spektakulären Zusammenschlüsse tierte, glaubten alle Experten, die Opec sei sorgen dafür, dass nun auch bei den nun wirklich am Ende. Hatten Kuweiter, schwerfälligen Riesen das Shareholder-Va- Saudis oder Iraner nicht die Folgen der lue-Denken Einzug hält. Seither setzen sie Asienkrise völlig falsch eingeschätzt? Hat- alles daran, sich von Konjunkturzyklen zu ten sie nicht mitten im globalen Konjunk- befreien und die hohen Renditeerwartun- turgewitter die Förderhähne aufgedreht gen ihrer Aktionäre zu erfüllen. und die Märkte mit Öl überschwemmt, das Mehr denn je genießen die Multis dabei die Welt nicht brauchte? den Vorzug, an sämtlichen Gliedern der Entsprechend schnell purzelten die Prei-

Wertschöpfungskette beteiligt zu sein: Bei se, und genauso schnell rissen die ausblei- AP der Förderung, in den Raffinerien, an den benden Petro-Profite tiefe Löcher in die Bahnchef Mehdorn, Verkehrsminister Klimmt Tankstellen – überall kassieren die Kon- Staatsbudgets der Fördernationen. Jeder 37 Milliarden Mark für die Bahn zerne ab. Und so kommt es nicht von un- Dollar, um den der Preis sank, kostete al- gefähr, dass die zehn größten Unterneh- lein die Regierung von Saudi-Arabien 2,5 steuert, wie es der amerikanischen Regie- men der Welt ihren Überschuss in der ers- Milliarden Dollar. „Vor mir sehe ich Jahre rung gefällt. niedriger Ölpreise“, prophezeite Vor allem aber fürchtet der Kronprinz, Der Öl-Cocktail der ehemalige Ölminister Ahmed dass sich die Geschichte wiederholt. Wie in Saki al-Jamani. den siebziger Jahren könnten die Indu- Deutsche Rohölimporte 2000* Der Mann irrte sich – und zwar striestaaten erneut nach Alternativen zum Quelle: Wirtschaftsministerium; gewaltig. Denn als die Ölminister Opec-Öl suchen. Damals war sein Anteil an Norwegen *1. Halbjahr sich im März 1999 in Wien trafen, der weltweiten Förderung von 55 Prozent 16,5% vereinbarten sie nicht nur niedri- (1973) auf nur noch 30 Prozent (1986) ge- Import gesamt Russland Großbritannien % gere Förderquoten. Zur allge- sunken; heute stammen wieder rund 41 Pro- Millionen 29,2 15,3 % 50,7 Tonnen meinen Verwunderung hielten zent aus den Quellen der Mitgliedstaaten. sich die Kartellbrüder auch weit- Bei einem Preis von mehr als 30 Dollar gehend an ihre Absprache. pro Barrel wird es für die Verbraucher- Gleichwohl bleiben die Inter- staaten wieder interessant, von der Opec Syrien essen der einzelnen Opec-Staa- unabhängige Förderquellen zu erschließen, 6,8 % ten grundverschieden. Da sind diesmal vielleicht nicht in der Nordsee, zum einen die Hardliner wie Me- sondern rund um das Kaspische Meer, in Sonstige xiko, Venezuela, Algerien, Liby- Aserbaidschan, Turkmenistan oder Ar- 15,4 % en, aber auch Iran, die stets dar- menien, wo noch gigantische Vorkommen auf drängen, die Preise künstlich vermutet werden. „Jeder Preis, der die Opec-Länder Algerien Libyen hochzuhalten, um die leeren Menschen veranlasst, verstärkt nach alter- gesamt: 25,8 % 5,6 % 11,2 % Staatskassen schneller zu füllen. nativen Energiequellen zu suchen“, sagt Auf der anderen Seite stehen die Opec-Generalsekretär Lukman, „ist aus ten Hälfte dieses Jahres verdoppelt haben. Länder rund um den Golf, die eher auf unserer Sicht zu hoch.“ „Eine Ölpreiserhöhung von einem Dollar lange Sicht planen, allen voran Saudi-Ara- Zuletzt hat Saudi-Arabien deshalb auf steigert unseren Jahresgewinn um rund 400 bien, das Land mit den gewaltigsten Re- eigene Faust die Förderung um 500 000 Millionen Dollar“, bekannte Jeroen van serven der Welt. Barrel erhöht, um den Rohölkurs wieder der Veer, der designierte Chef von Shell, Das Königreich steckt in einer ver- auf jenes Niveau zu treiben, das der Erd- vergangene Woche in Berlin. zwickten Lage. Einerseits üben die Verei- ölorganisation eigentlich genehm ist: ir- Gleichzeitig wird gespart, wo es nur nigten Staaten, der größte Ölverbraucher gendwo zwischen 22 bis 28 Dollar. Im Früh- geht. Die Konzerne liefern Rohöl nur noch der Welt, einen enormen Einfluss auf die jahr verständigten sich die Opec-Gesand- „just in time“, sie halten die Vorräte mög- Saudis aus, andererseits möchte Thron- ten in Wien auf diesen Zielkorridor. Immer lichst klein. Und zögern auch jetzt, ihre folger Prinz Abdullah Ibn Abd al-Asis dann, wenn der Preis 20 Tage in Folge Förderung kräftig auszuweiten. BP dros- von seinen arabischen Brüdern nicht als außerhalb dieses Preisbandes liege, soll die selte seine Produktion in den vergangenen Lakai der USA betrachtet werden, der ge- Förderung angepasst werden, um ihn damit sechs Monaten, verglichen mit dem Vor- rade so viel Öl liefert und den Preis so wieder in die gewünschte Zone zurückzu-

122 der spiegel 39/2000 holen – theoretisch eine clevere Idee, doch ben in der Vergangenheit wenig geholfen. Bei allen Produkten, die aus Öl herge- funktioniert hat sie nicht. Und so könnte es sein, dass die EZB trotz stellt werden, Reifen etwa, Latexmatrat- Stattdessen hat das Preisband vor allem ihres Eingriffs an den Devisenmärkten zen oder Plastikware, schlagen die höheren die Spekulanten in London animiert. Ähn- schon bald wieder an der Zinsschraube Rohstoffkosten direkt auf die Rechnungen lich wie bei einem festen Wechselkurs tes- drehen muss. Bereits fünfmal haben die der Verbraucher durch. Gerade haben die teten sie aus, ob die Opec den Kurs erfolg- Frankfurter Währungshüter dies in den Klebstoffhersteller ihre Preise um bis zu reich verteidigt. Und siehe da: Die Attacke vergangenen Monaten getan, gleichwohl zehn Prozent angehoben. der Trader war erfolgreich. gelang es nicht, die Euro-Talfahrt Auch die Autoindustrie fürch- Schnelle Linderung ist nicht in Sicht. zu stoppen und aufkommende tet eine Absatzflaute. Nicht zu- „Das Einzige, was wir tun können“, glaubt Inflationsängste zu zerstreuen. Das Rohöl letzt deshalb bat Kanzler Schrö- Leo Drollas vom Centre for Global Ener- Denn allenfalls kurzfristig ist ist immer der am vergangenen Freitag- gy Studies in London, „ist Beten für einen die Euro-Schwäche ein Segen für noch das ent- abend die Konzernführer Jürgen sehr warmen Winter.“ Und darauf, dass die deutsche Exportwirtschaft. scheidende Schrempp (DaimlerChrysler), der Euro wieder an Wert gewinnt. Autos von Porsche, Kraftwerke Schmieröl der Wendelin Wiedeking (Porsche), Denn immerhin ein Drittel des inländi- von Siemens, Waschmaschinen Ferdinand Piëch (Volkswagen) schen Ölpreisanstiegs geht, unabhängig von Miele – die Produkte lassen globalisierten und Joachim Milberg (BMW) von der Politik der Opec, allein auf die sich zwar besser in aller Welt ver- Wirtschaft zum „Auto-Gipfel“ in seine Ber- Schwindsucht der Gemeinschaftswährung kaufen. Doch es gibt ebenso ei- liner Dienstvilla. Dass sie in die- zurück. So hat der Euro seit Anfang 1999 nen umgekehrten Effekt, von dem auch sem Jahr bislang rund zwölf Prozent weni- über ein Viertel seines Werts verloren und Deutschland nicht verschont bleibt: Com- ger Fahrzeuge als im Vorjahr verkaufen, das Rohöl, das traditionell in Dollar abge- puter aus Japan, T-Shirts aus China, Jog- führen die Bosse zu einem guten Teil auch rechnet wird, entsprechend verteuert. gingschuhe aus den USA – der schwache auf die höheren Spritkosten zurück. Wäre der Euro noch genauso viel wert wie Euro verteuert sämtliche Waren, die aus Besonders gebeutelt sind die Verbrau- vor fast zwei Jahren, das Barrel Öl kostete Übersee eingeführt werden. Wenn die Im- cher, der Ölpreisschock reißt in die Porte- heute nicht 38, sondern nur 28 Euro. portpreise auch nur um ein Prozent stei- monnaies von Autofahrern oder Häusle- Zwar bringt der Kursanstieg, der der In- gen, treibt dies die Inflation um rund 0,1 besitzern teils kräftige Löcher. Familien, tervention der Notenbanken am vergan- Prozent nach oben. Ökonomen sprechen die jetzt ihren Heizöltank mit 5000 Litern genen Freitag folgte, nun erst einmal eine von einer „importierten Inflation“. für den Winter füllen, müssen im Schnitt gewisse Erleichterung, doch noch ist offen, Verschärft wird das Problem noch durch 1750 Mark mehr als im Mai hinlegen, 100 ob die Gemeinschaftswährung auf Dauer den Ölpreisschub. So mussten die Luft- Liter Brennstoff für rund 100 Mark sind das Vertrauen der Investoren gewinnt. Der fahrtgesellschaften im September schon keine Seltenheit mehr. Bis zum Winter stereotype Hinweis auf die so genannten fast 50 Prozent mehr für Kerosin ausgeben wird sich, so vermuten Fachleute, an die- Fundamentaldaten der Wirtschaft, die als noch im Januar. Einige Airlines haben sem Trend kaum etwas ändern. „Der ge- tatsächlich besser sind als seit Jahren, ha- deshalb die Flugpreise bereits erhöht. stiegene Ölpreis“, sagt der Kieler Wirt- P. LANGROCK / ZENIT P. Neuer ICE T (in Berlin): Ein Umsteuern in der Verkehrspolitik ist längst überfällig

der spiegel 39/2000 123 Titel schaftsweise Horst Siebert, „wirkt wie eine zusätzliche Konsumsteuer.“ Eines führt die Krise vor Augen: Das SPIEGEL-GESPRÄCH Rohöl ist immer noch das entscheidende Schmiermittel der globalisierten Wirtschaft – und dies selbst im Zeitalter der New Eco- „Hart bleiben“ nomy, jener wissensgetriebenen, scheinbar rohstofflosen Wirtschaft, die auf Bits und Altbundeskanzler Helmut Schmidt über Euro-Schwäche Bytes, auf Gene und DNA-Sequenzen setzt. Öl bleibe, so der Energieexperte Daniel und Ölpreisschock, die Politik von Yergin, „das Lebensblut der Zivilisationen“. Gerhard Schröder und die Gefahr einer weltweiten Rezession Doch wie lange noch? Der Rohölver- brauch liegt bei 3,5 Milliarden Tonnen pro SPIEGEL: Herr Schmidt, Sie haben 1973 und gendjemand findet sich immer, der mehr Öl Jahr, die bekannten Reserven umfassen 1979, als Finanzminister und als Bundes- fördert, als ihm seine Quote erlaubt. In den 140 Milliarden Tonnen. Das bedeutet: In kanzler, zwei Ölkrisen miterlebt. Sehen Sie siebziger Jahren gab es den saudi-arabi- gut 40 Jahren ist der Vorrat erschöpft. Es Parallelen zur heutigen Situation? schen Ölminister Jamani, der für die Dis- ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten, Schmidt: Es gibt eine mögliche Parallele, es ziplin bei der Opec sorgte. Das klappt jetzt doch gleichwohl bedrohlich. ist denkbar, dass die gegenwärtige Ölkrise, auch wieder. Sie dürfen auch nicht die Die westlichen Regierungen haben sol- che Szenarien bislang nur zu gern ver- drängt, auch die Schröder-Regierung in Berlin. Dabei ist ein Umsteuern in der Energie- und in der Verkehrspolitik längst überfällig – auch das zeigt der neuerliche Ölschock. Immerhin: Über 37 Milliarden Mark will die Regierung in den kommen- den 10 bis 15 Jahren in das marode Schie- nennetz stecken, um die Bahn endlich zu einem attraktiven und wettbewerbsfähigen Verkehrsmittel zu machen. Und auch über die Ökosteuer, deren Einnahmen ja gar nicht in ökologische Pro- jekte, sondern in die Rentenkassen fließen, wird neu nachgedacht. Das jetzige Kon- zept gilt intern nicht mehr als sakrosankt. So will Finanzminister Hans Eichel die Sonderabgabe zwar erhalten, aber von der nächsten Legislaturperiode an gezielt für umweltfreundliche Verkehrsprojekte, ins- besondere eine zweite Bahnreform, und für Energiesparmaßnahmen nutzen – eine Idee, die auch SPD-Fraktionschef Peter Struck unterstützt. „Die Verknüpfung der Ökosteuer mit der Absenkung der Ren- tenbeiträge ist falsch“, sagt Eichel. Den Überlegungen des Finanzministe- riums zufolge sollen die Einnahmeausfälle

in der Rentenkasse, die die Umwidmung M. ZUCHT / DER SPIEGEL der Ökosteuer automatisch mit sich brin- Schmidt beim SPIEGEL-Gespräch*: „Nur einen Schuldigen zu suchen greift zu kurz“ gen würde, aus dem allgemeinen Bundes- haushalt gedeckt werden. Das bringe der kombiniert mit unrealistischen Wechsel- amerikanische Außenpolitik vergessen mit Regierung, so lautet das Kalkül der Minis- kursen für Dollar, Yen und Euro, zu einer ihren Sanktionen gegenüber dem Irak, terialen, zusätzlich den Vorteil, dass die Rezession, zu einer Weltrezession führt. dem Iran und Libyen. Ökosteuer nicht mehr jedes Jahr um sechs Ich sage keineswegs, dass es so weit kom- SPIEGEL: Die amerikanische Regierung will Pfennig erhöht werden müsse. men muss. Aber ich sage, dass es so weit ja jetzt mehr Öl fördern lassen und erwägt So wird derzeit vielerorts in der Haupt- kommen kann. auch die strategische Ölreserve anzugrei- stadt über Folgen aus dem Ölpreisschock SPIEGEL: Wer ist schuld an der Entwicklung fen. Bringt das was? nachgedacht – über mehr Geld für die So- – die Opec, die Ölkonzerne oder die Re- Schmidt: Allein Saudi-Arabien verfügt über larenergie, über eine Förderung der Ener- gierung? so viele Reserven, um die Ölfördermenge giespartechnik, über eine mobile Zukunft, Schmidt: Die Frage nach der Schuld möch- rasch erheblich steigern zu können. die nicht so einseitig auf die Straße setzt. te ich nicht beantworten, denn hier handelt SPIEGEL: Der amerikanische Präsident- Womöglich gewinnt auch jener Satz von es sich nicht darum, dass jemand etwas schaftskandidat Al Gore stellt die Ölmultis Willy Brandt neue Aktualität, den er auf verbrochen hat. Die Opec hat es jedenfalls an den Pranger, wie einst die europäische dem Höhepunkt der ersten Ölkrise 1973 verstanden, die Menge des geförderten Öls Linke das in den siebziger Jahren mit den an den Schluss seiner berühmten Fernseh- konstant niedrig zu halten. Die schießen ja „sieben Schwestern“ getan hat. ansprache setzte: „Die Energiekrise kann sonst gerne unter Wasser, will sagen, ir- Schmidt: Die Ölkonzerne haben in den auch zu einer Chance werden.“ neunziger Jahren kaum zusätzliche Boh- Alexander Jung, Christoph Pauly, * Das Gespräch führten die Redakteure Armin Mahler und rungen vorgenommen; bei den damaligen Christian Reiermann, Ulrich Schäfer Gerhard Spörl. Ölpreisen schien sich das nicht zu rechnen.

124 der spiegel 39/2000 DPA Autofreier Sonntag (1973)*: „Den Leuten klar gemacht, dass Energie gespart werden muss“

Dazu kommt in den letzten Jahren das un- ken. Aber es ist unsinnig, eine mehrstufi- SPIEGEL: Haben Sie das zwischendurch erwartet hohe Wachstum der Weltwirt- ge Erhöhung der Mineralölsteuer um je- bereut? schaft. Also: Da kommen viele Gründe weils ein paar Pfennige Ökosteuer zu nen- Schmidt: Nein, Schröder ist im Amt ge- zusammen, nur einen Schuldigen auszu- nen. Das ist eben auch eine Mineralöl- wachsen. suchen greift zu kurz. Aber die Opec ist steuer. Überdies muss den Deutschen mal SPIEGEL: Mut zu Unpopulärem hat er mit nicht unschuldig. jemand sagen, dass die Mineralölsteuer in der Einführung der Entfernungspauschale SPIEGEL: Die europäischen Regierungen ste- diesem Land keineswegs so hoch ist, wie jetzt nicht bewiesen. Woran liegt es Ihrer hen unter massivem Druck, die Folgen der manche behaupten. Im europäischen Ver- Erfahrung nach, dass das Verhältnis der gestiegenen Energiepreise für die Bürger gleich liegt Deutschland im soliden Mittel- Deutschen zu ihrem Auto so gefühlsgela- abzumildern. Was sollen sie tun – hart blei- feld. In Italien, Frankreich und Großbri- den ist? ben oder nachgeben? tannien ist Benzin erheblich teurer. Schmidt: Darin liegt keine deutsche Eigen- Schmidt: Wenn es nach mir ginge: hart blei- SPIEGEL: Kann es sich eine Regierung über- heit, auch die Franzosen, Italiener oder ben. Es ist misslich, dass die französische, haupt leisten zu sagen: „Das Problem ist Briten haben ein besonderes Verhältnis die belgische und die holländische Regie- komplex, wir ziehen es vor, nichts zu tun“? zum Autofahren. rung dem öffentlichen Druck nachgeben. Schmidt: Sie sollte es sich leisten. Wir sind SPIEGEL: Ein Grund könnte im Wunsch Ich bin beunruhigt, was auf dem Treffen damals in der Ölkrise 1973/74 – da war ich nach Mobilität liegen, doch dagegen des Internationalen Währungsfonds und Finanzminister – und 1979/80 – da war ich spricht, dass etwa die Amerikaner ein ent- der Weltbank in Prag herauskommt. Dass Kanzler – auch hart geblieben. spanntes Verhältnis zum Auto haben. der Weltbank-Präsident James Wolfensohn SPIEGEL: Sie haben im November 1973 ei- Schmidt: In Amerika sind aber auch die sich für Ölbeihilfen für die Dritte Welt ein- nen autofreien Sonntag eingelegt … Benzinpreise nicht annähernd so hoch setzt, ist zwar aus christlicher Sicht ver- Schmidt: … und zwar nicht so gestiegen wie hier bei uns in ständlich, aber es ist in Wirklichkeit eine sehr, um auf diese Weise Öl zu Europa. Einladung an die Opec, so weiterzumachen sparen, sondern um den Leuten „Wenn die SPIEGEL: Vor ein paar Wochen wie derzeit. klar zu machen, dass von jetzt an Ölpreise auf noch waren die Aussichten der SPIEGEL: Die Bundesregierung steht gewal- Energie gespart werden muss. diesem Niveau Konjunktur rosig und alle Wirt- tig unter Druck, weil die Opposition die ho- SPIEGEL: Soll die Regierung bleiben, kann schaftsdaten günstig. Jetzt sieht hen Ölpreise zu einer Kampagne gegen die Schröder auch autofreie Sonn- es zu einer es plötzlich ganz anders aus. Die Ökosteuer nutzt. tage einlegen? Rezession Wachstumsprognosen werden Schmidt: So ist das eben. Von Friedrich Schmidt: Diesen Einfall hätte sie zurückgenommen. Ist das nur Merz habe ich im Übrigen nichts anderes vor drei Wochen haben müssen. kommen“ eine Wachstumsdelle oder schon erwartet, leider beteiligt sich auch Angela Jetzt ist es zu spät. der Beginn eines Abschwungs? Merkel daran. Das finde ich enttäuschend. SPIEGEL: Selbst wenn die Regierung den Schmidt: Bisher ist es nicht einmal eine SPIEGEL: Halten Sie denn die Ökosteuer Einfall gehabt hätte – das Echo wäre wohl Delle. Wenn die Ölpreise aber mittel- grundsätzlich für richtig? vernichtend gewesen. fristig auf diesem Niveau bleiben, dann Schmidt: Ich halte das Wort für falsch. Es ist Schmidt: Mag sein, aber Gerhard Schröder kann es zu einer weltweiten Rezession vernünftig, die Energie langsam, aber ste- hat bewiesen, dass er ein Mann nicht oh- kommen. tig zu verteuern, um den Verbrauch zu sen- ne Mut ist. SPIEGEL: Was ist mittelfristig – ein halbes SPIEGEL: Sie haben ihn ja auch im Wahl- Jahr? * Wanderung des Schwäbischen Albvereins über ein kampf unterstützt. Schmidt: Mittelfristig bedeutet zwei, drei Autobahn-Teilstück der Strecke Weinsberg–Möckmühl. Schmidt: Das trifft zu. Jahre. Wenn die Ölpreise konstant blie-

der spiegel 39/2000 125 Titel

SPIEGEL: Alles nur Auf- seinen Rettungsaktionen für Russland, regung, schiere Psycho- Südostasien oder Mexiko hat der IWF in logie? Wahrheit die spekulierenden Banken ge- Schmidt: Das ist nicht rettet. psychologisch begrün- SPIEGEL: Wenn das Vertrauen weiter det, sondern psycho- schwindet, wenn die Konjunktur kippt und pathisch. der Euro-Kurs weiter sinkt: Ist dann das SPIEGEL: Wie auch im- ganze Projekt Euro in Gefahr? mer, die Euro-Schwä- Schmidt: Nein. Die Regierungen müssen che schlägt irgendwann die Nerven behalten. Die amerikanischen auf die reale Wirtschaft Aktien werden eines Tages fallen, ebenso durch. der Dollar, dann wird automatisch der Schmidt: Gut, dass Sie Euro wieder steigen. Die größte Gefahr von der „realen Wirt- geht heute von den psychopathischen Ak- schaft“ sprechen. Die tienkursen aus. Es könnte schon morgen Amerikaner sagen einen Börsenzusammenbruch in New York nicht zufällig „real eco- geben – zum Beispiel wenn ein hochran-

J. H. DARCHINGER J. nomy“ für die klassi- giger Staatschef einem Attentat zum Op- Kanzler Brandt, Minister Schmidt (1973): „Nerven behalten“ sche Güterproduktion. fer fällt oder wenn ein hochspekulativer Für die Aktien- und Fonds pleite geht. Als vor zwei Jahren ben, würde die Weltwirtschaft in Mitlei- Devisenmärkte, auf denen 30- der amerikanische Hedgefonds denschaft gezogen. jährige Spekulanten mit Deriva- LTCM zusammenzubrechen SPIEGEL: Schon jetzt sorgen die hohen Öl- ten handeln, gibt es noch kein „Die größte drohte, der mehr als hundert preise für mehr Inflation. Schlagwort; vielleicht wäre Gefahr geht Milliarden fremder Gelder an- Schmidt: Von Inflation kann ja wohl keine „Scheinwirtschaft“ angemessen. heute von gelegt hatte, hat der amerika- Rede sein. Die Preissteigerungsrate liegt SPIEGEL: Die amerikanische, die den psycho- nische Notenbankchef Alan europaweit bei 2,4 Prozent. japanische und die europäische pathischen Greenspan es vorgezogen, ret- SPIEGEL: Sie liegt aber über dem Ziel der Notenbank nehmen den Euro- Aktienkursen tend einzugreifen. Europäischen Zentralbank, die zwei Pro- Verfall so ernst, dass sie mit Mil- SPIEGEL: War das ein Fehler? zent vorgibt. liarden am Devisenmarkt inter- aus“ Schmidt: Hätte er nicht einge- Schmidt: Jene präzise Vorgabe habe ich für venieren. Zu Recht? griffen, wäre die ganze Speku- unglücklich gehalten. Schmidt: Davon halte ich nichts. Da müsste lationsblase geplatzt, und eine Trendum- SPIEGEL: Worauf ist denn die niedrige In- man sehr viel Geld in die Hand nehmen, kehr wäre ausgelöst worden. flationsrate der vergangenen Jahre zurück- um den Euro wirklich erfolgreich zu stüt- SPIEGEL: Die Aktienkurse vor allem der zuführen – auf das billige Öl? zen. Ich erinnere mich, dass Großbritanni- Hightech-Firmen fallen schon seit Mo- Schmidt: Dafür haben die strikten Maas- en Anfang der neunziger Jahre ungefähr 20 naten … tricht-Kriterien gesorgt. Sie haben den Milliarden Pfund aufgebracht hat, um den Schmidt: … aber noch nicht tief genug, sie europäischen Ländern Haushalts- und mo- Kursverfall seiner Währung zu stoppen. haben mit der realen Wirtschaft nichts zu netäre Disziplin auferlegt. Die meisten EU- Ohne Erfolg. zu tun. Staaten wollten nun mal dabei sein, wenn SPIEGEL: Immerhin hat auch der Chef- SPIEGEL: Für wie groß halten Sie die Ge- der Euro eingeführt wird. ökonom des Internationalen Währungs- fahr, dass ein Börsencrash eine Weltwirt- SPIEGEL: Warum ist eigentlich der Euro, fonds, Michael Mussa, zu Interventionen schaftskrise auslöst? entgegen allen Vorhersagen, so schwach? geraten. „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, Schmidt: Ich schätze das Risiko auf 20 Pro- Schmidt: Ein Grund liegt im Einführungs- fragte Mussa. zent. Das heißt aber auch, dass die große kurs des Euro: Der Wechselkurs des Euro Schmidt: Der Internationale Währungs- Rezession mit 80-prozentiger Wahrschein- war anfänglich zu hoch. Auch dafür haben fonds ist nicht unbedingt der beste Ratge- lichkeit nicht eintrifft. die Maastricht-Kriterien gesorgt. Der ge- ber. Er hat in den vergangenen Jahren vie- SPIEGEL: Herr Schmidt, wir danken Ihnen genwärtig niedrige Wechselkurs des Euro lerlei falsche Ratschläge gegeben. Und mit für dieses Gespräch. hat mit der recht guten Wirtschaftslage in Europa nichts zu tun. SPIEGEL: Wie tief kann der Euro denn noch fallen. Schmidt: Ich gebe keine Prognosen ab. SPIEGEL: Die Schwäche des Euro macht Ih- nen offenbar keine großen Sorgen. Schmidt: Die Euro-Schwäche ist keine Ka- tastrophe. Ich habe erlebt, wie der Dollar 1985 bei 3,46 Mark stand. Zehn Jahre spä- ter sank er auf 1,38 Mark, was für die deut- sche Exportwirtschaft tatsächlich eine Ka- tastrophe war. Momentan liegt der Dollar ungefähr bei 2,25 Mark. Na und? Ich emp- fehle: „benign neglect“ – freundliche Nichtachtung. Wer heute den Euro schlechtredet, erle- digt nur das Geschäft für jene Finanzma- nager, die am Auf und Ab verdienen, vor

allem mit der Spekulation auf steigende M. URBAN Dollar- und Dollaraktienkurse. Kanzlerkandidat Schröder, Altkanzler Schmidt (1998): „Ein Mann nicht ohne Mut“

126 der spiegel 39/2000 P. MENZEL / AGENTUR FOCUS MENZEL / AGENTUR P. Solaranlage in Kalifornien: „Sonnenenergie wird bald ein Riesengeschäft“ Jenseits des Erdöls Die Ölkrise bietet eine Jahrhundertchance: Mit einer neuen Energiepolitik kann die Bundesregierung eine gewaltige Jobmaschine in Gang setzen und die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen mindern. Auto- und Ölindustrie haben mit den Zukunftsinvestitionen längst begonnen.

enn Ferdinand Panik, For- serstoff vorerst aus Erdgas gewinnen. Ein- Großkraftwerken hin zum Erdgas und re- schungsmanager bei Daimler- gekoppelt ins öffentliche Stromnetz, so generativen Energien. WChrysler, über die Zukunft des prognostiziert Vaillant-Chef Michel Bros- In allen westlichen Industrieländern habe Automobils spricht, dann wird aus der al- set, werden dann viele tausend dieser An- eine tief greifende Umorientierung begon- ten Benzinkutsche unversehens ein mobi- lagen gemeinsam „virtuelle Kraftwerke“ nen, beobachtete Christopher Flavin, Vi- les Kraftwerk zum Mitnehmen. bilden. Ihre Energieausbeute wird wegen zepräsident des Washingtoner Worldwatch Binnen zehn Jahren, so erwartet Panik, der gleichzeitigen Nutzung von Strom und Institute. Unter dem Eindruck steigender werde die Autoindustrie beginnen, Diesel- Wärme phantastische 90 Prozent errei- Rohölpreise, drohender Klimagefahren und Benzinmotoren serienmäßig durch chen. und technologischer Durchbrüche bei Brennstoffzellen zu ersetzen, jene Power- Die alte Stromindustrie ist aufgewacht. Solar- und Wasserstoffnutzung wird wirt- Kisten, die aus Wasserstoff und Luft ohne Neuerdings spricht Manfred Remmel, Lei- schaftlich attraktiv, was lange Zeit nur als Flamme Elektrizität erzeugen und als Ab- ter der Energiesparte bei RWE, von einer Traum ökologischer Weltverbesserer galt: gas reinen Wasserdampf ausstoßen. Damit künftig „dezentralen Stromerzeugung“. die Wende zu weniger Verbrauch und können die Zukunftsmobile nicht nur elek- Abgasarme Kleinkraftwerke würden zum der Umstieg auf umweltgerechte scho- trisch fahren, sie müssen auch nicht mehr „zentralen Element“ der Kon- nende Quellen. „Nationen, die den größten Teil ihrer Lebenszeit nutzlos zernstrategie. „Die Zeit der den Übergang zum neuen Ener- rumstehen. Großkraftwerke ist möglicher- „Jetzt müssen giesystem vorwegnehmen und Stattdessen werden sie über Kupplungs- weise vorbei“, sagt auch RWE- die politischen sich jetzt richtig positionieren, stellen an Gebäuden Elektrizität in das all- Boss Dietmar Kuhnt. Vorgaben werden eine Menge sozialer, gemeine Netz liefern. Leicht vorstellbar, Auch die Ölindustrie denkt kommen, wirtschaftlicher und ökologi- sagt Panik nüchtern, sei „eine Welt mit ei- um. Erdgas, unverzichtbar für um die scher Vorteile erwerben“, glaubt ner Art Energie-Internet. Es besteht aus den großflächigen Übergang in Flavin. Brennstoffzellen-Autos, die miteinander die neue Energietechnik, werde Entwicklung Unverhofft eröffnet sich so mit verschaltet sind“. dem Erdöl den Rang ablaufen, zu lenken“ der neuen Energiekrise dem Über eine Milliarde Mark hat Daimler- prognostizieren Shell und BP. schon totgesagten rot-grünen Chrysler bereits in die Entwicklung der Beide Konzerne investieren im Milliarden- Projekt der ökologischen Modernisierung wundersamen Technik investiert, eine wei- Dollar-Volumen, um Strom aus Sonne, eine Jahrhundertchance: Unter der Flagge tere Milliarde ist fest eingeplant. Ford, Ge- Wind und Biomasse zu gewinnen. „Wir be- von Hightech und Ökologie könnte die Re- neral Motors und Toyota fahren ähnliche reiten die solare Wasserstoffwirtschaft gierung Schröder eine Jobmaschine in Programme. Die Brennstoffzelle, bekennt vor“, sagt Peter Knödel, Vorstandsmitglied Gang setzen. Daimler-Boss Jürgen Schrempp, „ist die der Deutschen BP. Die Technik sei weitgehend entwickelt, ganz große Alternative“. Verkehrte Welt: Während Europas Re- ebenso die Bereitschaft der Wirtschaft zu Diese Vision treibt auch die Heizungs- gierungen unter dem Druck von Lobby- investieren, konstatiert Peter Hennicke, Vi- branche an. Vaillant, Deutschlands Markt- isten und radikalisierten Lkw-Fahrern nach zepräsident des Wuppertal Instituts für Kli- führer bei Gas-Thermen, will im Jahr 2003 altem Muster teure Subventionen für den ma, Umwelt, Energie. „Jetzt müssen die gemeinsam mit dem US-Mischkonzern Ge- Öl- und Benzinverbrauch verteilen, rüsten politischen Vorgaben kommen, um die Ent- neral Electric die Serienproduktion von Manager und Ingenieure der davon be- wicklung der Märkte für Zukunftstechno- Brennstoffzellen-Heizungen aufnehmen. günstigten Industrien für einen grund- logie zu lenken und zu beschleunigen.“ Bis 2010 sollen 100000 Geräte jährlich ab- legenden Wandel der Energiepolitik. Weg Doch genau das haben der Umfragen- gesetzt werden, die den benötigten Was- von Erdöl, Kohle und verschwenderischen hörige Kanzler und seine Minister bisher

der spiegel 39/2000 127 Titel nicht gewagt. Gelähmt durch die Atom- Dann könnte mit der Solartechnik er- Dabei haben Regierung und Wirtschaft debatte und verfangen im Clinch der ver- reicht werden, was schon bei Windgene- mit der Erschließung der billigsten und sau- schiedenen Interessengruppen, wurde aus ratoren gelang: Deutschland würde zur bersten Energiequellen noch gar nicht rich- dem großen Sprung in die Energiezukunft führenden Nation einer Zukunftsbranche tig begonnen – der systematischen Effi- bisher nur ein Hüpfer. aufsteigen – mit gewaltigen Arbeitsplatzge- zienzsteigerung der Energienutzung. Nach Unter Rot-Grün bleibt die Energie- winnen. Die Windstromer verschaffen be- wie vor verbrauchen Haushalte, Kraftwerke besteuerung widersinnig. Ausgerechnet die reits mehr als 15000 Menschen Lohn und und Verkehr viermal mehr Energie, als bei Stein- und die Braunkohle, aus deren Ver- Brot. Die Solarindustrie beschäftigt trotz des konsequentem Einsatz der verfügbaren stromung die meisten klimaschädlichen verschwindend geringen Anteils am Strom- Techniken nötig wäre. Um aber jemals ein Kohlendioxid-Emissionen stammen, sind markt von 0,004 Prozent ebenfalls rund zukunftsgerechtes System zu installieren, von der Steuer ausgenommen. Auf das sau- 10000 Menschen: „Schon wenn wir 0,4 Pro- sagt Energieexperte Hennicke, sei „die Ef- bere Erdgas dagegen treibt der Fiskus ei- fizienz der Schlüssel zu ne Extrasteuer ein. So verzögert sich in Energieverbrauch* in Deutschland allem“. Deutschland entgegen dem internationa- Die größten Energie- len Trend der Bau energiesparender Gas- in Millionen Tonnen Steinkohleneinheiten verluste verursacht die kraftwerke. Quelle: Wuppertal Prognose ohne politische Maßnahmen Raumheizung, die über Grotesk ist die Aufrechterhaltung der Institut für Klima, AKW-Laufzeiten: 40 Jahre ein Viertel der gesamten Umwelt, Energie; Subventionen für die Steinkohle, die allein Energie verbraucht. Da- *Primärenergie mit Klimaschutzprogramm in diesem Jahr noch acht Milliarden Mark z.B. Förderung regenerativer bei hat die Bautechnik verschlingen, um 66000 Arbeitsplätze zu fi- regenerative Energien, AKW-Laufzeiten: längst revolutionäre Fort- nanzieren – 10000 Mark im Monat kostet 500 Energien 25 Jahre schritte gemacht. Gegen- jeder Bergmann den deutschen Steuerzah- Kernenergie über 1970 verminderte ler. Statt auf ein zügiges Ende zu drängen, 400 sich bei Neubauten auf um die Mittel für Zukunftsenergien einset- Erdgas dem heutigen Stand der zen zu können, forderte Wirtschaftsminister 300 Technik der Energiebe- Werner Müller gegenüber der EU-Kommis- darf um 97 Prozent. Aber 200 Erdöl sion sogar die Fortführung des Kohlepro- mindestens die Hälfte al- gramms über das Jahr 2005 hinaus. 100 Braunkohle ler Gebäude sind energie- Wirklich gelungen ist bislang nur ein technisch noch auf dem Steinkohle energiepolitisches Großprojekt: das Gesetz 0 Stand der siebziger Jahre. zur Förderung der erneuerbaren Energien. 1997 2005 2010 2020 2030 Dabei ließe sich gut Deren Potenzial ist enorm. Zehn Prozent die Hälfte des Heizungs- aller Dachflächen in Deutschland würden zent Anteil erreichen, werden es 50 000 verbrauchs ohne Kosten für die Gebäude- ausreichen, um – bestückt mit Solarzel- sein“, prognostiziert Pawlik. eigentümer vermeiden, wenn sie ihren len und mittels Pumpspeicherwerken und Solche Zahlen zerstreuen jedoch zugleich Energiebedarf auf 20 Jahre durchkalkulie- anderen Speichermedien – den gesamten die Illusion vom schnellen Sprung in die So- ren würden, ermittelte eine Forschungs- deutschen Strombedarf zu decken. Würden larwirtschaft. „Solarenergie ist trendy und gruppe des Wuppertal Instituts. Tatsächlich großflächige Fassaden miteinbezogen, ließe wird bald ein Riesengeschäft“, weiß Pawlik, denken die meisten Immobilienbesitzer sich auch ausreichend Wasserstoff herstel- „aber es dauert.“ Die Umsteuerung des nicht so weit. len, um via Brennstoffzelle die deutsche komplexen Energiesystems erfordere die Abhilfe könnte ein Altbausanierungspro- Autoflotte anzutreiben. Anstrengung einer ganzen Generation. gramm schaffen, das Steuervergünstigungen Aber bei den derzeitigen Kosten vom Zehnfachen des konventionell erzeugten Stroms ist das reine Utopie. Erst die Mas- senfertigung kann den Preis auf rentables Niveau senken, nur fehlt eben dafür bislang der Markt. Aus diesem Dilemma will das neue Ge- setz heraus: Es legt fest, dass der Strom aus jeder neu gebauten Solaranlage mit 99 Pfen- nig pro Kilowattstunde vergütet wird und diese Kosten auf den allgemeinen Strom- absatz umgelegt werden. Der neue Vergü- tungssatz hat der jungen Solarindustrie ei- nen beispiellosen Boom beschert. Der Ab- satz von Fotovoltaik-Modulen werde sich dieses Jahr verdreifachen, schätzt Andreas Pawlik, Geschäftsführer bei Shell Solar, „das war wirklich ein Durchbruch“. Nur müsse die Regierung jetzt unbedingt durchhalten. Wenn vom übernächsten Jahr an die Stromvergütung wie geplant um fünf Prozent jährlich sinke, drohe der frühzeiti- ge Abbruch der Entwicklung. Aber in „sie- ben bis acht Jahren könnten wir in die Band- breite der Wirtschaftlichkeit vorstoßen“, verspricht Pawlik, dessen Konzern mit jähr- lichen Wachstumsraten im Solargeschäft von 20 bis 30 Prozent rechnet. Windpark: Auf dem Energiesektor bahnt sich wie bei anderen Technologien ein weltweiter

128 der spiegel 39/2000 gezielt verteilt. Schon mit einem Einsatz von nur 200 Millionen Mark könnten jährlich In- vestitionen in der Größenordnung von zehn Milliarden Mark angestoßen und rund 600 000 Wohnungen im Jahr energietech- nisch saniert werden, ergab eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsfor- schung. Erstaunlich groß ist auch das Einspa- rungspotenzial beim Stromverbrauch. Al- lein die Stand-by-Schaltungen aller Fernse- her, Hi-Fi-Anlagen und Computer fressen so viel Strom, wie die beiden Metropolen Hamburg und Berlin verbrauchen, ergab eine Untersuchung des Umweltbundesam- tes. In den meisten Innenräumen reichen Lichteinfall oder das elektrische Licht, um mit einer simplen Solarzelle und einem klei- nen Akku an jedem Gerät die Verschwen- dung zu beenden. Ähnlich große Einspa- rungen sind bei der Beleuchtung und beim Betrieb von Haushaltsgeräten möglich. Was machbar ist, demonstrieren bereits die Niederlande, Frankreich und Großbri- tannien. Eigens eingerichtete staatliche Agen- turen vergeben per Ausschreibung an so ge- nannte Contracting-Unternehmen Aufträge zum Energiemanagement in Gebäuden. Der Berliner Senat hat das Modell bereits aus- probiert und damit in Schulen, Krankenhäu- sern und Verwaltungsgebäuden die Energie- rechnung um zehn Prozent gedrückt. Auch bei anhaltendem Wirtschaftswachs- tums wäre daher eine Minderung des deut- schen Energieverbrauchs bis 2030 um rund 20 Prozent „technisch überhaupt kein Pro-

blem“ (siehe Grafik). FOCUS / AGENTUR (li.);R. BURRI / MAGNUM (re.) LANGROCK / ZENIT P. Doch all diese Konzepte zum Umbau des Energieverbrauch in Los Angeles und Frankfurt: Erstaunliches Spar-Potenzial Energiesystems sind in den Akten der rot- grünen Ministerien abgelegt. „Was fehlt, ist der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann toindustrie nicht über die Technologie eini- die klare, strategische Zielsetzung“, beklagt Scheer, Energieaktivist der ersten Stunde gen können. Demgegenüber hat die US-Re- und weltweit gefragter Berater. „Wir brau- gierung bereits einen Masterplan zur Um- chen ein Energieprogramm bis 2020“, for- rüstung des Tankstellennetzes ausarbeiten dert auch Fritz Vahrenholt, Aufsichtsrat der lassen, der die konkreten Schritte für die Deutschen Shell. nächsten fünf Jahre beschreibt. Dass die Politik die Ziele vorgeben muss, So bahnt sich wie bei anderen Technolo- belegt gerade die Autoindustrie. Ihre Mil- gien auch auf dem Energiesektor ein welt- liardeninvestitionen in die Wasserstofftech- weiter Wettlauf um die Spitzenpositionen nik kamen nur deshalb in Gang, weil das an. „Der Abschied von Öl und Kohle ist ja Parlament des US-Bundesstaats Kalifornien ohnehin unvermeidlich“, appelliert Scheer vor vier Jahren beschloss, dass ab 2004 min- an die Besitzstandswahrer in Vorstandseta- destens zehn Prozent aller Neuwagen über gen und Ministerien. einen abgasfreien Antrieb verfügen müssen. Diese Botschaft ist an den Börsen der Mangels solcher Richtlinien agieren viele Welt längst angekommen. Die Aktionäre der deutsche Unternehmen in heilloser Verwir- Newcomer am Energiemarkt wie der Bon- rung. So reichte die Vereinigung Deutscher ner Solarworld AG oder der kanadische Elektrizitätswerke (VDEW) mehrere Be- Brennstoffzellen-Firma Ballard Power ver- schwerden bei der EU-Kommission gegen zeichneten seit Jahresanfang Kursgewinne die Vergütung von Solar- und Windenergie von weit über 300 Prozent. ein. Gleichzeitig sondiert jedoch der RWE- Und selbst der Ölriese BP stimmt seine Konzern, selbst Mitglied im VDEW, den Kundschaft symbolträchtig auf den Wan- Aufbau eigener Windkraftwerke. „Wir wür- del ein. Als Konzernchef John Browne im den uns freuen, wenn wir uns über eine Juli das neue Logo des Unternehmens in mögliche Beteiligung verständigen könn- Form einer stilisierten Sonne vorstellte, ten“, schrieb ein RWE-Manager im August kündete der vorgeführte Werbespot, BP sei in einem Rundschreiben an Betreiber von nicht mehr das Kürzel für British Petroleum, Windparks und Biogaskraftwerken. sondern stehe für eine neue Bezeich-

MAURITIUS Ebenso verzögert sich die Einführung des nung: Beyond Petroleum, jenseits des Erd- Wettlauf um die Spitzenpositionen an Wasserstoffmotors, weil sich Öl- und Au- öls. Gerd Rosenkranz, Harald Schumann

der spiegel 39/2000 129 Wirtschaft F. STOCKMEIER / ARGUM STOCKMEIER F. Frankfurter Börse: „Viele Firmen sind zu leicht an sehr viel Geld gekommen“

NEUER MARKT Die Geld-Vernichter Mit Gigabell krachte das erste Unternehmen am Neuen Markt zusammen. Viele sehen in dem Fall den Beginn eines überfälligen Reinigungsprozesses: Die Hightech-Börse entledigt sich der dubiosen Zockerwerte.

it Anfang 40 fiel Daniel David in rate“, dem Tempo, in dem das Geld der IPO“, dem Initial Public Offering, dem eine tiefe Sinnkrise, die sich auch Anleger verbrannt wird, war David nur et- Börsengang, „wollte ich in den Fahrstuhl Mnicht mit vielen Bierchen bekämp- was schneller als andere. Gigabell, da sind kommen, in dem die anderen schon drin fen ließ. Seinen Lebensunterhalt, so däm- sich alle Experten einig, steht am Anfang waren.“ merte ihm, verdiente er mit „gequirlter einer langen Reihe von kommenden Plei- Zweimal in seiner kurzen Laufbahn als Kacke“ – Daniel David tingelte als Schla- ten. Die Leichtgewichte, vor allem die Unternehmer blieb er im Parterre hängen. gersänger durch die Lande. Trickser und Hochstapler, fallen aus der Vergeblich hat er sich mit einem Handy- Den Frust spülte er mit Alkohol her- Kurstafel. Handel und, mit der Firma „Fixe Faxe“, unter. Nach seinen Auftritten war er oft „Die Realität hat Einzug gehalten“, mit dem Vertrieb von Faxgeräten geplagt. „völlig breit“, wie viele Schlagersänger: kommentiert Harald Petersen, Vorstands- Dann entdeckte der gelernte Energieanla- „Jeder weiß doch, was für einen Müll mitglied der Schutzgemeinschaft der Klein- genbauer das Internet und gründete 1995 wir singen.“ aktionäre. „Man muss bei noch mehr Fir- die IPF, die Internet Pop Frankfurt, aus David, heute 49, wollte raus aus diesem men auf die realen Zahlen der vier Jahre später die Geschäft. Also wurde der Künstler, der un- und nicht auf die schönen Gigabell wurde. Erster grö- ter dem Namen Rudolf Zawrel zur Welt Prognosen schauen.“ „Wir ßerer Auftrag: Er installier- kam, Unternehmer – und brachte es in der brauchen eine Marktberei- te einen Internet-Zugang vergangenen Woche zu einer Bekanntheit, nigung“, fordert Wolfgang für die Schulen amerika- die er in seinen Zeiten als Sänger, Kompo- Gerke, Professor für Bank- nischer Soldatenkinder in nist und Produzent nie erreicht hat. und Börsenwesen an der Frankfurt. Der Internet-Pro- Mit seiner Gigabell AG legte er die erste Universität Erlangen. vider stieg dann ins Tele- Pleite am Neuen Markt hin. In der Re- Daniel David, Verursa- fongeschäft ein, später kam kordzeit von 13 Monaten verheizte er das cher und Betroffener zu- E-Commerce dazu. gesamte Geld, das ihm der Börsengang gleich, sitzt im 18. Stock ei- So beginnen viele Karrie- im vergangenen Jahr in die Kasse ge- nes Frankfurter Büroturms ren in der New Economy. schwemmt hatte. Am Freitag vorvergange- und raucht unentwegt. Er Eine kleine innovative Ge- ner Woche stellte David Insolvenzantrag. hätte wohl besser ein Jahr sellschaft sucht Risikokapi- Gigabell gehört mit großspurigen An- gewartet, um die Firma bör- tal – auf einen Bankkredit

kündigungen und falschen Prognosen zu senreif zu machen, sagt er R. BRAUN ist nicht zu hoffen. den nicht ganz untypischen Erscheinun- nun. Aber die Versuchung Gigabell-Chef David Erst das Geld vom Neuen gen der New Economy. Mit seiner „Burn war stärker: „Mit dem Geld der Anleger verheizt Markt verhalf dem Thürin-

130 der spiegel 39/2000 ger Software-Tüftler Stefan Schambach mit träge vor – jetzt kümmert sich die Staats- Nur sechs Wochen nach dem Gang an seiner Intershop zum internationalen anwaltschaft um die Firma. Weil die Soft- den Neuen Markt musste Gigabell die ge- Durchbruch. Ohne den Neuen Markt wäre ware-Firmen Poet und Abit ihre großspu- planten Zahlen für 1999 korrigieren. Der die Aachener Aixtron nicht zum Welt- rigen Ankündigungen nicht einhalten konn- Verlust, erwartet waren 6,7 Millionen Euro, marktführer von Maschinen für die Chip- ten, brachen ihre Kurse ein. falle etwa dreimal so hoch aus. Prompt produktion aufgestiegen, nur mit Risiko- Beim Crash im März lernten viele Neu- stürzte der Kurs auf 18 Euro. kapital schaffte die oberbayrische Bio- Aktionäre, dass die Börse keine Gewinne Damit war auch eine von abenteuer- technologie-Firma Morphosys den schnel- garantiert. Mit dem Absturz von Gigabell, lichem Optimismus getragene Prognose hin- len Sprung in die Hightech-Elite. hofft Jürgen Kurz von der Deutschen fällig. Gestützt auf Gigabell-Berechnungen „Das Risikokapital haben wir dringend Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, hatte HSBC Trinkaus prophezeit, der In- gebraucht“, sagt Bankenexperte Gerke. „wird der Letzte verstanden haben, was ternet-Provider würde im Jahr 2000 einen Die Milliardenbeträge, die in den Neuen Risikokapital ist“. operativen Gewinn von 22 Millionen Mark Markt strömten, haben „Deutschland vor Die Raffgier der Banken beflügelt den einfahren. Bei ihren Prognosen hatten die einem Technologie-Desaster bewahrt“, Börsengang: Kreditinstitute bedienen sich Experten wohl übersehen, dass es auch meint auch Karsten Henco, Chef der Ham- gern vorbörslich zum Schnäppchenpreis. Konkurrenten gibt, die schöne Hochrech- burger Biotech-Firma Evotec. So griff sich die Deutsche Bank 270 000 nungen zur Makulatur werden lassen. Mit dem Gang an die Börse sind die Aktien der FortuneCity, ehe sie die Firma Beispiel Foris AG. Lothar Müller-Gül- Gründer der Start-ups – und mit ihnen vie- an die Börse brachte. HSBC Trinkaus & demeister hatte eine pfiffige Geschäftsidee. le Spitzenkräfte – sehr schnell sehr reich Burkhardt kassierte von David 165000 Ak- Er sammelte Geld ein, um damit für weni- geworden. Die Aussicht auf das Geld hat zu tien zum Stückpreis von einem Euro. ger Zahlungskräftige teure Prozesse gegen viele angelockt, die besser keine AG ge- Die Papiere verkaufte die Bank gleich an eine Erfolgsbeteiligung zu führen. Die Fo- gründet hätten. „50 Prozent der Neuemis- die Zeichner zum Emissionskurs von 38 ris-Geschäfte würden besser laufen, wenn sionen sind nicht börsenreif“, behauptet Euro und verdiente damit rund 12 Millio- nicht mittlerweile vier andere Firmen das der Fondsmanager Kurt Ochner. nen Mark. Vom Emissionserlös, 93 Millio- Konzept nachgeahmt hätten. Der Galerist Hans Neuendorf ließ sich nen Mark, floss der Bank die übliche Pro- Beispiel Amazon: Der Erfinder des On- Artnet.com einfallen, ein Online-Auk- vision von fünf bis sieben Prozent zu. line-Buchhandels hat in Deutschland mit tionshaus für Kunst, von dem manche Ex- Für die Kleinaktionäre war der Börsen- buecher.de, buch.de und bol.de drei bör- perten behaupten, damit sei nie eine Mark start am 11. August vergangenen Jahres we- sennotierte Konkurrenten in dem für alle zu verdienen. Der kleinen Internet-Firma niger erfolgreich. Mit großem Getöse insze- verlustreichen Geschäft – und dazu über FortuneCity.com, von der Deutschen Bank nierte der Firmengründer seine Show: tausend Buchhandlungen, die zum Teil einmal auf 835 Millionen Mark taxiert, „Wenn die Gigabell ihr Debüt am Neuen viel schneller liefern. So bietet Hamburgs könnte nach chronisch defizitären Ge- Markt feiert, geht die Sonne zweimal auf.“ größter Buchverkäufer unter www.tha- schäften bald das Geld ausgehen. Sonnenfinsternis herrschte über Frankfurt, lia.de 300000 lieferbare Titel; wer morgens In ihrer Not nehmen es viele Firmen mit als der Handel mit den Papieren aufgenom- bis elf Uhr online ordert, bekommt die der Wahrheit nicht sehr genau. Um den men wurde. Gigabell war die erste Aktie am Ware am gleichen Tag zugestellt. Kurs hoch zu treiben, schwindelte die Augs- Neuen Markt, die gleich am ersten Tag un- Mit schnellem Wachstum wollte Gigabell burger Infomatec den Anlegern Großauf- ter ihren Emissionskurs fiel: auf 33 Euro. die Konkurrenz übertrumpfen. Mit der Ankündigung, er werde den Umsatz in zwölf 7. März 2000: Gigabell Monaten verdoppeln oder gar vervierfachen, Hoffnungswerte von gestern auf 126 Euro sorgte das Unternehmen für Kursauftrieb. Aktien am Neuen Markt Kurssturz am Neuen Markt Wie Wolfgang Gerke, Mitglied der Bör- sensachverständigenkommission, beob- 100 achtete, wissen viele Firmen am Neuen 11. August 1999: Markt nicht, was sie mit dem vielen Geld Börsenstart mit machen sollen, das sie mit dem Börsen- 80 33 Euro gang eingenommen haben. „Sie sind zu Gigabell revidiert Um- Für das 1. Quartal gibt Giga- satz- und Gewinn- Ein US-Provider wird bell knapp 11 Millionen Mark übernommen 60 erwartungen deutlich Umsatz und 9,8 Millionen nach unten Mark Verlust an Börsendienste raten Börsendienste von Gigabell ab empfehlen Gigabell 15. September: 40 Antrag auf Insol- venzverfahren

20 Stand am Quelle: Datastream Gerüchten zufolge will ein 22. Sep- italienischer Provider Gigabell tember: 1999 2000 übernehmen 4,05 Euro 0 Aug. Sept. Okt. Nov. Dez. Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. 250 Abit Poet 50 Infomatec 30 Artnet Fortunecity in Euro in Euro in Euro in Euro in Euro 200 200 40 20 20 150 Quelle: 150 30 Datastream 15 100 100 20 10 10 50 50 10 5 2000 2000 2000 2000 2000 0 0 JFMAMJJAS JFMAMJJAS 0 JFMAMJJAS 0 JFMAMJJAS 0 JFMAMJJAS

der spiegel 39/2000 131 Wirtschaft leicht an sehr viel Geld gekommen, das sie teninhaber selbst mitfliegen. „Wir wollen es nicht mit eigenen Ideen verbraten können.“ LUFTHANSA unseren Status-Kunden leichter machen, Vorsichtige Firmen wie etwa die IDS ihre Prämien an Freunde oder Bekannte Scheer legen Geld in Anleihen an, die Legale weiterzugeben“, erläutert Teckentrup das meisten aber kaufen reihenweise Firmen Bonbon für Vielflieger. auf. Daniel David expandierte, versenkte Doch Reisemanager großer Firmen wie überall Geld, in der Madrider Gigabell Bestechung Siemens, MG Technologies oder die Deut- Ibérica wie in der Londoner Gigabell UK. sche Telekom interpretieren die Neurege- Das Unternehmen, tönte Finanzvorstand Der Streit um das Bonusprogramm lung anders. Die Großkonzerne überlegen Johannes Funke im Kauderwelsch der New bereits, wie sie die Guthaben verwalten Economy, sei „strategisch breit positio- der Lufthansa eskaliert. und für Dienstreisen nutzen können. niert“. Große Worte für eine Firma mit ei- Große Firmen wollen die Meilen Der Zoff um die neue Bonusregelung nem Umsatz von gut 30 Millionen Mark. ihrer Vielflieger jetzt einziehen. hat einen alten Streit neu entfacht, der seit David kaufte, was gerade zu haben war: Jahren zwischen der Lufthansa und ihren den britischen E-Commerce-Anbieter und er Donnerstag vergangener Woche Großkunden schwelt. Um ihre Reisekosten Internet-Provider WebLeicester, den öster- sollte für Ralf Teckentrup der zu senken, versuchen international tätige reichischen Internet-Provider Abacus , die Dvorläufige Höhepunkt seiner Luft- Firmen, für ihre Mitarbeiter auf Dienst- US-Gesellschaft Lightning Internet Ser- hansa-Karriere werden. In zähen Ver- reisen den jeweils günstigsten Anbieter zu vices, das Festnetz der deutschen Mox handlungen war es dem Vertrauten von buchen. Doch das wird immer schwieriger, Telecom oder die Dyna Webhosting. Lufthansa-Chef Jürgen Weber gelungen, seit die Lufthansa 1993 ihr „Miles & In der bunten Kollektion finden sich den Einstieg bei der drittgrößten deut- More“-Bonussystem einführte. viele Zwergfirmen: Abacus etwa mit schen Fluggesellschaft Eurowings einzu- Mit fadenscheinigen Vorwänden versu- einem Umsatz von 1,4 Millionen, Dyna fädeln. chen viele Angestellte, die Sparpläne zu Webhosting mit 1,6 Millionen Mark. An unterlaufen. „Manche Mitarbeiter“, stöhnt die Vervierfachung des Umsatzes, von Willi Säuberlich vom Berliner Pharma- der David gern sprach, glaubte bald keiner Abheben mit Lufthansa 65,6 hersteller Schering, „kaufen auf eigene mehr. Nach dem Crash vom März ging Sitzauslastung seit Einführung Faust im Ausland Tickets der Lufthansa, der Gigabell-Kurs schier unaufhaltsam des Miles&More-Programms um ihr Meilenkonto aufzubessern.“ abwärts. Schlimmer traf es kein anderes in Prozent Der Verlockung, auf Kosten der Firma Inlandflüge Unternehmen. 61,7 ein attraktives Zubrot zum Gehalt einzu- Auch massive Schützenhilfe aus Kulm- Europaflüge heimsen, können nur wenige Angestellte bach half wenig. In der fränkischen Klein- 60,7 widerstehen. Schon für 15000 Meilen, dem stadt erscheint „Der Aktionär“, eines der 60,6 Gegenwert von vier innerdeutschen Hin- 59,2 einflussreichsten Börsenblätter. In seinem und Rückflügen in der Business-Class, Tipp-Dienst wie in seinen TV-Auftritten in lockt ein attraktives Präsent mit sechs der „3-Sat-Börse“ empfahl der Herausge- 58,7 58,7 Weinflaschen. Ein europäisches Return- ber Bernd Förtsch gern die Aktien, die er 58,0 Ticket ist schon für 20000 Meilen zu haben. in seinem privaten Depot oder in einem Wer 80000 Meilen investiert, darf sogar der von ihm betreuten Aktienfonds hielt. 1993 95 96 97 98 99 samt Ehefrau bei Starkoch Heinz Winkler Im März registrierte „Der Aktionär“ in Aschau dinieren. Das Nachsehen haben eine „nachhaltige Trendwende“ bei Giga- die Firmen, die für die verkappten Beste- bell; der Umsatz könne gegenüber dem chungsgeschenke an ihre Mitarbeiter be- Vorjahr sogar um das Achtfache steigen. zahlen. Der Kurs fiel weiter, und im April sah „Der Umso erfreuter reagierten die Reise- Aktionär“ in Gigabell „einen Global Player manager deshalb, als sie erfuhren, dass ihre von morgen“. Im Juli orakelte das Blatt, Vielflieger Prämien neuerdings auch an dass die Liquiditätsprobleme vorerst gelöst Dritte – also auch in der eigenen Firma – schienen. Das Kulmbacher Börsenmaga- weitergeben dürfen. Das bislang raffinier- zin (Auflage: 130000) zog, anders als bei teste Modell hat Siemens-Travelmanager anderen Aktien, den Kurs nicht nach oben. Lutz Stammnitz ausgetüftelt. Im Juni, als die Firma schon ziemlich Die Karteninhaber sollen ihr Bonusgut- klamm war, versuchte der Gigabell-Chef haben demnächst in eine zentrale Meilen- ein letztes Mal, sich mit schönen Progno- datenbank einspeisen, auf die alle Abtei-

sen energisch gegen den Abwärtstrend WEGNER / LAIF T. lungen Zugriff haben. Wird der Freiflug an zu stemmen: Der Umsatz würde sich auf Lufthansa-Manager Teckentrup einen anderen Geschäftsbereich abgege- 127 Millionen Mark mehr als vervier- Bonbon für Vielflieger ben, bekommt die Kostenstelle des Spen- fachen. Ein Verlust von 21 Millionen sei zu ders eine interne Gutschrift. erwarten. Doch statt seinen Erfolg zu feiern, muss- Lufthansa-Manager Teckentrup passt die Wenig später musste David die Zahlen te der ehrgeizige Manager sich mit er- Kreativität der Konzern-Reisemanager für das erste Halbjahr vorlegen: 22,5 Mil- bosten Firmenkunden herumschlagen. überhaupt nicht. Immerhin beschert das lionen Mark Umsatz, 24 Millionen Mark Und das Schlimme ist: Den Ärger hat „Miles & More“-Programm seinem Unter- Verlust. Das vorhandene Firmenkapital Teckentrup sich selbst eingebrockt. nehmen pro Jahr Mehrerträge im hohen war schnell verspielt, der Untergang nur Ende August verkündete der Lufthan- dreistelligen Millionenbereich. Deshalb will noch eine Frage der Zeit. sa-Marketingchef neue Bedingungen für Teckentrup verhindern, dass das Siemens- Um einen ganz normalen Bankkredit das Vielfliegerprogramm „Miles & More“. Beispiel Schule macht. „Deren Modell“, brauchte sich Daniel David erst gar nicht zu Seit Anfang September dürfen Inhaber der sagt er, „entspricht nicht den ‚Miles & bemühen. Der Gigabell-Chef sieht das ganz Frequent-Traveller- oder Senator-Card ihre More‘-Regeln.“ Sollten andere Firmen realistisch: „Wir kriegen keine zehn Mark angesammelten Meilen erstmals auch an nachziehen, meint er, „müssen wir neu von einer Bank.“ Hermann Bott Dritte übertragen. Bislang musste der Kar- nachdenken“. Dinah Deckstein

132 der spiegel 39/2000 leger von anderen Internet-Anbietern INTERNET abheben könnte, sind kaum vorhanden. Spannende News? Fehlanzeige. Tolle Un- Alarmstimmung terhaltungsangebote? Außer einer Online- Seifenoper nicht vorhanden. Hitzige Chat- foren? Findet der User vor allem woanders. in Bonn Entsprechend düster sieht es bei der für die Werbebranche so wichtigen Kennziffer Mit einer Radikalkur will Telekom- „Verweildauer“ aus. Zwar wählen sich in- zwischen rund sechs Millionen Kunden Chef Ron Sommer die Krise über die Zugangsknoten von T-Online in bei T-Online lösen. Der gesamte das weltweite Datennetz ein. Doch die Vorstand steht zur Disposition. Zeit, die die Surfer auf den T-Online-eige- nen Seiten verbringen, ist deutlich geringer iegesbewusst strahlend, bahnte sich als beim Hauptkonkurrenten AOL. Ron Sommer den Weg durch die Solche und andere Schwachpunkte hat- SMenge der applaudierenden Analys- te Sommer als Aufsichtsratschef von T-On- ten, Banker und Börsenmakler. Gerade line immer wieder bemängelt. Aber die hatte die Deutsche Telekom mit dem Bör- Crew in Darmstadt pochte auf Eigenstän- sengang ihres Internet-Ablegers ein neues digkeit, schottete sich gegen die Zusam-

Kursfeuerwerk entzündet. SIMON SVEN menarbeit mit der Zentrale ab und zöger- Trotz schlimmer Börsenvorgaben aus Telekom-Chef Sommer te sinnvolle Kooperationen mit der Mobil- Amerika und Asien schoss der Kurs von T- Tatenlos zugeschaut funksparte des Konzerns hinaus. Online innerhalb weniger Stunden um fast Seit Wochen sucht Sommer deshalb nach 40 Prozent nach oben. Die Anleger strahl- so ein Vertrauter des Konzernchefs. Die neuen Managern. Bislang ohne großen Er- ten und Sommer versprach: „Jetzt bauen von Keuntje rekrutierte Mannschaft gilt folg. Nur Bernd Kolb, 37, sah in dem An- wir T-Online schnell zur Weltmarke aus.“ bei vielen Telekom-Managern als „zu gebot eine gute Chance. Der Gründer der Nur fünf Monate später ist der Glanz des schwach und viel zu techniklastig“. Berliner Multimedia-Agentur ID-Media will Shooting-Stars verblichen. Die versproche- Die Krise ist vor allem hausgemacht. der Telekom seinen Anteil an der Firma ne Internationalisierung kommt nur lang- Schon vor dem Börsengang, so berichten verkaufen und kann als Angestellter ein sam voran, die Gewinnmargen schrump- Telekom-Manager, habe Sommer Zweifel Vorstandsbüro bei T-Online beziehen. fen, und die Kurse stürzen ab. an den Fähigkeiten von T-Online-Chef Ein neuer Chef für den Internet-Dienst Mit einem Wert von 22 Euro fiel die T- Keuntje, 43, gehabt. Der frühere SEL-Ma- wurde noch nicht gefunden. Auch die Po- Online-Aktie vergangene Woche sogar nager hatte zwar ein technisch hervorra- sition eines Multimedia-Vorstands ist noch vakant, von den gehandelten Wunschkan- Vertrauen verloren? Aktienkurse in Euro didaten wie „Focus“-Chefredakteur Hel- mut Markwort und Ex-RTL-Chef Helmut 6. März Thoma konnte Sommer keinen verpflich- 103,90 2. Mai 100 46,10 ten. Auch Andreas Fritzenkötter, der frühe- 45 re PR-Berater von Ex-Bundeskanzler Hel- 90 W. Keuntje scheidet mut Kohl, winkte ab. am 25. August aus 40 Sommer wurde nervös und entschloss 80 sich, auch ohne geeigneten Nachfolger für Keuntje und ohne neuen Multimedia-Vor- 70 35 stand zum Radikalschlag – und verschärf- 22. Sept. te damit noch die Krise. Nicht nur der On- 60 Emissions- 38,65 30 line-Wert rutschte auf ein Allzeit-Tief, auch preis am die T-Aktie stürzte ab. 50 17. April Als das Papier vergangene Woche den 25 27,00 Kurs von 37,60 Euro unterschritt, brach in 40 22. Sept. der Bonner Zentrale Alarmstimmung aus. 24,40 Denn je tiefer der Kurs rutscht, desto 30 20 größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Aug. Sept. April Mai Juni Juli August Sept. die Telekom bei der geplanten Übernahme des US-Mobilfunkunternehmens Voice- deutlich unter den Ausgabekurs. Nun gendes Netz aufgebaut, doch mit dem rei- stream den als Obergrenze gesetzten Bar- droht der „Daimler unter den Internet- nen Verkauf von Internet-Zugängen und anteil von rund 18 Milliarden Mark voll Werten“ auch noch die Aktien des Mut- Netzminuten ist kaum noch Geld zu ver- ausschöpfen muss, um die US-Aktionäre terhauses in seinen Strudel zu ziehen. dienen. zu einem Tausch ihrer Aktien zu bewegen. Wochenlang hatte Sommer der aufzie- In dem knallharten Geschäft werden nur Selbst ein Scheitern des Deals ist nicht henden Krise tatenlos zugeschaut. Jetzt die Firmen überleben, denen es gelingt, mehr ausgeschlossen. Denn im Vertrag mit greift er mit überraschender Härte durch. den Internet-Zugang mit Unterhaltungs- der Telekom haben die US-Manager eine Nachdem Ende August bereits T-Online- programmen, Informationen und Dienst- Ausstiegsklausel vereinbart. Sollte der Kurs Chef Wolfgang Keuntje sein Büro räumte leistungen zu einem attraktiven Multime- der T-Aktie unter 33 Euro fallen, können und vergangene Woche Marketingchef Ralf dia-Angebot zu verschmelzen. Doch ge- die Voicestream-Aktionäre von der Ver- Eck ausschied, steht die gesamte Führungs- nau da hapert es. einbarung zurücktreten. Die Folge: In den crew des zweitgrößten Internet-Anbieters Die Seiten unter dem rosafarbenen T USA stünde Sommer erneut ohne voll- der Welt zur Disposition. „Alle werden ge- wirken bieder, exklusive Inhalte, mit wertigen Partner da. Frank Dohmen, wogen, und wer zu leicht ist, muss gehen“, denen sich der Darmstädter Telekom-Ab- Klaus-Peter Kerbusk

der spiegel 39/2000 133 Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

SPRINGER-VERLAG Für Ärger sorgt auch ein Brief Sprengs an Mitarbeiter und Kolle- gen in anderen Verlagen, in dem er Diekmann seine eigenen Leistungen gegen- über denen des Schwesterblatts „Bild“ hervorhebt. Noch ist nicht zu „Bild“? entschieden, wer Spreng beerben soll. Als aussichtsreichster Kandi- it der geplanten Ablösung dat gilt „Bild“-Chef Udo Röbel, Mdes „Bild am Sonntag“-Chef- dem wiederum Kai Diekmann redakteurs gibt es mehr Schwie- („Welt am Sonntag“) nachfolgen rigkeiten, als man es sich im Axel könnte. Als möglicher Kandidat Springer Verlag vorgestellt hat. für einen der Posten wird im Auf- Michael Spreng, 52, so heißt es in sichtsrat auch Claus Strunz ge- der Konzernzentrale, versuche, nannt, bisher Vize bei der „Welt“. sich als politischen Märtyrer dar- Offizieller Kommentar einer zustellen, obwohl ihm bereits vor Springer-Sprecherin: „An Perso- Monaten von Zeitungsvorstand nalspekulationen beteiligen wir Claus Larass signalisiert worden uns grundsätzlich nicht.“ Spreng sei, man wolle nach zehn Jahren war am Freitag nicht zu erreichen. seinen Posten neu besetzen. Das / VISION PHOTOS A. KULL „Manager Magazin“ hatte in der vergangenen Woche Sprengs be- vorstehende Ablösung gemeldet und berichtet, der konservative Spreng Filmhändler Leo Kirch habe als Springer-Großaktionär darauf gedrängt, den liberalen Chefre- dakteur abzulösen. Spreng hatte in seinen Kommentaren im- mer wieder den Kirch-Duzfreund Helmut Kohl scharf ange- griffen („Amtseid gebrochen“). In der Konzernspitze wird nun vermutet, Spreng selbst habe den Artikel initiiert, um seinen TEUTOPRESS / ULLSTEIN BILDERD. / ULLSTEIN TEUTOPRESS Abgang zu verhindern. Mit einer ähnlichen Strategie hatte er GIRIBAS J. bereits vor drei Jahren einen beabsichtigten Rauswurf vereitelt. Röbel Diekmann

NDR FERNSEHEN ohne Erfolg. Ganz ohne Plagiat kommt allerdings auch Andorfer nicht aus. So Allein gelassen Sat.1 gegen alle ist seine Doku-Soap „You drive me crazy“ eine Kopie der Sat.1-Sendung ie Verachtung der Quote ist ein at.1 will nicht der Organisation „Die Fahrschule“. Unterstützt wird die DAusdruck elitärer Arroganz“, hatte SFRAPA (Format Recognition and Organisation FRAPA, die Anfang Okto- der NDR-Fernsehprogrammdirektor Protection Association) beitreten, mit ber auf der internationalen Fernseh- Jürgen Kellermeier unlängst Kritikern der TV-Produzenten und Sender ab Ok- messe in Cannes offiziell gegründet wer- entgegnet, die angesichts eines internen tober gemeinsam gegen das Kopieren den soll, unter anderem von den Konzeptpapiers vor mangelnder Qua- von TV-Formaten vorgehen. „Abgekup- TV-Sendern ProSieben, ZDF und RTL. lität der Fernsehspiele (SPIEGEL fert wird im Fernsehen seit 34/2000) gewarnt hatten. Peinlich für dem ersten Sendetag“, be- Kellermeier: Nicht einmal der eigene gründet Sat.1-Chef Fred Kogel Rundfunkrat vertraut seinem Kurs. So die Zurückhaltung. „Man verweigerte das Gremium auf seiner muss schneller sein als die an- letzten Sitzung die Zustimmung zu ei- deren.“ In der Vergangenheit ner „Resolution“, mit der Kellermeier war Kogel allerdings oft um Unterstützung für seine Arbeit langsamer als die Konkurrenz. warb. „Der NDR-Rundfunkrat wendet So startete er nach dem Erfolg sich mit Entschiedenheit gegen die von der RTL-Wissensshow „Wer einigen Journalisten erhobenen Vor- wird Millionär?“ mit dem würfe, im Bereich des Fernsehfilms „Millionenquiz“ und der würde das Quotendenken den Gesichts- „Quiz Show“ gleich zwei ähn- punkt der Qualität überlagern“, heißt liche Sendungen. Auch „Das es in dem internen Papier, das im Rund- Inselduell“ gilt als Kopie der funkrat auf Ablehnung stieß. „Man RTL-II-Sendung „Expedition kann doch die teilweise berechtigte Kri- Robinson“. In diesem Fall war tik nicht einfach wegwischen, indem RTL-II-Chef Josef Andorfer man sich Absolution erteilen lässt“, sagt sogar gerichtlich gegen Sat.1 ein Mitglied des Gremiums. vorgegangen – wenn auch Sat.1-Sendung „Das Inselduell“

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Bohrend geistvoll mmer schon war die Welt zu Ischlecht, zu niveaulos, zu un- gebildet für ihn, den letzten In- tellektuellen unter Deutschlands Fernsehmoderatoren. Trotz sei- ner Erfolge bei jungen Frauen in Hamburg-Eppendorf und älteren Damen im Eimsbütteler Lesezir- FOTOS: PRESS ACTION kel blieb er der große Unverstan- Kanzler Schröder in Thüringen, Komiker Raab (u.) dene im harten, manchmal gna- denlosen, ethisch mehr als frag- der: „Hol mir mal ’ne Flasche Bier, würdigen Fernsehgeschäft. Sein sonst streik ich hier.“ Letzte Woche Aufstieg war märchenhaft, und er setzte Raab noch einen drauf und un- wurde nicht nur in den unfehlba- terlegte die goldenen Kanzler-Worte mit ren Mitteilungen des „Munzin- Musik – fertig war der „Kanzler-Rap“ in der Tradition von Raabs Erfolgstitel ger“-Archivs triumphal verewigt: „Maschendrahtzaun“. Doch obwohl „Eine unverwechselbare Medienprofi Raab die Masche noch ein Gesprächsführung“, die wenig weiter dehnte und seinem Hilfs- „bewegliche Fragetechnik“, texter Schröder großzügig Lizenz-Ge- ja, der „mühelose Wechsel HUMOR bühren versprach („Damit kann er dann zwischen bohrender Neugier vielleicht die Ökosteuer subventionie- und behutsamem Insistieren“ Schröders Spaß-Streik ren“), mag der Kanzler kein Popstar machten ihn zum „Re- sein – kein singender jedenfalls: Schrö- chluss mit lustig: Gerhard Schröder, der kenne das Lied überhaupt nicht, kordinterviewer“ un- Smühsam vom Spaßkanzler zum so Regierungssprecher Uwe-Karsten ter Deutschlands Mi- Weltstaatsmann mutiert, will es nicht Heye zum SPIEGEL. Folglich sei der krofonträgern. Doch auf eine Auseinandersetzung mit dem Kanzler weder geschmeichelt, noch be- immer wieder unterlag TV-Komiker Stefan Raab ankommen absichtige er, juristisch gegen Raab vor- der einzigartig Sensible, lassen. Raab, 33, hatte in seiner ProSie- zugehen. Mit diesem Spaß-Streik bleibt das rhetorische Dauertalent, der ben-Show „TV total“ einen Filmschnip- Schröder in der Tradition seines Vor- Andy Möller der TV-Branche, sel von Schröders ostdeutscher gängers: Auch Helmut Kohl, jahrelang dem erbarmungslosen Diktat der Sommerreise gezeigt; darin droht der verspottet, hatte die allermeisten durstige Kanzler, das Schreiben von Au- Humor-Attacken ignoriert. Oder, wie Quote. Nun hat Roger Willem- togrammen einzustellen. O-Ton Schrö- man heute sagt: durchgelächelt. sen, 45, dessen Talkshow „Wil- lemsens Woche“ im Juni 1998 eingestellt wurde, wieder eine Schlacht zwischen Geist und QUOTEN Macht verloren: Nach einigen we- nigen Auftritten als Moderator Höher, weiter – nicht im TV des ZDF-Kulturmagazins „Aspek- te“ verlässt er die Sendung – frei- ie blamablen Darbietungen der deutschen Schwimmer („Bild“-Spott: „Gluck- DGluck-Garde“) und auch das nicht eben rühmliche Abschneiden der anderen lich nicht aus Unzufriedenheit, Sportler aus der Bundesrepublik haben offenbar auf die Stimmung der Zuschauer sondern wegen der „Arbeitsöko- gedrückt. „Big Brother“, Fußball und selbst die Wiederholung der biederen Reihe nomie“, wie ZDF-Programmdi- „Heimatgeschichten“ mit rektor Markus Schächter mitteil- Fernseh-Oma Inge Meysel Die Goldene Olympia verliert Stimmgabel te. Offiziell heißt es, Willemsen schnitten im Hauptabend- 18,6 Marktanteile in Prozent 2000 werde „umfassender im Bereich programm besser ab als die 20:15; ARD Zusammenfassungen von der ZDF-Magazine für die klassi- Big Brother Champions den Olympischen Spielen. Heimatge- sche Musik“ und für eine „Por- 20:15; RTL League Kleiner Trost für ARD und Der klei- schichten trätreihe“ zur Verfügung stehen. ne Dach- 20:15; ARD 20:45; RTL ZDF: Auch die Rechnung 15,2 schaden Papperlapapp. Wir wissen, dass von NBC, TV-Verbreiter von Ran 20:15; ZDF 16,0 14,6 er schon längst an einem drei- Olympia in den USA, geht 13,4 18:45; Sat.1 13,3 12,9 stündigen tiefenpsychologischen nicht auf: Die amerikani- 20:15; ARD 12,8 20:15; ARD Gespräch mit Regine Hildebrandt schen Zuschauer ziehen 11,8 11,6 arbeitet – auch sie eine unver- Live-Übertragungen von 20:15; ARD 19:15; ZDF 10,7 10,5 standene Schnellsprecherin. Foot- und Baseball den 19:10; ZDF als Konserven gesendeten Olympiasendungen 19:15; ZDF Sydney-Berichten vor. Sa., 16. 9. So. Mo. Di. Mi. Do., 21. 9.

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Vorschau men gegen ihre hohen Schul- den. Der Optimismus verfliegt, acht Jahre nach der Wende re- Lügen und Geheimnisse det der Vater vor der Kamera Montag, 20.45 Uhr, Arte von Selbstmord, die Tochter Die junge schwarze Angestellte Hor- entfremdet sich von den El- tense (Marianne Jean-Baptiste) macht tern, Zeit für ein Privatleben sich nach dem Tod ihrer Adoptivel- haben Eltern kaum noch. Der tern aus einer plötzlichen und riskan- letzte Filmbesuch stammt vom ten Neugierde heraus auf die Suche vergangenen Jahr: Die nach ihrer leiblichen Mutter. So steht schlimmsten Krisen scheinen sie eines Tages einer blonden Fabrik- überstanden, aber die Resigna- arbeiterin mittleren Alters (Brenda tion ist spürbar, wenn der Va- Blethyn) gegenüber, und sie stellt, in- ter feststellt, er sei zu alt gewe- dem sie an alte Familiengeheimnisse sen, als die Wende kam. Diese rührt, auch das Leben von deren Dokumentation erhebt auf Tochter (Claire Rushbrook), Bruder eindrucksvolle Weise Ein- (Timothy Spall) und Schwägerin spruch gegen das Wessi-Vorur- (Phyllis Logan) auf den Kopf: Kathar- Szene aus „Survivor“ teil von den faulen Ossis. sis am spießbürgerlichen Barbecue- Grill. Der für seine psychologisch smaragdgrünen Augen. Der schleimige Einmal Himmel und retour subtilen Familiendramen gerühmte Mummenschanz, optisch auf dem Ni- Sonntag, 20.15 Uhr, ZDF Regisseur Mike Leigh treibt dieses veau einer gehobenen Geisterbahn- Unterhaltung am Sonntagabend im große Panorama englischen Alltagsle- Ästhetik, wird verbal modisch-philoso- ZDF – das müssen nicht immer Pil- phisch erklärt: Aliens hinterließen cher und „Traumschiff“ sein. Diese bei einem Raumschiff-Besuch der Geschichte vom Familienzerbrechen Erde vor einer Milliarde Jahren und den Schwierigkeiten mit dem eiartige Zellklumpen mit Bauplä- neuen Glück (Buch: Henriette Piper, nen, um Menschen zu züchten Regie: Thomas Jacob) beweist, dass und sich irgendwann einmal von sich Popularität und Anspruch im ihnen zu ernähren. Menschen- Fernsehen verbinden lassen. Wenn parkspaziergänger wie Nietzsche Manager Phil (August Zirner) aus sei- und Sloterdijk – hier hätten sie ner chaotischen Familie mit seiner Stoff zum Nachdenken. schönen Frau Britta (Christine Neu- bauer) und den drei anstrengenden Die Schützes Töchtern ausbricht, indem er eine Samstag, 22.15 Uhr, Bayern III Liaison mit seiner schönen blonden Melancholisch stimmende Lang- Kollegin Laura (Catherine Flemming) zeitbeobachtung von Wolfgang beginnt, dann scheinen die Klischees Ettlich und seinem Kameramann zu winken: Irgendwann wird er zur Jean-Baptiste, Rushbrook Hans-Albrecht Lusznat: Es geht Vernunft kommen und reumütig zu- um eine Familie im sächsischen rückkehren. Doch es läuft alles an- bens, 1996 bei den Filmfestspielen in Zschopau, Vater, Mutter und Tochter ders, bitterer: Was sich da trennt, Cannes mit der Goldenen Palme aus- Schütze. Als die TV-Crew die Familie kann kein TV-Deus-ex-Machina mehr gezeichnet, immer so scharf auf die im Dezember 1989 zum ersten Mal be- Kippe zwischen Lächerlichkeit und sucht, herrscht Optimismus. Vater tiefem Jammer, dass es dem mit- Schütze, damals 40-jähriger Leiter eines fühlenden Zuschauer die Tränen in HO-Gemüseladens, zeigt sich entschlos- die Augen treibt. sen, in den voraussehbaren Zeiten des Kapitalismus sein Glück zu machen. Er Survivor – Das Grauen weiß, dass er und seine Kollegen viel aus dem ewigen Eis härter werden arbeiten müssen, er will Freitag, 20.15 Uhr, Vox im Westen lernen, er ist bereit, ins Risi- Bohren ist nicht nur beim Zahnarzt ko zu gehen, und eröffnet einen Markt- eine unangenehme Anglegenheit. Die stand und einen eigenen Laden. Aber strammen Boys und Girls, die auf der obwohl er und seine Frau hart arbeiten, ZDF Antarktis-Station Morpheus 1 nach Öl können sie nach anfänglichen geschäft- Neubauer, Max Herbrechter in „Einmal …“ suchen, machen in diesem kanadisch- lichen Erfolgen den wirtschaftlichen luxemburgischen Thriller (1999) noch Niedergang nicht aufhalten: Durch die kitten. Tränen fließen, Illusionen zer- viel schlimmere Erfahrungen. Denn Abwicklung des traditionsreichen Mo- brechen, Kinderseelen bekommen statt des schwarzen Goldes entsteigt torradwerks MZ sinkt die Kaufkraft in Wunden, die nur schwer vernarben. ein Vorzeit-King-Kong dem Bohrloch, Zschopau, Schützes müssen Stand und Wer einmal Himmel und retour fährt, saugt Menschen aus, stiefelt durchs Laden aufgeben und kämpfen seitdem unternimmt, zeigt der Film, eine an- ewige Eis und glupscht gefährlich aus mit einem kleinen Transportunterneh- strengende Lebensreise.

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Container-Stars*: Vom schwulen Multimedia-Designer und der aufgetakelten Blondine bis zum rockenden Kfz-Schlosser ist alles dabei

REALITY-TV Big Schotter Unter die Dusche steigen die Frauen lieber im Bikini, und Sex gibt es auch nicht. Die neue Staffel von „Big Brother“ ist dennoch ein Erfolg und treibt den neuen Primitivkult auf die Spitze. Politiker und Medienwächter haben vor den hohen Quoten kapituliert.

iner hat es schon vorher gewusst: halten sich prompt, wie es ihre Macher von siert – Marion hatte einem Mitbewohner le- „Stripperin prallt auf Ärztin“, titelte ihnen erwarten: Schon am zweiten Abend diglich den Kopf massiert. Eprophetisch die „Bild“-Zeitung Tage gibt’s Zoff. Weil sich die Nackttänzerin Ma- So ist die neue deutsche TV-Idylle. Von vor dem Start von „Big Brother 2“. Und rion zu sehr den Jungs widmet, verlässt außen ein Container neben Mietshäusern, der Grund wurde auch gleich mitgefeiert: Denker-Steffi entnervt den Raum. Kohlfelder und „Gallhöfer – alles für Dach „Intellekt trifft Sex“. Auch die Aussprache im Schlafzimmer und Fenster“ gegenüber, Fabrikschlote und Es ist wieder so weit, Deutschlands um- kurz darauf bringt keinen Frieden. „Wenn Güterbahnhof in Sicht. Und drinnen: Harry strittenstes TV-Programm prallt wieder aufs dir was an mir nicht passt, dann sag mir’s schnarcht, Daniela und Hanka erraten Publikum. Seit vorvergangenem Samstag sofort ins Gesicht, dann sind die Fronten Sternzeichen, und im Hof, da gackern die hausen zwölf neue Bewohner abgeschottet geklärt“, keift die Stripperin. „Dazu bist du Hühner. im Container-Knast von Köln-Hürth; und mir gar nicht wichtig genug“, gibt die Ärz- Millionen wollen das sehen. Über 20 die Nachfolger von Sladdi und Alex ver- tin kühl zurück. Dabei war fast nichts pas- Prozent Marktanteil erzielte RTL II bis Donnerstag vergangener Woche Manager de Mol: Milliardenumsatz dank „Big Brother“ bei der Zielgruppe der 14- bis 2. Staffel Beginn 16. September 49-Jährigen, am Mittwoch toppte 26 Auftaktsendung auf RTL er sogar das Champions-League- Spiel Leverkusen–Lissabon auf 24 RTL. Um die Spannung zu stei- 22 gern, haben die deutschen Statt- 20 Startvorteil halter der niederländischen Pro- duktionsfirma Endemol ein feines 18 „Big Brother“, RTL II, täglich Kuriositätenkabinett der unter- 16 20.15 Uhr, Marktanteile in Prozent, zum Vergleich Zuschauer 14 bis 49 Jahre schiedlichsten Charaktere mon- 14 1. Staffel tiert. Mehr Kommerz und mehr 12 Beginn 1. März 10 Einzug 1. Tag2.3.4.5.* Links: Ebru, Walter; Mitte: Harry (vorn, Mit- bewohner); rechts: Daniela, Frank. M. JUNG / LAIF der spiegel 39/2000 ENDEMOL (li. u. re.); RTL (M.) Show, so lautet die Devise für das um- von Talkshow und Daily Soap mit der trägt, übertrifft das selbst die Talkshow- strittene Format. Schlüssellochperspektive des Containers. Themen von „Vera am Mittag“: „Wenn du Das Kalkül von „Big Brother“-Erfinder Man kann es auch so deuten: Die Be- reitest“, sagt Marion, „rutscht dir der Slip John de Mol geht bislang auf. Noch im Ja- wohner haben in ihrem Leben zu viel fern- in die Rinne, dann schwitzt du und holst dir nuar wollten Medienwächter und Politiker gesehen. So kommt es, dass sie ihr Reden einen Wolf.“ die Sendung am liebsten verbieten; Ber- und Handeln den Akteuren von Seifen- Für solche Highlights braucht es weder telsmann platzierte das Format mit spitzen opern und Talkshows abschauen und sich Talkmaster noch Busladungen voll Klatsch- Fingern in seinem Nischensender RTL II. dabei noch für authentisch halten. Das publikum im Studio. Es funktioniert von Doch inzwischen wurde das Programm für führt dann häufig zu hemmungslosem Ge- allein – wenn das Casting stimmt. Und da den Deutschen Fernsehpreis nominiert, der schimpfe im Stil der täglichen Quasselrun- haben sich die Produzenten selbst über- am 7. Oktober verliehen wird. Und die den. Oder zu jenen Endlos-Diskussionen troffen. Die aus 70000 Bewerbern auser- RTL Group, Bertelsmanns TV-Ableger, darüber, wer wen gerade irgendwie echt wählten Bewohner bilden eine feine Aus- geht aufs Ganze, macht die Reality-Show mag oder nicht, wie es bei „Gute Zeiten, lese – vom schwulen Multimedia-Designer zum Zugpferd seiner Fernsehsender. schlechte Zeiten“ üblich ist. und der aufgetakelten Blondine bis zur Neben der täglichen Zusam- Türkin und dem rockenden Kfz- menfassung des Containerlebens Schlosser mit sechs Kindern, der auf RTL II läuft die Wochenshow nach 13 Jahren Ehe seine Frau zur besten Sendezeit samstags einfach gegen die seines besten abends auf RTL, wo auch jeden Freundes getauscht hat. Sonntag „Family & Friends“ der „Das ist wie früher auf dem Bewohner zu Wort kommen. Jahrmarkt, wo in den Schaubu- Nachts gibt es dann noch ein den Schlangenmenschen, Pyg- Fernsehquiz, und Hardcore-Fans mäen und Frauen mit Bärten können das Geschehen in einem ausgestellt wurden“, sagt Fern- digitalen TV-Kanal der Telekom sehproduzent Markus Peichl, oder im Internet rund um die der Reality-TV schon vor fünf Uhr verfolgen und dort wetten, Jahren nach Deutschland holte wer den ersten Sex hat. Höchst- und damals mit seiner Serie

gewinn: 250000 Mark. H. KAISER / DDP „Das wahre Leben“ nur im Bislang allerdings geht es Bewohner Daniela, Hanka: Wetten, wer den ersten Sex hat Pay-TV-Sender Premiere Platz züchtig zu. Nicht einmal nackt fand. duschen wollten zumindest die weiblichen Das ist genial, einfach und funktioniert Jetzt ist die Zeit reif für die perfekte Per- Bewohner – die blonde Fränkin Daniela ohne teure Drehbücher, Storyliner und version. Fast alle einst verbotsvernarrten stieg mit Sonnenbrille und Stars-and- Headwriter: Wenn der 23-jährige Walter, Politiker und Medienwächter haben vor Stripes-Bikini unter Duschkopf und Ka- Medizinstudent und DJ aus Kärnten, bei dem Erfolg von „Big Brother“ kapituliert. mera. Und statt heißer Orgien im Holz- der türkischen Ebru in die Vollen geht, sei- Die hohen Quoten haben die Intellektuel- bottich auf dem Hof nervte dort bisher nur nen Kopf auf ihren Schoß legt und: „Ich lenkritik des Feuilletons in den Hinter- Barkeeper Christian seine Mitbewohner hatte erst zwei Beziehungen, und du?“ grund gedrängt. mit der Frage, wer schwul ist. Die Fans schmachtet, wirkt das echter als jede Fol- Es ist auch der Sieg einer neuen Ju- warten auf mehr. ge von „Verbotene Liebe“. gendkultur: Die Kids haben die Unter- Der Erfolg der Sendung ist einfach er- Und als Marion (Hobby: „Western-Rei- gangspropheten des Abendlandes einfach klärt: „Big Brother“ vereint die Vorzüge ten“) erklärt, warum sie nie Unterwäsche zur Seite geschoben – zuerst durch mas-

der spiegel 39/2000 139 Medien senhafte Klicks im Internet, dann vor dem Bildschirm und schließlich im Plattenla- den. Und das weltweit: Zum Beispiel nach Amerika, Spanien und Schweden hat En- demol sein Container-Programm expor- tiert; vor allem dank „Big Brother“ er- wartet das Unternehmen in diesem Jahr einen Umsatzsprung auf über eine Mil- liarde Mark. In Deutschland hat vor allem ein Mann davon profitiert, RTL-II-Chef Josef An- dorfer. Noch vor kurzem als „Herr der Tit- ten“ (Stefan Raab) seines Schmuddelsen- ders belächelt, doziert er heute über Haupt- und Nebenfiguren „im antiken Dra- ma“ und dessen Bezüge zu „Reality-For- maten im 21. Jahrhundert“. Besser noch – sein TV-Programm hat den Aufstieg in die erste Fernsehliga ge- schafft und glänzende Gewinne eingefah- ren. Auf über 55 Millionen Mark schätzen Branchenkenner die Netto-Werbeeinnah- men von „Big Brother 1“ – bei Produk- tions- und Lizenzkosten von rund 30 Mil- lionen Mark. Sogleich hat Andorfer seine Preise erhöht, fast dreimal so viel wie beim ersten Durchlauf, knapp 3,6 Millionen Mark, zahlt etwa der Online-Broker Fima- tex als Hauptsponsor. Big Schotter: Über 30 Millionen Mark Umsatz macht allein das Musikgeschäft aus der ersten Staffel. Songs wie Zlatkos „Ich vermiss dich wie die Hölle“ oder sein Duo mit Kumpel Jürgen „Großer Bruder“ bescherten den ausgeschiedenen Contai- ner-Künstlern sogar Goldene Schallplatten. Da ist es nur konsequent, wenn Jürgen, ein Feinblechner, demnächst sein jüngstes Lied („Ich bin da“) in Günther Jauchs Quizshow „Wer wird Millionär?“ vorstel- len darf. Und so ist es auch sehr verständlich, dass Endemol-Marketingchef Christian Rott- mann schon heute die Sangeskünste der neuen Bewohner beklatscht: „Harry ist der geborene Musiker“, sagt er, nachdem der dicke Altrocker gleich zu Beginn auf der Gitarre seinen Container-Blues zum Besten gegeben hat. Weil die Neuen im Haus die Karrieren ihrer Vorgänger kennen, sind beim Musi- zieren alle eifrig dabei. Nur das Repertoire („Über den Wol- ken“, „Ein Bett im Kornfeld“) ist wohl noch etwas dünn. Und vielleicht ist Ma- rion mit ihrem Statement noch etwas voreilig: „Unser Container-Blues ist der beste Song, der je produziert wurde“, sag- te sie. Marketingstratege Rottmann jedenfalls hat schon „einige Begabungen“ im Con- tainer ausgemacht und analysiert bereits deren Verwertung für die Zeit danach. Gut möglich, dass dann auch Marion und Stef- fi zusammen die Charts stürmen, denn die Ärztin und die Stripperin haben sich nachts im Flüsterton („Scheiß doch drauf, ich war bescheuert“) längst wieder ver- tragen. Frank Hornig

140 der spiegel 39/2000 DPA B. FRAATZ B. FRAATZ „Deutschlandspiel“-Szene*, Kohl, Gorbatschow (im Kaukasus, 1990): „Als Bettvorleger gesprungen, als Tiger gelandet“

DOKUMENTATIONEN len. „Deutschlandspiel“ bleibt nicht bei der bekannten Ikonografie der Straße mit spitzhackenbewehrten Mauerspechten und „Es war knapp, sehr knapp“ jubelnden Massen stehen, sondern holt die Politiker zurück ins Geschehen. Vor allem Honeckers Fall, Maueröffnung, Ringen um Einheit – das ZDF aber: Er hält sich an die Fakten. Bis auf Margaret Thatcher – die ehema- vertreibt mit dem Doku-Drama „Deutschlandspiel“ Pathos lige britische Premierministerin verharrte und Heldenlegenden aus der Erinnerung an die Wiedervereinigung. germanophobisch im Schmollwinkel – bringt der Film alle noch lebenden Haupt- lf Jahre sind nun schon fast vergan- akteure von damals mit Statements vor die gen, aber wie wenig vermag die Zeit Das „Deutschlandspiel“ Kamera: einen sichtlich aufgeräumt und Egegen die Macht der Gefühle. Der wird von der Redaktion Zeitgeschichte im unverkrampft wirkenden Helmut Kohl Kloß entsteht jedes Mal aufs Neue im Hals, ZDF produziert. Der erste Teil des Doku- ebenso wie Michail Gorbatschow oder Ex- wenn die Bilder von den weinenden Men- Dramas behandelt die Zeit vom Niedergang US-Präsident George Bush. Natürlich feh- schen erscheinen, die am 9. November, in des Honecker-Regimes bis zur Maueröff- len weder Egon Krenz noch Hans Modrow der Nacht der Nächte, von Osten nach Wes- nung, der zweite die Zeit bis zur staatlichen und Günter Schabowski, die letzten ten durch die Mauer strömen. „Wahnsinn“ Wiedervereinigung. Gesendet Mohikaner der untergehenden hieß das meistgebrauchte Wort jener Tage. werden beide Teile hintereinan- DDR. Auch ein Handlanger Wahnsinn, das war nicht nur die Maueröff- der an diesem Freitag auf Arte, des Regimes, Fritz Streletz, der nung. Wahnsinn waren ebenso der jähe Ein- Stabschef der NVA, ist mit Beginn: 20.45 Uhr. Im ZDF ist der sturz des SED-Regimes, das rasante Tempo von der Partie. Er nutzte die der Vereinigung und die überwältigende erste Teil am kommenden Mon- Haftzeit in bundesrepublikani- Erfahrung von Glück in der an Glücks- tag, 2. Oktober, der zweite am schem Gewahrsam dazu, sei- momenten raren deutschen Geschichte. 3. Oktober, jeweils um 20.15 ne Aussagen für Blumenbergs Weinend, jubelnd, staunend, kopfschüt- Uhr, zu sehen. Film auswendig zu lernen, und telnd – die meisten Deutschen wussten da- seine überdeutliche Ausspra- mals nicht, wie ihnen geschah, und viele che verrät das. wissen es auch heute noch nicht. Das Sen- Dem Hamburger Regisseur Höhepunkt des ersten Teils timent betäubte das Fragen: Hat sich das und Autor Hans-Christoph Blu- („Auf die Straße!“) ist die kru-

Volk die Einheit selbst erkämpft, oder ist es menberg, 53, gelang wahr- PRESS ACTION de Geschichte der Maueröff- Helmut Kohl gewesen? War alles Zufall, scheinlich das Fernsehereignis Regisseur Blumenberg nung – Historie als großes Ver- oder hat sich bloß die Logik der Ökonomie des Jahres. Und dies nicht nur An Fakten gehalten sehen mit einem vorpreschen- durchgesetzt? Haben die Siegermächte des deshalb, weil das „Deutsch- den Sprecher Schabowski und Zweiten Weltkriegs die Einheit gewollt landspiel“ virtuos Fiktion und historische einem desorientierten Krenz: Pat und Pata- oder in einem Moment der Schwäche ge- Realität verschmilzt – das haben Doku- chon machen Geschichte. gen ihre eigentliche Absicht zugelassen? Dramen von Heinrich Breloer auch schon Hochrangig ist das Ensemble der in- Es reicht heute nicht mehr aus, dass das getan. terviewten ehemaligen Berater – eine Fernsehen die Tränen, den Wahnsinn und Blumenberg schafft das Kunststück, den bunte Parade von Hinterzimmerkrokodi- die Gefühle noch einmal beschwört. Das Stoff deutsche Vereinigung von teutoni- len, Schlitzohren und emsigen Strippen- ZDF erreicht mit dem zweiteiligen Doku- scher Gefühlsschwere zu befreien, ohne ziehern. Drama „Deutschlandspiel“ zum Gedenken sich über Emotionen lustig zu machen. Er Horst Teltschik, Kohls Mann hinter den an zehn Jahre Wiedervereinigung auch den verzichtet auf jegliche pseudo-hegeliani- Kulissen, kann sich im „Deutschlandspiel“ Verstand. sche Schlaumeierei, der zufolge alles so selten ein Lächeln verkneifen, vor allem kommen musste, wie es kam. Er führt den wenn er schildert, wer die Regierung Zuschauer an die Weggabelungen der Ge- Kohl nach der Maueröffnung dazu brach- * Mit Gorbatschow-Darsteller Udo Samel, Elert Bode als Gorbatschow-Berater Anatolij Tschernjajew, Teltschik- schichte und lässt ihn die Unsicherheiten te, den Zug Richtung Wiedervereinigung Darsteller Udo Schenk, Lambert Hamel als Kanzler Kohl. mit den damals handelnden Personen tei- in Bewegung zu setzen: Es waren aus-

der spiegel 39/2000 141 Medien gerechnet die Russen. Der Kreml hatte den siert: als von seiner eigenen Würde ergrif- Deutschland-Experten Nikolai Portugalow fenen Staatsmann, der nicht Nein sagen zu Teltschik geschickt. kann, weil er Harmonie und Zustimmung Der Russe, ganz Schlange im diplomati- wie die Luft zum Atmen braucht. schen Geschäft, sprach mit einer gespalte- Nicole Heesters gibt die britische nen Zunge: Offiziell beharre die Sowjet- Schreckschraube Maggie ebenso überzeu- union auf der Zweistaatlichkeit Deutsch- gend wie Jean-François Balmer den Präsi- lands, inoffiziell sehe das anders aus. denten Mitterrand: einen näselnden, leicht Teltschik war elektrisiert, der Kanzler beleidigten und vor sich hin bramarbasie- überrascht, zumal der spätere Baumeister renden Pharao. Peter Ustinov, mit briti- der deutschen Einheit über keine politi- schem Humor, macht aus der Rolle des sche Strategie verfügte. Gleichsam über stellvertretenden Sowjetbotschafters in der Nacht entwickelten Kohls Getreue ein DDR ein Kabinettstück: Sein ironisches „Zehn-Punkte-Programm“, einen noch un- Spiel entlarvt die Weltfremdheit der russi- bestimmt gehaltenen Fahrplan Richtung schen Diplomatie, wie sie sein Vorgesetz- deutsche Einheit, und überfuhren mit die- ter Wjatscheslaw Kotschemassow (Peter sem Fait accompli alle: die westlichen Ver- Fitz) aufs Sturste repräsentiert. bündeten ebenso wie die Koali- tionsgenossen von der FDP. Wie der von Sowjets zum Ja- gen getragene Kohl, beginnend mit seinem Besuch bei Modrow in Dresden – das Ost-Volk schwenkte schwarzrotgoldene Fahnen –, die DDR mit einer un- vergleichlichen Mischung aus Jovialität und machtbewusster Entschlossenheit erdrückt, zeigt Blumenbergs Film im zweiten Teil („Eilig Vaterland!“) ohne Häme, aber voll unübersehbarer Ironie. Der Elefant verzichtet auf Vorsicht vor dem letzten Porzellan im Saftladen DDR. Später bei seinem Besuch im Februar in Moskau sind es wie- der die Russen, die Kohl über- raschen. Gorbi gesteht am Ver- handlungstisch überraschend den Deutschen das Recht zur staatlichen Einheit zu. Kohl und Teltschik, völlig verdutzt, las- sen Gorbatschow diese Aus-sage wiederholen, und Portu- galow kommentiert das dort

Geschehene: „Kohl sprang als A. KAISER / G.A.F.F. Bettvorleger und landete als Maueröffnung 1989: Historie als Versehen Tiger.“ Denn nun treibt der deutsche Kanzler mit raubkatzenartigem Und eine Enthüllung liefert Blumenberg Instinkt die Einheit voran und erreicht auch: Ex-Kreml-Berater Falin spricht mit schließlich in den Zwei-plus-Vier-Verhand- geheimnisvollem Flüsterton von einem lungen die Entlassung Deutschlands aus später gescheiterten Putschplan gegen Gor- den Fesseln der Weltkriegsniederlage in batschow. Der sollte bei einem Besuch in die volle Souveränität. der DDR verhaftet werden. Beim Kampf um die Zustimmung zur Das Schlusswort haben die Sieger des Nato-Mitgliedschaft des geeinten Deutsch- Zweiten Weltkriegs: Sergej Achromejew, land kratzt Blumenberg am Denkmal Kohl: Marschall der Sowjetunion, dargestellt von Die Russen gaben ihren Widerstand nicht Michael Mendl, gibt sich gegenüber der erst, wie der Kanzler den Medien glaub- dunkelhäutigen US-Beraterin Condollezza haft machen wollte, beim „Strickjacken“- Rice (die sich auch in den fiktiven Szenen Treffen im Kaukasus auf, sondern lange selber spielt) resignierten Überlegungen vorher im Oval Office des Weißen Hauses hin: Nun habe die Sowjetunion den Beu- in Washington. telohn des Zweiten Weltkriegs verloren. Bestechend wirkt, wie die Schauspieler Wie gut, dass alles ohne Gewalt abgegan- des „Deutschlandspiels“ die historischen gen sei. Aber: „Es war knapp, sehr knapp“, Personen ausfüllen: Lambert Hamel ist stimmen Amerikanerin und Russe überein. Kohl wie aus dem Leib und Gemüt ge- Und im Film weht der Rührhauch Holly- schnitten. Udo Samel spielt Gorbatschow woods: Ende gut, alles gut. so, wie ihn sein Geheimdienst charakteri- Nikolaus von Festenberg

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zweite, von Robert Musil, eine ironische Prophetie der postmodernen Medienge- ZEITSCHRIFTEN sellschaft, überzeugte so sehr, dass man den Autor, einen genialen Typen, glatt als Redakteur der neuen Zeitschrift verpflich- Sigrids Welt ten müsste – wenn er denn verfügbar wäre. Das war auch schon der literarische Nach ihrem spektakulären Rückzug aus dem „Literarischen Höhepunkt des Abends. Nachdem Sigrid Löffler, zwölf Jahre lang Mitglied des „Li- Quartett“ präsentierte die Kritikerin Sigrid Löffler in terarischen Quartetts“, das 26-zeilige Edi- Berlin ihr neues Bücher-Journal „Literaturen“. Von Reinhard Mohr torial noch einmal vom Zettel abgelesen und sicherheitshalber hinzugefügt hatte, er Auftrieb in der „Bar jeder Ver- schlussfähigkeiten“ sucht, dabei „geheime man wolle „Schwieriges leicht machen und nunft“ in Berlin-Wilmersdorf, mit- Trends“ entdeckt und durch „überra- Leichtes ernst nehmen“, begann der un- Dten in einem Zentralorkan der schende Querbesetzung“ einen „neuen Stil terhaltsame Teil des Abendprogramms im hauptstädtischen Party- und Spaßgesell- kritischen Denkens“ etabliert – freilich Dialog mit Lachs und Grünem Veltliner. schaft, war gewaltig. Ein halbes Dutzend nicht ohne die „Vernetzungen und Durch- Doch schon der erste Blick auf das weiß- schwarzweiß gekleideter dienstbarer Geis- lässigkeiten der heutigen Welt zu erkun- gräßlich-grau-verrätselte, schmutzfarbene ter umschwärmte, noch unter freiem Him- den“ und offen zu sein für alles Neue: Titelbild – ein blassblaustichiges Halb- mel, die mehreren hundert Gäste mit Pro- „Lust-“ statt Pflichtlektüre. gesicht hält ein ausgeschnittenes Papier- secco und Amuse-gueules, bevor drinnen Bevor all dies Wunderbare sich vollzie- männchen zwischen Daumen und Zeige- die Tabletts voller Köstlichkeiten – vom hen konnte, las der Schauspieler Ignaz finger, darunter der Frontpage-Brüller „Die edlen Minisüppchen in weißen Terrinchen Kirchner noch rasch zwei kleine Texte; der Erfindung des Ostens“ („Geistige Kolo- über Gambas im Bierteig nien des Westens“) – er- bis zu feinsten Petits Fours munterte manch Unbefug- – in schier unendlichem ten zu ersten frechen Defilee aufgetragen wur- Kommentaren. den. Motto: Weh dem, der Im kleinen Kreis extem- schon zu Hause aß. porierte etwa Kultur- Doch nicht „Der Fein- staatsminister Michael schmecker“, die Zeitschrift Naumann schon mal eine für den aufgeklärten Gau- Titelblattkritik als brillante men, feierte vergangene Reich-Ranicki-Parodie aus Woche eine rauschende der geistigen Sakkotasche. Relaunch-Party – es war Und tatsächlich – wer das die Premiere von „Litera- Heft zur Hand nimmt, hat turen“ („Das Journal für den von Seite zu Seite sich Bücher und Themen“; festigenden Eindruck, Si- 152 Seiten, schwarzweiß, grid Löffler wolle mit 12 Mark, herausgegeben ihrem neuen Projekt sämt- vom Friedrich Berlin Ver- liche Ressentiments be- lag, in dem auch die stätigen, die die lesende Branchenblätter „Theater Männerwelt im Allgemei- heute“ und „Opernwelt“ nen und der Meister erscheinen). des „Literarischen Quar- Ins Scheinwerferlicht tetts“ im Besonderen seit des österreichischen Fern- je gegen sie hegte (und die sehens trat Sigrid Löffler, letztlich auch zum Zer- 58, Chefredakteurin der würfnis geführt haben). monatlich erscheinenden Jetzt darf sie ganz allein „Literaturen“ – ein Auf- bestimmen – als eine Art

tritt wie der eines Kanz- DPA Alice Schwarzer der lite- lerkandidaten auf dem „Literaturen“-Chefin Löffler: „Lust-“ statt Pflichtlektüre rarischen Öffentlichkeit. Wahlparteitag. Und das rächt sich. Das literarisch-kulturel- Sigrids Welt ist vor al- le Berlin war nahezu kom- lem das Resultat einer plett angetreten, um die philosophischen Anstren- gute Nachricht nach dem gung. Was sie in ihrem Skandal, der bösen Cau- Antrittsartikel als Feuille- sa Löffler/Reich-Ranicki tonchefin der „Zeit“ 1996 (SPIEGEL 32/2000), zu volltönend prophezeite – vernehmen – die Ge- den Abschied von der burt eines Literaturorgans „Spaßkultur“ –, hier ist’s (Druckauflage: 80000), das vollbracht: Humorlosig- als „Medium der Ent- keit und sinnliche Askese schleunigung“ über die „herkömmliche Kritik hin- * Am 15. August 1997 in Salzburg mit Sigrid Löffler, Wendelin Schmidt- aus“ nach „Navigation“, PRESS ACTION Dengler, Marcel Reich-Ranicki und „Bündelung“ und „An- ZDF-Sendung „Literarisches Quartett“*: Alle Ressentiments bestätigt Hellmuth Karasek.

146 der spiegel 39/2000 Werbeseite

Werbeseite Medien sind Programm (selbst die mageren nicht durch Pointierung, Bril- Schrifttypen erfordern absolute Nüch- lanz und Meinungsfreude auffal- ternheit, leicht glasige Rotwein-Augen len, sondern so schreiben, als an langen Winterabenden haben hier hätten sie bei der Arbeit keine Chance). am Schreibtisch hinter Milch- Und in der 150-seitigen Bleiwüste glasscheiben gesessen. geht auch alles andere unter, was eine Man möchte das Fenster anspruchsvolle literarische Zeitschrift, aufreißen, frische Luft her- gar noch mit angelsächsischen Vor- einlassen und jenen ein- bildern („The New York Review of geführten politisch-literari- Books“, „The New Yorker“, „The schen Periodika Abbitte leis- Times Literary Supplement“), aus- ten, denen das Glück en- zeichnen müsste: Esprit, Polemik, intel- thusiastischer Leserscharen lektuelle Debattenfreudigkeit, kurz: Lei- auch nicht immer hold denschaft für Literatur und Politik, In- ist: „Lettre International“, telligenz und Leichtigkeit – von „Erotik“ „Merkur“, „Kursbuch“, selbst im allerweitesten Sinne gar nicht „Sinn und Form“, „Ak- zu reden. zente“, „Neue Rundschau“, Stattdessen überzieht eine diffus multi- „Literaturen“-Rezension: Ermüdendes Sammelsurium „Text+Kritik“,„Edit“, „Hunds- kulturelle Weichzeichnerprosa politischer post“, „Moosbrand“, „Schreib- Korrektheit die grauen Seiten, deren Be- laden voller Bücher, gut gemeint und un- heft“ und andere Exotica des Geistes- bilderung kongenial ist: Kein bisschen lenkt verbindlich: ein Serviceunternehmen für lebens. sie von der Langeweile der Texte ab, jener die alphabetisierten Stände, Kaufempfeh- Hanna Leitgeb, eine von drei Redak- wohlgebildeten Biederkeit und Treuher- lung inklusive. Einen „alten roten Eimer“ teuren – der vierte feste Mitarbeiter der zigkeit, die man in Deutschland gern mit nannte die „FAZ“ im ersten Lektüre- Redaktion, Michael Maar, wird im Im- Ernsthaftigkeit verwechselt. Schock metaphorisch Löfflers „Medium pressum als „Konsulent“ geführt –, for- Trotz aller Versuche, mit Schwerpunkt- der Entschleunigung“, doch ein roter Ei- muliert in ihrer Besprechung der Autobio- themen – der „Osten“, „Polen“ (Buch- mer ist immerhin rot. „Literaturen“ aber ist grafie des palästinensisch-amerikanischen messe!) –, mit Schriftstellerporträts, lite- grau, und das liegt, schlimm genug, nicht Schriftstellers Edward Said womöglich das rarischen Reportagen und Essays Struktur nur am Layout. geheime Leitmotiv von „Literaturen“: Die und Abwechslung zu entfalten, präsentiert Es liegt auch an den überwiegend zweit- westliche Kultur der Moderne habe in sich das Heft wie ein einziges ermüdendes klassigen Rezensenten und Autoren, die, ihren Texten „immer schon den Anderen Rezensions-Sammelsurium, wie ein Bauch- anders als Löfflerseits versprochen, eben konstruiert und auf ein Negativbild des Ostens“ zurückgegriffen, „um sich selbst Straße geflohen (bevor ei- zu definieren“. nige von ihnen selbst Pro- Postkoloniale Identität – ein Begriff fessoren wurden), doch kehrt zurück. „Wie kommen Sie als enga- „Literaturen“ will sie alle gierte algerische Schriftstellerin damit zu- wieder einfangen. recht, die Sprache der ehemaligen Besatzer Mindestens 50000 Käu- benutzen zu müssen?“, wird die diesjähri- fer und noch mehr Leser ge Friedenspreisträgerin des Deutschen will man erreichen, lauter Buchhandels, Assia Djebar, gefragt, die seit Orientierungsbedürftige, die Jahrzehnten in der Weltsprache Franzö- den „Salon auf dem Pa- sisch schreibt. pier“ (Redakteur Jan Bür- Ein Hauch von Uni-Seminar durchweht ger) erwartungsvoll betreten das Löffler-Journal, ideologische Versatz- und mit unverbrauchter Be- stücke aus den achtziger Jahren – jener geisterung medientheoreti- fernen Epoche, als der typische weiße sche Reflexionen aufsaugen, protestantische Mittelklasse-Mann des die etwa um die Antwort auf Westens von den stolzen Erfinderinnen der die Epochenfrage kreisen, „Gender Studies“ entdeckt und für das warum man Literatur im weltweite Unheil verantwortlich gemacht Fernsehen braucht. wurde. „Literaturen“-Schwerpunkt Osten: Kritische Duftmarke Originalton Hubert Win- Doch hier geht es gar nicht um eine kels: Die Frage „setzt voraus, streitbare intellektuelle Position – es geht das man an der Jahrtausendwende, o wie dass Literatur, dass die literarische Schrift um eine Duftmarke, um ein Label, das kri- so trügerisch, längst hinter sich glaubte: ein Mittel ist, die audiovisuelle Dominanz tischen, kosmopolitischen Geist simulieren Ich verwende den Ausdruck in einem all- der gesellschaftlichen Kommunikation er- soll, wo nur Geschwurbel ist. gemeineren Sinn, um einen Akt der Kom- kennbar und kritisierbar zu machen“. Im Essay von Homi K. Bhabha kommt es munikation zu beschreiben, durch den Eine andere Antwort scheint schon klar: zu sich selbst. Der in Indien geborene, po- die Wiedergabe von Themen, Geschichten Angesichts solcher „Lustlektüre“ (Löffler) litisch korrekt als „anglisierter postkolo- und Aufzeichnungen Teil eines dialo- wird manch radikal entschleunigter „Lite- nialer Migrant“ annoncierte Professor für gischen Prozesses wird, der den ver- raturen“-Leser schnell zur Fernbedienung Anglistik, proklamiert tapfer „Das Recht wandelnden Charakter des menschlichen greifen, zu den Literaturbeilagen der zu erzählen“. Dabei versteigt er sich zu ei- Handelns enthüllt. großen Tageszeitungen und Magazine – am nem unerträglich redundanten, pseudo- Vor diesem Seminargeschwafel sind Ende gar zum guten Buch. theoretischen O-Welt-O-Mensch-Gewese, ganze Studentengenerationen auf die Ein klarer Fall von Selbstnavigation. ™ Werbeseite

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Werbeseite • 7. Globale Politik

• 7.1. Staat und Demokratie • 7.2. Die Zukunft Europas • 7.3. Großmächte – oder Weltregierung? • 7.4. Erwachende Supermacht Indien • 7.5. Konflikte, Kriege, Terroristen

BÜRGERGESELLSCHAFT DAS GLOBALE RATHAUS Noch nie war die Demokratie so angesehen wie heute. Neue Wege politischer Mitsprache müssen erkundet werden. Wird das Internet zum transnationalen Entscheidungsforum für „Netzbürger“? Von Claus Leggewie

eit den Tagen von Ronald Reagan shows klingt, so ist doch das Ansehen der Mitte der siebziger Jahre enorm gestiegen, und Margaret Thatcher verbreitet Parteien und politischen Eliten im Keller; kaum jemand propagiert den radikalen sich nicht nur in Europa die Mei- die Wahlbeteiligung liegt seit Jahren im Systemwechsel. Mit anderen Worten: Nie- Snung, der Staat löse kein, sondern Abwärtstrend. Parteien und Verbände mals in der Geschichte war die liberale De- sei selber das Problem. leiden an Überalterung und Mitglieder- mokratie so angesehen wie heute, und Manche Massenmedien – die zur Ver- schwund, auch die neuen sozialen Bewe- zwar weltweit. schlechterung der Stimmung erheblich bei- gungen für Frieden, Frauenrechte und Um- Dass Islam und Demokratie unverein- getragen haben – sinnieren über Poli- weltschutz sehen mittlerweile alt aus. bar seien und der asiatische Weg einzig tikverdrossenheit oder beklagen ein Staats- Doch eines ist ausgeblieben: der Anse- über autoritäre Staatsmacht führe, wider- versagen. Das Resultat zeigt sich im letzten hensverlust der Idee der Demokratie. legen eindrücklich die Demokratiebewe- „World Values Survey“: Wenn auch alles Nicht nur ist die Zahl der demokratisch re- gungen von Dakar bis Djakarta. Als jüngst nicht so dramatisch ist, wie es in den Talk- gierten Länder in mehreren Wellen seit Peruaner gegen Alberto Fujimori demon-

152 der spiegel 39/2000 * Am27. Julivor demPräsidentenpalast. nischer Pseudo-Individualismus, derdie fentlichen einzy- Belangen ab,esgrassiert le Bürger gelangweilt oderfrustriert von öf- spruch. Abwanderung undkonstruktiver Wider- zeigt eingespaltenes sich Bild– destruktive den etablierten undneuenDemokratien Lobgesang alleinkommt weit. mannicht In wohl zuschätzen. weiß mandieseErrungenschaften sehr keine demokratische Öffentlichkeit gibt, werden, wo esauchkeine freie Presse und Wahlergebnisse verfälscht oderignoriert keine Versammlungsfreiheit besteht, wo Ostblock schonzurLastfällt–dort,wo worden ist undNeulingen imeinstigen ten imalten Westen zurGewohnheit ge- cracia! Was müdenZuschauerdemokra- einziges forderndes Wort Demo- stand: auf, aufdeminriesigen Lettern nurein palast inLimaeinblutrotes Transparent strierten, zogen sievor demPräsidenten- Auf dereinenSeite wenden sichzuvie- Demokratie, deinLiedsinge ich?Mit

AFP / DPA nimmt zu Netzwerken lockeren politischen Mitwirkung in Die Bereitschaft zur in NewYork Lima*, Uno-Gebäude Bürgerprotest in schaften schließt,diebeiBedarf prakti- man überBierundPizzaauchBekannt- gemeinsamden, nicht imKegelclub, wo kegeln, abermeistalleinodermitFreun- bezeichnet: Heute gehe manzwar häufiger Erosion mitdemSlogan„Bowling alone“ vard-Politologe Robert D.Putnamhatdie politicus, wiewirihnkannten. DerHar- vonkündet einemArtensterben desHomo Haider aufgesammelt. wirdfühlt, von Nationalpopulisten wieJörg Boom undSpaßkulturausgeschlossen Unterhaltungskonzerne, undwer sichvon und zumSpielplatzunter derRegie großer wird zumMarktplatz derNew Economy trägt Früchte: Diedemokratische Agora Die jahrelange Rhetorik derPrivatisierung Axt andieWurzeln desPolitischen legt. kannten“ wie wirihn politicus, des Homo Artensterben kündet vom der Jungen friedenheit „Die Unzu- Die Unzufriedenheit gerade derJungen der spiegel 39/2000

T. WEGNER / LAIF Deutschland. Deutschland. mismus in Rechtsextre- wicklung des mit derEnt- befassen sich lichungen Veröffent- reiche seiner Gießen. Zahl- Universität der senschaft für Politikwis- am Institut ist Professor wie, 50, Claus Legge- Jungbrunnen des„Dritten Sektors“, einen unter derdeutscheBundeskanzler)den versinken sehen,entdecken andere (dar- sozialer AnomieundpolitischerApathie ten diemodernen Gesellschaften schonin seits deseigenen Kirchturms. Wo Pessimis- lidarisches Handelnfreigesetzt, auchjen- lator ausgemacht, undso- habeMitgefühl Fernsehen, von vielenalsderGroße Iso- Bürger-Netzwerke getreten, undselbstdas undlockerenen seienSelbsthilfegruppen Lücke der ausgezehrten Vereinstraditio- und hochangesehenen Politikern. Indie goldenen Fünfziger mitloyalen Bürgern politischer Einsatzfreude. auch die(immerschonknappe)Ressource den des„sozialenKapitals“ schrumpfe schen Gemeinsinnüben.MitdemSchwin- Kritiker verwerfen PutnamsIdylle der der Demokratie mitderErosion senhaft schwarzfahren? entrichten undauchnichtmas- und Wehrdienst leisten, Steuern wiegend dieGesetze beachten bilen Demokratien ganzüber- trachten, zumalsiegerade insta- heute erheblich skeptischer be- Völker ihre gewählten Vertreter tet. Dennwen störtes,wenn die sich inderTat nichtbewahrhei- Demokratien sprachen, haben Unregierbarkeit derwestlichen in densiebziger Jahren von einer rabiatem Marktegoismus. und Staat schen fürsorglichem kreativen Zwischenraum zwi- Dass derTriumph derWerte Die düsteren Prognosen, die

R. UNKEL 153 • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie

Greenpeace-Protest Wird das Gewissen

delegiert? M. SCHRÖDER / ARGUS ACTION PRESS ACTION STEPHANE / GAMMA / STUDIO X / STUDIO / GAMMA STEPHANE Rechtsradikale, Protestaktion in Seattle (1999): „Stoibers Idee einer Internet-Polizei wird ewig unvergessen bleiben“

des Vertrauens in ihre repräsentativen In- unser schlechtes Gewissen an „Assoziatio- kommt ohne digitale Hilfsmittel bald nicht stitutionen einherging, irritiert vor allem nen ohne Mitglieder“ (so die Harvard- mehr aus. das politische Establishment, dessen Re- Politologin Theda Skocpol) delegieren, tre- Internet, dein Lied singe ich? Das putationsverlust weitgehend selbst ver- ten Greenpeace, Amnesty International soll Marktschreiern der Info-Elite überlas- schuldet ist. Umfragen bestätigen weltweit und andere Nicht-Regierungs-Organisatio- sen bleiben. Bei erfahrenen Praktikern den Aufstieg der kritischen Bürger. Von nen als mediale Präsentanten an die Stelle und wissenschaftlichen Beobachtern der staatstragender Seite als Bedrohung der parlamentarischer Repräsentan- Online-Kommunikation herrscht Demokratie ausgemacht, bilden sie in ten, gibt es überhaupt einen Ernüchterung vor: Demokratie Wahrheit ihre eigentliche Hoffnung. Ausweg aus der passiven Zu- „Beispiele für fährt auf der Datenautobahn viel- Der „Zyklus von Abwanderung und En- schauerdemokratie? subversiven leicht auf der Standspur mit, und gagement“, wie es der Ökonom und So- Manche, allen voran der online kommunizieren überwie- ziologe Albert O. Hirschman nennt, dreht US-Präsidentschaftskandidat Al Gebrauch des gend jene Profis, Virtuosen und sich weiter. Doch allzu häufig werden En- Gore, sahen im Internet eine Netzes gelten Political Junkies, die das, aus gagierte nachhaltig frustriert. Neue Wege neue athenische Demokratie Pflicht oder Neigung, auch „off- bürgerlicher Beteiligung müssen erkundet heraufziehen, mit direkter Bür- als Stern- line“ zu tun pflegen. Das Netz- werden, da mitgliederstarke Großparteien gerbeteiligung und digitaler stunden der Medium hat die klassischen Ver- aussterben und Massenaufmärsche keinen Volksabstimmung. Nach den Demokratie“ mittler und Türsteher nicht über- Zuspruch mehr finden. Umfragen und Stu- Wissenschaftlern, der Unterhal- flüssig gemacht, vielmehr wird es dien verbieten den pauschalen Schluss, tungsbranche und dem E-Busi- von ihnen gerade entdeckt – und „die Jugend“ sei unpolitisch geworden, ness ist auch die Politik ins Netz gegangen: übernommen. Digitale Politik-Netzwerke vielmehr kristallisieren sich das Bedürfnis Via Computer werden regional und welt- drohen die Teflonpfanne des Cyberspace nach und die Bereitschaft zur Mitwirkung weit Abstimmungen abgehalten und Wahl- zu werden, in dem Netzbürger höchstens in lockeren politischen Netzwerken her- kämpfe geführt, rücken Bürger und Ver- noch eine Nische ausfüllen. Das geringe aus, die nur der klassischen Parteien- waltung in virtuellen Rathäusern auf einen Interesse im Vorfeld der „Icann“-Wahlen demokratie paradox vorkommen müssen, Mausklick zusammen. im Oktober 2000, immerhin den ersten als individualisierte Bewegungen und in- Seit auch eine große Zahl Print- und weltweiten elektronischen Wahlen zu einer formelle Organisationen. Broadcastmedien online sind, hat sich transnationalen Verwaltungsinstanz, die Um solche zu formieren und zu mobili- der politische Meinungs- und Willensbil- den Internet-Verkehr regeln soll, belegt, sieren, spielt politische Kommunikation dungsprozess ein gutes Stück in den Cy- wie schwer die Wandlung von „Usern“ zu eine herausragende Rolle. Die elektroni- berspace verlagert. Davon sind alle Berei- „Netizens“ ist und dass Politisches in den schen Medien, die Parteien und Schulen in che des Politischen berührt – der Kampf neuen Medien per se keine größere Rolle Sachen politischer Information und Bil- um die Macht ebenso wie die Ausgestal- spielen wird als in den alten. dung längst den Rang abgelaufen haben, tung einzelner Politikfelder und die Aus- Wer gehofft hatte, die Technologie wer- erzeugen ein Gefühl allseitigen Involviert- einandersetzung um Normen und Institu- de der Demokratie neues Leben einhau- seins, das bei den Überinformierten jedoch tionen der Verfassungsordnung. Es geht chen, ist (heilsam!) enttäuscht worden. Die einen schalen Nachgeschmack hinterlässt: hier nicht mehr allein um symbolische demokratische Kapazität der Neuen Me- Man weiß über so gut wie alles Bescheid – Prämien für Modernität („Ich bin drin“), dien kann kaum höher sein als die „Off- und kann doch so wenig tun. Müssen wir auch harte Entscheidungskommunikation line“-Bereitschaft zu politischem Engage-

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Werbeseite • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie AP Wahl übers Internet*: Bürger und Staat rücken auf einen Mausklick zusammen

ment, und die ist heute gleich unter einen schaften wie der Europäischen Union bei doppelten Stress geraten. weitem übersteigen. Dieser real geworde- Demokratien legitimieren sich, indem nen Weltgesellschaft fehlt das Pendant ei- eine kritische Masse aktiver Bürger an der ner transnationalen Demokratie. Willensbildung und Entscheidungsfindung Improvisierte Expertenherrschaft und mitwirken kann, zum anderen dadurch, symbolische Gipfeldiplomatie treten an de- dass sie mit den Resultaten po- ren Stelle, und wo national ge- litischen, hier vor allem staatli- wählte Volksvertreter überhaupt chen Handelns mehrheitlich zu- „Chinas Ver- an Entscheidungen beteiligt sind, frieden sind. Zusammengehal- such, Brand- stecken sie in derart langen Legi- ten werden Beteiligungs-Input timationsketten, dass kaum zu und Effizienz-Output durch die mauern gegen erkennen ist, wer eigentlich für politische Gemeinschaft, die in unerwünschte was genau zuständig, verant- aller Regel national begrenzt ist. wortlich und, im Zweifelsfall, re- Nationalstaat und Demokratie Informationen chenschaftspflichtig ist. Hinzu kamen Ende des 18. Jahrhun- aufzurichten, kommt, dass der anachronistisch derts weitgehend zur Deckung, wird scheitern“ gewordene „Souverän“ – etwa und der nationale Kommunika- bei Gen- und Biotechnologien – tionsraum deckte sich mit der heute Entscheidungen trifft, die demokratischen Öffentlichkeit, während Kinder und Kindeskinder noch auf unab- darüber hinausreichende, kosmopolitische sehbare Zeit tangieren werden und im Belange stets zusätzlicher Begründung be- Übrigen durch gegenteilige Entscheidun- durften und schwerer zu vermitteln waren. gen anderswo zu umgehen sind. Auch wenn Demokratie also inklusiv an- In dieser Entkoppelung von Nation(al- gelegt ist: Mit dem Einschluss der eigenen staat) und Demokratie liegt das eigentliche Bürger ging ein Ausschluss fremder ein- Dilemma demokratischer Politik, das man her. Doch weltumspannende Problemlagen weder protektionistisch (ob rot oder – etwa knappe Kollektivgüter wie sau- braun) unterlaufen noch mit Medien- bere Luft und grenzüberschreitende Risi- inszenierung übergehen kann. Multi- ken wie nukleare Strahlung – sowie die mediapolitik – man sieht es gerade am hilf- transnationalen Wirtschaftsaktivitäten von losen Versuch, „braune Seiten“ aus dem Unternehmen, Banken und Börsen, haben Internet auszusperren – ist eher ein Teil mittlerweile Verhältnisse geschaffen, die des Problems namens Globalisierung, zu das Handlungsrepertoire nationaler Staa- dessen Lösung die neuen Medien gera- ten und selbst supranationaler Gemein- de aufgerufen werden. Als bloße Mittel zum Zweck sind sie überfordert, aber auf * Bei den Vorwahlen der Demokraten in Sun City dem Weg zur „transnationalen Demo- (Arizona) im März dieses Jahres. kratie“ ist es eben nicht ganz belanglos,

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Werbeseite • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie H. MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS / AGENTUR H. MÜLLER-ELSNER

Cybersport, bayerischer Schützenverein Praktischer Gemeinsinn bei Bier und Pizza K. MÜLLER / DAS FOTOARCHIV / DAS K. MÜLLER wie politische Kommunikation zuge- kation global erweitert und lokal Schulterschluss mit der Start-up- schnitten ist. verdichtet werden und neue „Der freie Szene. Im Hause Schily (Inneres Und hier hat das Internet einiges in pet- Öffentlichkeiten und Gemein- Zugang zu Wis- & Verfassung) soll unter dem to. Das Fernsehen, das einmal erheblich schaften schaffen, womit auch Stichwort „staat-modern.de“ die zur politischen Information und Bildung eine inklusivere Variante von sen ist durch Verwaltung verschlankt werden, beigetragen hat, wird als bloßes Verteil- Globalisierung erkennbar wird. die Privati- aber bisher wurde versäumt, auch medium (von einem Sender an viele Emp- Das sind Lichtblicke des Net- die Räume offen zu halten, die fänger) den Ansprüchen kritischer Bürger zes und nicht zu unterschätzen- sierung der den Informations- und Bildungs- nicht mehr gerecht. Deren interaktive Ver- de Vorgriffe auf ein künftiges Medien ernst- auftrag des öffentlich-rechtlichen netzung, das (eigen)ständige Umpolen von Netzbürgertum. Auf der Kehr- Rundfunks und der politischen Sendung auf Empfang ist ein Grundmerk- seite liegen Webseiten vom Typ haft bedroht“ Bildung netzgerecht in eine mul- mal des Internet, das alle bekannten Kom- „www.heil-hitler.de“, Grauen er- timediale Zukunft überführt. Das munikationswege bündelt und in der Sum- regende Politiker-Chats und stümperhafte Haus Bulmahn (Bildung & Wissenschaft) me als „individualisiertes Massenmedium“ Homepages, das Dauergeschwätz von schließlich entfacht, ganz auf vermeintliche anspruchsvollen Politiknetzwerken am Freaks und Wanderpredigern in einem Da- US-Vorbilder fixiert, eine Materialschlacht, nächsten kommt. tenmeer, in dem navigationslose Bürger indem es die Bildungseinrichtungen in einer Neben der (bislang wenig ausgeschöpf- herumklicken oder sich angewidert ab- Weise mit Hardware bombardiert, wie wei- ten) Interaktivität der Multimedien faszi- wenden. Schwerer wiegt aber die Koloni- land realsozialistische Fünfjahresplaner niert die virtuelle Grenzenlosigkeit. Der sierung durch die Unterhaltungskonzerne, Stahl ausschütteten. Versuch der chinesischen Führung, Brand- die bewährtes Infotainment und klassisches Offenhaltung des Zugangs und kritische mauern gegen unerwünschte Informa- PR-Geschwätz einspeisen. Die Eigenheiten Medienkompetenz heißen die Aufgaben tionen aufzurichten, wird genauso fehl- des Internet, die in der Szene unter den der Multimediapolitik. Für Demokratien schlagen wie das Abmontieren von Satel- Stichworten Open source, copyright/copy- ist es alles andere als belanglos, wie sie die litenschüsseln durch iranische Mullahs. left und MP3 gehandelt werden, werden bestehende Wissenskluft verringern und Beispiele für den subversiven Gebrauch der wohl auch die „task forces“ nicht verstehen, den „digital divide“, daheim wie in der neuen Medien gibt es mittlerweile viele, die Parteien und Politiker einrichten und Weltgesellschaft, überwinden können. als Sternstunden auch der Demokratie: Der das Internet zur „Chefsache“ (Edmund Doch der freie Zugang zu Wissen ist durch serbischen Opposition dient es ebenso wie Stoiber) erklären. Der Einfall des bayeri- die Privatisierung der Informationsmedien den Zapatistas in Mexiko und streikenden schen Ministerpräsidenten, eine internatio- bereits ernsthaft bedroht, kommerzielle Hochschülern in Deutschland, der grenz- nale Konferenz zu Internet und Politik mit Wissensportale zerstückeln die Wissens- überschreitenden Mobilisierung zu Tagun- der Ankündigung einer „Internet-Polizei“ Allmende, die gerade mit den neuen Me- gen von WTO und IMF genau wie dem lo- zu zieren, wird ewig unvergessen bleiben. dien wachsen und gedeihen sollte. Auch kalen Widerstand gegen Österreichs „Frei- Zu dieser politischen Unterentwicklung die politische Öffentlichkeit gerät im Be- heitliche“. Dank niedriger Transaktions- trug auch die hiesige Multimediapolitik bei, zahlfernsehen ins Abseits und droht im di- kosten verschafft Online-Kommunikation bei der die eine Hand nicht weiß, was die gitalen Breitbandangebot zu verschwin- auch jenen Aufmerksamkeit, die schwer andere tut. Im Hause Müller (Wirtschaft & den. CyberPublic statt Pay-Politics – das oder keinen Zugang zu den Massenmedi- Technologie) eifert man den Leitvorstellun- Netz muss wieder politischer und endlich en haben. So kann politische Kommuni- gen des E-Commerce nach und sucht den intelligenter werden. ™

der spiegel 39/2000 161 • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie AKG Römischer Senat*: „Es gab eine direkte Rückkopplung von Entscheidung, Wirkung und Debatte“

SPIEGEL-GESPRÄCH „WIR MISCHEN UNS EIN“

Wird die Demokratie der Zukunft elektronisch? Bestsellerautor DOUGLAS ADAMS glaubt fest daran. Die Menschen seien nur unfähig, den Wandel schon zu erkennen.

SPIEGEL: Mister Adams, Sie sehen das In- haben Recht, es macht keinen Welt werde immer so bleiben, ternet als Lebenselixier für die Demokra- großen Unterschied, ob ich ei- „Es wird wie sie heute ist. Das, was Sie als tie. Ist das nicht etwas übertrieben? nem Abgeordneten einen Brief Heulen und Chatroom verspotten, ist doch Adams: Ganz und gar nicht. Die Ge- oder eine E-Mail schreibe. Die nur die gegenwärtige Erschei- schwindigkeit, mit der sich alles in der Frage ist aber, ob wir in Zukunft Zähneklappern nungsform der Technik. Darin Netzwelt bewegt, gibt uns erstmals die überhaupt noch Abgeordnete geben, wenn den Endpunkt der Internet-Ent- Chance, jeden Missstand sofort zu disku- brauchen. Ich bin vor kurzem wicklung zu sehen, ist so, als ob tieren und für Abhilfe zu sorgen. Das hat nach Kalifornien umgezogen, die Politiker Sie Anfang des letzten Jahrhun- es in der Geschichte noch nicht gegeben. und da ist mir aufgefallen, dass an Macht derts das Auto betrachtet und SPIEGEL: Aber bricht denn gleich eine neue ich alle persönlichen Dinge in mich gefragt hätten: Glauben Sie Ära an, wenn man eine E-Mail an seinen Internet-Geschwindigkeit erle- verlieren“ wirklich, dass wir eines Tages alle Abgeordneten schreiben kann? digen kann – ein Haus kaufen, in solchen Blechkisten auf Rä- Adams: Sie machen sich nicht klar, wie ein Konto einrichten, meine Tochter zur dern sitzen werden? Auch da wäre meine enorm und schnell der Wandel vor sich Schule anmelden. Alles, was dagegen mit Antwort gewesen: Nein, aber die Technik geht. Vor fünf Jahren wussten wir kaum, Regierung und Verwaltung zu tun hat, voll- wird sich weiterentwickeln. was das Internet ist. Es geht uns wie mit zieht sich in geradezu geologischen Zeit- SPIEGEL: Wie muss sich denn das Netz ent- dem Gesicht, das wir jeden Morgen im maßstäben. wickeln, damit Regierungen überflüssig Spiegel sehen. Erst wenn wir ein altes Foto SPIEGEL: Sie prophezeien also eine Art di- werden? betrachten, fällt uns auf, wie sehr es sich rekte elektronische Demokratie ohne Poli- Adams: Wir haben doch heute nur deshalb verändert hat. Das Internet verändert nicht tiker. Wird dann von Chatrooms aus regiert? diese Art von Regierungsapparat, weil nur die Art, wie wir kommunizieren. Sie Adams: Spüre ich Ironie in der Frage? Das unsere Möglichkeiten, miteinander zu ist typisch. Obwohl wir nur einen halben kommunizieren, bisher so langsam und Schritt zurückzutreten brauchen, um die ineffektiv waren. Wir brauchten diese * Fresko im Palazzo Madama von Cesare Maccari, 1888. Das Gespräch führten die Redakteure Hilmar Schmundt enorme Geschwindigkeit des Wandels zu Hierarchien, um überhaupt irgendetwas und Jürgen Scriba. überblicken, glauben wir doch alle, die organisiert zu bekommen. Inzwischen

162 der spiegel 39/2000 U. GRABOWSKY GRABOWSKY U. Verwaltung in Deutschland: Entscheidungen in geologischen Zeitmaßstäben

zu beschäftigt, um sich um Lokalpolitik zu ich Geld? –, desto stärker beeinflussen wir kümmern. Wir sahen die Politiker immer die Entwicklung. Wir sind heute schon so als Menschen, die nichts Besseres zu tun daran gewöhnt, uns vor Anschaffungen in haben, als in endlosen Ausschussberatun- elektronischen Diskussionsforen wie „Epi- gen zu sitzen. Aber inzwischen gibt es im- nions.com“ Rat zu holen, dass wir gar

REUTERS mer mehr Möglichkeiten, seine Meinung nicht mehr merken, wie isoliert wir früher Wahlkampf in den USA zu sagen und sich einzumischen, ohne in waren. Alle vier Jahre ein Kreuzchen Parteiversammlungen zu hocken. Bei der SPIEGEL: Aber ist diese Art von Verbrau- elektronischen Demokratie geht es wirklich cherberatung ein Modell für politische Wil- nicht darum, nur alle vier Jahre ein Kreuz- lensbildung? haben wir aber viel mehr Regierungsap- chen, das man bisher auf den Wahlzettel Adams: Auf dieselbe Weise haben die Grie- parat, als wir eigentlich brauchen. Es wird gemalt hat, anzuklicken. chen die Demokratie erfunden. Die Bürger eine dramatische Verschlankung der Re- SPIEGEL: Wie könnte diese Entwicklung trafen sich im Forum, sagten ihre Meinung gierungen geben – genauso, wie es in den denn aussehen? großen Konzernen passiert ist, die gemerkt Adams: Jeder Ökonom kann Ihnen be- Douglas Adams, haben, dass viele der Strukturen, die einst stätigen, was für eine noch nie da gewese- 48, erlangte für die Funktionsfähigkeit einer Firma ne wirtschaftliche Macht wir als Konsu- Kultstatus mit nötig waren, heute überflüssig und hin- menten heute ausüben. Wann immer wir seinem mehr- derlich sind. Das war in der Industrie ein ein Supermarktregal entlanggehen und bändigen Roman schmerzhafter Prozess, und auch in der entscheiden, ich kaufe dieses, das – das „Per Anhalter Politik wird es Heulen und Zähneklappern lasse ich liegen, versucht das System, un- durch die Gala- geben, wenn viele Leute feststellen, dass sere Wünsche zu ergründen. Früher be- xis“, dessen sie nicht mehr so viel Macht haben wie obachteten Marktforscher mit Listen die Kino-Verfilmung früher. Kunden, heute gibt es elektronische Kas- bevorsteht. Der SPIEGEL: Würden Sie sich denn, anstatt sen, und das Internet macht das Kaufver- Computerfan Bestseller zu schreiben, die Zeit nehmen, halten noch detaillierter sichtbar. Wenn baut nach dem elektronisch über die Zuschüsse für Hal- Sie Fleischprodukte bestimmter Herkunft Vorbild des dort lenbäder und die Pflege von Grünanlagen nicht kaufen wollen, wird es dazu führen, beschriebenen mitzubestimmen – alltäglichen Kleinkram, dass diese Waren nicht importiert werden. fiktiven Reisefüh- den jetzt der Verwaltungsapparat von Ih- Jede dieser kleinen Entscheidungen hat rers ein Internet- nen fern hält? einen Einfluss darauf, was in der Welt der Portal auf.

Adams: Vor meinem Umzug nach Kalifor- Ökonomie geschieht. Und je mehr wir uns M. HUGHES nien habe ich in Islington gewohnt, einem dieses Einflusses bewusst sind, desto wäh- Londoner Stadtteil, der für seine extrem lerischer werden wir – in allen Bereichen. „Es wird eine dramatische Ver- linke Politik bekannt ist. Diese Politik hat- Je mehr unser Leben im Internet stattfin- schlankung der Regierungen geben te mit der Meinung der Mehrheit der Be- det und unsere Entscheidungen messbar wohner nicht besonders viel zu tun, aber werden – auf welche Schule schicke ich – genau wie in den Konzernen“ die meisten, die dort leben, waren einfach mein Kind, welcher Organisation spende

der spiegel 39/2000 163 • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie

Staatszeremonie*, Internet-Café in Teheran Regieren aus dem Chatroom? D. GORDON / KATZ / AGENTUR FOCUS / AGENTUR D. GORDON / KATZ KAZEMI / SAFIR und debattierten. Sie fassten Beschlüsse, Adams: Nehmen wir das Beispiel der So- an seine Grenzen stoßen lassen. Bis ein und wenn sich herausstellte, dass die Ent- zialhilfe. Ich glaube, alle sind sich einig, Führer gedruckt ist und im Laden liegt, ist scheidung nicht den gewünschten Effekt dass die Gesellschaft Menschen, deren Le- er ungefähr ein Jahr alt, also veraltet, und hatte, gab es neue Debatten und neue Ent- ben aus dem Lot geraten ist, helfen sollte, bis Fehler korrigiert werden, dauert es scheidungen. Die Zahl der beteiligten Bür- wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Rech- wieder ein bis zwei Jahre. Im Internet ist ger war klein genug für eine direkte Rück- te Politiker argumentieren, zu viel Hilfe das ganz anders. Wenn es irgendwo einen kopplung von Entscheidung, Wirkung und führe dazu, dass die Sozialhilfeempfänger Fehler gibt, wird jemand ihn finden und Debatte. auf Kosten der Gesellschaft ohne eigene korrigieren, und wenn die Information SPIEGEL: Und das Internet ermöglicht die Anstrengung leben. Linke Politiker pran- immer noch nicht korrekt ist, wird jemand Rückkehr zum griechischen Forum? gern an, dass es menschenunwürdig sei, anders es besser wissen. Allein durch die Adams: Der Mensch lernt durch Rück- Bürger in Armut leben zu lassen. Zumin- Auswertung der Daten, wie Benutzer sich kopplung. In einer kleinen Dorfgemein- dest in England lässt sich gut beobachten, durch eine Website klicken, lässt sich schaft kann jeder sehen, welche Folgen wie die entsprechenden Regelungen von herausfiltern, welche Informationen nütz- eine Entscheidung hatte; er kann Fehler einem Extrem ins andere umschlagen, weil lich sind und welche überflüssig. Das schnell korrigieren und daraus für die die Reaktion des Regierungsapparats auf Netz ist wie ein Regenwald, in dem sich in nächste Entscheidung lernen. Daraus ent- Missstände so langsam ist. Ich habe kein einer Art Evolution die beste Lösung steht eine politische Reife der Patentrezept, aber ich bin sehr durchsetzt. Bürger. Man lernt, dass man optimistisch, dass sich dann, SPIEGEL: Glauben Sie, dass auch die elek- nicht einfach ein Gesetz fordern „Das Netz wenn eine Entscheidung, die von tronische Demokratie durch Evolution statt sollte, um seine persönlichen ist wie ein der Mehrheit gewollt ist, schnell durch Planung entsteht? Wünsche zu erfüllen, weil so ein in die Tat umgesetzt und genau- Adams: Absolut. In dieser Evolution steckt Gesetz auch Folgen haben kann, Regenwald, so schnell korrigiert werden eine enorme Kreativität. Alles entwickelt die man nicht wollte. Dieser in dem die kann, solche Probleme allmäh- sich als Reaktion auf das, was schon da ist. Prozess funktioniert nur, wenn lich lösen lassen. Wenn es erst einmal einen rudimentären die Rückkopplung schnell ist. Evolution die SPIEGEL: Ihr Internet-Projekt Restaurantführer für Berlin gibt, wird je- Unser heutiges politisches Sys- beste Lösung „h2g2“ funktioniert nach einem mand hineingucken und sich fragen, „War- tem hat so lange Zeitkonstan- hervorbringt“ ähnlichen Prinzip. Es ist eine Art um ist dieses Restaurant drin, und nicht ten, dass manche Entscheidun- Reiseführer durch das Leben und das?“ Dann kann er das ändern. So ent- gen erst wirksam werden, wenn das Universum, in den Leser steht auch die elektronische Demokratie – das Problem, das sie beheben sollten, eigene Tipps hineinschreiben oder Artikel durch Zusammenarbeit. Früher haben wir längst ein anderes ist – als ob wir in einem aktualisieren können. Soll das einmal eine uns immer beklagt, „Warum berichtet das Haus leben würden, dessen Heizung die Art Demokratie-Portal werden? Fernsehen nicht mal darüber? Warum in- Temperatur erst ein halbes Jahr später än- Adams: Gut möglich. Vielleicht werde ich teressiert sich niemand für dieses, warum dert, nachdem wir am Thermostaten ge- in meinem Alter noch zum Revolutionär. tun die nicht mal etwas gegen jenes?“ Im dreht haben. So ein Haus ist im Sommer Reiseführer sind ein gutes Beispiel da- Internet gibt es nicht mehr dieses Wir und überheizt und im Winter eiskalt. für, wie lange Reaktionszeiten das System „Die da“. Es gibt nur noch ein großes Wir. SPIEGEL: Aber führt die reine Geschwin- SPIEGEL: Mister Adams, wir danken Ihnen digkeit zu klügeren Entscheidungen? * Beim Bürgermeister der City of London. für dieses Gespräch.

164 der spiegel 39/2000 Werbeseite

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Werbeseite • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie

Flüchtlingslager in Ruanda P. LOWE / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MAGNUM LOWE P.

STAATSMACHT SEGEN DER ANARCHIE

Staaten und Städte im Zerfall – in vielen Ländern der Dritten Welt zerbricht die staatliche Ordnung zur Anarchie. Lokale Waffenhelden übernehmen die Macht.

frika? Nie wieder. Das Resümee, mit tatorische Regime den Men- zwischen Sahara und Kap tobt dem Keith Richburg nach drei Jah- schen ihre Würde rauben“. „Das Elend Matata. Das ist die Lingala-Uni- Aren seine Arbeit als Afrikakorres- Reporter Richburg musste er- in Westafrika versalvokabel für Krieg, Unru- pondent der „Washington Post“ been- leben, wie in Mogadischu einige hen, Revolution. Und so, wie die dete, ist gnadenlos. „Ich danke Gott“, seiner Freunde gelyncht und wie ist ein Fanal Prognosen stehen, hat die Para- schrieb er, „dass meine Vorfahren als die Toten hinterher von einem für die weit lyse ihr finales Stadium noch Sklaven verschleppt wurden und mir ein johlenden Mob durch die nicht erreicht. Schicksal in diesem Elendskontinent Straßen geschleift wurden. In gehende Die seit über einem Viertel- erspart blieb.“ Monrovia sah er mit an, wie Sol- Auflösung der jahrhundert schwelende Sklerose Wer den Schwarzen Kontinent por- daten mit Donald-Duck-Masken brach Anfang der neunziger Jah- trätieren will, muss viel Schwarz auf seine ihren gefangenen Feinden Arme Völkerfamilie“ re aus, als sich das Sowjetreich Palette tun. Seit Uhuru, wie die Afrikaner und Beine abhackten. An den und damit auch das weltweite den Übergang von der Kolonialära zur Un- Rusumo-Wasserfällen war er während der Netzwerk der sowjetischen Satelliten auf- abhängigkeit nennen, ist es immer bergab Massaker in Ruanda Zeuge, wie Hunderte löste. Nach Moskau entließ auch Washing- gegangen. Sozialprodukt, Lebenserwar- von aufgeblähten Leichen vorbeitrieben. ton seine Drittwelt-Domestiken in die tung, persönliche Freiheiten – alles ist seit Nun wusste er: Dies war nicht sein Land. Selbständigkeit. Jahrzehnten rückläufig. Nein, Uhuru – Kisuaheli für „Freiheit“ Solange ihnen keine Konkurrenten mit Als Keith Richburg nach Afrika kam, – ist kein Erfolgsmodell. In einer Reihe von Weltmachtambitionen drohen, die sie in fühlte er sich wie ein Bub, der auf dem afrikanischen Staaten hat sich die staatliche Schach halten müssen, wollen die Ameri- Dachboden des großelterlichen Hauses Gewalt bis auf krümelige Rudimente auf- kaner in der Dritten Welt auch keine neu- nach Erinnerungen und Schätzen stöbert. gelöst. Andere stecken tief in der Ent- en Bindungen mehr eingehen. Sie sind Als er ging, war er voll Hass auf „die Bru- staatlichung, wie es Zivilisationsanalytiker nicht einmal mehr bereit, erste Hilfe zu talität und die Vergeudung menschlichen nennen. Die alte Ordnung stirbt, doch die leisten. „In Nationen außerhalb unserer Lebens, die Ungerechtigkeit, mit der dik- neue ist noch nicht in Sicht. Fast überall strategischen Interessen“, so hat der Prä-

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Werbeseite • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie N. QUIDU / GAMMA / STUDIO X / STUDIO N. QUIDU / GAMMA GAMMA / STUDIO X / STUDIO GAMMA LIAISON / GAMMA / STUDIO X / STUDIO / GAMMA LIAISON Kongo-Potentat Mobutu, Mobutu-Wagenpark, Unruhen in Kinshasa: Der Hoffnungsträger ist schlimmer als der Schurke, den er vertrieb sidentschaftskandidat der Republikaner, Zellteilung zerfallen und zu neuen Clustern religiösen Spannungen in den gegenwärti- George Bush Jr., erklärt, „sollten wir un- zusammenwuchern. gen Grenzen zu überstehen. sere Truppen nicht mehr schicken, um eth- Genauere Prognosen sind nicht möglich. Der Jubel war einhellig, als der stramm nische Säuberungen oder einen Völker- Denn Globalisierung und weltweite Kri- antikommunistische Kongo-Diktator Mo- mord zu stoppen.“ minalisierung lassen sich nicht synchroni- butu Sese Seko Kuku Ngebendi wa za Ban- Die Bindungsängste sind Ausfluss jenes sieren. ga – zu deutsch: „der mächtige Hahn, der Traumas, das die gescheiterte Law-and-Or- Kaplans Urteil ist kategorisch und kom- alle Hennen besteigt“ – mit Schimpf und der-Operation in Mogadischu bei den promisslos. Der Westen des Kontinents, Schande aus dem Land gejagt wurde. Weil Amerikanern hinterlassen hat. Präsident meint er, werde zurückkehren „zum Afri- sie ihn nicht mehr brauchten, hatten ihn Bill Clinton hatte seine Uno-Friedenstrup- ka des viktorianischen Atlasses“. Das be- auch die Amerikaner zum Schluss fallen pe im März 1994 eilig zurückgezogen, deutet „eine Serie von Küstenhandels- gelassen. Doch seit die Kongolesen von nachdem 18 amerikanische Soldaten bei städten wie Freetown und Conakry, das Laurent Kabila regiert werden, wissen sie, Schießereien mit so genannten Technicals Landesinnere wird, wie Graham Greene was sie an dem eitlen Kleptokraten Mobu- getötet worden waren. Seitdem beteiligen einst beobachtete, leer und unentdeckt“. tu verloren haben. sich die Vereinigten Staaten nicht mehr an So global und total wird es nicht kom- Es hat sich gezeigt, dass der Hoffnungs- militärischen Uno-Operationen in Afrika. men. Aber das Gesetz der Serie ist deutlich träger noch schlimmer ist als der Schurke, Die europäischen Nato-Partner sind dem zu erkennen. In Somalia, Liberia, Sierra den er vertrieb. „Bürgerpräsident“ Mobu- Beispiel der Amerikaner gefolgt. Sie ha- Leone, Angola und in beiden Kongos ist tu hat im Kongo geplündert und gewütet ben dem Völkermord in Ruanda, dem 1994 Kaplans Vision Wirklichkeit. Und anders- wie die Dreifaltigkeit von Pest, Aids und über eine halbe Million Menschen zum Op- wo geht der Trend in dieselbe Richtung. Ebola. Aber er war auch Garant für eine fer fielen, tatenlos zugesehen. Die nordat- Selbst die Regionalgroßmacht Nigeria, die bescheidene politische Stabilität. lantische Wertegemeinschaft ließ in West- sich in westafrikanischen Krisen forsch als Laurent Kabila ist nicht nur Plünderer, und Zentralafrika einen flächendeckenden Ordnungsmacht aufspielt, hat kaum Aus- sondern auch Killer. Gleich in den ersten Horror zu, den sie viel leichter als den im sichten, ihre wachsenden ethnischen und Monaten, nachdem er mit Hilfe von Trup- Kosovo hätte verhindern können. pen aus Uganda und Ruanda Robert Kaplan, der begabteste amerika- die Macht in Kinshasa über- nische Untergangsprophet, der jahrelang „Wir sollten nommen hatte, verschwan- per Buschtaxi und zu Fuß durch die Kri- den rund hunderttausend senregionen der Dritten Welt pilgerte, sieht unsere Trup- Flüchtlinge. Sie tauchten nie in dem westafrikanischen Elend ein Fanal pen nicht mehr wieder auf. für „weltweiten demografischen, ökologi- Kabilas Macht beschränkt schen und gesellschaftlichen Stress“ und schicken, um sich heute auf die Hauptstadt für eine weitgehende Auflösung der Völ- ethnische Kinshasa, das Land am Un- kerfamilie. Kaplans Welt am Ende des Säuberungen terlauf des Kongoflusses und 21. Jahrhunderts: ein Glacis von klassischen die Minenprovinzen Katanga

Nationalstaaten und vielen kleinen Stadt- REUTERS zu stoppen“ und Kasai. Die fruchtbare republiken und Schurkenstaaten an der Pe- US-Politiker Bush und reiche Kivu-Region im ripherie, die arhythmisch durch Kriege und Osten hat die Sezession prak-

170 der spiegel 39/2000 Werbeseite

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Werbeseite Nigerianische Metropole Lagos: „Uhuru“ ist kein Erfolgsmodell D. CAINE / CORBIS D. CAINE tisch vollzogen. Der Rest des Formen des Zusammenlebens Riesenreiches ist in Parzellen Sind die eignen. zerfallen, die von lokalen und Kolonialisten Gewaltsame Auseinanderset- regionalen Revolverpotentaten zungen sind – in Afrika ebenso terrorisiert werden. schuld, wie in anderen Weltkrisenregio- Wer ist schuld? Sind die die den nen – nicht mehr so politisch ein- Kolonialisten für das Elend gefärbt wie früher. Im Kalten verantwortlich, die den Konti- Kontinent Krieg konnten sich Rebellen und nent mit Bleistift und Lineal un- unter sich Revolutionäre darauf verlassen, ter sich aufteilten, die zusam- dass sie von der Supermacht, die menfügten, was nicht zusam- aufteilten? ihnen nahe stand, blindlings ali- mengehörte, und auseinander mentiert wurden, solange sie ihre rissen, was besser beisammen geblieben ideologischen Pflichtübungen nicht ver- wäre? nachlässigten. Weil politische Glaubensbe- Wenn das so wäre, dann hätte nicht aus- kenntnisse nicht mehr automatisch mit Waf- gerechnet Liberia die schlimmsten Exzes- fen- und Entwicklungshilfe honoriert wer- se erlebt, einer der zwei afrikanischen Staa- den, müssen sie sich heute selbst versorgen. ten, die niemals kolonisiert waren. Und Ethische Werte wie Selbstbestimmung wenn die vom Imperialismus erzwungene und soziale Gerechtigkeit sind nicht mehr ethnische Zersplitterung schuld wäre, dann selbstverständliche Geschäftsgrundlagen hätte die Republik Somalia, deren Bevöl- von Umsturz und Revolution. Die Hacker kerung zu fast hundert Prozent aus ethni- und Ripper, die den Kongo, Liberia und schen Somali besteht, die solidesten Ent- Sierra Leone ins Inferno stürzten, hatten wicklungsgrundlagen gehabt. Jedoch, das keine weltanschaulichen und zum Teil somalische Staatswesen hat sich unter dem nicht mal politische Motive. Sie wollten Druck der räuberischen Warlords komplett Geld, Schnaps und Sex. aufgelöst. Somalia hat keine Regierung, Es ist die Banalität ihrer Triebkräfte, die keine Justiz, keine auswärtigen Beziehun- die Warlords der Drogen- und Kidnapping- gen mehr – allerdings auch keine Hungers- Industrie in Kolumbien, im Kaukasus und nöte und keinen flächendeckenden Ban- auf den Philippinen mit den somalischen denterror wie früher. Technicals und den haitianischen Tontons- Somalia ist nicht Arkadien. Doch den Macoutes verbindet. Und weil sich die Somali geht es heute besser als in den letz- Krieg führenden kaum noch mit der Zivil- ten Jahren der untergegangenen Republik. bevölkerung solidarisch fühlen, sind die Das Phänomen am Horn von Afrika, das Kriege auch rücksichtsloser und grausa- früher mal ein Staat war, wirft die Frage mer geworden. auf, ob es Völker gibt, die sich besser für Die Regierungen würden es in Zukunft die anarchischen als für die organisierten schwerer haben, ihre Bürger vor Kriegs-

174 der spiegel 39/2000 • 7. Globale Politik • 7.1. Staat und Demokratie M. WOLF / VISUM M. WOLF

Boom-City Schanghai, chinesische Landarbeiter Eine Völkerwanderung erschüttert das Gefüge der Volksrepublik M. SASSE / DAS FOTOARCHIV / DAS M. SASSE

einwirkungen zu schützen, schreibt Robert Erde nicht immun. Die Chinesen generie- postkolonialer Gutbürgerlichkeit, sind in- Kaplan. „Und daran werden viele Staaten ren unablässig grandiosen Fortschritt und zwischen fast ebenso heruntergekommen letzten Endes zu Grunde gehen.“ Er räumt fulminante Wachstumsrekorde. Aber die wie Lagos, Luanda und Lusaka. Ländern wie Aserbaidschan, Syrien, Jor- guten Nachrichten kommen fast alle aus In Südafrika haben sich privilegierte danien und dem Libanon keine Überle- dem China der großen Städte. Das China Stadtflüchtlinge in stacheldrahtumzäunten benschance ein. Davon, so meint er, wür- der Dörfer ist hinter der Entwicklung weit Ghettos verschanzt. Hier können sie, un- den nur Groß-Baku, Groß-Damaskus, zurückgeblieben. behelligt von den Fährnissen des lärmen- Groß-Amman und Groß-Beirut bleiben. Eine viertel Milliarde Menschen ist in den, stinkenden, gewalttätigen Millionen- Von Spaltung bedroht sind nicht nur die den vergangenen 20 Jahren in die Küsten- monsters, ihre Ängste pflegen. kleinen, sondern auch die mittleren und regionen geströmt, weil die Landwirtschaft Solche Luxusenklaven haben sich über- großen „Patchwork-Staaten“, die aus eth- sie nicht ernähren kann und weil Umwelt- all auf der Welt gebildet, wo das Gefälle nischen Fetzen zusammengeflickt sind, Pa- katastrophen weite Landstriche unbe- zwischen Wohlstand und brisanter Armut kistan und Indien zum Beispiel oder Indo- wohnbar gemacht haben. Eine gigantische nicht mehr politisch ausgeglichen werden nesien und die Philippinen. Völkerwanderung, die das Gefüge der kann – in Manila, São Paulo, Los Angeles. Dass der Flickenteppich Pakistan ir- Volksrepublik erschüttert hat. Allein in den Vereinigten Staaten leben gendwann wieder in die Flicken zerfällt, Die Prototypen der „Three D territo- rund acht Millionen Besserverdiener in aus denen die Briten ihn zusammengesetzt ries“ („death, desaster, destruction“) liegen derlei Wohlstandsfestungen. haben, das ist der Lauf der Evolution. Man aber fast alle zwischen Kap und Sahara. Doch die globale Risikogesellschaft müsste das auch nicht beklagen, wenn Pa- Afrika ist ein Kontinent mit alter Chaos- hat starke Bindungskräfte. Die Welt, so kistan nicht Atommacht wäre und wenn Tradition. Neu ist nur: Außer im arabi- heißt es im Entwicklungsbericht der Ver- man nicht befürchten müsste, dass bei der schen Norden, für den ganz andere Regeln einten Nationen, sei dabei, „ein gefähr- Implosion die Nachbarn Schaden nehmen. gelten, gibt es keine Lichtblicke mehr. Die lich ungleicher Ort“ zu werden. Aus die- Gegen die großen gesellschaftlichen Millionenstädte Nairobi (Kenia) und Abi- sem Ort kann man nicht einfach ausstei- Konvulsionen ist auch das größte Volk der djan (Elfenbeinküste), früher Epizentren gen. Erich Wiedemann

IM NÄCHSTEN HEFT: • 7.2. Die Zukunft Europas

Europäische Union: Schmelztiegel und Testlabor Bürgerrechte: „State Watch“ kontrolliert Europas Polizeiabsprachen Essay: Die Arroganz des Westens gegen die beitrittswillige Türkei

SPIEGEL-Gespräch: Estlands Ministerpräsident zur Erweiterung der EU FOCUS / AGENTUR CONTRASTO Europaparlament in Straßburg DIE KAPITEL IN DER ÜBERSICHT: 1. Medizin von morgen 2. Bevölkerungswachstum und knappe Ressourcen 3. Das Informationszeitalter 4. Planet Erde – gefährdeter Reichtum 5. Die Zukunft der Wirtschaft 6. Technik: Werkstätten der Zukunft 7. Globale Politik 8. Die Zukunft der Kultur 9. Künftige Lebenswelten 10. Die Grenzen der Erkenntnis

der spiegel 39/2000 175 Werbeseite

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Werbeseite Panorama Ausland

KALIFORNIEN Zikaden bedrohen Weinberge ie kalifornischen Winzer, die mit DMassenweinen und edlen Kreszen- zen jährlich 12,3 Milliarden Dollar um- setzen, zittern um die Zukunft ihrer Rebstöcke, die derzeit von einer Zwerg- zikade angegriffen werden. Der Glassy- winged Sharpshooter, ein bis zu 1,5 Zentimeter langes Insekt, verbreitet die Piercesche Krankheit, die befallene Weinpflanzen unaufhaltsam verdorren lässt. Zwar trat die Seuche vereinzelt

auch schon früher auf, doch das tücki- AKG sche Invasorenheer verbreitet sie jetzt Gesprengter Hubschrauber in München nach missglückter Geiselbefreiung (1972) flächendeckend, bis auch der letzte Rebstock befallen ist. In Südkalifornien ENTSCHÄDIGUNG sind bereits ganze Lagen zerstört, bis Unglaubliche Fehler ach dem Olympia-Attentat von NMünchen vor 28 Jahren, bei dem elf israelische Sportler nach dem Über- fall eines palästinensischen Terrorkom-

VINVINOLIFE mandos ums Leben kamen, sollen de- Schädling Zikade ren Angehörige möglicherweise doch Entschädigung aus Deutschland erhal- ten. Eine israelische Verhandlungsdele- gation traf sich deshalb vor zehn Tagen mit dem bayerischen Staatskanzleichef Erwin Huber. „28 Jahre ist nichts ge- schehen, es wird Zeit, dass wir die Sache endlich bereinigen“, so der israelische Verhandlungsführer, Präsidialamtschef LIAISON / GAMMA / STUDIO X / STUDIO / GAMMA LIAISON / TELEPRESS PANDIS Betroffenes Weinanbaugebiet Palästinensischer Terrorist nach San Francisco ist das Insekt schon erstmals umfassend dokumentiert. „Alle vorgedrungen. Jetzt liefern die Winzer Welt kann jetzt die unglaubliche Kette

der bekanntesten Weinregionen, Napa A. BRUTMANN der Polizeifehler sehen“, klagt Ankie Valley und Sonoma Valley, dem Schäd- Witwe Spitzer Spitzer, Witwe des bei der Geiselbefrei- ling eine harte Abwehrschlacht. Neben ung getöteten Fechttrainers André Spit- scharfen Kontrollen und Pestiziden Arie Schumer. In einer gemeinsamen zer, „wie können sie sich immer noch kommen auch biologische Waffen zum Kommission mit der Bundesregierung vor ihrer Verantwortung drücken?“ Auf Einsatz. Die Weinbauern legen Nistplät- und der Stadt München will Bayern nun ein Eingeständnis der Fehler werden die ze für Vogelarten an, welche die Insek- prüfen, wie und in welcher Höhe die An- Hinterbliebenen, die vor Gericht bisher ten auffressen sollen, und setzen eine gehörigen unterstützt werden können. vergebens gegen den Freistaat Bayern, Wespenart frei, die bereits die Eier des Bisher hatten die deutschen Stellen jede die Bundesrepublik und die Stadt Mün- gefährlichen Insekts angreift. Hersteller Forderung der Familien zurückgewiesen, chen um Schadensersatz in Höhe von und Wissenschaftler blieben dennoch die den Tod von mindestens neun der elf 14,4 Millionen Mark fochten, warten pessimistisch. Gerade weil in den ver- Sportler dem Versagen der deutschen Si- müssen. „Unsere Gesprächspartner“, gangenen Jahren so viele neue Wein- cherheitskräfte beim Rettungseinsatz an- so Schumer, „haben uns klargemacht: berge angelegt wurden wie nie zuvor, lasten – fatale Pannen, die der Oscar-ge- Wenn Deutschland jetzt zahlt, dann ist fürchten sie eine explosionsartige Ver- krönte Film „Ein Tag im September“ das eine rein humanitäre Geste.“ mehrung des Krankheitsverbreiters.

der spiegel 39/2000 179 Panorama T. MUELLER (li.); MUELLER T. (re.) REUTERS Oppositionspolitiker Toledo, Demonstrationen in Lima gegen Fujimori

PERU SPIEGEL: In erster Linie waren es wohl die Machenschaften seines Geheimdienstchefs Vladimiro Montesinos. Die ruchbar geworde- nen Waffenschiebereien, der im TV gezeigte Bestechungsversuch. „Den Druck erhöhen“ Fujimori fühlte „eine moralische Verpflichtung, zu handeln“. Toledo: Das ist grotesk. Montesinos hat alles für Fujimori getan und Wirtschaftsprofessor Alejandro Toledo, 54, war bei den Präsi- ihn damit in Schwierigkeiten gebracht. Montesinos kaufte gegne- dentschaftswahlen im April Kandidat der Opposition gegen rische Parlamentarier, weil Fujimori trotz seines Wahlbetrugs die Amtsinhaber Alberto Fujimori und hatte überraschend stark parlamentarische Mehrheit verloren hatte. abgeschnitten. Bei der Stichwahl im Mai rief er wegen Wahl- SPIEGEL: Zuletzt konnte sich Fujimori offenbar gegen Montesinos manipulationen des Fujimori-Lagers zum Boykott auf. nicht mehr durchsetzen. Der begehrte auf, als ihn Fujimori des Am- tes entheben wollte. SPIEGEL: Präsident Fujimori will nun das Parlament bitten, seine Toledo: Montesinos ist immer der starke Mann gewesen. Auch jetzt jetzige Amtszeit auf ein Jahr zu begrenzen, und danach die noch. Kein Mensch weiß, wo er sich mit seinen 50 Bodyguards auf- Regierungsgeschäfte übergeben. Auch der Geheimdienst soll auf- hält. Er bleibt, bis jetzt, völlig unbehelligt. gelöst werden. Überrascht Sie das plötzliche Demokratie- SPIEGEL: Fujimori will erst im März wählen lassen und die Regie- bekenntnis? rungsgeschäfte im Juli übergeben. Sie wollen schnelle Neuwahlen. Toledo: Ich glaube nicht an Blitz-Bekehrungen, am allerwenigsten Toledo: Das ist absolut erforderlich, damit das Land nicht im Chaos bei Fujimori. Er ist unter dem Schmutz, den seine Regierung an- versinkt. Wir fordern die sofortige Verhaftung des Geheimdienst- gehäuft hat, zusammengebrochen. Angefangen mit dem Coup des chefs Montesinos, den sofortigen Rücktritt Fujimoris und eine Jahres 1992, über Verfassungstricks und Menschenrechtsverbre- Übergangsregierung unter der Ägide einer neutralen, respektier- chen, bis hin zur letzten Wahl, die er uns gestohlen hat. ten Persönlichkeit für die nächsten vier Monate.

TERRORISMUS „Zerschlagung des gesamten logisti- schen Apparats“. Innenminister Diplomatie um Eta Jaime Mayor Oreja deutete an, die Fusion jugendlicher Separatisten inter der plötzlich so erfolgreichen beiderseits der Grenze zur militan- HZusammenarbeit zwischen spani- ten Unterstützergruppe Haika habe scher und französischer Polizei gegen möglicherweise seinen französischen die baskische Terrororganisation Eta Kollegen alarmiert. Doch den Fran- könnte politisches Kalkül in Paris zosen, die gerade den Ratsvorsitz stecken: Am vorvergangenen Wochen- der EU innehaben, mag es bei ihrem ende waren im französischen Basken- Fahndungseifer vor allem darum ge- land Eta-Führer Ignacio Gracia Arregi, hen, die schwierigen Spanier für den

einer von sechs Mitgliedern des EU-Gipfel von Nizza im Dezember AFP / DPA Exekutivkomitees der Bande, und wei- geneigt zu stimmen. Dort will Präsi- Französische Polizei, verhaftetes Eta-Mitglied tere 19 Waffenspezialisten verhaftet dent Jacques Chirac die Reform der worden – Frucht monatelanger Obser- Institutionen verabschieden. Kernpunkt roristenfang, der die geschwächte Eta vation im Nachbarland. Die spanische ist die breitere Zulassung von Mehr- sofort zu einem Racheattentat auf einen Regierung, die früher wiederholt den heitsentscheidungen. Bislang wollten konservativen Komunalpolitiker am Vorwurf an Paris gerichtet hatte, die die Spanier um jeden Preis am Prinzip vergangenen Donnerstag bei Barcelona Ordnungskräfte würden nur in Marsch der Einstimmigkeit festhalten, durch das veranlasste, könnte Regierungschef Az- gesetzt, wenn man sich von Madrid eine jedoch eine erweiterte EU handlungsun- nar sich aus Dankbarkeit in der EU-Fra- Gegenleistung erwarte, lobte nun die fähig würde. Nach dem wichtigen Ter- ge nachgiebiger zeigen.

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EUROPA INDIEN SPIEGEL: Wer käme da in Betracht? Toledo: Zum Beispiel der Menschenrechtler Dunkle Kanäle Sorge vor dem Jorge Santistevan, der Ombudsmann Pe- rus, der auch im Ausland geachtet ist. egen der am Donnerstag dieser Zerfall SPIEGEL: Die Gefahr eines Militärputsches WWoche in Dänemark stattfinden- besteht wohl nicht, denn das Militär hat den Volksabstimmung über die Ein- it der Bildung von drei neuen seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit führung des Euro hält die Brüsseler MBundesstaaten im Norden, die im erklärt. EU-Kommission etliche heikle Projekte Oktober offiziell in Kraft tritt, hat die Toledo: Ich hoffe, aber alles ist möglich. zurück. So liegt bei der Haushalts- und Furcht in dem Milliarden-Einwohner- SPIEGEL: Welche Rolle kann die Organisa- Betrugskommissarin Michaele Schreyer land vor blutigen Unruhen und Zerfall tion Amerikanischer Staaten spielen? seit Wochen das fertige Konzept für der weltweit größten Demokratie Toledo: Sie sollen die Aufsicht über saube- eine europäische Betrugsstaatsanwalt- zugenommen. Schon verlangen Rebel- re Wahlen übernehmen. Gespräche über schaft in der Schublade, doch aus lengruppen mehr Souveränität inner- ein neues Wahlsystem unter den Parteien Rücksichtnahme auf dänische Empfind- halb anderer Staaten, wie in Assam, moderieren, freien Zugang zu den TV-Sen- lichkeiten darf die deutsche Kommissa- für die sie schon seit Jahrzehnten dern garantieren. Die Liste ist lang. rin ihren Vorschlag nicht veröffentli- kämpfen. Streit droht auch in dem zwi- SPIEGEL: Sind Sie chen. Schreyers europäischer Straf- schen den beiden Atommächten In- sich mit den ande- verfolger, so der Plan, soll nur bei Be- dien und Pakistan umkämpften Krisen- ren Oppositions- trügereien gegen das Budget der gebiet Kaschmir, wo Buddhisten eine parteien darüber ei- Europäischen Union aktiv werden. souveräne Provinz Ladakh fordern. Da- nig, und sind Sie Immerhin fließen von den knapp bei steckt vor allem wirtschaftliches nach wie vor auch 180 Milliarden Mark des EU-Haushalts Kalkül Neu-Delhis hinter der ersten Ge- deren Präsident- jährlich fünf Prozent durch betrügeri- bietsreform Indiens seit 30 Jahren: schaftskandidat? sche Machenschaften in dunkle Kanäle Kleine Verwaltungsgebilde haben sich Toledo: Wir müssen in ganz Europa. Ebenso sollte die neu schnell handeln, pri- zu schaffende Behörde unabhängige Name des neuen vate Investitionen Korruptionsermittlungen innerhalb der Bundesstaats ermutigen und ei- Brüsseler Kommission leiten. Doch PAKISTAN neue Bundesgrenze nen neuen Sozial- das ist durch das bisherige, eng an die plan erstellen. Aber Kommission angebundene Betrugs- UTTARANCHAL CHINA Neu-Delhi zunächst hat die POMPONI / TELEPRESS bekämpfungsamt OLAF in keiner Wei- UTTAR Wiederherstellung Präsident Fujimori se gewährleistet. Die Einsetzung einer PRADESH BIHAR der Demokratie Vor- Europa-Staatsanwaltschaft bedürfte MADHYA rang. Dann reden wir über Kandida- allerdings der EU-Vertragsänderung. PRADESH JHARKHAND turen. Die meisten der Mitgliedstaaten – ins- CHHATTISGARH SPIEGEL: Soll Fujimori hinter Gitter? besondere die kritischen Dänen, BURMA Toledo: Eine unabhängige Justiz soll al- aber auch die deutsche Bundesregie- INDIEN les überprüfen, selbstverständlich auch rung – torpedieren vehement das die Verfehlungen während der Amtszeit Projekt, vor allem aus Angst vor wei- Fujimoris. teren Verlusten ihrer sorgsam gehüte- Golf von Bengalen ten Souveränität.

SRI LANKA 500 km TSCHETSCHENIEN Grosny droht zum Winter eine Hunger- und Kältekatastrophe. Als neuer Part- Separatistischer Kurs ner Moskaus bietet sich der Ende Au- gust bei dubiosen Nachwahlen für als wirtschaftlich effektiv erwiesen. usslands Kriegspolitik im Kaukasus Tschetschenien in die Duma entsandte Die drei Bundesstaaten Chhattisgarh, Rgerät immer mehr in eine Sackgas- Polizei-General a. D. Aslambek Asla- Uttaranchal und Jharkhand werden se. Der vom Kreml im Juni eingesetzte chanow an. Doch selbst dieser in Mos- aus den ökonomisch kranken Staaten Tschetschenien-Verwalter Achmed Ka- kau lebende Diaspora-Tschetschene be- im Norden Madhya Pradesh, Uttar dyrow warf jetzt den russi- scheinigt den Militärs, seine Pradesh und Bihar abgetrennt, die bei schen Militärs vor, ihre „Mas- Landsleute „zu foltern und den Sozialindikatoren Nahrung, Bil- sensäuberungen“ drohten zu vernichten“. Bei einem dung und Gesundheit die schlechtesten Aufruhr unter der Bevölke- Treffen mit Präsident Wladi- Werte vorweisen. Gleichzeitig soll rung hervorzurufen. So erhal- mir Putin forderte er einen das Ungleichgewicht zwischen dem ten die Partisanen Zulauf, Kurswechsel: Aslachanow, kleinsten und größten Staat, 340 zu 1 und immer mehr Tschetsche- der bereits im Frühjahr gehei- (Bevölkerung) und 63 zu 1 (Fläche) nen wenden sich von der zer- me Gespräche mit Vertretern deutlich verringert werden. Trotz strittenen und schlecht ali- der Rebellen führte, befür- aller politischen Bedenken werden in mentierten moskautreuen wortet im Gegensatz zu Putin Indien weitere Gebietsreformen Verwaltung in Gudermes ab. Friedensverhandlungen mit nicht ausgeschlossen, so dass in den Rentenzahlungen bleiben vie- dem 1997 gewählten und nun kommenden Jahren die Zahl der

lerorts seit drei bis vier Mo- X / STUDIO GAMMA im Untergrund lebenden Prä- Bundesstaaten von nun 28 weiter naten aus, im zerbombten Präsident Putin sidenten Aslan Maschadow. steigen könnte.

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USA Woge der Emotionen Sechs Wochen vor den US-Präsidentschaftswahlen wird die ideologische Auseinandersetzung schärfer, der Ton giftiger. Al Gore, in den Umfragen derzeit vorn, konkurriert mit George W. Bush um die Sympathien der amerikanischen Mittelklasse.

as Interview hatte nicht gerade die November um Hollywoods Emmy-Fern- politische Fallhöhe einer Präsi- sehpreise und nicht um den Einzug ins Ddentschaftsdebatte: „Erdnussbutter Weiße Haus. Eine Woche vor Bush hatte mit Marmelade auf Toast“, verriet George auch Demokrat Al Gore auf Oprahs gel- W. Bush über seine Frühstücksgewohnhei- bem Ledersessel Platz genommen und sein ten, bezeichnete mexikanische „Fast-Food- Innerstes nach Außen gekehrt. Tacos“ als Gipfel kulinarischer Vorlieben Dabei kam nicht nur sein Faible für und offenbarte seinen Lieblingssong: Frühstücksflocken zur Sprache („Whea- „Wake Up, Little Suzie“. ties“), ein Hang zu „chinesischem Essen“ Die Enthüllungen während der Oprah- und seine Lieblingsband – die Beatles. Winfrey-Show vergangene Woche sollten Gore verkürzte für die rund 22 Millionen den republikanischen Kandidaten freilich Zuschauer sein politisches Programm auf Wahlkämpfer Gore in Las Vegas, Widersacher nicht als durchgeistigten Politiker vor- den handlichen Begriff „für das Volk, nicht führen, sondern als volksnahen Durch- für die Mächtigen“. ben mit dem lockeren Look wichtige schnittsamerikaner, treu sorgenden Fami- Und schließlich offenbarte der jovial auf- Wählerschichten – den Mittelstand und lienvater und liebevollen Ehemann. tretende Vizepräsident, wie es mit Ehefrau Amerikas Frauen. George W. Bush gelang das mit Bravour. Tipper, „meiner geistigen Weggefährtin“, Bei denen ist zumal George W. ins Hin- Nach einem Bussi für die Star-Moderatorin auf dem demokratischen Parteitag in Los tertreffen geraten. Der Gouverneur aus Te- des Nachmittagsklatsches mischte er Wahl- Angeles zum 3,8 Sekunden Dauerkuss xas liegt derzeit in den meisten Umfragen kampfslogans mit herzigen Eingeständnis- kam: „Ich war übermannt von einer Woge hinter seinem demokratischen Konkur- sen. Das schönste Geschenk für George der Emotionen.“ renten, der Rückhalt bröckelt selbst in W.? „Papas Manschettenknöpfe“. Die Platituden statt Polit-Propaganda? Small Ohio, Michigan, Wisconsin und Missouri – schönste Gabe? „Ein Kuss für meine Frau.“ Talk statt Substanz? Die Offensive des den wahlentscheidenden Staaten im Her- Und mit Tränen in den Augen berichtete Charmes ist bei Demokraten wie Republi- zen der USA. Selbst in Florida, wo Bush- Bush von der Geburt seiner Zwillings- kanern generalstabsmäßig geplant. Bruder Jeb als Gouverneur regiert, ist der töchter: „Eine famose Erfahrung“. Gleich, ob es Auftritte bei den schnodd- Wahlausgang offen. Amerika sechs Wochen vor dem Wahl- rigen Schnellrednern der TV-Spätschicht Noch Anfang August, beim Wahlkon- tag: Es menschelt gewaltig. sind, von Jay Leno bis David Letterman, vent der Republikaner in Philadelphia, sah Die Präsidentschaftskandidaten tingeln oder Stippvisiten bei den Moderatoren der die Lage anders aus: George W. wurde als durch die Talkshows, als ginge es am 7. Morgenshows: Beide Kandidaten umwer- strahlender Star seiner Partei gefeiert – nach acht dürren Jahren der Opposition 56 schien der Wiedereinzug ins Weiße Haus Wende im Spätsommer 55 54 schon beinahe sicher. Umfrageergebnisse der Präsidentschaftskandidaten Monatelang hatte das Bush-Lager mit Quelle: Gallup 52 50 Angriffen auf das Skandal-Duo Clin- 49 ton/Gore einen moralischen Heimvorteil 50 erkämpft: Der Vize, verstrickt in eine un- 48 47 47 appetitliche Spendenaffäre, sei als künfti- ger Führer der Supermacht und Vorbild 46 für Amerikas Jugend genauso ungeeignet George Bush Republikaner 44 46 wie sein nichtswürdiger Präsident. Al Gore Demokraten Der Vorwurf klebte an Gore wie ein 42 Schandmal. Und mit kaum verhohlener 40 42 Schadenfreude beobachtete das Wahl- 41 38 kampfteam in Texas die Häutungen des 38 37 hölzernen Demokraten. Immer auf der Su- Parteitag der Parteitag der Republikaner Demokraten che nach der richtigen Rolle mutierte der vom „Durchschnittsbürger“ zum „Under- AprilMai Juni Juli August Sept. dog“, bevor er sich als aggressives „Alpha-

182 der spiegel 39/2000 REUTERS (li.);REUTERS (re.) DPA Bush*: „Er ist faul, abgehoben und herausfordernd ignorant“

Männchen“ entpuppte – einschließlich ney, den das Nachrichtenmagazin „Time“ xie zu entdecken glaubte – einer organisch neuer, braun getönter Garderobe. schon vor vier Jahren als „so farblos“ be- oder milieubedingten Leseschwäche. „Die Seit dem demokratischen Parteitag von schrieb, „dass Al Gore daneben wie Robin Frau, die wissen wollte, dass ich Dyslexie Los Angeles hat sich das Blatt gewendet. Williams aussieht“, entmutigte mit qual- habe“, antwortete Bush mit einer neuer- Durch Gores Unabhängigkeitserklärung – vollen Wahlkampfveranstaltungen selbst lichen Fehlleistung, „habe ich nie inter- „Ich stehe auf eigenen Beinen“ – läuft die optimistische Republikaner, und bei ge- viewt.“ republikanische Attacke ins Leere. Denn meinsamen Auftritten wirkt George W. ne- Nun höhnten die Demokraten. Paul Be- der Demokrat legte nicht nur eine detail- ben dem Verteidigungsminister seines Va- gala, der derzeit bei Gores Debatten-Spar- lierte Marschroute vor, neben der Bushs ters erst recht als unreifer Junior. ring den texanischen Gouverneur mimt, Rede wie ein rhetorisches Windei erschien; Freilich sorgte auch der Spitzenkandi- bescheinigte Bush die „intellektuelle Neu- zudem wählte Gore mit Joseph Lieberman dat selbst mit einer Serie von Patzern und gier einer Schnecke“; der Republikaner, einen ausgebufften Vizekandidaten. Peinlichkeiten für das Abrutschen in den so der Autor einer Bush-Schmähschrift Obendrein kam mit dem wahlkampfer- Popularity-Charts: Erst verhöhnte er einen („Ist unsere Kinder am Lernen? – Der Fall probten Senator die abgeschlaffte Gore- Reporter als „Riesenarschloch“, dann George W. Bush“**) sei „schlimmer noch Kampagne richtig in Schwung. Der gläubi- plötzlich wollte der Texaner nicht mehr an als dumm. Er ist faul, abgehoben und her- ge Jude scheut sich nicht, bei nächtlichen den Präsidentschaftsdebatten teilnehmen. ausfordernd ignorant“. TV-Shows mit rauchigem Timbre Sinatra- Obgleich die von Republikanern und Tatsächlich alarmierten die Fehltritte, Songs zu röhren, und mit seiner gewitzten Demokraten besetzte Kommission schon verbunden mit neuen Tatarenmeldungen Schlagfertigkeit bringt er das Wahlvolk für vor Monaten über Ort und Zeit der wich- der Demoskopen, selbst Republikaner und Gore in Stimmung. tigen TV-Diskussionen entschieden hatte, weckten die Furcht, die Partei könne in So während des Besuchs bei den Band- wünschte Bush jetzt kürzere Aussprachen eine Abwärtsspirale aus Hoffnungslosig- arbeitern der Harley-Davidson-Werke. Ein- und warf Gore, der sich darauf nicht ein- keit und gegenseitigen Schuldzuweisungen gekeilt zwischen breitschultrigen, täto- ließ, Wortbruch vor. verfallen: „Wie ein im Kreis aufgestelltes wierten Arbeitern, Mechanikern mit Pfer- Niemand jedoch wollte glauben, dass Exekutionskomitee“. deschwanz und Stirnband, brachte der ausgerechnet der scharfzüngige Vizepräsi- „Bush hat nicht kapiert, dass dies ein schmächtige Senator die Männer prompt dent, allgemein als „Fleischfresser am Red- Krieg ist“, schimpft David Keene. Bislang, auf seine Seite: „Ich muss schon sagen“, nerpult“ („The New Yorker“) bekannt, die so der republikanische Stratege, sei es dem grinste er mit Blick auf seine malträtierten Aussprache mit Bush scheute: Am Ende Bush-Team nicht gelungen „so schnell Finger, „ihr Leute hier habt den härtesten der überflüssigen „Debatte über die De- zurückzuschlagen, wie nötig“. Händedruck Amerikas.“ batte“ musste George W. beidrehen – der Das ist auch nicht ganz einfach. Denn Da hatte Bush mit seiner Wahl des Vi- erste Showdown findet am 3. Oktober statt. von der demokratischen Konkurrenz per- zekandidaten weniger Glück. Dick Che- Bush, zunehmend entnervt, verhed- len Anwürfe derzeit einfach ab. Unverfro- derte sich im Zahlenwerk seiner Reform- ren macht sich Gore mit populistischen Pa- vorschläge oder verhaspelte sich der- rolen zum Anwalt der kleinen Leute, der * Mit Talkshow-Chefin Oprah Winfrey. ** Der Titel ist laut Autor ein Originalzitat von George maßen oft, dass die Autorin Gail Sheehy gegen Tabakindustrie, Chemiekonzerne W. Bush. bei dem Kandidaten gar Züge von Dysle- oder nun auch vehement gegen Opec und

der spiegel 39/2000 183 Ausland die „unfairen Profiteure“ der Ölmultis zu ausgewählte Kulisse ab für seine Reform- Felde zieht – allerdings lässt er sich zu- vorschläge zu Gesundheit, Erziehung und GROSSBRITANNIEN gleich seinen Wahlkampf auch durch Altersversorgung. Spenden dieser Branchen finanzieren. Und Die drastische Wende, begleitet von ei- Kollektive Hillary Clinton machte bei Krankenbesu- ner millionenschweren Werbekampagne in chen Werbung für Gore. Fernsehen und Radio, hat freilich einen Als ein Report vergangene Woche die Haken: Die detailgenaue Diskussion über Hysterie unappetitlichen Praktiken der Unterhal- komplexe Reformkonzepte eignet sich tungsindustrie offen legte, die Gewalt und kaum für Bushs Wahlkampf. Sein Bauplan Die Labour Party – einst Flaggschiff Sex in Filmen, Videos und Computerspie- kommt mit 16 Blatt aus und erschöpft sich len auch an Kinder vermarktet, schalteten in schlichten Parolen – Al Gores Vorschlä- der europäischen Sozial- Gore und Lieberman auf Angriff und droh- ge füllen einen Wälzer von 191 Seiten. demokraten – ist angeschlagen: ten Hollywood mit krachenden Sanktionen. Selbst mit Steuersenkungen kann Bush Blairs Charisma verblasst, Ein paar Tage später war die Drohung derzeit nicht punkten. Gore drängt ange- die Wiederwahl scheint bedroht. wieder vergessen – bei einer Spendengala sichts milliardenschwerer Überschüsse auf im Beisein von Julia Roberts und Harrison das rasche Abtragen des nationalen Schul- ls Schatzkanzler Gordon Brown, Ford, die Millionenbeträge in demokrati- denberges, Bush hingegen will den US- 49, und Sarah Macaulay, 36, am vo- sche Kassen spülte, gelobte Lieberman Bürgern ein Drittel der Steuern erlassen. Arigen Montag in eine elegante Lon- plötzlich: „Zensur – niemals“. „Das ist ihr Geld und gehört in ihre doner Galerie unweit der Themse zur „Opportunistischer Stimmenfang“ kom- Taschen, nicht aber in die Hände Wa- Hochzeitsparty luden, kamen nahezu alle, mentierte die „New York Times“, doch das shingtoner Bürokraten“, tönt Bush. „Un- die in Großbritannien Rang, Einfluss oder Demokratengespann verteidigte den Mei- verantwortlich“, schimpft Gore und for- nur einen Namen haben. Vom Erzbischof nungswandel als Beweis aufrechter Hal- dert zumal für die Sozialversicherung von Canterbury über den New-Labour- tung: „Wir sagen auch unseren Freunden „Rücklagen für konjunkturelle Regenta- Vordenker Anthony Giddens bis zum mal unsere Meinung.“ ge“. Der Vizepräsident trifft mit seiner Chef der Bank of England, Eddie George, konservativen Haltung reichte die Gästeliste; Gewerkschaftsbos- offenbar die Stimmung se, Minister und Medienstars gaben sich der Nation: Nur ein ein Stelldichein. Fünftel der US-Bürger Selbstverständlich erschien auch der wünschte sich im ver- Chef des Schatzkanzlers, Premierminister gangenen Jahr Steuer- Tony Blair, samt Gattin Cherie auf der senkungen. Überraschungsparty des Jahres. Denn dass „Die Wirtschaft der hartnäckige Junggeselle Brown – über brummt, da hat der dessen sexuelle Vorlieben seit Jahren spe- Wunsch nach geringeren kuliert wird – sich so ausdauernd dem Ehe- Abgaben keine Kon- stand verweigerte, hatte der Regierungs- junktur“, sagt Karlyn chef selbst bemängelt. Die Bekehrung des Bowman vom konserva- häufig verbiestert dreinschauenden Ha- tiven American Enter- gestolzes blieb allerdings der einzige Anlass prise Institute. Und Sal zu feiern. Ansonsten haben Blair, Brown Russo, ein republikani- und die gesamte Labour Party wenig scher Berater in Kalifor- Grund zur Freude. nien, meint: „Wir haben Beinahe täglich erreichen niederschmet- einfach kein vergrätztes ternde Nachrichten die Downing Street, in

AP Wahlvolk, das die Bas- der Blair in Nummer 10 und Brown in Hospitalbesucherin Hillary Clinton: Werbung für Gore tarde rausschmeißen Nummer 11 Wand an Wand arbeiten. Nach will.“ einer am vorigen Donnerstag veröffent- Das zeige mal wieder, dass Gore „bereit Wenn die frustrierte Diagnose stimmt, lichten Meinungsumfrage liegt Labour zum ist, alles zu tun, nur um gewählt zu wer- wäre Al Gore dem Wahlsieg einen Schritt ersten Mal seit acht Jahren wieder hinter den“, schimpfte Dick Cheney, und das näher. Dann nämlich würde sich bewahr- den Konservativen – um gleich fünf Pro- Bush-Lager sprach von Heuchelei und heiten, was US-Wahlkampfforscher dank zentpunkte. Innerhalb nur eines Monats Doppelmoral. Zugleich starteten die texa- detaillierter Rechenmodelle schon vor Mo- verlor die Regierungspartei in der Wähler- nischen Wahlkampfstrategen das gründ- naten errechneten: In Zeiten wirtschaftli- gunst rund zehn Prozent. lichste Revirement der republikanischen cher Hochkonjunktur haben Oppositions- Der rasche Popularitätsschwund ist Kampagne. kandidaten kaum Chancen auf Erfolg. umso bedrohlicher, als Blair und Brown Denn statt der ständigen Attacken auf Von solchen Orakeln wollen sich auf- durchaus Erfolge vorweisen können. Die die Glaubwürdigkeit von Al Gore sollen in rechte Bush-Fans nicht beeindrucken las- Arbeitslosigkeit ist mit 5,3 Prozent so ge- der Schlussphase des Wahlkampfs die US- sen. Bei seinen Wahlkampfauftritten wird ring wie seit 25 Jahren nicht mehr, die In- Bürger mit Programmaussagen umworben George W. unter dem Jubel seiner Anhän- flationsrate die niedrigste in der EU; der werden: Bush, erst angetreten als „mit- ger unverdrossen als „künftiger Präsident Lebensstandard der meisten Briten steigt fühlender Konservativer“, dann als „Re- der Vereinigten Staaten“ angekündigt. beständig. former mit Resultaten“ oder „Führer, der Auch der Kandidat ist ungebrochen opti- Es war die Revolte gegen die höchsten führen wird“, predigt jetzt „richtige Pläne mistisch. Benzinpreise Europas, welche die Regie- für richtige Menschen“. „Was ist der schönste Moment ihres Le- rung unvorbereitet erwischte. Hilflos muss- Bei einem Marathon durch zwölf Städ- bens?“, fragte Oprah Winfrey den Junior te Blair zunächst mit ansehen, wie gerade te verkündete er sein neues Credo von der vergangene Woche bei ihrer TV-Ohren- mal 2500 Bauern und Lkw-Fahrer mit der „Blaupause für Amerikas Mittelklasse“. beichte. Bushs Antwort kam umgehend: Blockade der Öl-Raffinerien das ganze Entbindungsstationen, Kindergärten, Schu- „54 zu sein und im Rennen um die Präsi- Land an den Rand des Zusammenbruchs len und Altenheime gaben die sorgfältig dentschaft.“ Stefan Simons brachten. Trotzig verkünden Blair und

184 der spiegel 39/2000 deren Spitzengenossen, lassen New Labour immer mehr dem Schreckensbild von Old Labour gleichen, einem Haufen wechsel- seitig verzankter Streithähne. Die Wähler hingegen haben von den ewigen Verheißungen eines modernen, effektiven Britanniens genug. „Die Re- gierung hat hohe Erwartungen geweckt“, sagt die Londoner Politikberaterin Vidjha Alekeson. „Das schlägt jetzt zurück.“ Vor allem beim Wiederaufbau des ma- roden Gesundheitswesens, dessen Jahres- etat Brown um 16 Milliarden Mark aufge- stockt hat, muss die Regierung endlich be- weisen, dass die massiven Investitionen tatsächlich eine Wende herbeiführen kön- nen. Bislang legte noch jede simple Grip-

REUTERS peepidemie die Krankenhäuser lahm. Regierungschef Blair: Hoffnung auf den Wankelmut der Wähler Einziger Trost für die angeschlagene Re- gierungspartei: Dem glücklosen Opposi- Brown seitdem, dass sie sich Haushaltspo- schneller und erfolgreicher handelte, was tionsführer William Hague ist es noch nicht litik nicht von ein paar hoch subventio- er dem einstigen Freund noch heute als gelungen, das Labour-Debakel zu seinen nierten Bauern und unzufriedenen Spedi- Verrat ankreidet. Seitdem ist das Verhält- Gunsten zu nutzen. Der populistische teuren diktieren lassen werden. nis der Nachbarn ernsthaft gestört. Tory-Chef beschränkt sich darauf, die Doch die vom Auto abhängige Mehrheit Sogar wichtige Entscheidungen wurden Schlagzeilen der rechten Boulevardpresse der Briten dankt diese Standhaftigkeit nicht mehr abgesprochen. Dass der Schatz- nachzuplappern und Steuersenkungen zu nicht, sondern sympathisiert mit den Steu- kanzler den Beitritt zum Euro für diese versprechen. Größte Gewinner der Blair- er-Rebellen. Als „abgehoben“ geißelt des- Legislaturperiode ausschloss, erfuhr der Schwäche sind deshalb die Liberalen. halb die Presse den Premier, dessen jun- Premierminister beispielsweise aus der Paradoxerweise schöpfen Labours Wahl- genhaften Charme und Charisma selbst „Times“. „Gordon kann unmöglich sein“, strategen auch ein wenig Hoffnung aus konservative Blätter bis Ende vergangenen hatte sich Blair daraufhin erregt und sei- dem Umstand, dass die Partei in den Um- Jahres priesen. nerseits dem Exfreund mangelnde Boden- fragen so schnell gestürzt ist. Die in aller Inzwischen sind die Zeiten des von kei- haftung vorgeworfen: „Gordons Problem Welt gern als rationale Pragmatiker gefei- ner Opposition belästigten Regierens – La- ist es“, diagnostizierte der vielfache Vater erten Briten seien, so ihr Kalkül, in Wahr- bour lag bis Anfang des Jahres in den Um- Blair, „dass er keine Familie hat.“ Inzwi- heit ausgesprochen anfällig für Stim- fragen um gut 20 Prozentpunkte vor den schen muss sich Brown sogar gegen den mungsumschwünge und könnten ihre Tories – unwiderruflich vorbei. Auf ihrem Verdacht wehren, die Wähler über eine derzeitige Missgelauntheit ebenso schnell Brightoner Parteitag diese Woche stehen Parteispende belogen zu haben. wieder vergessen. Seit der Trauerorgie Tony Blair und seine Partei zum ersten Mal Die Querelen der beiden mächtigsten nach Dianas Tod seien sogar Anfälle kol- seit ihrem triumphalen Wahlsieg vom Mai Labour-Männer, dazu noch Streit unter an- lektiver Hysterie periodisch nachweisbar. 1997 vor einer existenziellen Herausforde- Bloße Gerüchte über neue Raf- rung. Der Premierminister, dem das noto- finerie-Blockaden reichten denn risch spitzbübische Lächeln vergangen ist, auch schon für einen abermaligen muss einen Befreiungsschlag landen. landesweiten Sturm der Auto- Gelingt es der Parteiführung nicht, den fahrer auf die Tankstellen. Das Abwärtstrend umzukehren, könnte die Massenblatt „Sun“, das in den bri- Wiederwahl nächstes Jahr in Gefahr gera- tischen Krisenwochen so hinge- ten. Fast ungläubig nehmen die meisten bungsvoll als Panik-Orchester auf- Briten zur Kenntnis, dass ihr Premier die gespielt hatte, fragte jetzt zer- Aura der Unbesiegbarkeit verloren hat. knirscht: „Sind wir alle verrückt Dabei steht Gordon Brown derzeit unter geworden?“ noch größerem Druck als der Premiermi- So könnte die Rechnung von nister. Um ihren Wiedereinzug ins Unter- Blair und Brown, eisern am ein- haus bangende Labour-Abgeordnete be- geschlagenen Kurs festzuhalten, stürmen ihn, bei der Benzinbesteuerung bis sich die Nerven ihrer Lands- Zugeständnisse zu machen. Außerdem soll leute wieder beruhigt haben, noch er den Pensionären entgegenkommen, die aufgehen. Um allerdings an die er mit einer Rentenerhöhung um wöchent- Anfangserfolge ihrer Regierungs- lich 75 Pennies (2,45 Mark) vergrätzt hat. zeit anzuknüpfen, müsste das Der gebürtige Schotte will jedoch an seiner zerstrittene Führungsduo seine of- sparsamen Haushaltspolitik festhalten. fene Rivalität beenden und wie- Zusätzlichen Ärger bereitet der Labour- der zivilen Umgang miteinander Führung das Erscheinen eines Buchs, in pflegen. dem der „Observer“-Journalist Andrew Doch danach sieht es derzeit Rawnsley enthüllt, wie belastet das Ver- nicht aus: Auf der Hochzeitsparty hältnis zwischen dem Premier und seinem des Schatzkanzlers setzten sich

eisernen Sparkanzler ist. Offenbar hat PRESS BULLS Tony und Cherie Blair bereits nach Brown noch immer nicht verwunden, dass Jungvermählte Macaulay, Brown 20 Minuten wieder durch die Hin- Blair 1994 im Kampf um die Parteiführung Wenig Grund zur Freude tertür ab. Michael Sontheimer

der spiegel 39/2000 185 Werbeseite

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Bürgermeister im Rathaus der Hauptstadt kunden stiegen die Rückflüsse von zuvor FRANKREICH residiert. Das „Hôtel de Ville“ mit seinen 300000 Francs auf 35 bis 40 Millionen im 600 Zimmern, vier Türmen, drei Binnen- Jahr – schwarzes Geld, das hauptsächlich Abrakadabra höfen, einem Garten und einer 1000 Qua- die Gaullisten mästete. dratmeter großen Dienstwohnung für Gelegentlich wurde mit der Opposition „Monsieur le Maire“ wurde von Chirac geteilt, damit Ruhe herrschte. So erklärt eines Toten wie ein absolutistisches Fürstentum regiert. Méry, von 10 Millionen einmal 3,5 an die Der Chef forderte Ergebenheit und ver- Sozialisten und eine Million an die Kom- Der Staatschef im Strudel teilte Belohnungen. Das System verschlang munisten abgetreten zu haben. Für die So- Geld, viel Geld. Damals gab es noch keine zialisten hat Gérard Monate dies bestätigt. einer Spendenaffäre: Chirac fühlt öffentliche Parteienfinanzierung, die Fir- Geldeintreiber Méry kam Mitte der neun- sich verleumdet. menspenden untersagt. Also „musste man ziger Jahre fünf Monate in Haft. Er gab die Mittel auftreiben, wo sie sich befan- damals zu, als Mittelsmann zwischen Rat- er Zeuge liegt schon seit über den“, sagt heute der mehrfach verurteilte haus und Konzernen tätig gewesen zu sein. einem Jahr im Grab. Aber er hat Spendensammler Gérard Monate, der Kol- Allerdings erzählte er dem Richter längst Dseine Geheimnisse nicht mit ins lege Méry gut kannte – bei den Unterneh- nicht alles. Jetzt, auf dem Nachlass-Video, Jenseits genommen, wie seine Freunde und men, die an die 15 000 Aufträge heran- wird er deutlicher: „Wir arbeiteten aus- Kumpane zweifellos hofften. wollten, welche die Stadt im Jahr vergibt. schließlich nach den Anweisungen von Plötzlich ist Jean-Claude Méry, gestor- Besonders verlockend schien das Budget Herrn Chirac“, versichert er. Dessen engs- ben an Krebs im Juni 1999, wieder da. Der der Opac, einer städtischen Behörde, die ter Mitarbeiter und späterer Stabschef, Geschäftsmann und ehemalige Gaullist 96000 Sozialwohnungen verwaltet. Für In- Michel Roussin, sei „Intendant“ des gan- sitzt quicklebendig auf einem Sofa vor standhaltung, Renovierung und Neubau zen Geschäfts gewesen. einer Kamera, in Hosenträ- Ein Verfahren gegen Rous- gern, weißem Hemd und roter sin war 1995 mangels Bewei- Krawatte, wedelt mit Doku- sen eingestellt worden. Am menten – und packt aus, eine 5. Oktober 1986, behauptet Stunde lang. Er redet klar und Méry auf dem Höhepunkt sei- präzise, manchmal lächelnd, ner Beichte, habe er Roussin manchmal drohend. fünf Millionen Francs überge- Was Méry schildert, läuft ben. Und mit dabei sei Jacques auf eine ungeheuerliche An- Chirac gewesen, „der mich be- schuldigung gegen den Staats- glückwünschte, weil ich Geld chef der Republik hinaus: zu verdienen verstand“. Eine Jacques Chirac wird porträtiert Manipulation, alles erlogen, als Chef einer kriminellen empören sich Roussin und Chi- Gang im Pariser Rathaus, die rac, der seinerzeit Premier un- in den achtziger Jahren syste- ter François Mitterrand war, matisch Geld von Firmen ein- aber weiter im Rathaus die Fä- trieb, wenn öffentliche Aufträ- den zog. Der Präsident vori- ge vergeben wurden. gen Donnerstag feierlich: „Ich Méry hatte sein brisantes Tes- verlange, dass alle diese Ele-

tament drei Jahre vor seinem AFP / DPA mente der Justiz übergeben Tod, am 24. Mai 1996, von Beschuldigter Chirac: Das Rathaus wie ein Fürstentum regiert werden, damit die Wahrheit Dokumentarfilmer Arnaud die Verleumdung hinwegfegt.“ Hamelin aufnehmen lassen. Es sollte eine gab sie laut Méry pro Jahr fast anderthalb Doch die Richter können den Toten Rückversicherung sein für den Fall, dass Milliarden Francs (450 Millionen Mark) nicht mehr vernehmen. Gefährlich für Chi- ihm etwas zustieße. Der seriöse „Monde“ aus. Méry, der eine Zeit lang dem Zentral- rac aber bleibt, dass zahllose Rathaus-Af- druckte Ende voriger Woche den Wortlaut, komitee der Gaullistenpartei RPR an- fären unter seiner Ägide – um Wohnungen, wenige Tage vor dem Referendum über die gehörte, will 1985 den Auftrag bekommen gefälschte Wählerlisten und fiktive Jobs für Verkürzung der Amtszeit des Präsidenten. haben, die bis dahin schwache Ausbeute an Parteimitglieder – bereits gerichtsnotorisch Die Schockwellen des postumen Geständ- „Kommissionen“ (ein Euphemismus für sind. Und noch immer laufen Ermittlungs- nisses erschütterten den Elysée. Schmiergelder) zu managen. Der Mann verfahren gegen engste Mitarbeiter des Mit rauer Stimme, fahl vor Zorn, entrüs- war in der Tat tüchtig: Nach seinem Be- ehemaligen Bürgermeisters Chirac. tete sich Chirac über „die Lüge, die Belei- Zum Beispiel gegen seinen damaligen digung, die Abrakadabra-Geschichte“, die Stellvertreter und Nachfolger im Hôtel de man einen toten Mann in die Welt setzen Ville, Jean Tiberi. Ihn möchten die Gaullis- lasse. Doch so leicht kann der Staatschef ten als Sündenbock opfern und mit dem das Gespenst aus der Vergangenheit nicht ganzen Korruptionsgestank allein in die bannen. Juristisch ist er als Hausherr des Wüste jagen. Aber Tiberi, der 2001 bei den Elysée-Palastes zwar immun. Aber poli- Kommunalwahlen mit eigener Liste als tisch scheint es schwer vorstellbar, dass sich gaullistischer Dissident gegen den offiziel- Chirac einfach nur in die Rolle der ge- len Kandidaten antreten will, wehrt sich. kränkten Unschuld flüchten kann. Falls die Gaullisten ihn aus der Partei Mérys explosive Aussagen passen wie werfen, könnte auch dieser Intimus frühe- die fehlenden Teilchen in ein Puzzle, das re Drohungen wahr machen. Noch vor den Untersuchungsrichter seit Jahren ohne all- jüngsten Enthüllungen soll Tiberi vor sei-

zu großen Erfolg zusammenzuklauben su- DPA nem Generalsekretär im Rathaus getobt chen. Bevor er 1995 im dritten Anlauf Prä- Geldeintreiber Méry haben: „Chirac? Der ist von hier mit Mil- sident wurde, hatte Chirac 18 Jahre lang als Postumes Geständnis lionen weggegangen!“ Romain Leick

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Werbeseite Welt nach Saudi-Arabien und reichster Staat Europas zugleich höchste Spritpreise (bis zu 2,75 Mark) leistet. Oder das Unver- ständnis darüber, dass der nationale Haus- halt Jahr für Jahr horrende Kronen-Über- schüsse, zuletzt in dreistelliger Milliarden- höhe, ausweist, die chronisch marode Krankenversorgung aber nicht auf eu- ropäisches Spitzenniveau zu bringen ist. Der Ölreichtum verschafft den Norwe- gern seit Jahren einen Wirtschaftsboom ohnegleichen: Wachstumsraten von im Schnitt rund drei Prozent, Arbeitslosigkeit von gerade mal zwei Prozent. Rund drei Millionen Barrel Rohöl för- dern die norwegischen Gesellschaften täg- lich, die rund 200 Millionen Mark in die öf-

M. SCHMID / DAS FOTOARCHIV M. SCHMID / DAS fentlichen Kassen spülen. Doch statt das Bohrinsel vor der Stadt Bergen: „Unsere Wirtschaft ist bereits jetzt überhitzt“ Geld mit vollen Händen auszugeben, fi- nanziert die Regierung damit seit 1996 Dass die Debatte um die Benzinprei- einen umstrittenen staatlichen Ölfonds. NORWEGEN se gleichwohl schon jetzt zu einer erns- Gut 70 Milliarden Mark liegen in dieser ten Belastungsprobe auch für die sozial- Öl-Spardose inzwischen auf der hohen Schlachtet das demokratische Minderheitsregierung in Kante, in Wertpapieren quer durch die Oslo geworden ist und sich zu einer Welt gestreut. Im kommenden Jahr sollen schwerwiegenden Krise auszuwachsen noch mal über 30 Milliarden Mark dazu- Sparschwein droht, ist weniger eine Folge der Protes- kommen und „die Wohlfahrt der kom- te als des klammheimlichen Zorns der menden Generationen gewährleisten“. Trotz Ölreichtums droht dem Wähler. Meinungsumfragen bezeugen Die Streichung öffentlicher Ausgaben einen heftigen Stimmungseinbruch für und die Privatisierung öffentlicher Beteili- reichsten Land Europas eine die etablierten Parteien, allen voran die gungen soll die Wirtschaft konkurrenzfähig Regierungskrise. Hohe Spritpreise Sozialdemokraten. halten. Vor nichts haben die norwegischen bescheren den Rechten Zulauf. Ein Jahr vor der nächsten Wahl sinkt Politiker – da sind sich Regierung und Op- die Arbeiterpartei in der Wählergunst „wie position weithin einig – so viel Angst wie ie Verachtung steht im Raum wie in ein Stein“, spotten Polit-Kommentatoren. vor einer Inflation – bedingt durch zu viel Fels gemeißelt. „Feiglinge“, riefen Von 35 Prozent bei der Wahl 1997 stürzten Öl-Dollar, die im Umlauf sind. „Wir müs- Dfranzösische und belgische Fern- die Sozialdemokraten je nach Umfrage auf sen uns nicht um eine Überhitzung der fahrer ihren Truckerkollegen in Norwegen ein Rekordtief von derzeit nur noch 22 bis Wirtschaft sorgen“, warnt Jonas Gahr Stø- hinterher, als die Anfang vergangener Wo- 23 Prozent. Mit der Arbeit des re, „unsere Wirtschaft ist be- che ihre Blockaden nach gerade mal sechs bei Amtsantritt im März über- reits jetzt überhitzt.“ Stunden aus Angst vor der Polizei kleinlaut aus populären Jens Stolten- Deshalb sieht sich die Re- wieder räumten. berg, 41, sind gerade noch 14 gierung in Oslo vor einer „in Dabei hatten sich die Wikinger der Prozent zufrieden. Europa einzigartigen Heraus- Straße doch solche Mühe gegeben. Zum Vom Einbruch der Sozialde- forderung“, so Stoltenbergs ersten Mal gab es im Land der Fjorde so et- mokraten profitiert der Rechts- Vertrauter. „Andere Regie- was wie eine organisierte Machtprobe mit populist Carl I. Hagen, 56. Der rungen müssen ihren Bürgern den wirtschaftlich Mächtigsten. In sechs Streit um die Ölpreise und um erklären, dass sie kein Geld Städten blockierten Trucks die Zufahrten die norwegische Finanzpolitik ausgeben können, das sie

zu den Raffinerien der großen Ölgesell- katapultiert seine fremden- DPA nicht haben. Wir müssen un- schaften, um eine Senkung der Spritpreise feindliche Fortschrittspartei auf Premier Stoltenberg seren Menschen klar machen, durchzusetzen. sensationelle 34,2 Prozent – Absturz in Umfragen warum wir das Geld nicht aus- Doch während die Fahrer anderswo in weit vorn auch vor den Kon- geben dürfen, das wir haben.“ Europa mit ihren Aktionen seit Wochen servativen (12,6) oder der christdemokra- Rechtspopulist Hagen, den selbst enge die Politiker in Atem halten und selbst die tischen Volkspartei (9,8). Weggefährten gern mit Haider vergleichen schwermütigen Schweden drei Tage aus- Einen „Erdrutsch“ befürchten Sozial- („nur moderner und geschickter“), hat das hielten, reichte im hohen Norden bereits demokraten, eine „Botschaft des Protests“ Problem der Regierung schnell erkannt. die Drohung mit den Uniformierten. „Wir konstatiert Stoltenbergs Staatsminister und „Wir wollen vom Geld aus dem Ölfonds et- waren nicht sehr erfolgreich“, bilanziert engster Berater, Jonas Gahr Støre. Die was abhaben.“ Laut Umfragen finden es 70 Knut Enger, 52, einer der großen Trans- Angst vor einer „Haiderisierung Norwe- Prozent an der Zeit, das „staatliche Spar- portunternehmer des Landes. gens“ geht um. „Wir stehen bereit“, tönt schwein“ endlich zu schlachten. Doch trotzig spricht er von Wiederho- Arne Rune Gjelsvik, Vorstandssprecher der Da fällt es den Regierenden schwer zu lung: „Wir kommen wieder.“ Wenn Regie- Fortschrittspartei: „Alles ist möglich, nichts erklären, dass kaum ein Land bessere rung und Parlament bei den Haushaltsbe- ist sicher im Moment.“ Wachstumserfolge zu verzeichnen hat. Und ratungen Anfang Oktober keine nennens- Geschickt wie kein anderer macht sich dass der Sprit im Verhältnis zum Einkom- werte Senkung der Spritpreise beschließen, der clevere Demagoge Hagen aktuellen men fast schon konkurrenzlos günstig sei. will Enger, diesmal unterstützt von der lan- Parteienverdruss und den Unmut unter den „Das sind akademische Begründungen und desweiten Transportorganisation, den Aus- knapp 4,5 Millionen Norwegern zu Nutze. Erklärungsversuche“, sagt Stoltenbergs stand der Trucker proben: „Dann rollt auf Den Ärger darüber zum Beispiel, dass sich Staatssekretär, „und die helfen jetzt nicht den Straßen kein Rad mehr.“ das Land als zweitgrößter Ölexporteur der weiter.“ Manfred Ertel

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Werbeseite sierungsbehörde stolperte er RUSSLAND einst über den kleinen Ho- norarvorschuss (100000 Dol- Traust du mir lar) eines Finanzkartells, das von ihm den Zuschlag für ein Filetstück der Telekommuni- etwa nicht? kation empfangen hatte. Da- nach diente er einer In- Mit Tricks und Druck greift vestmentgesellschaft namens Montes Auri (Goldene Berge). der Staat nach dem Imperium des Jetzt, als Gasprom-Ver- Medienunternehmers Gussinski. handlungsführer, forderte er Bei einem Erpressungsmanöver den Handelspartner Gussinski setzte es Prügel. auf, jede einzelne Seite des umfangreichen Vertragswerks ndlich hatten sie ihn so weit, dachten mit seinem Namen zu die Herren vom Energiekonzern schmücken: Man kann ja nie EGasprom und der Regierung: Am wissen. Der Verkäufer wurde 19. Juli durchsuchte die Staatsanwaltschaft wütend: „Alfred Reingoldo- das Haus des Medienunternehmers Wladi- witsch, traust du mir nicht?“ mir Alexandrowitsch Gussinski, 47, und Koch böse: „Aber Wladimir beschlagnahmte sein Privatvermögen. Am Alexandrowitsch, wer glaubt nächsten Tag trafen sich mit ihm der Gas- denn Ihnen schon?“ Direktor Alfred Reingoldowitsch Koch und Da knallte Gussinski seinem Presseminister Michail Lessin. Käufer eine Ohrfeige, und Zur Freude der beiden unterschrieb Koch schlug zurück. Den an-

Gussinski einen Vertrag, mit dem er seine REUTERS deren Anwesenden gelang es Holding Media-Most an die Firma Gas- Medienzar Gussinski: „Mit der Pistole auf der Brust“ mit vereinten Kräften, die prom-Media verkaufte. Darauf durfte er Schläger zu bändigen und den ausreisen. Adieu Meinungsfreiheit – Gus- sen, die „Einstellung der Strafverfolgung“ Vertrag unter Dach und Fach zu bringen. sinskis Konzern verfügte über NTW, den sowie eine „Aufhebung des Ausreisever- Umsonst. Aus dem sonnigen Gibraltar, wo größten TV-Sender in Privathand und bots“ zugesichert. Und, vollends merk- er einen Zweitwohnsitz unterhält und Steu- mächtigsten Kritiker des Präsidenten Wla- würdig für einen privatrechtlichen Kauf- ern zahlt, ließ Gussinski vorige Woche dimir Putin. Der zappt sogar im Flugzeug vertrag: auch Garantien für seine persön- hören, seine Unterschriften seien ihm „mit NTW auf den Bildschirm und ärgert sich. liche Sicherheit und die seiner leitenden der Pistole auf der Brust“ abgepresst wor- Erwerber Gasprom aber gehört zu 38 Mitarbeiter, für deren „Rechte und Frei- den. Er denke nicht daran, die ihm aufge- Prozent dem Staat, den Aufsichtsrat kon- heiten samt des Rechts auf Bewegungs- nötigten Bedingungen zu erfüllen: Bereits trolliert ein Vizechef der Kreml-Kanzlei. freiheit und der freien Wohnsitzwahl“. zwei Tage vor Vertragsunterzeichnung Fortan will die Regierung vom Bildschirm Diese Klausel, die ungeniert verfas- habe er, schlau, schlau, vor zwei amerika- fast nur noch ihre eigene Stimme hören. sungsgemäße Grundrechte gegen fremdes nischen Juristen zu Protokoll gegeben, er Es sah so bequem aus: Laut dem unter- Eigentum eintauscht, hatte munter der Mi- werde massiv unter Druck gesetzt. Er- zeichneten Vertrag trat Gussinski seine nister Lessin abgezeichnet. Er wollte „nur zwungene Unterschriften seien deshalb 30 Medienfirmen ab, dafür übernahm Gas- Gutes“ tun, erläuterte Lessin hernach sei- null und nichtig. prom die Schulden von etwa einer Mil- ne Amtsanmaßung. Igor Malaschenko, der Gasprom-Sprecher beteuern, der hoch liarde Mark und zahlte dem Medien- Vizepräsident von Media-Most, behauptet verschuldete Gussinski habe den Verkauf zaren noch 300 Millionen Dollar auf die aber, Lessin habe sogleich satte Prozente selbst vorgeschlagen, allerdings zunächst Hand. Die schöne Summe überwies Gas- für seine Unterschrift gefordert (was Les- das Doppelte an Bargeld verlangt. In Mos- prom auf ein Konto bei der Deutschen sin energisch bestreitet). kauer Unternehmerkreisen läuft die Ver- Bank London. Kaum hatte Gussinski rechts unten sein sion um, der mächtige Gasprom-General- Dafür wurden in einem geheimen Zu- Zeichen unter den Vertrag gesetzt, griff direktor Rem Wjachirew sei vom Kreml satzprotokoll („Anlage 6“) dem Verkäufer, Gas-Mann Koch ein. Der kennt sich aus in genötigt worden, mit dem Schuldner Gus- der schon drei Tage im üblen Moskauer den modernen Moskauer Sitten und Ge- sinski derart sittenwidrig umzuspringen. Butyrka-Gefängnis hatte brummen müs- bräuchen. Als Chef der russischen Privati- Dabei hatte Wjachirew im Juni, mit Pu- tin auf Auslandsreise, bei Gussinskis Fest- Boris Beresowski Russische Regierung Wladimir Gussinski nahme seinem Präsidenten in Berlin mu- kontrolliert 49% tig widersprochen und mitgeteilt, sein eigene Unter- WGTRK-Holding Konzern habe keine Kredit- und Bürg- nehmen 19% 16% Media-Most-Holding schaftsprobleme mit Media-Most. Putin Banken 27% 38% musste die ständigen Fragen nach der Gasprom 3% 51% 100% Pressefreiheit in seinem Land darauf mit Gussinkis Freilassung beantworten. Jetzt machte Wjachirew das Ende ei- ner Männerfreundschaft publik: Gasprom 30% werde gegen den Geschäftspartner die Staatsanwaltschaft und ausländische Ge- • TW 6 Moskwa • ORT • RTR • NTW richte mobilisieren, denn Gussinski habe • STS mit ca. • TV Kultura • NTW-plus • 25 weitere in den vergangenen Wochen klammheim- 150 regionalen • ca. 90 regionale • NTW-Sat Medien- TV-Stationen TV-Stationen firmen lich Vermögenswerte seines schon ver- Stand 20. Juli (vor Vertragsschluss) • TNT kauften Imperiums ins Ausland schaffen

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Werbeseite Ausland lassen. Wjachirew: „Auch wenn wir lä- cheln, heißt das nicht, dass unser Pistolen- halfter zugeknöpft ist.“ Letzten Donners- EUROPÄISCHE UNION tag schwärmten die Gerichtsvollzieher aus, um die Media-Most-Büros zu filzen. Ein anderer Medienmagnat, der am „Gefahr einer Isolation“ Staatssender ORT beteiligte Boris Bere- sowski, sieht in dem neuen Skandal be- Elmar Brok (CDU), Chef des Außenpolitischen Ausschusses des reits Russlands Abdriften in „chilenische Verhältnisse“, in ein „autoritäres Regime“. Europäischen Parlaments, über Ansprüche der Union an die EU Er hat keinen Zweifel, dass sich „der Prä- sident alle einflussreichen TV-Kanäle selbst SPIEGEL: Herr Brok, die unterstellen will; das hat er Gussinski ge- CDU/CSU hat auf ihrem sagt und auch mir“. Auf einer geheim- Strategiegipfel eine „kla- dienstnahen Website (www.flb.ru) wird der re Kompetenzabgrenzung“ gläubige Jude bereits als „verlorener Sohn zwischen Brüssel und den Abrahams“ verhöhnt, der „fast schon nicht Nationalstaaten als Voraus- mehr in Russland lebt“. setzung für die Erweiterung Der Zwischenhändler Gasprom müht verlangt. Eine solche Reform sich derweil, den Verdacht zu zerstreuen, der EU ist nicht in Sicht. er agiere als des Kremls williger Helfer. Also fordert die Union den „Um die Unabhängigkeit von Media-Most Aufschub der Erweiterung? zu erhalten und zugleich unser Geld Brok: Das muss man leider so zurückzubekommen“, schwört Privatisie- interpretieren. Niemand in rungsexperte Koch, „müssen wir die Hol- der laufenden Regierungs- ding an den Westen verkaufen.“ konferenz ist bis zum Be- Mit der Deutschen Bank gäbe es bereits schlussgipfel im Dezember in eine „vorläufige Übereinkunft“, das Geld- Nizza bereit und in der Lage, institut werde sich an der Suche nach ei- die Kompetenzabgrenzung nem Investor als „Konsultant“ betätigen. in den Vertrag hineinzu- Die Deutsch-Banker haben über ihre Lon- schreiben. Wir können allen- doner Filiale bei international agierenden falls erreichen, dass dies bei

Medienkonzernen vorgefühlt. Die Bertels- der nächsten Reform-Runde, M. EBNER / MELDEPRESS mann-Tochter RTL-Group zeigt Interesse. die frühestens 2004 beginnen Abgeordneter Brok: „Gegen Europa ist nicht zu gewinnen“ Doch selbst wenn Gasprom nach langen kann, ein Thema wird. gerichtlichen Auseinandersetzungen als SPIEGEL: CSU-Chef Edmund Stoiber gibt wie der zwischen den Regierungen ver- unstrittiger Eigentümer der Most-Medien offenbar den Ton an. Ist die Union im Be- einbarte Reform-Fahrplan aussieht. anerkannt würde, könnte ein ausländischer griff, das Erbe des Europäers Helmut Kohl SPIEGEL: Oder lernt die Union von Jörg Käufer dem Kreml kaum ins Konzept pas- zu gefährden? Haider und seiner Politik gegen Brüssel? sen. Soeben hat Putin eine „Doktrin der Brok: Es besteht die Gefahr, dass sich die Brok: Die CDU/CSU ist nicht anti- Informationssicherheit“ unterzeichnet. Das CDU/CSU in Europa isoliert. Opposition europäisch. Aber die Forderung nach der im Geheimdienst-Jargon gehaltene Doku- darf aber nicht heißen, dass man die Rea- Kompetenzabgrenzung vor der Erweite- ment ruft zur „Verteidigung der nationalen lität nicht mehr wahrnimmt. rung muss weg. Es darf nicht sein, dass die Interessen in der Informationssphäre“, die SPIEGEL: Wie erklären Sie sich dann, dass Fortentwicklung der Europäischen Union vor allem durch „unkontrollierte Aus- auch die Spitzenpolitiker Angela Merkel und die Chance Deutschlands, die Versöh- breitung ausländischer Massenme- nung nach Osten wie nach Westen zu be- dien“ bedroht sei. Es gehe darum, fördern, an den Kompetenzproblemen von die „staatlichen Massenmedien zu Bundesländern hängen bleiben. stärken“. SPIEGEL: Ein „Nein“ zur raschen Erweite- Das NTW-Fernsehen solle unter rung könnte im Bundestagswahlkampf Militäraufsicht gestellt werden, for- 2002 populär sein? dert denn auch die Rechts-Postille Brok: Man gewinnt vielleicht nicht mit dem „Sawtra“; es sei so „mit Nato-Ideo- Thema Europa-Wahlen, aber gegen Euro- logie durchtränkt wie jenes Tuch, pa kann man keine Wahlen gewinnen. das man Christus reichte, mit Es- SPIEGEL: Gleichwohl gibt es Ängste, das sig“. Das Extremisten-Lob mag den ganze Abenteuer könnte zu teuer werden. politisch unerfahrenen Präsidenten Brok: Deshalb sollte man jetzt relativ schnell aus der Provinz verunsichert haben. einige wenige Länder aufnehmen, die

Vorigen Mittwoch suchte er mit B. GRIESHABER / DDP schon die Beitrittskriterien erfüllen. Ande- Frau Ljudmila Rat bei Russlands Unionsführer Stoiber, Merkel* re müssen halt länger warten. Die EU will verstummtem Weisen Alexander „Die Forderung muss weg“ Ende 2002 durch institutionelle Reformen Solschenizyn, 81. aufnahmefähig sein. Für uns ist es wichtig, So kam der endlich einmal wieder ins und Friedrich Merz solche Forderungen Polen in der ersten Runde dabeizuhaben. Staatsfernsehen. Für seine zornigen Er- unterschreiben? Länder wie Estland, Slowenien, Ungarn mahnungen, beim Kotau vorm Kapitalis- Brok: Ich nehme an, dass in der CDU- sollten so früh dazukommen, dass sie sich mus doch nimmer die Moral zu vergessen, Führung nicht hinreichend Klarheit herrscht, an den Europa-Wahlen des Sommers 2004 fand der Dichter lange Zeit nur ein öffent- beteiligen können. Nur so gibt es Zuver- liches Forum: Gussinskis NTW. * Beim Strategietreffen von CDU/CSU am vergangenen sicht in Osteuropa, dass die Tür nach Eu- Uwe Klußmann, Jörg R. Mettke Montag in München. ropa offen ist. Interview: Dirk Koch

der spiegel 39/2000 199 dische kann Zögerlichkeit nur ausgehen wie in Vietnam“, meint Paul Beaver vom „Jane’s Defence Weekly“. Die einheimischen Militärs standen zornbebend Gewehr bei Fuß. Ihren Pres- sionen gab der Präsident, der als eine Art philippinischer Robin Hood ins Amt ge- wählt worden war, nun nach. Ausbaden müssen das die 17 verbleibenden Gefange- nen – ein Amerikaner, 3 Malaysier und 13 Filipinos. Zwar meldete sich zuletzt US- Geisel Jeffrey Schilling, 24, – selbst ein Muslim – telefonisch bei einer Radiosta- tion in Zamboanga und bat um Stopp der Kämpfe. Doch sein Flehen stieß bei Estra- da auf taube Ohren. Und nicht nur dort. Sowohl Washington wie die Regierung in Kuala Lumpur haben das Geschehen auf der gesetzlosen Tropeninsel längst zur „in- neren Angelegenheit der Philippinen“ er-

SIPA PRESS SIPA klärt. Die Sorge geht um, der Terror von Militäreinsatz auf Jolo: Tausende Zivilisten auf der Flucht Jolo könnte die ganze Region erfassen. „Gleich wie“, drängen Mitglie- der des südostasiatischen Staa- PHILIPPINEN tenverbundes Asean, „Estrada soll der Gesetzlosigkeit ein Killing Fields Ende bereiten.“ Für die 400000 meist mus- Präsident Estradas Strafgericht: limischen Bewohner von Jolo bedeutet das mit großer Si- Der Militärschlag cherheit eine Tragödie. Mani- auf Jolo trifft vor allem die las Truppen haben eine Nach- Zivilbevölkerung. richtensperre über die Insel verhängt, der Fährverkehr o sieht sich der philippinische Prä- wurde unterbrochen. Mit dem sident Joseph „Erap“ („Kumpel“) Argument, die Rebellen hät- SEstrada selbst am liebsten: Kampfes- ten sich per Handy verstän- lüstern und mit geballten Fäusten posierte digt, wurden selbst Telefon- der ehemalige Action-Schauspieler Anfang leitungen gekappt. Noch be-

der letzten Woche neben zwei einheimi- AP haupten Militärsprecher, dass schen Boxweltmeistern im Präsidenten- Präsident Estrada (M.), Ex-Geiseln Le Garrec, Madura es nur wenige Opfer unter palast von Manila. Zwei Tage später mim- „Pulverisiert die Entführer zu Asche“ der Zivilbevölkerung gegeben te „Kumpel“ Präsident gleicherorts gar habe. selbst den Champion. Commander Robot und anderen Rebel- Doch nach Berichten von Flüchtlingen, Hand in Hand mit den französischen lenführern nicht nur modernste Waffen zu- die in der südphilippinischen Stadt Zam- Fernsehjournalisten und Ex-Geiseln Jean- gelegt, sondern auch Schnellboote zur boanga eintrafen, haben die Sicherheits- Jacques Le Garrec, 46, und Roland Madu- Flucht auf Nachbarinseln und ins malay- kräfte schwere Menschenrechtsverletzun- ra, 49, feierte der philippinische Präsident sische Borneo. gen an Unschuldigen begangen. In Patikul den „ersten Erfolg“ seines Militärschlags „Unsere Geiselnehmer waren in Folge und Talipao, bisher Hochburgen der Abu gegen die Abu-Sayyaf-Rebellen auf der der militärischen Operationen in Panik ge- Sayyaf, sei es zu Massakern gekommen. Entführerinsel Jolo. Nachdem Estrada am raten“, berichtete Kameramann Le Garrec Der „Philippine Daily Inquirer“, Manilas vorvergangenen Samstag seiner Armee über seine letzten Tage im Dschungelge- angesehenste Zeitung, sprach von „Killing den Generalangriff auf das Eiland befohlen fängnis, „nur deswegen gelang uns die Fields“ auf Jolo. Mehr als 15000 Menschen hatte („Pulverisiert die Abu Sayyaf zu Flucht.“ Doch selbst enge Vertraute von sind auf der Flucht. Asche“), nutzten die Franzosen den über- Präsident Estrada warnen vor allzu viel Das ruft üble Erinnerungen an die Ver- hasteten Rückzug ihrer Entführer nächtens Optimismus im Kampf gegen die Terror- gangenheit wach. 1974 ließ der damalige zur Flucht. gruppe. „Es wird nicht nur Tage dauern, Präsident Ferdinand Marcos nach einem Gut zwei Wochen nachdem Marc Wal- bis die Armee Erfolge erzielt“, meint Ro- Aufstand der „Moros“ die Stadt Jolo von lert als letzte deutsche Geisel die Insel ver- dolfo Biazon, Vorsitzender des Nationalen der See her in Schutt und Asche schießen. lassen hat, ist Jolo endgültig vom Krisen- Sicherheitsrates in Manila, „wir stellen uns Der Konflikt eskalierte zu einem Krieg zwi- schauplatz zum Schlachtfeld geworden – auf eine lange Schlacht ein.“ schen Muslimen und Christen im ganzen dem bleihaltigsten in ganz Südostasien. Mit chaotischer Konzeptlosigkeit hatte Süden der Inselrepublik, dem 120000 Men- Von offener See beschießen Kriegsschiffe sich Estrada durch die fünf Monate schen zum Opfer fielen. die Dschungelverstecke der Abu Sayyaf. währende Geiselkrise laviert. „Zu lange“, In den Kämpfen damals wurde seine Fa- 4000 Soldaten der philippinischen Armee, kritisieren selbst ausländische Militärex- milie ausgerottet, behauptet Galib Andang unterstützt von Eliteeinheiten der Polizei, perten, habe der Präsident dem Druck aus alias Commander Robot, Entführer der stehen etwa 3000 Rebellen gegenüber. Mit Paris, Berlin und Helsinki nachgegeben Göttinger Familie Wallert. Deshalb habe dem erbeuteten Lösegeld von 18 Millionen und eine Verhandlungslösung favorisiert: er später aus Rache zur Waffe gegrif- US-Dollar haben sich die Gefolgsleute von „In einem Dschungelkrieg gegen Aufstän- fen. Jürgen Kremb

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MEXIKO Spur der Wölfin Mit Gewalt und Terror blockieren lokale Machthaber der alten Staatspartei den demokratischen Neuanfang.

ie Schlacht von Chimalhuacán Tolentino empfangen, die zu dessen Amts- Pflaster. Mindestens zehn Männer starben begann im Morgengrauen. Etwa einführung zum Rathaus strömten. Tolen- im Kugelhagel, über hundert wurden ver- D600 Anhänger von Guadalupe tino gehört ebenfalls der PRI an, ist aber wundet. Buendía, genannt „Die Wölfin“ („La mit der Wölfin tödlich verfeindet. Die Schlacht von Chimalhuacán am Loba“), umzingelten das Rathaus der Die 300 Tolentino-Männer hatten mit 18. August ist womöglich nur der Auf- riesigen Armensiedlung vor den Toren Zoff gerechnet. Als die „Wölfe“ das Feuer takt zu Schlimmerem. Ihre Niederlage von Mexiko-Stadt. Buendía führt die Par- eröffneten, gingen sie mit Knüppeln und bei den Präsidentschaftswahlen einen Mo- tei der Institutionalisierten Revolution Steinen auf ihre Gegner los. Erst gegen nat zuvor hat in der PRI einen gna- (PRI) in dem Ort an. Mittag gelang es Polizei- und Militärein- denlosen Machtkampf entfesselt. Staunend Im Souterrain hatten ihre Pistoleros Ge- heiten, den Kampf zu beenden. Der Platz ergötzten sich die Mexikaner an dem wehre, Revolver und Macheten versteckt. vor dem Rathaus sah aus wie nach einem Zusammenbruch der Staatspartei, die Mit einem Kugelhagel wurden die Anhän- Bürgerkrieg. Sechs Autos standen in Flam- das Land 70 Jahre lang wie ein Krake ger des neu gewählten Bürgermeisters Jesús men, Verletzte krümmten sich auf dem beherrscht hatte. M. VASQUEZ DE LA TORRE / MVT DE LA TORRE M. VASQUEZ PRI-Ortsvorsteherin Buendía Kampf um ihre Pfründe

„An den Trümmern der PRI-Ruine kön-

AP nen wir erkennen, dass der Kern ihres Straßenschlacht in Armensiedlung Chimalhuacán: Auftakt zu Schlimmerem? Machtgebäudes so beschaffen war, wie wir es uns immer vorgestellt haben: zum Him- mel stinkend, abstoßend und voller Wi- dersprüche“, kommentiert der Historiker Lorenzo Meyer den Zerfall der PRI. Für den neu gewählten Präsidenten Vicente Fox, der am 1. Dezember sein Amt antritt, ist die Krise der Staatspartei jedoch kein Grund zur Freude. Im Kongress bleibt sie stärkste Fraktion, sie stellt außer- dem zahlreiche Gouverneure und Bür- germeister. Ohne die Mitarbeit der PRI hat der von Fox versprochene demokratische Neuanfang keine Chance. „Der neue Prä- sident ist schwach“, klagt das Nachrichten- magazin „Proceso“. Mit allen Mitteln kämpfen PRI-Häupt- linge („Kaziken“) um den Erhalt ihrer Pfründen. Solange PRI-Präsidenten an der Macht waren, bediente die Partei sich hemmungslos aus der Staatskasse. Jetzt

AP tobt ein erbitterter Verteilungskampf. „In Polizeirazzia im Armenviertel, getöteter Demonstrant: „Die Barbarei zeigt ihr Gesicht“ Chimalhuacán hat die Barbarei ihr Ge-

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bergen klauben und weiter- Doch das schreckt die Kaziken kaum. Sie verkaufen. Dafür mussten fühlen sich von der Parteispitze verraten. sie einen Obolus zahlen und Für die Wahlniederlage machen sie vor das Emblem der PRI auf allem Präsident Ernesto Zedillo verant- ihre Karren pinseln. wortlich. Der lange unterschätze Techno- Die Einwohner kusch- krat hat die demokratische Öffnung des ten vor der mächtigen Ma- Landes eingeleitet, nach der Niederlage trone. Die Wölfin herrschte warnte er seine Partei vor Racheakten. Als nach dem Prinzip der ita- er jetzt im Kongress seinen Bericht zur lienischen Mafia: Wer ihr Lage der Nation vortrug, reagierte die Re- geneigt war, wurde be- gierungsbank mit eisigem Schweigen. Ein lohnt; wer sich gegen sie PRI-Abgeordneter drehte dem Präsiden- auflehnte, musste mit dem ten während der Rede demonstrativ den Schlimmsten rechnen. 80 Rücken zu. Strafverfahren laufen gegen Im Gegensatz zu seinen Vorgängern gilt sie, aber nur einmal war sie Zedillo als integrer und überzeugter De- kurz im Gefängnis. mokrat. Doch auch seine Amtszeit wird

AFP / DPA Bislang konnte die Wöl- von den kriminellen Umtrieben der Par- Künftiger Präsident Fox: „Nur wer ehrlich ist, kann bleiben“ fin auf den Schutz des Gou- teimafia überschattet. verneurs und der Partei- Der ehemalige Tourismusminister Oscar sicht gezeigt“, sagt der Politologe Federico bosse bauen. Standen Wahlen an, ver- Espinosa soll während seiner Amtszeit Reyes-Heroles. schaffte sie der PRI die Stimmen. Nur beim als Bürgermeister der Hauptstadt 45 Mil- Seit 15 Jahren herrscht Lokalpolitikerin letzten Urnengang im Juli erlitt sie eine lionen Dollar unterschlagen haben. Der Guadalupe Buendía, 49, mit eiserner Hand Niederlage: Sie wollte ihren Sohn als Bür- einstige Gouverneur des Bundesstaats, über die Elendskommune. Auf der Suche germeisterkanditat lancieren, doch die Quintana Roo, wird mit internationalem nach Arbeit strömen jährlich Zehntausen- Parteispitze setzte Tolentino ein. Die Wöl- de Zuwanderer aus dem Landesinneren in fin erklärte ihm den Krieg. Erst Tage nach Jogger finden im Wald die Leiche den Slum am Rand der Hauptstadt. Seit der Schlacht stellte sie sich der Polizei. des Staatssekretärs – 1990 hat sich die Einwohnerzahl auf etwa Tolentino, der sich gern als Opfer dar- 1,2 Millionen verdreifacht. stellt, ist kaum besser als die Wölfin: Er mit Schnittwunden am Hals Die Wölfin organisierte illegale Land- führt die „Antorcha Campesina“ (Bauern- besetzungen, teilte die Grundstücke auf Fackel) an, eine Organisation, die der PRI Haftbefehl gesucht, weil er in den Dro- und verkaufte sie an die Neuankömmlinge. als Schlägertruppe dient, Landbesetzun- genhandel verwickelt sein soll. Sie gründete einen der PRI angeschlosse- gen organisiert und auch schon mal Par- Anfang des Monats entdeckte ein Jogger nen Bürgerverein. Tausende von solchen teigegner beseitigt. in einem Waldstück bei der Hauptstadt die „Sozialorganisationen“, zumeist korrupt, Kaziken wie Buendía und Tolentino bil- Leiche des Staatssekretärs Raúl Ramos Ter- bildeten das Rückgrat des korporativis- den die Machtbasis der Partei. Das Ferien- cero. Er hatte Schnittwunden an Hals und tischen PRI-Staats. paradies Cancún an der Karibikküste wird Handgelenken. Sein Tod ist der letzte Fall Buendía legalisierte nachträglich die ebenso von einer PRI-Wölfin beherrscht in einer Reihe von mysteriösen Selbstmor- Besetzung der Parzellen. Für ihre Dienste wie die Ölmetropole Campeche am Golf den hoher Regierungsbeamter. Ramos war kassierte sie bei den Bewohnern ab. Nach von Mexiko. Bei den Gemeindewahlen in verantwortlich für die Kfz-Registrierungs- und nach schleuste sie Mitglieder ihres Veracruz vor drei Wochen bedrohte ein stelle. Um die zuständige Firma ranken sich Clans in alle Schlüsselpositionen der Stadt- PRI-Kazike seine Gegner mit dem Revol- Korruptionsgerüchte. verwaltung. Ihr Sohn wurde Abgeordneter, ver. „Der Kampf gegen die Wölfe ist eine Der künftige Präsident Fox will eine ihrem Mann schanzte sie das Amt des Feuerprobe der Demokratie“, sagte Histo- Kommission einsetzen, die Licht in die Stadtkämmerers zu. Sie selbst sicherte riker Meyer. Affären seiner Vorgänger bringen soll. sich den lukrativen Chefposten bei der Die Parteivorsitzende Dulce María Sauri Aber eine Hexenjagd werde es nicht Wasserbehörde. hat die Gewaltausbrüche zwar verurteilt. geben, versicherte er: „PRI-Beamte kön- Chimalhuacán erstreckt sich nen im Amt bleiben, wenn auf dem Grund eines trocken- USA sie ehrlich sind“. gelegten Sees und leidet unter In Chimalhuacán kommt Bevöl- chronischem Wassermangel. kerung 97,4 Millionen solche Nachsicht nicht gut Die Wölfin verkaufte den Sied- an. „Raus mit der PRI“, hat ein lern das kostbare Nass aus Chihuahua Bruttosozial- Unbekannter ans Rathaus ge- Tankwagen, nur ihren Anhän- produkt pro Kopf 4400 Dollar kritzelt. Die Müllsammler ha- gern ließ sie eine Leitung legen. Bevölkerung unterhalb ben das Parteiemblem an ihren „Wer nicht PRI wählte, bekam MEXIKO der Armutsgrenze* 18 Prozent Karren übergepinselt, auf dem kein Wasser“, sagt José Aguila, Dach der Kirche weht eine der Priester von Chimalhuacán. 300 km weiße Fahne. „Die Wölfin sind Ohne die Wölfin ging nichts Golf von Mexiko wir endlich los, jetzt soll auch Cancún in Chimalhuacán. Sie vergab der Bürgermeister zurücktre- Chimal- Lizenzen für Busse und Taxis, Campeche ten“, fordern einige Demon- kontrollierte die Polizei und Pazifischer Ozean huacán stranten vor dem Rathaus. Mexiko- Veracruz die Müllabfuhr. Die riesigen Stadt Der Gouverneur hat 300 Müllhalden in der Stadt beute- BELIZE Polizisten zu Tolentinos Schutz te sie aus wie Goldgruben. Sie Acapulco entsandt. Doch von Rücktritt organisierte ein Heer von etwa will der nichts wissen: „Das *mit Einkommen unter 1 Dollar täglich, 10000 Müllsammlern, die alles unter Berücksichtigung der Kaufkraftunterschiede GUATEMALA wäre ja ein Schuldgeständ- Verwertbare aus den Abfall- nis.“ Jens Glüsing

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AFRIKA E. DÄRR

300 km Därr-Expedi- TUNESIEN Tod im Sandmeer MAROKKO tion 1999

Bewaffnete Überfälle auf Sahara- ALGERIEN LIBYEN Touristen häufen sich. Die Behörden WESTSAHARA Rallye- Illisi Strecke sind machtlos oder korrupt. Reggane Paris- Überfall Dakar SAHARA ggar-Gebirge Ho tundenlang waren die sechs Gelän- Därr-Expedition Ouadane Taman- dewagen über Sand und Kies gebret- in Libyen 1999 Piste durchs rasset Stert. Endlich versprachen ein paar Beute im Wert von MAURETANIEN Tanezrouft Dornenbüsche den elf Reisenden die für 350000 Mark MALI Dakar NIGER ihre Bedürfnisse nötige Deckung. Pinkel- Gao SENEGAL pause. verteilten sich auf die TSCHAD Plötzlich raste ein weißer Toyota Pick-up vier Off-Road-Autos der heran. Fünf Männer sprangen in grün- Deutschen, und blitz- schwarz-braunen Tarnuniformen heraus, schnell war der Trupp verschwunden – mit kamen drei der Überfallenen ums Leben, schwarze Tücher verhüllten die Gesichter. einer Beute im Wert von 350000 Mark. einer wurde schwer verletzt. Mit vorgehaltenen Kalaschnikow-Schnell- Die Suche der mauretanischen Armee Im Januar dieses Jahres wurden auf der feuergewehren forderten sie die Heraus- blieb ergebnislos. Expeditionsleiter Klaus berühmten Nord-Süd-Piste von Reggane gabe des gesamten Geldes. Sollte jemand Därr erhielt auf seine Strafanzeige ein paar in Algerien nach Gao in Mali, quer durchs versuchen, ein Satellitentelefon zu benut- Wochen später die Mitteilung der Staatsan- unbewohnte Tanezrouft („Land des Durs- zen, „werdet ihr alle erschossen“. waltschaft Traunstein, Zweigstelle Rosen- tes“), fünf Deutsche und zwei Schweizer Seit Wochen waren die Touristen aus heim, das Verfahren werde eingestellt, „weil überfallen. Im Februar wurden auf dersel- Deutschland in der Sahara unterwegs, in der Täter nicht ermittelt werden konnte“. ben Strecke drei niederländische Touristen eigenen Autos, aber von einem auf Wüs- Damit wäre die Sache wohl erledigt ge- bestohlen und ermordet. Von insgesamt tentouren spezialisierten Reiseveranstalter wesen, wäre Därr nicht Deutschlands be- 20 Überfällen mit sieben Toten und etli- organisiert. Erst waren sie in Tunesien und kanntester Wüstenfuchs. In den siebziger chen Schwerverletzten von Januar bis Juni Libyen, dann hatten sie die Wüsten Alge- Jahren hatte er den ersten Expeditions- weiß das französische Außenministerium. riens durchquert. Am 18. November 1999 service gegründet. Von Sandblechen bis In den übrigen Sahara-Ländern führt standen sie rund hundert Kilometer vor Pistenbeschreibungen bekommen Sahara- niemand eine Liste. Sicherer ist es dort in- der Oase Ouadane in einer nahezu men- Reisende hier, was sie zum Leben und des nicht. In Mauretanien hatte Anfang vo- schenleeren Region Mauretaniens. Überleben in der Wüste brauchen. rigen Jahres eine 20-köpfige Gangster- Geld, Funk- und Navigationsgeräte, Outdoor-Veteran Därr machte nun so truppe sogar 54 Teilnehmer und Begleiter Ferngläser, Telefone und Laptops verteil- viel Wirbel, zu Hause und in den Sahara- der Rallye Paris–Dakar gestoppt und aus- ten die Gangster auf die jeweils zwei Mer- staaten – er verschickte selbst gebastelte geraubt. Auch aus dem Süden Algeriens cedes- und Mitsubishi-Wagen. Dass sie die Fahndungsplakate, intervenierte bei den und dem angrenzenden Niger kommen mitnehmen wollten, war offenkundig. An Regierungen –, bis er auf wundersame Wei- Wüstenreisende immer wieder mit Berich- den beiden Allradlastern interessierte se sein geraubtes Auto zurückbekam. Of- ten von Überfällen heim. sie nur der geladene Sprit. „Sehr zügig fenbar hatten Därrs Aktivitäten ein Mil- Die Übergriffe treffen nicht nur die Rei- und routiniert“, so ein Beraubter, erledig- lionengeschäft ans Licht gezerrt, um das senden, sondern auch die Volkswirtschaf- ten die Männer ihr Werk, „mit viel Er- sich bislang niemand scherte: die systema- ten der Sahara-Staaten. Der Wüstentou- fahrung“. tische, international organisierte Berau- rismus war in den achtziger Jahren zu einer Damit die Opfer nicht allzu schnell in bung von Wüstentouristen. wichtigen Einnahmequelle geworden, bis Ouadane Alarm schlagen konnten, ließen Allein im Norden Malis, südlicher Nach- er Anfang der neunziger Jahre wegbrach. die Räuber Luft aus einem der Lkw-Rei- bar Algeriens, wurden von 1996 bis 1999 Erst störten die Nachwirkungen des Golf- fen. Dann sprang der Bandenchef in den nach einer Aufstellung des dortigen Präsi- krieges, dann begannen Islamisten in Al- mitgebrachten Pick-up, die anderen vier dialamtes 66 Fahrzeuge geraubt. Dabei gerien das große Morden. Seitdem warten

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Tausende unbeschäftigter Führer an Fels- Die entlegene Route der Därr-Expedi- geläufig. Der Mann sei im algerischen gravuren oder antiken Geisterstädten ver- tionsmitglieder etwa war, so erzählten es Ghardaia geboren, residiere in Mali und gebens auf Kundschaft, stehen Hunderte ihnen die Grenzkontrolleure beim Über- befehlige Niederlassungen in vier Ländern. von Mini-Campingplätzen und Herbergen gang von Algerien nach Mauretanien, seit Seine Leute stammen zum größten Teil in den Oasen leer. drei Jahren von niemandem befahren wor- aus dem menschlichen Erblastenfonds ge- Seit Anfang dieses Jahres keimte erst- den. Bewohnte Siedlungen gibt es auf vie- scheiterter afrikanischer Politikversuche: mals wieder Hoffnung. Die Zahl der Alge- le hundert Kilometer nicht. Trotzdem in die Arbeitslosigkeit entlassene Kämpfer rien-Besucher stieg in den ersten drei Mo- wussten die Räuber offenbar ganz genau, der Tuareg-Einheiten, mit denen der liby- naten um 65 Prozent auf 17000. Durchläs- wann und wo sie Beute machen konnten, sche Revolutionsführer Gaddafi einst den sigere Grenzen lockten wieder vermehrt wie viele Fahrer sie für den Abtransport Tschad bekriegte, oder Sahrawi-Rebellen, Expeditionen in das größte Sandmeer der brauchen. die seit Jahren in algerischen Flüchtlings- Erde. Doch gelingt es nicht, die brutalen Und schwierig ist es ja auch nicht, in den camps hocken und von einem eigenen Überfälle zu stoppen, wird der Positivtrend öden Grenzregionen willfährige Helfer im Staat Westsahara zwischen Marokko und schnell wieder kippen. öffentlichen Dienst zu finden. Die Beamten Mauretanien träumen. Über die Urheber dieser zuvor unbe- und Soldaten dort verdienen extrem wenig, Auf die Einbindung der Behörden ins kannten Wüstenräuberei gibt es seltsam manchmal lange Zeit gar nichts. In Mali räuberische Auto-Geschäft deuten auch die widersprüchliche Meldungen. „Maurische vergaß der Staat mitunter ein Jahr und län- Umstände hin, unter denen Därr jetzt sei- Schmugglergruppen“, die mit „Marlboro- ger, seinen Dienern Geld zu schicken. nen Mercedes zurückbekam. Der erste und Gauloises-Zigaretten“ zollfrei Handel Schon für kleine Summen lassen sich Hinweis stammte vom algerischen Außen- treiben, hält der deutsche Botschafter in amtliche Stempel bewegen, die Autopa- amt. Die Gendarmerie in Reggane, im Süd- Mali, Karl Prinz, für die Täter. Sie nutzten piere oder Einfuhrzertifikate für Funk- westen Algeriens, habe sein Fahrzeug sichergestellt. Der Besitzer sei ge- ständig. Er habe den in Mauretani- en geraubten Wagen „in Mali ge- kauft, um ihn dann illegal nach Al- gerien einzuführen“. Die Fahrge- stellnummer ließ keinen Zweifel: Es war Därrs Gefährt. Kaum hatte der den Brief be- kommen, war der Wagen schon wieder verschwunden. In Reggane wusste plötzlich niemand mehr et- was von einem roten Mercedes. Während Därr unbeirrt die Regio- nalbehörden weiter mit seinen Fahndungsaktivitäten nervte, kam Mitte Juli ein neues Schreiben vom Außenministerium in Algier. Der Zoll in Illisi, fast am anderen, dem östlichen Ende Algeriens und gute 2000 Kilometer vom Ort des Über- falls entfernt, habe sein Auto ge- funden.

E. DÄRR Tatsächlich, Mitte August konnte Därr (r.), Militärs im Tschad: „Internationale Kette von Räubern“ Därr in Illisi den Mercedes zur Heimfahrt starten. „80 Kilometer die erbeuteten Autos „zur Verstärkung der geräte oder Laptops legalisieren. So wird nördlich der Stadt, verlassen in der Wüste“, eigenen Fahrzeugflotte“. ein in Mauretanien geklauter Allrad-Mer- sagte der Zolldirektor, habe man das Ge- Wie die dortige Regierung sieht der cedes womöglich in Mali umgestempelt fährt gefunden. Der Schlüssel steckte, die deutsche Emissär in Malis Hauptstadt Ba- und dann in Algerien verkauft. Oder auch Batterie funktionierte, Sprit war drin, alle mako die Heimat der Räuber „in Maure- weiter nach Süden transportiert, zur kauf- Räder dran – eine unsinnige Geschichte. tanien, wo sie offenbar unbehelligt gelassen kräftigeren Kundschaft in Nigeria oder an Wer sollte ein fahrbereites Auto mitten in werden“. Die dortigen Behörden klagen der Elfenbeinküste. Den Außenposten in der Wüste verlassen? freilich, Mali sei der Räuberhort. So tönt es Mali oder Mauretanien mangelt es an prak- „Streng vertraulich“ gab ein ranghoher aus jedem der betroffenen Länder, der tisch allem, was nötig wäre, Profi-Gangs- Funktionär schließlich zu, ein zwielichtiger, Nachbar lasse die Gangster gewähren. tern nachzustellen. Oft haben die Grenz- aber mächtiger Bürger der Stadt habe das Dabei sind die Überfälle tatsächlich wohl schützer nicht mal Sprit für ihre Autos. Fahrzeug besessen. Nach einer Bespre- weniger Gelegenheitstaten marodierender Dass führende Politiker und Mitarbeiter chung mit Gendarmerie, Präfektur und Schmuggler als das Werk einer straff orga- der Sicherheitsdienste in Algerien über die Zoll habe man gemeinsam beschlossen, nisierten, im gesamten Raum operieren- „internationale Kette von Autoräubern“ Därr das Fahrzeug zuzuführen. den Bande, mit Rückhalt und Informan- recht genau im Bilde sind, erfuhr Därr vor Der Sahara-Freak gibt sich damit nicht ten bei Polizei, Armee und Verwaltung. Ort von einem Parlamentsabgeordneten. zufrieden. Er hat seine Fahndung nach den Das Eintauschen der Devisen, der Ab- Reden wolle darüber aber niemand: „Zu übrigen Autos und den Räubern längst aufs satz von Hightech-Geräten, die Vermark- riskant.“ Niemand wisse, welche politi- Internet (www.klaus.daerr.de) ausgedehnt tung teilweise über 100 000 Mark teurer schen Gruppen den Gangstern Deckung und offenbar auch erste Erfolge. Der zwei- Geländewagen – nichts davon ist in jenen geben und wie hoch die Ränge der besto- te in Mauretanien geraubte Mercedes, so Ländern ohne „offizielle“ Hilfe möglich. chenen Funktionäre reichen. trug man Därr zu, werde im Senegal von Auch die Auswahl der Opfer braucht Tipp- Selbst der Name des Bandenchefs sei im einem hohen Regierungsbeamten gefah- Geber bei Polizei- und Zollstationen. privaten Gespräch vielen in der Region ren. Hans-Jürgen Schlamp

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Werbeseite Ausland FOTOS: R. RIEDLER FOTOS: Kreisstadt Rachiw in den Waldkarpaten: Die größtmögliche Schnittmenge von Völkern, Kulturen, Religionen

UKRAINE Europas Stiefkinder Im toten Winkel zwischen Ost und West liegen die ukrainischen Waldkarpaten. Habsburgs Kaiser, Hitler und Stalin haben nacheinander hier geherrscht. Seit 1991 regiert Kiew den bettelarmen Landstrich. Er ist die Heimat huzulischer Hirten, frommer Juden, zehnsprachiger Zigeuner und eines Denkmals – für den Mittelpunkt des Kontinents.

in Braunbär steht in der Sommerhit- Institut Wien unter Hauptmann Netuschill Nach wenigen hundert Metern das erste ze am Straßenrand, 47 Grad 58 Mi- 1887 errichtet haben. Wenn im Süden der Haus – auf der Veranda sitzt Ilona Scheff. Enuten nördlich des Äquators, 24 untergegangenen Sowjetunion die Mitte Es gibt Kolatschen, zart wie vom Hof- Grad 12 Minuten östlich von Greenwich. Europas liegt, ist dann, wer hier wohnt, zuckerbäcker, und die schmale, schloh- „Hier ist das geografische Zentrum Euro- Mitteleuropäer? weiße Frau erzählt: dass sie in Österreich pas“, heißt es auf einer Schautafel in sei- Die Straße folgt dem Lauf der Theiß, die geboren wurde; in der Tschechoslowakei nem Rücken. Hier, das bedeutet: südlich sich zwischen Karpatenhängen Richtung zur Schule ging; in Ungarn einen Sohn ge- der Stadt Rachiw in den Waldkarpaten. Rumänien schlängelt, ins Dorf Dilowe. boren hat; in der Sowjetunion sich als Der Braunbär ist ausge- stopft. Sein Besitzer döst im 200 km WEISS- Schatten. Er wartet mit einer RUSSLAND Sofortbildkamera darauf, Warschau dass Urlauber sich im Zen- trum Europas fotografieren POLEN Kiew lassen wollen. Aber es gibt Karpaten- keine Urlauber. Nicht hier, Ukraine UKRAINE im Südwesten der Ukraine. SLOWAKEI Hier ist touristisches Not- Dilowe Rachiw iß standsgebiet. he MOLDA- „Locus perennis“, der T WIEN ewige Ort, steht in lateini- UNGARN scher Sprache links vom RUMÄNIEN Braunbären auf einem Sandstein-Denkmal, das die Bukarest Vermessungsexperten vom Schwarzes k. k. Militärgeographischen Gedenkstein, Bauern: „Geografisches Zentrum Europas“ Meer

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Näherin durchschlug und nun in der Ukrai- gezimmerten Unterschlupf für ne ihren Lebensabend verbringt. die Schafhirten, herrscht Hoch- Ein bewegtes Leben? „Nie herausge- betrieb – es ist der Tag des kommen aus diesem Dorf“, sagt die Alte. Großen Messens, ritueller Höhe- Sie ist 1915 hier geboren. Nur die Herr- punkt des huzulischen Hirtenka- schaft über den Landstrich hat gewechselt, lenders. Wer Schafe besitzt, ist häufiger wohl als irgendwo sonst in Euro- heraufgekommen zum Gatter im pa: Bis 1918 war Ilona Scheffs Heimat Teil Bergwald, um verbindlich zu des österreichischen Kaiserreichs, bis 1939 klären, wie viel Milch die Tiere gehörte sie zur Tschechoslowakei, bis geben, wie viel brindza, Schafs- Kriegsende zum Hitler-treuen Ungarn. käse, zu erhoffen ist. Dann wurde sie Stalins Sowjetunion zuge- In die Mitte der Schafbesitzer schlagen und ist seit 1991 Teil der unab- am Berg tritt nun Josip Hodyn- hängigen Ukraine. tschuk. Er ist der gewählte „Wa- Ukraine, das heißt so viel wie „Grenz- tah“ – Respektsperson, Vorarbei- land“. Zwischen Ost und West, zwischen ter und oberster Richter zugleich Orthodoxie und Katholizismus spielen die im bäuerlichen Gesellschaftsge-

Bewohner Puffer oder Mittler. Die größt- R. RIEDLER FOTOS: füge der Huzulen. Er wacht über mögliche Schnittmenge von Völkern, Kul- Chasside Neumann: Verhaftet, geprügelt, gedemütigt die jahrhundertealten Rituale turen, Religionen liegt dabei im ukraini- seines Volks. schen Südwesten – in jenem Zipfel Land, den Bergen, die mit wortloser Gier den Die huzulischen Frauen, denen Männer in dem auch das Denkmal am Ufer der Löffel im Suppenteller versenken. zwar nicht die Hand geben dürfen, wohl Theiß steht. Nach Wien ist es von hier aus Fast tausend Meter hoch über dem Ort, aber die Schuld, wenn nicht genug zu es- nicht weiter als nach Kiew. wo das Denkmal für die Mitte Europas sen da ist, breiten auf dem Boden aus, was Etwa eine Million Menschen und rund steht, auf einer Almweide im Schatten des die Speisekammer hergab: Leber- und Lun- 30 Nationalitäten leben da, Stiefkinder Pop Iwan, einem der höchsten Berge im genpasteten, schmalzstarrende Würste, Europas, eingezwängt zwischen Karpaten- Massiv der „huzulischen Alpen“, geht Jo- Wodka, Lauchzwiebeln, Paprika. gipfeln und den Staatsgrenzen zu Rumä- sip Hodyntschuk mit seinen Hirtenhunden. Als es Abend wird im Schatten des Pop- nien, Ungarn, der Slowakei und Polen, Er lacht aus wasserblauen Augen. Iwan-Gipfels, sind die Pastetengläser leer abseits der versunkenen Habsburger Kron- Die Mitte Europas? Anstatt zu antwor- und die Huzulenmänner haubitzenvoll. Jo- länder Galizien und Bukowina. ten, deutet Hodyntschuk auf seine Arm- sip, der Oberhirte, greift zur Ssopilka, der Von Norden, aus dem alten Galizien banduhr. Sie zeigt acht Uhr. Auf dem ge- kurzen Flöte. Bald funkeln die Goldzähne kommend, passieren die Reisenden bei samten Staatsgebiet der Ukraine ist es jetzt beim Singen im weiten Rund, Goldkronen Laze∆‡ina noch heute einen Grenzbalken offiziell zehn Uhr – Kiewer Zeit. Nicht für gab es so gut wie geschenkt zu Sowjet- und ein Wärterhäuschen. Erst dann ist der den Mann auf der Almweide: „Wir haben zeiten. Der Wodka kreist. Der Oberhirte Weg frei in die Waldkarpaten, ins Verwal- europäische Zeit hier“, sagt er. schreit „Heil Hitler, ich bin Stalin“, er hat tungsgebiet Transkarpatien. Karpaten-Ukrainer wie er leben mühe- auf Vorrat getrunken. Der Watah spricht Weltabgeschiedenheit und bittere Armut los mit dieser Form der Bewusstseinsspal- stolz: „Nur wenn ein Erdbeben passiert, bestimmen das Bild: Männer, die ganze tung: sie haben ihre Uhren zwei Stunden kann die huzulische Kultur sterben.“ Baumstämme als Brennholz auf den Schul- zurückgestellt, auf mitteleuropäische Zeit, Rachiw ist die Hauptstadt des gleichna- tern aus dem Bergwald schleppen; bet- verabreden sich aber nach Kiewer Zeit. Als migen Distrikts, in dem das Denkmal für telnde Kinder und Greise; vor den Holz- die Zeiger auf seinem Zifferblatt Richtung die Mitte Europas steht. Und Ernst Neu- häusern Bauerngesichter, dunkel, derb, neun Uhr rücken, sagt Hodyntschuk „Was, mann ist der letzte Chasside aus Rachiw, schweigsam; in den Dorfschenken Markt- schon elf?“, und drängt zum Aufbruch. das die Juden Achna Raho nannten. Der weiber, Viehhändler und junge Paare aus Bei der Koliba, einem notdürftig zurecht- Letzte, der noch erzählen kann, „wie dos war gewäjn“ vor dem Krieg. Seine Glau- bensbrüder sind verstummt – ermordet, verstorben, geflohen. Neumann sitzt an der Rachiwer Straße des Friedens, im vierten Stock eines er- bärmlichen Mietshauses. Der beinahe 80-Jährige hat sich den Tallit, den Gebets- schal, um die Schultern geworfen, die Kipa mit den aufgestickten Chanukka-Leuch- tern auf den Hinterkopf gedrückt und liest Psalmen. Vier Synagogen habe es damals gege- ben, „und auch Jeschiwa ist aine gewäj- sen, für die Jungen“, sagt Neumann: „Von fast zehntausend Menschen in der Stadt waren dreiahalbtausend Jieden“, Kaftan- juden in der Minderheit. Die großen Feste, Pessach und Rosch Haschana, feierten alle. Als 1939 die mit Hitler verbündeten Un- garn nach Rachiw einmarschierten, waren die friedlichen Jahre unter tschechoslowa- kischer Herrschaft mit einem Schlag zu Ende. 1940 wird Neumann von den Un- Huzule Hodyntschuk, Freunde: Leben in Abgeschiedenheit und bitterer Armut garn verhaftet, geprügelt, gedemütigt. Er

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Werbeseite Ausland entkommt und flieht bei Jassinja über die chend Iwan Oros, das gelte nicht nur für Siegs über die Deutschen ist für die deut- Grenze in die Sowjetunion. Als deutscher Neumann. Oros ist einer der wenigen, die sche Oma zwar ein doppelter Alptraum, Spion verdächtigt, wird ausgerechnet er, mit dem alten Neumann noch Jiddisch aber was soll sie machen? der Jude, dort „arrestiert“. Erst 1947 sprechen. Oros’ Enkel Ferenc, der 15 ist Ferenc hört die Oma jammern, dass zu kommt Neumann aus Stalins Straflager in und Franz hieße, hätte sich die halb kar- Sowjetzeiten alles besser war, als man noch Workuta am Polarkreis zurück. Da gibt es patendeutsche Mutter gegen den ungari- zur Kur auf die Krim fuhr. Er hört sie sa- keine Juden mehr in Rachiw. Auch die El- schen Vater bei der Namenswahl durchge- gen, während Opa unter Bücherwänden tern und die drei Geschwister sind ermor- setzt, sitzt dabei und hat große Ohren. vornehm schweigt, dass man früher ein det worden in Auschwitz-Birkenau. Denn Opa spricht neben Ungarisch auch Vermögen fürs Lesen ausgegeben habe und Heute sind neben Neumann nur noch Ukrainisch, Deutsch, Russisch, Tsche- nun nicht mal mehr staubsaugen könne, Zugezogene da – Pinkasowitsch, Waiser- chisch, Rumänisch, Zigeunerisch und eben weil Staubsaugerbeutel zu teuer seien. man und die alte Raja vom Kiosk auf der Jiddisch. „Mit de Jieden spielen wir da- Ferenc aber ist jung und mag nicht jam- Straße des Friedens. Sie sind der Grund, mals Futbol, verstäjst“, sagt er. mern. Er hat ein Mountainbike, weil Papa weswegen Rabbi Chaim Schlomo Hoff- Liesel, die karpatendeutsche Oma, brät als Eisendrechsler in Tschechien arbeitet, mann aus dem fernen Mukaƒevo noch ab Wiener Schnitzel und brüllt durch den und er hört in der Garage Rap – von Grup- und zu vorbeischaut. Küchendampf, dass sie den Juden am pen, die Gestörter Reflex oder Tanz auf An Pessach sitzen sie dann zusammen Schabbes immer die Kerzen angezündet dem Kongoplatz heißen. Er kennt Mäd- im Gasthaus von Julij Kun, der die zartes- habe, lange bevor die Müller-Lilly und die chen mit Miniröcken, die keine Fragen of- ten Pelmeni und die dicksten Nudelsup- Zwecker-Lilly nach Mauthausen mussten. fen lassen, hat Freunde mit Internet-An- pen der Stadt macht, und feiern. „Auch Iwan, der Opa, kennt die Geschichten schluss, und seit der Tuner von Opa kaputt ist, sieht er MTV außer Haus. Zum Beispiel beim Sohn von Vasil Ko- vács, dem Zigeunerbaron, dessen Vater noch zehn Sprachen beherrschte. Hinter dessen mit Friedenstauben beklebtem Gar- tentor taucht Ferenc ein in eine andere Welt – himbeerfarbene Vorhänge filtern das Tageslicht, rote Plastikrosen und Ma- rienbilder umgeben den drei Zentner schweren Zigeunerbaron, der sich mit 35 Jahren zwar kaum mehr bewegen kann, der aber schöne Sätze sagt wie: „Ich bin ein lebendiges Denkmal“, oder: „Gott hat mich erwählt, was soll ich machen?“ Es kann vorkommen, dass der Zi- geunerbaron im weinroten Seidenhemd, mit einem bronzefarbenen Umhang und einem schwarzen Cowboy-Hut zum Rat- haus von Rachiw schreitet, unter den Au- gen von Raja, der Jüdin vom Kiosk auf der Straße des Friedens, und von huzulischen Bauern in bunt bestickten Kitteln. Dann ist Rachiw bunt und reich, Genpool einer vergangenen Zeit. Ansonsten: keine Hoffnung. Keine Ar-

R. RIEDLER beit, keine Fremden. Touristen kommen Zigeunerbaron Kovács in Rachiw: „Gott hat mich erwählt, was soll ich machen?“ nicht freiwillig über Schlaglochpfade ans Ende der Welt, in die schmutzstarrenden ich hab gewollt von dannen fahren“, sagt schon. Er springt lieber noch eine Genera- Hotels von Rachiw, um das „huzulische Neumann bitter, „aber meine Frau hat tion zurück, in die Zeit, „wann in Wien Paris“ zu besuchen, wie die Werbefach- nicht gewollt. So bleiben wir da, in unserm gestorben ist Franzljoseph“ – der Kaiser, leute hier schummeln, die „Stadt im geo- teuren Vaterland.“ 1916 – und „Jonibácsi, der Onkel, als Sol- grafischen Zentrum Europas“. Neumanns Großeltern liegen am Jüdi- dat am Katafalk ist gestanden“. Zu allem Überfluss macht ein Gerücht schen Friedhof ganz hinten, da, wo die um- Die Gegend, in der das Denkmal für die sich breit. Ein schreckliches Gerücht. Die gestürzten Grabsteine den Wettlauf mit Mitte Europas steht, hat einen Menschen- Journalisten des „Stern von Rachiw“ ha- Farnen und Brennnesseln schon verloren schlag geboren, der spielerisch in wech- ben gehört, dass der geografische Mittel- haben. Vielleicht zum letzten Mal steigt er selnden Sprachen über Tragödien, Trium- punkt Europas eigentlich gar nicht hier lie- jetzt hinauf, die steile, ausgewaschene phe, Kulturen, Religionen und Herrscher ge. Sondern, exakt und computervermes- Schotterpiste, die kein Auto bewältigt, ein hinweghuscht, als sei alles Teil der Fami- sen, bei Vilnius in Litauen. Konnte das mühseliger Weg in flirrender Hitze. liengeschichte; Karpaten-Ukrainer sind k. k. Militärgeographische Institut irren? Er hoffe, sagt Neumann, dass ihm seine polyglott, ohne sich vom Fleck zu rühren. 47 Grad 58 Minuten nördlich des Äqua- Herzkrankheit noch Zeit zum Leben lasse. Ferenc geht den kulturellen Mittelweg. tors, 24 Grad 12 Minuten östlich von Die Arzneikosten verschlängen beinahe Er besucht die Schule Nummer 1, an der Greenwich, zu Füßen des Denkmals, wird die Rente, die er vom ukrainischen Staat Straße des Friedens. Er singt, als Deutsch- diese Frage mit karpaten-ukrainischer Be- erhält, etwa 50 Mark: „Ich kann wohnen Ungar, bekleidet mit bestickter Hirtenweste harrlichkeit ignoriert. Der Besitzer des aus- oder essen oder Medikamente kaufen. Al- im huzulischen Schulchor – am 9. Mai, dem gestopften Braunbären schleppt weiter täg- les zusammen geht nicht.“ Tag des Siegs über die deutschen Faschis- lich sein totes Tier und die Sofortbild- „Wenn kon ischt Geschäft, kon ischt ten, sogar im Kulturhaus. Die Kombina- kamera an. Sollten irgendwann Touristen Gäld“ – ohne Verdienst kein Geld, sagt la- tion aus huzulischer Tracht und Feier des kommen, ist er gerüstet. Walter Mayr

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den Hunden zu ziehen, die er an das In- mit dem Kollegen in Deutschland, der die EUROPA stitut für Virologie in Gießen schicken Collies behandelt habe, telefonieren kön- musste, damals das einzige von London in ne? Der Franzose bestätigte danach – ein Zecke und Deutschland akzeptierte Labor. wenig neben der Wahrheit, aber auf kor- Bei Luke und Lucy fanden Chip-Ein- rekten Formularen –, er hätte die beiden satz, Impfung und Blutabnahme am sel- Hunde am Samstag um 17.15 Uhr gegen Bandwurm ben Tag statt, die Tiere wurden ja regel- Zecken und Bandwurm behandelt. Kosten: mäßig geimpft. Das Ergebnis: Antikörper 300 Francs, rund 90 Mark. Auch nach Ende der Einreisesperre gegen das Tollwut-Virus eindeutig nach- Am Seafrance-Schalter wurden die weisbar. Kosten bis dahin: gut 700 Mark. Papiere nunmehr anstandslos akzeptiert. ist es nicht gerade leicht, mit Reisen durften beide gleichwohl lange Dann waren pro Tier wieder 300 Francs Hund oder Katze auf die Britischen noch nicht. London verlangt: „Nach dem fällig, obwohl die Hunde während der Inseln zu gelangen. Bluttest beginnt eine Wartezeit von sechs Überfahrt im Pkw zu bleiben hatten. Für Monaten, ehe das Tier nach dem Vereinig- die Begleitpersonen wurde es auch noch ucky Luke und Lucy teilten das ten Königreich verbracht werden darf“. mal um 300 Francs teurer, gegen Mittag sei Schicksal vieler irischer Emigranten. Mitte August war die Frist verstrichen. der Überfahrttarif höher als am Vormittag. LNachdem sie die Grüne Insel verlas- Jetzt mussten die Collies noch gegen Zweiter Check vor dem Verladen des sen hatten, konnten sie von den mauer- Zecken und Bandwürmer behandelt wer- Fahrzeugs. Minutiös muss belegt werden, gesäumten Feldern, den Brechern auf den den. Allerdings sei, so London, die Einrei- dass die beiden Hunde in den sechs Mo- Sandstränden, den Winterabenden vor se nur in der Zeit zwischen 24 und 48 Stun- naten vor der Einreise nicht außerhalb der dem offenen Torffeuer nur noch träumen. den nach der Behandlung statthaft. 22 Staaten gewesen sind, auf die London Lucky Luke und Lucy sind Border Col- Also war ein Tierarzt zu bitten, des Zeit- die „Haustier-Reiseverkehrs-Regelung“ an- lies, wegen ihrer Intelligenz und Freund- korsetts wegen die Tiere am Samstag zu wendet. Die junge Frau im Kontrollhäus- lichkeit geschätzte Bauernhunde, beide in impfen. Akkurat trug er die Daten in das chen ließ das Chip-Lesegerät über den West-Cork (Irland) geboren. Nach Umzug europäische „Tierärztliche Gesundheits- Hunden kreisen; dann war ein großes des Rüden und der Hündin an den Rhein und Impfzeugnis für Hunde und Katzen neongelb-grünes Karree an die Wind- war ihre Rückkehr in die alte Heimat, etwa im Grenzverkehr“ ein. Und verlangte für schutzscheibe zu heften, der gefährlichen zu Ferienaufenthalten, ausgeschlossen. die Störung seines Wochenendes 130 Mark. Fracht wegen. Und los ging’s. Gemäß einer Order von 1929 gegen das Montagmorgen, gut anderthalb Stunden Ankunft in Dover: Der britische Unifor- Einschleppen der Tollwut ist heute noch vor Abfahrt der Dover-Fähre im „Sea- mierte lächelt, wedelt den Wagen mit dem bei direkter Einreise “-Gebäude im Ha- Aufkleber durch, keine Kontrolle. vom Kontinent eine fen Calais: Das Impf- Sieben Fahrstunden und neun Fähr- sechsmonatige Qua- zeugnis aus Gießen wird stunden später stoppt der irische Zöllner rantäne der Tiere den deutschen Pkw und trägt eine Bitte in Irland unerlässlich. Britisches Verbotsschild vor: Dies seien die ersten Hunde, die aus Dennoch sind Luke Gefährliche Fracht Deutschland über Großbritannien in Cork und Lucy diesen Som- mer wieder über iri- sche Weiden getollt, ohne Quarantäne, ganz legal. Einfach war das

nicht, teuer obendrein. / KNP HOUGHTON P. BSE, der Rinderwahn- sinn, hat es möglich gemacht. Das kam so: Den rigorosen Regeln der Iren entsprechen die strengen Tollwut-Gesetze der Briten. Hartnäckig widersetzte sich London jahr- zehntelang jedem Drängen, die Freizügig- keit für Tierfreunde im vereinten Europa doch nicht zu behindern. Dann aber wurde das Ansehen des Kö- nigreichs durch den BSE-Skandal rampo- niert. Um die Europäer wieder freundli- cher zu stimmen, lockerten Tony Blair und Helfer die Haustier-Importrestriktionen. Am 28. Februar 2000 wurde der Hunde- und Katzenbann aufgehoben, mit strengen

Auflagen. Luke und Lucy waren gleich da- / REPORTERS CAPPELLEN v. W. bei. Denn der Weg nach Irland führt über Grenzkontrolle im französischen Calais: Ein wenig neben der Wahrheit England. Die Iren gestatten seit eh und je, Hunde von der tollwutfreien Nachbarinsel akzeptiert, das Europäische Zeugnis nicht. ankommen. Ob er wohl die ganzen Be- mitzubringen. Und wenn die Briten Hun- Es fehle die Angabe, um wie viel Uhr ge- gleitdokumente fotokopieren dürfe? Dann de aus Deutschland reinlassen, sind es für gen Bandwürmer und Zecken behandelt wisse man wenigstens, wonach man in Zu- die Iren Hunde aus Großbritannien. worden sei. Und warum man nicht das von kunft zu fragen habe. Zunächst war die Tollwut-Impfung fällig, den britischen Behörden dafür geforderte Luke und Lucy haben den Weg frei ge- mit Implantieren eines Mikrochips an der Formular vorweisen könne? Die Fähre um macht. Vom Frühjahr 2001 an plant Dublin, linken Schulter zur Identifikation. 30 Tage 11.15 Uhr fuhr ohne Luke und Lucy ab. das Mitbringen von Hund und Katze vom später, so die Vorschrift, hatte der Tierarzt Weiter hilft ein Veterinär in Calais, der Kontinent ohne Umweg über Großbritan- in Deutschland dann eine Blutprobe von die britischen Wünsche kennt. Ob er mal nien zu erlauben. Dirk Koch

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Werbeseite Szene Kultur KINDERMANN Chefdirigent Abbado vor dem Berliner Philharmonischen Orchester

MUSIKBETRIEB sich der italienische Maestro „fast erpresserisch“ weigern, noch länger unter Weingartens Ägide zu taktieren. Abbado war in diesem Sommer plötzlich am Zwölffingerdarm operiert Philharmonischer worden und hatte danach alle Verpflichtungen bei den Salz- burger Festspielen und auch die ersten Saisonauftritte in Ber- lin gestrichen. Inzwischen liegt seine feste Zusage vor, die Schlachtenlärm philharmonischen Konzerte Anfang Oktober planmäßig zu übernehmen. Im Orchester wird jetzt vermutet, dass der al- n der Berliner Philharmonie mehren sich die Zeichen einer ternde und zunehmend abgeschlaffte Stabführer „durch die Ineuen Zerreißprobe: Claudio Abbado, 67, seit 1990 und noch jüngsten Berliner Triumphe seines designierten Nachfolgers bis 2002 Chefdirigent des deutschen Eliteorchesters, hat sich Simon Rattle traumatisiert“ sei, früher als geplant, Berlin den neuerdings auf den (bereits nächstes Jahr ausscheidenden) Rücken kehren möchte und dafür ein Zerwürfnis mit dem In- Philharmoniker-Intendanten Elmar Weingarten, 58, einge- tendanten als Vorwand nutzen könnte. Weingarten selbst woll- schossen und macht diesem nach Beobachtungen von Musi- te dem SPIEGEL gegenüber zu den Spekulationen „kein ein- kern „das Leben zur Hölle“. Die Motive für Abbados Störfeuer ziges Wort sagen“. Und sagte dann doch: „In ein, zwei Wochen sind auch den Philharmonikern nicht ganz klar; jedenfalls soll wissen wir mehr.“

AUTOREN dessen Spur nach Pennsylvania verfol- gen. Dort hatte der Vermisste eine – Stephen Kings „nach den Fotos, die ich gesehen habe, sehr schöne“ – Brasilianerin geheiratet Enthüllungen und mit ihr, drei Söhnen und einer Tochter „eine neue Familie gegründet“, eit der Amerikaner Stephen King, bevor er Mitte der achtziger Jahre starb. S53, zum millionenschweren Bestsel- Die zweite Gattin des Vaters war, ver- lerautor wurde, wird immer häufiger mutet King, Katholikin und habe mit gerätselt, was es mit dem mysteriösen einem Bigamisten gelebt – „ein sehr Verschwinden seines Vaters auf sich hat: erns-tes Vergehen“. Deshalb hat der Stephen war zwei, als Dad das Haus Schriftsteller bis heute auch jeden Kon- verließ, um sich ein Bier zu holen, und takt zu seinen Halbgeschwistern ver- nie wieder auftauchte – ein amerikani- mieden: „Sie wissen nichts von meiner scher Abgang. In der jüngsten Ausgabe Existenz.“ Und noch eine Kuriosität von „Life – The Observer Magazine“ gab Stephen King jetzt preis: Den blau- hat der Autor nun das Geheimnis um en Dodge-Van, der ihn im Juni 1999 den Entlaufenen gelüftet. Danach konn- fast totgefahren hätte, hat er sich als te ein Dokumentarfilmer mit Hilfe der makabres Souvenir inzwischen gekauft Sozialversicherungsnummer des Vaters Autor King mit Unfallwagen – samt gesplitterter Frontscheibe.

der spiegel 39/2000 227 Szene

Am Rande Salzburger Schockerl ie etablierten Brutstätten der DHochkultur setzen sich gern dadurch in Szene, dass sie ihre Kunststücke allein einstudieren und dann auch für sich behalten. Co-Produktionen haben nämlich den Ruch, dass es ein einzelnes Haus nicht schafft – künstlerisch, pekuniär, beides. Umso bei- fälliger wurde im Metier die Tatsache registriert, die Oper Stuttgart und die Salzburger Festspiele Bugrov-Objekt „Himmel und Erde“ in der Lüneburger Heide würden im nächsten Sommer gemeinsame Sache KUNST machen. Mit vereinten Kräf- ten sollte die höchst aufwendige Oper „Das Mädchen mit den Zwischen den Wolken Schwefelhölzern“ von Helmut bgehoben wirkte die Idee des russischen Künstlers Valerij Bugrov. Immerhin Lachenmann viereinhalb Jahre Ahatte er sich nicht weniger vorgenommen, als Menschen, Himmel und Erde in nach ihrer Hamburger Urauf- einem einzigen Kunstwerk zusammenzubringen. Vor neun Jahren setzte er im Auf- führung endlich neuinszeniert trag des niedersächsischen Kunstvereins Springhornhof einen kreisrunden 200-Qua- werden. Alles schien in Butter. dratmeter-Spiegel in die umliegende Heidelandschaft. Ein schmaler Spalt ermöglichte Nun ist alles Essig. Denn das es den Besuchern, bis zum Mittelpunkt der Plattform vorzudringen – zwischen die Salzburger Festspielkuratorium gespiegelten Wolken, Sonnenstrahlen und nachts auch zwischen die Sterne. Titel: natürlich „Himmel und Erde“. „Es sah aus“, sagt Bugrov, „als sei ein Stück vom Kos- hat die Gemeinschaftsproduktion mos auf der Erde gelandet“, und das Objekt habe das Publikum begeistert. Doch der „wegen der großen Budgetpro- Spiegel hielt nur ein Jahr, dann wurde er von Unbekannten zertrümmert. Erst jetzt bleme“ und der „veränderten konnte der privat finanzierte Kunstverein, der in den vergangenen 30 Jahren in sei- politischen Situation in Öster- ner Umgebung einen spannenden Parcours von Kunstobjekten angelegt hat, das Geld reich“ kurzerhand gekündigt. Ein für eine neue Version zusammenkratzen. Am kommenden Wochenende wird „Him- Schmarren, sagt sich der düpierte mel und Erde II“ eingeweiht. Dieses Mal hat Bugrov ein Spezialglas verwendet. Stuttgarter Opernintendant Klaus Einen Schutz vor Vandalen, fürchtet er, werde es aber nie geben. Zehelein und fordert Wiedergut- machung. Die „uns absolut un- verständliche Absage“ verursache ein täglicher Alptraum. Doch „über die abgesprochene Kosten- nun kommt die Lösung: Tho- teilung hinaus Ausgaben, die wir mas Fink und Yong Mao, zwei selbstverständlich den Salzburger Physiker aus Cambridge, haben Festspielen in Rechnung stellen das Schlipsproblem mit mathe- müssen“. Auch könne er „die An- matischer Grundlagenforschung sicht, dass politische Veränderun- bezwungen. In ihrem Buch gen zum Vertragsbruch gegen- über „Die 85 Methoden, eine Krawatte zu binden“ (Hoff- über Partnern berechtigen sollen, mann und Campe Verlag; 24,90 nicht nachvollziehen“. Pikanter- Mark) bekommt jeder Knoten

weise können das andere Kolle- DPA seine Formel. Das sehr engli- gen auch nicht: Die Direktoren Schlipsträger Jean-Luc Dehaene, Gerhard Schröder sche Opus hilft auch weniger der beiden Wiener Opernhäuser theoretischen Geistern: Neben haben ihm jedenfalls „spontan an- LEBENSART genauen Binde-Tipps gibt es Rat, zu geboten, für Salzburg einzusprin- welcher Kragenweite eher ein „Platts- gen“. Da schau her: Die Wiener Knoten fürs Leben burgh“, der klassische „Windsor“ oder der vertrackte „Balthus“ passt: Stil be- haben offenbar weniger Angst vor inmal um den Hals, locker knoten, deutet immer auch Kreativität. „Eine Jörg Haider als Salzburgs Duck- Erechts herum, durch die Schlinge, gut gebundene Krawatte ist der erste mäuser. festziehen – halt, war das richtig? Für ernste Schritt im Leben“, meinte schon viele Männer ist das Krawattebinden Oberdandy Oscar Wilde.

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MUSIK LITERATUR Kandierter Strich Casanova meets Mozart er hat die legendäre Vorstel- st was dran an der alten Geschichte, Wlung nicht noch im Ohr: „Mein Idass sich Casanova und Mozart über Name ist Bond, James Bond.“ Doch den Weg liefen, im Oktober 1787 in beim neuen Bond geht es nicht um Prag, kurz vor der Uraufführung von 007, den toughen Kino-Agenten, Mozarts „Don Giovanni“? In Hanns- sondern – gleich lautend – um ein Josef Ortheils neuem Roman „Die Quartett weiblicher Twens, die an- Nacht des Don Juan“ steht dieses Tref- geblich nach klassischer Unter- fen im Zentrum und außer jedem Zwei- weisung klassische Instrumente fel. Ortheils Casanova schafft es sogar, streichen und jetzt offenbar als phil- den „Don Giovanni“-Librettisten Lo- harmonische Spice Girls ins Musik- renzo Da Ponte kurz vor der Premiere geschäft drängen: Ihr Entree in die aus Prag zu vertreiben, um Schulter an Crossover-Branche wird jedenfalls Schulter mit Mozart zu retten, was von von beispiellosem PR-Getöse be- Da Pontes Text noch zu retten ist. Vor gleitet. Dabei fingern sich die Gei- allem will er aus dem zynischen Wei- gerinnen Haylie Ecker, 24, und Eos, berfresser Don Giovanni einen wie sich 24, mit der Bratschistin Tania Davis, selber machen: einen – hier zitiert Ort- 24, und der Cellistin Gay-Yee Wes- heil Casanova –, der „für das andere terhoff, 26, auf ihrer ersten CD – Geschlecht geboren“ wurde, um dessen Titel: „Bond born“, Label: Decca – Streichquartett Bond „Liebe zu gewinnen“. nur durch die plattesten Niederun- Wie es hätte sein können, wenn es so gen seichter Unterhaltung; selbst was les Debüt selbstredend auch noch als gewesen wäre: Der doppelte Konjunktiv wenigstens taktweise wie seriöse Kam- „dramatisch, unwiderstehlich, sexy schwebt über jedem historischen Ro- mermusik daherkommt, ist kandierter und sprudelnd originell“. Steht zu be- man. Ortheil, 48, Literatur- und Musik- Strich auf suppiger Basis. Einmal von fürchten, dass taube Crossover-Freaks wissenschaftler, hat Ort und Zeit, das allem guten Geschmack verlassen, fei- auf die Sprücheklöpplerinnen auch alte Prag, liebevoll restauriert, profes- ert die hübsche Viererbande ihr digita- noch hereinfallen. sionell ist die musikali- sche Seite, zierlich ge- fädelte Intrigen führen fiktive und faktische Personen in interessan- Kino in Kürze te Clinchs. Weil dabei mehr als genug Worte „Final Destination“. Die Klassenreise vermeintlich Geretteten. Aus der Ket- gewechselt werden, soll mit Flug 180 von New York nach Pa- tenreaktion der Katastrophen fabriziert zieht sich die „Nacht“ ris gehen, doch weit kommen die Teen- James Wong, als „Akte X“-Veteran bes- in die Länge. ager nicht: Kaum in der Luft, explo- tens mit dem Übernatürlichen vertraut, Und war es so, damals diert ihr Flieger. Nur der Schüler Alex einen Teenage-Schocker, bei dem sich im alten Prag? In Mo- (Devon Sawa) hat es vorher geahnt und die Zuschauer anschnallen sollten. zart-Dokumenten die- ist, sechs Leute im Gefolge, noch schnell ser Zeit kommt Casanova nicht vor. In vor Abflug ausgestiegen. Doch der Tod „Schatten der Wahrheit“. In die lange, einer eher novellistischen Quelle aus lässt sich seine Tour nicht von Hellseher trostlose Reihe der Möchtegern-Hitch- dem Jahr 1871 trifft er Mozart in Prag zu Alex vermasseln – mit morbidem Witz cocks reiht sich mit diesem Werk auch einem Plausch. Anwesend war er jeden- inszeniert der Sensenmann bizarre Un- der rundum halbbegabte Hollywood- falls: Casanova, damals schon 62, Lieb- fälle und holt sich nach und nach die Filmemacher Robert Zemeckis („For- haber i. R. und Bibliothekar im nahen rest Gump“, „Contact“) ein. Dux, hat, vermuten Mozartianer wie Sein Thriller bietet neben Casanovisten, auch den „Don Giovan- der Star-Zugkraft von Har- ni“ gesehen. Für seine Mitarbeit am Li- rison Ford und Michelle bretto jedoch gibt es keine Belege, und Pfeiffer allerlei übernatürli- Don Giovanni blieb der zynische Wei- che Kräfte auf, um die Ge- berfresser, der er war. Er fährt zur Hölle schichte eines vertuschten und Casanova zurück nach Dux, in die Verbrechens zu erzählen. Hölle des Alters. Dort beginnt er, seine Dabei greift der Regisseur Memoiren zu schreiben, 13 Jahre vor hemmungslos zu Schock- dem Prag-Trip brechen sie ab. Im Nach- und Gruseleffekten, die Sir lass jedoch fanden sich zwei Blätter von Alfred weit unter seiner Casanovas Hand mit einer „Don Gio- Würde gefunden hätte, und vanni“-Szene, die besser ist als die von legt so viele falsche Fährten Da Ponte. So was reizt die Phantasie. aus, dass den Zuschauer Und den Romancier.

20TH CENTURY FOX 20TH CENTURY letztlich die richtige nicht Szene aus „Schatten der Wahrheit“ mehr schert. Hanns-Josef Ortheil: „Die Nacht des Don Juan“. Luch- terhand Verlag, München; 384 Seiten; 42 Mark.

der spiegel 39/2000 229 „The Show Must Go On“ Wenn die reifen Kastanien aufs Pflaster knallen, erwachen die deutschen Theater aus der Sommerruhe zu lebhafter Aktivität. „Al- les neu!“ heißt da überall die September-Parole, und dort ganz be- sonders, wo neue Leute ans Werk gehen. Dort haben neue Werbe- agenturen ein neues Logo sowie eine neue Kampagne ausge- heckt, um insbesondere jungen Leuten auf das gute alte Theater den Mund wässerig zu machen. „Der Lappen muss hochgehen!“, pflegt der alte Theaterhase zu sagen. Der junge Theaterhase be- vorzugt die weltläufigere Formel „The show must go on!“ – und am Hamburger Schauspielhaus hat man schlau diesen Slogan gleich zum Titel eines Spielzeit-Eröffnungsspektakels gemacht. Neue Chefs übernehmen die Schauspielbühnen zum Beispiel in Bochum, Hamburg (gleich zwei Theater), Hannover und Zürich: Da steht die kritische Aufmerksamkeit auf dem höchsten Pegel. Zwei der Neu-Intendanten waren bisher unter den erfolgreichs- ten, umworbensten Regisseuren ihrer Generation – Matthias Hartmann, 37, der nun nach Bochum geht, und Christoph Mar- thaler, 48, der das Züricher Schauspielhaus übernimmt. Die an- deren drei gehören zur Spezies der Kulturmanager: Der neue Schauspiel-Intendant in Hannover, Wilfried Schulz, 48, war bis- her Dramaturg in Hamburg, der neue Hamburger Thalia-Theater- Chef wiederum, Ulrich Khuon, 49, war Intendant in Hannover, und der neue Hamburger Schauspielhaus-Chef, Tom Stromberg, 40, hat früher das Frankfurter Theater am Turm und dann das Kritische Aufmerksamkeit („Top oder Flop?“) richtet sich auch Expo-Kulturprogramm in Hannover betrieben. auf jene, deren Neubeginn vor einem Jahr hohe Erwartungen Mit den Häuptlingen wechselt naturgemäß jeweils eine Hand voll weckte. Haben sie sich behauptet? Wie starten sie in die zweite Spitzenkräfte den Arbeitsplatz: von Hamburg nach Hannover, von Runde? Aus Basel wird eine Bauchlandung gemeldet, auch vom Hannover nach Hamburg oder von Hamburg nach Zürich. Sie alle Frankfurter Theater am Turm ein Debakel, von der Berliner – und erst recht die Theaterchefs in den östlichen Ländern von Schaubühne hingegen Gelungenes, vom Berliner Ensemble fast Rostock bis Dresden – beklagen die Daumenschrauben, die ih- ein Triumph. nen die rigorose Subventionsökonomie anlegt. Doch alle, die es Schließlich gibt es jene Intendanten, die nun ihre letzte Spielzeit- sich dennoch leisten können, umwerben inständig dieselben jun- Runde drehen – etwa am Münchner Residenztheater und am Ber- gen Autoren und Regisseure: Auf dem Markt der neuen Theater- liner Deutschen Theater –, weil dort im nächsten Sommer neue genies ist die Nachfrage immer größer als das Angebot. Leute mit der Parole „Alles neu“ antreten.

THEATER Hitze, Heiterkeit, Mord Die Herbstsaison ist eröffnet: Starts, Fehlstarts, Neustarts an fünf deutschsprachigen Bühnen

Jahrzehnten die Stadt und ihr Theater nur zwei aus Salzburg) fällt diese „Kerntruppe“ Zürich selten ein Herz und eine Seele waren. nun über Zürich her. Immerhin, die Entscheidung fiel schon Die Stadt wiederum kam Marthaler im Juni 1997. So hatte die Stadt einerseits, entgegen, indem sie nicht nur eine Reno- Angst-Hotel der Künstler andererseits Zeit genug, sich vierung des geliebten plüschigen Schau- vorsichtig aufeinander zuzubewegen. Mart- spielhauses beschloss (die noch im Gange ass der eigenbrötlerische Theaterträu- haler tat es, indem er (vornehmlich am ist), sondern auch zuließ, dass sich – auf Dmer und -macher Christoph Martha- Hamburger Schauspielhaus) eine ganze dem Gelände eines riesigen, „Schiffbau- ler, der in Zürich aufgewachsen ist, sich „Familie“ um sich scharte, zu der neben halle“ genannten Industriedenkmals in traute, die Intendanz des Züricher Schau- den beiden unentbehrlichen Arbeitspart- einem Arbeiterviertel – aus einem mode- spielhauses zu übernehmen, war beson- nerinnen Anna Viebrock (Bühnenbild) und raten Bauprojekt für Theaterwerkstätten, ders für Züricher Marthaler-Freunde eine Stefanie Carp (Dramaturgie) ein gutes Büros und Probenräume ein veritables Überraschung: Er musste doch, obwohl er halbes Dutzend Schauspieler, Tänzer und neues Kulturzentrum entwickelte, zu dem auf dessen Bühne nie als Regisseur tätig Musiker gehören. Mit vier fertigen Mar- nun neben zwei Theatersälen, einem war, sehr wohl wissen, dass in den letzten thaler-Inszenierungen (zwei aus Hamburg, Jazzclub und einem Restaurant auch Ate-

230 der spiegel 39/2000 W. BIERI / KEYSTONE PRESS ZÜRICH BIERI / KEYSTONE W. Marthaler, neue Spielstätte (u.: Außenansicht): „Freudentränen“ W. BIERI / KEYSTONE PRESS ZÜRICH BIERI / KEYSTONE W. L. ZUBLER / KEYSTONE PRESS ZÜRICH / KEYSTONE L. ZUBLER Marthaler-Stück „Hotel Angst“ in Zürich: Subversive Collage aus Schützenfestreden, Verbotstexten und helvetischer Volksmusik liers für Designfirmen und Künstlerwoh- ren solchen Ereignis könnte das Motto sein: Staatsschauspiel an die Spielzeiteröffnung. nungen gehören. „Wenn das Alpenhirn sich rötet, tötet, freie Am Freitag dieser Woche präsentiert Cor- Sogar der sonst professionell ungerührten Schweizer, tötet!“ Urs Jenny nelia Crombholz, 34, „Der tollste Tag“, „Neuen Zürcher Zeitung“ trieb dieses Werk Peter Turrinis moderne Beaumarchais- des Wiener Star-Architektenpaars Ortner München Variante. Einen Tag später folgt die Schwei- & Ortner „Freudentränen“ in die Augen. zer Regisseurin Simone Blattner, 32, mit Am vergangenen Wochenende wurde der „Der Fremde“. 60 Jahre nach ihrem Er- prächtige „Schiffbau“ mit einem Mara- Mut der Jungen scheinen ist Albert Camus’ legendäre thonfest und der ersten Marthaler-Premie- Erzählung vom Einzelgänger Meursault, re mit dem Titel „Hotel Angst“ eingeweiht. ünchen ist auch nicht mehr das, was der aus Zufall zum Mörder wird, erstmals Aus Angst wollte Marthaler anfangs Mes mal war. Bei jedem Oktoberfest auf der Bühne zu sehen. Ein Projekt, das nicht nach Zürich heimkehren, aber aus steigen die Bierpreise, mit dem Wetter zumindest mutig zu nennen ist. Angst hat er es „nach dem jahrelangen steht es auch nicht viel besser als in Ham- Blattner und ihr Dramaturg Jens Groß Herumvagabundieren“ dann doch gewagt: burg – und den Titel als heimliche Thea- haben eine schlüssige Theaterfassung aus „Weil Theater ohnehin nur aus Angst be- terhauptstadt hat München offenbar kampf- steht.“ So lag der Stücktitel nah, und es lag los abgegeben. Berlin, Hamburg, sogar für Marthaler auch nah, seinen stets glei- Hannover oder Stuttgart – für Münchner chermaßen touristengeilen wie fremden- Theaterfans gilt längst: Überall ist es bes- feindlichen Landsleuten mit ihren Ängst- ser, wo wir nicht sind. lichkeiten und Ängsten als metaphorischen Die Kammerspiele sind seit Monaten Zufluchtsort (schweizerisch: Réduit) ein stillgelegt, nachdem bei der Sanierung auf „Hotel Angst“ anzubieten – eines dieser unglaubliche Art geschlampt wurde. Und hoffnungslos trüben, erstickend vermufften weil Improvisieren noch nie die Stärke des Alptraumgehäuse, wie sie nur Anna Vie- Hausherrn Dieter Dorn war, weiß man brock zu erschaffen vermag. auch noch nichts über die Pläne für die Marthaler, der Liebhaber nicht enden laufende Saison – auf der Website bitten wollenden Männerchorgesangs, ist vor al- die Verantwortlichen um „etwas Geduld“. lem durch seine Kunst berühmt geworden, Beim Bayerischen Staatsschauspiel, das

den so genannten Bunten Abend (der in Dorn nächstes Jahr übernimmt, startet der HEINE F. der Schweiz auch gern „Heimabend“ ge- glücklose Intendant Eberhard Witt in sei- Camus-Darsteller Scherff (r.) in München nannt wird) in seiner ganzen vollfetten Ba- ne letzte Spielzeit. Er kann das ganz befreit Zu rund, zu gemütlich nalität zu einem Kunstwerk eigenen Ran- tun, weil von seiner Mannschaft ohnehin ges zu erheben. Und diesmal ist im Zeichen niemand mehr Großes erwartet. Seine dem Prosatext destilliert: Viele Passagen, in der glücklichen Heimkehr Marthalers post- Chefdramaturgin Elisabeth Schweeger lei- denen der Held im Original in indirekter dadaistisch-subversive Collage aus Schüt- tet künftig das Frankfurter Schauspiel. Rede das Geschehen referiert, haben sie zenfestreden, leer laufenden Demokratie- Du hast keine Chance, aber nutze sie – einfach in direkte Rede übertragen und auf Ritualen, Verbotstexten und militärischem nach diesem Motto des Münchner Thea- die entsprechenden Personen verteilt. Die Getue besonders liebevoll in helvetische tergenies Herbert Achternbusch machen Hauptfigur aber, im Buch der Ich-Erzäh- Volksmusik gebettet. Wie bei einem frühe- sich nun zwei junge Frauen am Bayerischen ler, beteiligt sich nur zum Teil an den Dia-

der spiegel 39/2000 231 Kultur logen. Oft wendet sich Meursault stattdes- publik Vineta“. Die Jüngeren auf der Tha- Das bringt zum Lachen, ist aber beinahe sen ans Publikum und erzählt, was er in lia-Bühne versuchen sich zu helfen, indem schon Sabotage am Text. Vielleicht hat eben dieser Situation tat und sagte. So sie heftig gegen den Automaten treten und Kimmig auch irgendwann schlicht den bleibt der Held, wie bei Camus, ein Außen- die Sekretärin beinahe vergewaltigen, die Überblick verloren. stehender in seinem eigenen Leben. Älteren bereiten ihren Cappuccino lieber Rinkes „Vineta“ soll handeln vom Ende Gespielt wird das Ganze auf einer leicht wieder per Hand zu und gestehen der Se- der Utopien und vom Ende der Arbeit, vom ansteigenden Fläche, über die ein helles kretärin mit gebührendem Abstand ihre Ende des männlichen Selbstwertgefühls und Segeltuch gespannt ist – mit erstaunlich schwärmerische Liebe. Was die milden Al- vom Ende der Politik. Und irgendwie auch wenigen Mitteln erzeugt Blattner da eine ten tun, wird die Zukunft der zornigen Jun- noch von Globalisierung und Gegenmoder- Atmosphäre von Hitze und gnadenloser gen sein, so schließt sich der Kreislauf des ne, vom Gerangel um die Berliner Republik, Sonne, wie sie Camus so eindringlich Arbeitslebens. vom Scheitern der Expo und den Fusions- beschreibt. Und würde es wohl ewig, ginge es nicht plänen der Deutschen und der Dresdner Der Text, die Bilder – scheinbar ist alles mit der Arbeit langsam zu Ende. Ein Re- Bank. Das konnte vermutlich nicht gut ge- in Ordnung. Woran liegt es also, dass das gisseur wie Christoph Marthaler verwan- hen. Es sei denn, Vernebelung gehöre zum Konzept der Regisseurin trotzdem nicht delte dergleichen Rituale obsoleter Ar- Programm der neuen Thalia-Mannschaft. aufgeht? Wenn man es wagen darf, so eine beitskräfte in zähe Musicals, überschütte- Theater, so die Parole des Intendanten Frage bereits nach der zweiten Durchlauf- te das Publikum mit Wiederholungen des Ulrich Khuon, solle sich auf seine „sub- probe zu stellen, muss die Antwort lauten: ewigen Leerlaufs, bis es loslachen musste versive Energie“ besinnen, „geheimnisvoll Es liegt an den Menschen, die auf der Büh- vor Schmerz. Das Duo Rinke/Kimmig geht und rätselhaft“ sein, Eingängigkeit und ne zu sehen sind; sie interessieren einen wieder einen Schritt zurück in der Thea- Verstehbarkeit habe sich ja schon das Fern- kaum. Vielleicht könnte ein geheimnisvol- tergeschichte, setzt wieder auf Handlung, sehen auf die Fahnen geschrieben. So ge- lerer Hauptdarsteller da etwas ausrichten – ausgemalt bis ins verschachtelte Detail. sehen hat er mit „Vineta“ ein Etappenziel Michael Scherff ist für den Meursault zu Sechs Personen suchen eine Aufgabe. erreicht. Und das Publikum weiß einmal gemütlich, zu rund. Die Figuren um ihn Sie sind Architekt, Marketingspezialist, mehr: Die wahren Probleme des Mannes herum – den Nachbarn, den Kumpel, den Bürgermeister oder Arbeitsamtchef und im Büro sind sein Kaffeeautomat und sei- Richter, die Freundin – überzeichnet Blatt- haben eine geheime Mission zu erfüllen: ne Sekretärin. Doja Hacker ner stark ins Karikierende. Damit verstärkt Auf einer noch unbebauten Insel im Bott- sie zwar den Eindruck, dass Meursault ein nischen Meerbusen sollen sie ein neues Berlin Fremder ist in einer absurden Welt, aber sie Utopia errichten. Ein jeder möge beitragen, verhindert auch, dass man sich mit ihnen was seiner Meinung nach in eine bessere beschäftigt. Alles an der Inszenierung Welt gehört, das reicht vom Expogeschul- Wer mit wem? schreit: Hier wird Theater gespielt! ten Themenpark „untergegangene Träu- Noch ist das für die Münchner kein me“ über einen langen, Insel und Festland olange Claus Peymann am Wiener Burg- Warnruf. Die derzeitige Theaterprovinz- verbindenden Tunnel bis zur Wiederver- Stheater regierte, liebten ihn die deut- stadt wird schon wieder das werden, was einigung der Beatles. Weil dieses alles schen Feuilletons, vor allem deshalb, weil sie mal war. Anke Dürr schlecht zusammenpasst, sagen die flotten er sich so gern mit den Österreichern an- Jungen den müden Alten den Krieg an. legte. Seit er das Berliner Ensemble führt, Hamburg Am Ende sind fast alle tot, das ist nicht hat die Liebe nachgelassen. Die Neuauf- ohne Komik. lagen seiner alten Inszenierungen, mit de- Komik entsteht in dieser Uraufführung nen er sein erstes Jahr als Intendant der Vernebelt immer dann, wenn der Regisseur Schau- ehemaligen Brecht-Bühne zum Teil füllte, spieler wie Christoph Bantzer und Hans kamen bei der Kritik und beim Publikum er durchschnittliche Büromann hat Christian Rudolph einfach losspielen lässt nur mäßig an. DTag für Tag zwei Probleme: Weder ge- und sich selbst Einfälle erlaubt. Die haben Nun, zum Auftakt seiner zweiten Spiel- lingt es ihm, den Kaffeeautomaten zu be- bloß einen Nachteil: Sie hindern das Pu- zeit, greift er noch weiter zurück, ins 17. herrschen noch die Sekretärin zu ver- blikum am Begreifen des Stücks. So lässt Jahrhundert. Die erste Premiere der Saison führen. Dieses Dilemma begleitet den Zu- Kimmig das Tagebuch des Projektleiters, ist Molières „Tartuffe“. schauer durch Moritz Rinkes von Stephan das dessen diktatorischen Charakter ent- Das Stück, 1664 uraufgeführt, wurde Kimmig uraufgeführtes Auftragswerk „Re- hüllt, mit ständigen Versprechern vorlesen. seitdem von Stadttheatern, Wanderbüh-

Rinke-Uraufführung „Republik Vineta“ am Hamburger Thalia Theater: Die flotten Jungen sagen den müden Alten den Krieg an J. MODROW J. Werbeseite

Werbeseite nen und Schülertruppen zu Tode gespielt: siebziger Jahren schon an der alten eine Posse mit wilden Perücken, viel Pu- Schaubühne Regie führte, hat jetzt „Die derquaste und bunten Pappkulissen. Wie Möwe“ von Anton Tschechow inszeniert. peinlich! Es ist keine große Inszenierung, aber eine Doch diesmal liegt Peymann richtig. wichtige: Weil die Schauspieler des TAT Denn er hat einen Regisseur aus Budapest lernen, wie hart sie noch arbeiten müssen, nach Berlin geholt, Tamás Ascher, den er wenn sie vom modischen Posieren zur schon in Wien beschäftigt hat, und der hat Kunst der Verkörperung vordringen wol- einen Bühnenbildner, eine Kostümbildne- len. Weil der Laufsteg die wachsende Ent- rin, einen Musikmeister, eine Dramatur- fernung zwischen den Männern und den gin und einen Lichtdesigner mitgebracht. Frauen veranschaulicht, diesen Reigen der Das Berliner Ensemble ist derzeit fest in Verfehlung: Medwedenko liebt Mascha, die ungarischer Hand. Besseres konnte dem Kostja nachstellt, der Nina begehrt, die Tri- Haus, an dem sowohl Peter Zadek als auch gorin bewundert, der Arkadina vorzieht, Heiner Müller großmäulig gescheitert sind, die Dorn bezaubert, der von Polina verfolgt nicht passieren. wird … Außerdem spiegelt das Stück den Tamás Ascher, 51, in Deutschland ein Generationenkonflikt, der sich im Moment No-Name, gehört in Ungarn zu den be- an deutschen Bühnen abzeichnet. kannteren Theaterleuten. Er leitet ein Fast überall sind in letzter Zeit Figuren

Theater in der Provinz und inszeniert an I. FREESE / DRAMA angetreten, die dem 25-jährigen Kostja sehr einem großen Haus in der Hauptstadt. Für „Tartuffe“-Darsteller Höpfner, Beck in Berlin ähnlich sind. Tschechow beschreibt ihn als Berlin hat er den Tartuffe kräftig durch- „Kann denn Liebe Sünde sein?“ einen Jüngling, der die Konventionen des gelüftet und entstaubt, und er benutzt eine Plüschtheaters entsetzlich findet und Reiß- neue Übersetzung von Wolfgang Wiens, dem Ungarn so begeistert, dass er dem- aus nehmen möchte, „wenn in einem Zim- die leicht und heiter klingt. nächst ein Stück mit Ascher in der Haupt- mer mit drei Wänden diese Priester der Natürlich treibt der frömmelnde und rolle inszenieren möchte, auf Ungarisch, heiligen Kunst darstellen, wie die Leute es- gerissene Betrüger sein Unwesen in den wenn es sein muss. Henryk M. Broder sen, trinken, lieben und ihre Jacketts tra- fünfziger Jahren, in einem Haus, das so aussieht, als würde Gabriele Henkel Frankfurt am Main darin wohnen. Und natürlich tragen die Schauspieler ganz normale Anzüge und Kleider, was freilich bei Klassiker-In- Pseudo-Genies szenierungen nicht ganz neu ist. Doch Ascher geht weiter. Er macht aus der be- urch das Bockenheimer Depot in jahrten Komödie ein lebendiges Boule- DFrankfurt am Main führt ein 30 Meter vardstück, in dem es vor allem um die langer Laufsteg. Die Schauspieler stolzie- Frage „Wer mit wem?“ geht. So eine Vor- ren mit karierten Jacketts und russischen lage, sagt Ascher, während er sich einen Bärten über die Bretter, mit aufgerissenen Blutorangen-Drink von Müller-Milch ein- Augen und trauerumflorten Stimmen. schenkt, kann man „nicht traditionell spie- Aber wie sie sich auch drehen und wenden: len lassen“, die „Absurdität der bürgerli- Die meisten sind Anziehpuppen, keine chen Existenz“ muss angemessen „über- Charakterdarsteller. setzt werden“. Man trägt wieder Tschechow in diesem Dass die „Übersetzung“ funktioniert, Herbst. Der Birkenwald, der an die Wand liegt erstens an der Dolmetscherin Anna gepinselt wurde, soll für Stimmung sorgen. Veress, die zwischen dem Regisseur und Manche Blätter sind schon gelb gefärbt, den Akteuren vermittelt, und zweitens unablässig tröpfelt Klaviermusik auf die an dem Hauptdarsteller Rufus Beck aus Köpfe der Zuschauer. München, der sonst am liebsten coole In der letzten Saison trug man im Thea- Erfolgstypen spielt. Molière muss, als er ter am Turm (TAT) noch Kostüme, die vom den Tartuffe schrieb, an Beck gedacht Astronautenlook inspiriert waren, passend

haben. Er singt „Kann denn Liebe Sün- zu einer zukunftsweisenden Inszenierung A. DECLAIR de sein?“, während er Elmire, die Frau von Tom Kühnel und Robert Schuster. „Möwe“-Inszenierung in Frankfurt seines Gastgebers, gespielt von Ursula Wie die Schaubühne in Berlin so ist Stimmung tröpfelt auf die Zuschauer Höpfner, zu verführen versucht, und führt auch das TAT damals mit Tamtam aufge- gleich darauf eine Erektion vor, als wollte brochen, um „neue Formen“ zu finden. gen; wenn sie sich bemühen, aus platten er Dolly Buster von seinem Talent über- Doch wo fleißig experimentiert wird, da Sätzen eine Moral herauszupressen – so zeugen. So frisch und fröhlich hat man geht auch viel daneben: Die Reaktionen eine nützliche für den Hausgebrauch“. einen über 300 Jahre alten Klassiker lange der Presse auf die Projekte des „Weltthea- „Die Möwe“ handelt von Künstlern und nicht erlebt. ters“ waren in der Regel hämisch, weil die vor allem von Dilettanten, die jahrelang Peymann ist ein Risiko eingegangen. Er jungen Künstler auf ihr junges Blut so stolz einem Talent hinterherjagen, das sie gar hat einen Regisseur, der nicht Deutsch waren, dass sie weder von der dramati- nicht haben. Der arme Kostja zerreißt am spricht, auf Schauspieler losgelassen, die schen Tradition noch von älteren Kollegen Ende seine Manuskripte und erschießt sich kein Wort Ungarisch sprechen. Doch die etwas wissen wollten. mit der Gewissheit, dass seine Predigt der Intervention der Budapester Theater-Gang Gereift oder eingeschüchtert vom stei- „neuen Formen“ nur ablenken sollte von war ein Glücksfall, für das Stück und das genden Erfolgsdruck, wandte sich das En- der eigenen poetischen Impotenz. Wenn Berliner Ensemble. Und inzwischen, sagt semble an den Regisseur Frank-Patrick Tschechow das eine „Komödie“ nennt, ist Rufus Beck, „kommt es mir vor, als ob ich Steckel mit dem Wunsch, „einmal richtig er dem Trauerspiel des Gegenwartsthea- Ungarisch verstehe“; der Deutsche ist von Theater zu spielen“. Steckel, der in den ters erschreckend nahe. Eva Corino

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SPIEGEL-GESPRÄCH „Der Schocker der Saison“ Die Schauspielerin Ilse Ritter über den Neuanfang am Hamburger Schauspielhaus, den Umgang mit schwierigen Regisseuren und den Zynismus zeitgenössischer Autoren

SPIEGEL: Frau Ritter, Sie sind das prominenteste Ensemble-Mit- glied des Deutschen Schauspiel- hauses in Hamburg und haben dort so verschiedene Intendan- ten wie Ivan Nagel, Peter Zadek und Frank Baumbauer erlebt. Jetzt fängt Tom Stromberg an, wie fühlt sich die verdiente Ve- teranin in all dem Aufbruch?

Ritter: Sehr gut. Ich habe in M. ZAPF der Eröffnungspremiere am 29. Ritter, Mattes in Hamburg (1984)* September in Helmut Kraussers „Wir hatten etwas Angst damals“ Stück „Haltestelle. Geister“ ei- ne schöne, wenn auch schwie- schönste Theater Deutschlands, atme ich rige Rolle. Ich spiele eine Blin- auf. Besonders schön waren die letzten sie- de, die wenig spricht, inmitten ben Jahre mit Frank Baumbauer. von Menschen, die sich an einer SPIEGEL: An die Ära Zadek, die eher Haltestelle treffen und Bruch- unrühmlich endete, denken Sie ungern stücke aus ihrem gescheiterten zurück? Leben preisgeben. Mir war die Ritter: Nein. Wenn, dann lag es bei mir dar- Rolle etwas zu sprachlos, so an, dass auch meine private Beziehung zu dass ich mir ein kleines Selbst- ihm ein Ende fand. Es war damals eben gespräch dazu erfunden habe, alles sehr anders am Schauspielhaus. Vie- so ein müdes Gemurmel. le waren da, die, jeder für sich, sehr schwie- SPIEGEL: Sie sind, mit Unter- rig waren, was in der Kunst nichts Negati- brechungen, seit 29 Jahren in ves ist. Aber es gab tolle Aufführungen. Hamburg engagiert. Was hat „Andi“ oder „Lulu“ zum Beispiel. sich von Nagel bis Stromberg SPIEGEL: Den größten Skandal machte doch geändert? wohl 1984 das Stück „Verlorene Zeit“ von Ritter: Der Stil. Früher war es John Hopkins, in dem Sie mit Eva Mattes

autoritärer. Kann aber auch M. WITT und Ulrich Wildgruber spielten. Es ging sein, dass ich als Anfängerin Schauspielerin Ritter: „Man kann auch zu viel wissen“ um Vergewaltigung und lesbische Liebe leichter zu beeindrucken war. und war der Schocker der Saison. Ich lief hier nur mit großen Augen herum tion. Die hauen auf die letzten Schönhei- Ritter: Eva und ich hatten sogar etwas und konnte es nicht fassen, dass ich hier, ten drauf, weil sie enttäuscht sind. Angst damals. Heute würde sich ja darüber wo der große Gustaf Gründgens gewirkt SPIEGEL: Doch nicht aus Jux und Dollerei? niemand mehr erregen. hatte, mitspielen durfte. Inzwischen ist der Ritter: Sicher nicht. Niemand hasst, wenn SPIEGEL: Merkwürdigerweise wurden Sie, Umgang miteinander viel freier. er nicht einen Grund dazu hat. Und ver- besonders als Anfängerin, oft von Regis- SPIEGEL: Und auf der Bühne? stehen Sie mich nicht falsch: Die Klos seuren nackt vors Publikum geschickt. Ritter: Da beunruhigt mich, dass die Phan- stören mich nur, wenn ich in einer Auf- Ritter: Stimmt. Ich fand nichts dabei. Ich tasie der Autoren destruktiver geworden führung nicht begreifen kann, warum die habe die Auftritte nie von der erotischen ist. Da ist auf einmal sehr viel Junk, Kiff Menschen in verdreckten Toiletten Liebe Seite gesehen. Ich dachte: Hauptsache, es und Shit. Es gibt plötzlich sehr viele Klos machen oder sich zukiffen. trägt was zu der Geschichte bei. auf der Bühne. Und auch das Verhältnis SPIEGEL: Warum setzten Sie sich solchen SPIEGEL: Bei Ihrem kurzen Ausflug zur Ber- zur Sprache ist nicht mehr so liebevoll wie Experimenten aus? liner Schaubühne in den siebziger Jahren früher. Wenn man die Leute reden lässt Ritter: Aus Neugier. Und weil ich denke, ist Ihnen Nudismus erspart geblieben. wie daheim in der Wohnküche, ergibt das dass man immer noch etwas Glänzendes Ritter: Das schon. Es war eine interessante keine bessere Natürlichkeit oder Realität. aus diesem Schutt herauskratzen kann. Ich Zeit mit Peter Stein, der ja große ordnen- SPIEGEL: Ging es denn früher immer so vor- weiß allerdings nicht, ob das Publikum im- de und klärende Kraft hat. Der aber auch nehm und gesittet zu? merzu mit den Schmerzen dieser Welt kon- scheu ist und sich nicht so schnell öffnet. Ritter: Natürlich nicht. Meine erste Auf- frontiert werden möchte. SPIEGEL: Sie haben sich offenbar nicht wohl gabe hier 1971 war eine Hosenrolle, da SPIEGEL: Sie haben, hier gegenüber am gefühlt im hermetischen Schaubühnen- spielte ich unter Claus Peymann einen Hamburger Hauptbahnhof, die Geschei- Kloster, das strenges Künstlertum mit Knaben, der mit Hingabe onanierte. Aber terten, die Junkies gleich vor der Tür. stramm linkem Engagement verband? ich spüre heute überhaupt bei den Jungen Ritter: Das ist manchmal quälend. Aber tiefe Verletzung, Zynismus und Resigna- wenn ich ins Haus komme, dieses für mich * In John Hopkins’ Stück „Verlorene Zeit“.

der spiegel 39/2000 235 Ritter: Künstlerisch war es ein enorm hohes Niveau, keine Frage. Aber jetzt kann ich es ja sagen: Ich wollte mich nicht so einengen lassen. Man erwartete damals dort den ge- sellschaftlich engagierten Menschen. Ich bin aber scheu und wollte nicht öffentlich mit erhobener Hand die Faust ballen. SPIEGEL: Was hat Sie eingeschüchtert? Der Gruppendruck auf den regelmäßigen Voll- versammlungen? Ritter: Ja, unter anderem. Und diese enor- me Menge an Sekundärliteratur, die man zu jedem Projekt in die Hand gedrückt be- kam und lesen musste. Ich hatte schließlich eine regelrechte Blockade. Ich las das alles,

aber es kam in meinem Gehirn nicht an. BURGTHEATER SPIEGEL: Muss man denn wirklich alles wis- Ritter in Wien (1986)*: „Meine Figur war so aggressiv, doch ich bin anders“ sen über die sozialen Bedingungen einer Epoche, um überzeugend zu spielen? Wir haben ihm schüchtern von der Bühne kostet. Deshalb denke ich immer, dass auch Ritter: Es kann sehr bereichernd sein und ins Dunkel zugewinkt. Und Peymann pack- was Besonderes dabei rauskommen muss. die Phantasie anregen. Grundlage bleibt te ihn sofort beim Schlafittchen und ging SPIEGEL: Manche Kritiker mäkeln allerdings der Text. Man kann auch zu viel wissen. mit ihm allein essen. Ich bin ihm tatsäch- auch über Ihre Eigenart, Ihre Gestik und Ein Schauspieler muss sich auch Naivität lich erst in Wien beim Schlussapplaus für Ihre Art zu sprechen. Kränkt Sie das? bewahren. Und ich habe mich immer als „Ritter, Dene, Voss“ begegnet. Da stand er Ritter: Das geschriebene Wort hat für mich naiv in diesem Sinne empfunden. neben mir. Ich habe ihn einfach umarmt. große Bedeutung. Einmal, da war ich im SPIEGEL: Wann hatten Sie das Gefühl, eine SPIEGEL: Was hielten Sie von Ihrer Rolle? dritten Monat schwanger, probte ich ein berühmte Schauspielerin zu sein? Ritter: Als ich „Ritter, Dene, Voss“ zum ers- Stück, in dem ich auch schwanger war und Ritter: Spät, als es komischerweise gar nicht ten Mal las, dachte ich: Der hat Kirsten De- immer davon sprach, dass ich mein Kind mehr so wichtig für mich war. Die künst- ne und mich verwechselt. Meine Figur war verlieren würde. Ich hatte tatsächlich wäh- lerische Arbeit galt mir da mehr als die Be- so aggressiv, wusste genau, was sie wollte – rend der Endproben eine Fehlgeburt und wertungen. ganz anders als ich. Aber durch diese Rolle musste in die Klinik. Die Premiere konnte SPIEGEL: Hat es auch etwas damit zu tun, habe ich etwas Neues in mir entdeckt. Ich nicht verschoben werden. Ich spielte dass der große österreichische Autor Tho- wurde tatsächlich auch privat ein Stück schließlich mit allerletzter Reserve. Und mas Bernhard 1984 ein Stück geschrieben selbstbewusster während dieser Zeit. Es ist dann schrieb eine Journalistin, mein Auf- hat für Sie und zwei Ihrer Kollegen? interessant: Wenn ich länger nicht Theater tritt sei kraftlos gewesen. Als ich das las, Ritter: Das war sehr aufregend. Aber Claus spiele, werde ich klein und trau mich kaum, war ich zutiefst verletzt. Ich setzte mich Peymann, der Regisseur der Uraufführung, beim Bäcker ein Brötchen zu verlangen. hin und erklärte, dass ich alles gegeben hat uns dreien nie den Eindruck vermittelt, SPIEGEL: Empfinden Sie selbst das Unver- hätte, was ich noch hatte. wir seien etwas Besonderes. Der hat uns wechselbare an sich, das, was Rezensenten SPIEGEL: Gab es eine Reaktion? auf den Teppich geholt. „kunstvolle Natürlichkeit“ nennen? Ritter: Ja, die Kritikerin hat sich entschul- SPIEGEL: Wie haben Sie Bernhard erlebt? Ritter: Manchmal ja, manchmal nein. Ich digt. Sie war eine Anfängerin. Ritter: Der war auch ein scheuer Mensch. weiß nur, dass mich der Beruf viel Kraft SPIEGEL: All die kräftezehrenden Auf- Manchmal saß er bei den Proben ganz hin- führungen – irgendwann sind sie nur noch ten im Zuschauerraum mit roten Ohren. * In Thomas Bernhards Stück „Ritter, Dene, Voss“. Erinnerung … Ritter: … Das ist wirklich schmerzhaft. Auf dem Theater vergeht alles wie im Leben selbst, es zerrinnt. Theater ist wie eine Sanduhr. Trotz Videos, die Aufführungen bleiben nur im Kopf präsent. SPIEGEL: Was war Ihre erste Rolle? Ritter: Wie wohl bei den meisten Schau- spielern: im Weihnachtsmärchen. Ich stam- me aus dem Weserbergland. Meine Eltern hatten ein Erziehungsheim für Kinder. Es wurde ständig Theater gespielt. Der Och- se war, mit kleinen Hörnern auf dem Kopf, Fritz, der Erbprinz von Anhalt, und ich war der Esel mit den langen Ohren. SPIEGEL: Wie haben Sie ihn gespielt? Ritter: Ziemlich grau. SPIEGEL: Das war der Einstieg zum Theater? Ritter: Meine Eltern ließen mich in Berlin der berühmten Hilde Körber vorsprechen, da war ich noch nicht 15. Sie sagte: Sofort anfangen. Ich habe die Untersekunda aber noch zu Ende gemacht und ging schließlich nach Hannover auf die Schauspielschule. SPIEGEL: Waren Sie frühreif? Ritter: Körperlich nicht, aber seelisch. Ich fand es wunderbar. Ich hatte mein erstes ei- M. WITT Ritter beim SPIEGEL-Gespräch* „Theater ist wie eine Sanduhr“ genes Zimmer, guckte zwar auf eine Ga- rage, das Klo war auf dem Flur, aber es war ein eigenes Zimmer. Und so begann’s. SPIEGEL: Im Rückblick eine geradlinige Kar- riere. Gab es auch Niederlagen? Ritter: In Köln hatte ich ein Jahr lang das Gefühl, heimatlos zu sein. Ich schrieb Claus Peymann: „Hilfe, ich fall aus der Welt!“ Er hat mir dann lieb geholfen. SPIEGEL: So etwas kommt, heißt es, bei Ih- nen öfter vor. Sie gelten sogar als „nicht transportfähige Schauspielerin“. Ritter: Meinen Sie, weil ich mich immer verlaufe? Das stimmt. Vielleicht bin ich in Wahrheit deshalb so lange in Hamburg ge- blieben. Auf Flughäfen bin ich nämlich ver- loren. Ich laufe garantiert in die verkehrte Richtung. In Frankfurt lande ich statt am Abflug-Gate im vierten Untergeschoss in einer Hühnchenbraterei. Mit dem Auto verfahre ich mich auch dauernd. Aber dann frage ich mich durch. Eine Vorstel- lung habe ich deshalb noch nie versäumt. SPIEGEL: Frau Ritter, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Mit den Redakteuren Joachim Kronsbein und Wolfgang Höbel im Hamburger Schauspielhaus. der spiegel 39/2000 237 Werbeseite

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KINO Marlene als Computer-Klon Das neue Filmmuseum Berlin feiert Marlene Dietrich. Es erzählt vom Aufstieg und Fall des deutschen Kinos und wagt einen Blick in die digitale Zukunft des Gewerbes. Von Jürgen Neffe

uch eine interessante Frage: Wie geschoben haben, hat sich unweit der einst lange brauchen Besucher eigent- berühmten Straßenkreuzung die größte Alich, um ein Museum komplett zu Dichte an Lichtspieltheatern in Deutsch- durchschreiten? Hans Helmut Prinzler, Di- land, vermutlich sogar weltweit, zusam- FILMMUSEUM BERLIN rektor des neuen Filmmuseums Berlin, das mengeballt: 19 Säle im Cinemaxx, 8 im Ci- Filmstar Marlene Dietrich (1956) diese Woche im Sony Center am Pots- nestar, 2 im Arsenal unter dem Museum im Weib, Mutter, Schauspielerin wie nie damer Platz seine gläsernen Pforten öffnet, Untergeschoss und dazu gleich 2 Imax-Ki- hat sie sich gestellt – und beantwortet: „we- nos – alles im Umkreis von gut hundert ten, dargeboten in 15 Räumen, mit Lolas niger als fünf Minuten“. Metern. In diesem Jahr ist das internatio- Shirt im letzten. Viel Licht und Schatten, Rund 500 Meter Fußweg, vorbei an Leni nale Filmfestival, die Berlinale, vom Zoo in die Wände schwarz, grau oder weiß, düster und Marlene, Murnau und Metropolis, die neutrale Zone zwischen Ost und West fügt die Inszenierung sich in ihren Rah- Nielsen, Rühmann, Knef, Schimanski, In- gezogen. Und nun, gut 17 Jahre nach den men, aus dem sie immer wieder eitel und dependence Day und Disneys neuen Sau- ersten Plänen, kann die Deutsche Kine- raumgreifend durch die üppig verbauten riern. Stopp im Shop. Lola würde es in drei mathek an diesem Festplatz des Films end- Spiegel auszubrechen versucht: Reflektion Minuten schaffen. Denn Lola rennt. Und lich ihre Dauerausstellung und Sonder- zur Reflexion, wiederkehrendes Element wenn sie zu spät kommt, belohnt sie das shows im neuen Museum präsentieren. im Design von Hans Dieter Schaal, über- Leben. Im Film. Eines lässt sich den Museumsleuten kei- wältigend im allseitig verspiegelten „Über- In der musealen Wirklichkeit winkt als nesfalls nachsagen: dass sie nicht ehrlich raschungsraum“ gleich hinterm Entree. Lohn ein kleiner Ehrenplatz: 100 Jahre wären. Ohne es je klar auszusprechen, Von den Pionieren der Frühzeit über Ca- deutsche Filmgeschichte, wie im Zeitraffer setzen sie in „Teil 1: Berlin – Hollywood – ligari in die Weimarer Republik: Da ging zusammengeschnurrt, vom Weltruhm über Deutschland“ die Tragö- was los, schwang sich auf, Ernst Lubitsch den Weltenbrand bis in den Schatten der die der deutschen Film- und Fritz Lang, Mabuse und Marlene, die im Weltmacht Hollywood, am Ende hängt ein geschichte in Szene – ein „Blauen Engel“ eine Lola gab mit Beinen Trägershirt. Und der Rest der Klamotten Trauerspiel in zehn Ak- zum Rasendwerden, nicht zum Rennen. inklusive der roten Perücke, die Franka Po- Schon damals, in den zwanziger Jahren, tente in Tom Tykwers Erfolgsfilm „Lola Museumsdirektor Prinzler als der deutsche Film globale Geltung er- rennt“ (1998) im Dauerlauf „Film ist mein Leben“ reichte, drohte Aderlass, lockte durch die Hauptstadt trug. Die Amerika. Lubitsch ging 1922, jüngste Hoffnung des deutschen Murnau 1926, die Dietrich 1930 Kinos. Im Niemandsland macht mit Regisseur Josef von Stern- auch ein einzelnes Haus viel her. berg nach Hollywood. „Deutsch- „Neugierige Besucher“ soll- lands einzigem Weltstar“ (Prinz- ten mehr Zeit mitbringen: „Fünf ler), deren Nachlass das Land Stunden“, schätzt Prinzler. So Berlin 1993 für fünf Millionen lange würde wohl brauchen, wer Dollar ersteigerte, sind drei Räu- alles lesen und ansehen wollte: me gewidmet. zehn Multimediastationen, hun- Auf einer Pustekarte trägt dert Monitore, dazu Projek- Lola Lola als Pin-up-Girl Strap- tionswände, Drehbuchfaksimi- se und Federboa, und wer die les, Fotos und Modelle in Vitri- aufgeklebten rosa Federchen nen, Hörstationen, Kameras, wegblies, bekam die Schenkel Kostüme und Computer in 17 zu Gesicht, die Professor Unrat Räumen auf zwei Stockwerken ins Verderben trieben. In den mit erläuternden Texten auf Boden eines Zigarettenetuis ließ Englisch und Deutsch. Sternberg Worte der Vergötte- So viel Kino war hier nie: Seit rung in seiner Handschrift ein- sich die Hauptstadt am Potsda- gravieren: „Marlene Dietrich – mer Platz ein Kunstherz ein- Weib, Mutter und Schauspiele- pflanzen ließ, seit sich um das rin wie noch nie.“ einzig verbliebene intakte Ge- Nach diesem Auftritt ein bäude auf der Brache an der ganzes Zimmer für Leni Riefen- Mauer das Weinhaus Huth, die stahl, „Olympia“, wie ein spä- Daimler-City und das Sony Cen- ter Triumph des Willens: „Bilder ter in den Himmel über Berlin der Macht, Macht der Bilder“ – Übergang in die Abteilung „Na- Museumsstandort Sony Center tionalsozialismus“. Hier wird

Kunstherz der Hauptstadt FOTOS: / OSTKREUZ M. TRIPPEL das Museum unfreiwillig zum 240 Werbeseite

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Mahnmal für eine vernichtete Kultur in ge Weltgeltung anzuknüpfen, warum er- Deutschland: Mit ihrer selbst gewählten reichen sie auch in der dritten Generation Diktatur der Barbarei machten sich die nach Ende des Krieges nur selten die hand- Deutschen nicht nur zum Volk von Rassen- werkliche Qualität – guter – amerikani- hass und Massenmord. Die deutsche Film- scher (aber etwa auch britischer) Filme? kunst fiel der unbändigen Lust am Unter- Eine Art Antwort gibt „Teil 2: Künstli- gang ebenso zum Opfer wie etwa die Lite- che Welten“, der sich mit Animation und ratur oder die bis dahin weltweit führende Science-Fiction beschäftigt. Diese zweite Wissenschaft. Abteilung, die wie eine eigene kleine Aus- Wie total auch der Krieg gegen das Kino stellung daherkommt und mit der ersten ei- wütete, das mit „Münchhausen“, „Feuer- gentlich nur über das gemeinsame Thema zangenbowle“ und noch 1945 mit „Kolberg“ Film in Verbindung steht, versteht Prinzler vor allem der Ruhe an der Heimatfront zu – „da bin ich opportunistisch“ – auch als Zu- dienen hatte, macht die Abteilung „Nach- geständnis, vor allem an jüngere Museums- krieg und Gegenwart“ deutlich: Von Gustav besucher. In der von Rolf Giesen, dem Lei- Fröhlich und Gert Fröbe über Otto Sander, ter der Special-Effects- Mario Adorf und Klaus Kinski zu Götz Ge- Abteilung im Museum, orge, von Käutner über Schlöndorff und gestalteten Show do-

Wenders zu Fassbinder, von der „Sünderin“ BILDERDIENST ULLSTEIN miniert das Filmeng- Regisseurin Riefenstahl, „Olympia“ (1938) lisch der wire frames, motion capture und simple lifes. Dem Altmeister der Stop-Motion, dem amerikanischen Ani- mator Ray Harryhau- sen, widmet sich der erste von zwei Räu- men. Wie niedlich und

FILMMUSEUM BERLIN unbeholfen wirken „Dr. Mabuse“ (1932) seine bizarren Figuren aus Fell, Schaumgum- mi und Stahlskeletten, die erst das Lichtspiel der bewegten Bilder zum Leben erweckte. Ob Totenmann oder Riesenkra- ke, Medusa aus dem „Kampf der Titanen“ oder der Saurier aus „Eine Million Jahre vor unserer Zeit“, hier zeigt sich die Macht des Films über die Phantasie – und der Phantasie über den Film. M. TRIPPEL / OSTKREUZ / OSTKREUZ M. TRIPPEL FILMMUSEUM BERLIN In den Sektionen „Science-Fic- Kostüm von Marlene Dietrich aus „In 80 Tagen um die Welt“ (1956) tion“ und „Digitale Animation: CGI (Computer Generated Images)“ bleibt Knef über Romy „Sissi“ Schneider, „Paula“ die Herkunft von Roland Emmerich („In- Domröse und die schöne Schygulla bis dependence Day“) das einzig auffallend zur laufenden Lola – die Höhepunkte aus ei- Deutsche. Innovationen: fast ausschließ- nem halben Jahrhundert deutscher Film- lich made in USA. Die digitale Zukunft des geschichte, die gesamten 55 Jahre nach dem Films, beinahe eine Selbstverwirklichung Ende des braunen Spuks sind in einem ein- der Visionen von Leuten wie Spielberg und zigen Zimmer untergebracht. Lucas, vereint mit ihren Laser-Scannern Mit einem so realistischen wie depri- und Workstations virtuelle und wirkliche mierenden Eindruck kann ein Cineast wie Menschen zu Humanoiden, den Sklaven Direktor Prinzler – „der Film ist mein Le- ihrer eigenen Geschöpfe. Und Marlene ben“ – sein Publikum weder nach fünf steht als Computer-Klon wieder auf. Minuten noch nach fünf Stunden in die Ki- Wenn sich irgendwann die Welt auflö- nowirklichkeit am Potsdamer Platz entlas- sen sollte, wird das vermutlich im Ki- sen. Eine Wirklichkeit, die zumindest aus no geschehen: In der letzten Szene des deutscher Sicht nicht minder nieder- letzten Films fährt die robotergesteuerte schmetternd ist: In den großen Multiplex- Kamera von hinten in den Kinosaal und Kinos, die vor allem im Osten der Stadt et- schaut sich über die Köpfe der Zuschauer lichen kleineren Lichtspielhäusern schon hinweg selber beim Shooting zu. Einer den Garaus gemacht haben, herrscht fast hebt die Hand und macht Zeichen – die konkurrenzlos Hollywood. Warum, auch wie die Schatten in Platons Höhle auf

das ein Subtext der Ausstellung, haben es FILMMUSEUM BERLIN der Leinwand erscheinen. Wer sich dann hiesige Filmschaffende, von wenigen Aus- Medusa aus „Kampf der Titanen“ (1981) aber umdreht, um sein Ich als Illusion zu nahmen abgesehen, bis heute nicht ge- Ausstellungsobjekte im Filmmuseum begreifen, verschwindet für immer von schafft, auch nur annähernd an die einsti- Die Macht der Phantasie der Bildfläche. ™

242 der spiegel 39/2000 Werbeseite

Werbeseite SCHAPOWALOW J. NACHTWEY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MAGNUM NACHTWEY J. Ondaatje-Schauplatz Sri Lanka*: Von Minen verwundet, von Folterknechten entstellt, von Terrorkommandos hingerichtet

LITERATUR Unterwegs mit dem Knochenmann Der kanadische Schriftsteller Michael Ondaatje hat sich nach dem Erfolg mit dem „Englischen Patienten“ viel Zeit für sein neues Buch gelassen: „Anils Geist“, ein Roman aus Sri Lanka, zeigt ihn auf der Höhe seines Könnens. Von Susanne Weingarten

in Mann wird von zwei Häschern man. Was bleibt, ist die Wirkung seiner auf trachtet, überhaupt Handlungsfäden aus- gefasst. Sie legen ihm eine Augen- wenigen Zeilen erzählten Geschichte. zulegen. Ebinde an und zwingen ihn, sich auf Immer wieder hält Ondaatje in „Anils Ondaatje erzählt nie einfach nach vorn, die Lenkstange ihres Fahrrads zu setzen. Geist“ solche Detailaufnahmen fest, in de- ungerührt nimmt er tausendundeinen Um- Als sie losfahren, muss der Gefangene sich nen das Ungeheuerliche des Krieges fass- weg über Nebenschauplätze, Randgestal- festhalten, die eine Hand an der Lenk- bar wird**. Augenblicke, in denen der ten, Zwischenbetrachtungen: In seinen stange, die andere um den Hals eines der Krieg nicht als abstrakte CNN-Meldung Romanen ist der Weg das Ziel. Seine Wer- Schergen geschlungen. Er ist gezwungen, auftaucht, sondern von Menschen am ei- ke sind vielstimmige Riffs, so lange ge- seine Balance an denjenigen anzupassen, genen Körper erfahren wird. Dem Roman schichtet und gestaffelt, bis aus ihrer Tiefe der ihn vielleicht töten wird. „Diese ver- ist das Entsetzen eingeätzt. eine mythische Wahrheit an die Oberflä- meintlich intime Geste“, heißt es in „Anils Es war nicht zu erwarten, dass gerade che steigt. Geist“, „war das Verstörende.“ der Wahl-Kanadier Michael Ondaatje, 56, Wie aber sollte dieser begnadete, be- Der Gefangene bleibt anonym, er taucht den Bürgerkrieg in seinem Geburtsland rauschende Abschweifer ein zutiefst poli- nicht wieder auf in Michael Ondaatjes Ro- Sri Lanka zum Thema wählen würde. On- tisches Thema in den Griff bekommen? daatje, der etliche Lyrikbände verfasst hat, Ohnehin hatte sich Ondaatje bislang in * Links: Selbstjustiz auf Jaffna; rechts: typisches Insel- ist alles andere als ein analytischer, linea- seinem Werk nicht groß um die Gegen- paradies. rer Politkopf; vielmehr gelten auch seine wart gekümmert; stattdessen erfand er ** Michael Ondaatje: „Anils Geist“. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Hanser Verlag, München; 328 Seiten; Romane als Werke eines verkappten Dich- vergangene Epochen auf dem Papier 39,80 Mark. ters, der es nur als hinderliche Pflicht be- neu: zeitgeschichtlich genau recherchiert

Autor Ondaatje, Ondaatje-Verfilmung „Der englische Patient“ (1996): Das Ungeheuerliche des Krieges fassen und analysieren J. HARQUAIL J. KINOWELT Werbeseite

Werbeseite Kultur und von wunderbar hochfliegender Über- ging erst nach Großbritannien und dann treibung. nach Amerika. Inzwischen ist Anil Anfang In „Die gesammelten Werke von Bil- dreißig, hat an vielen Hinrichtungsstätten ly the Kid“ (1970) evoziert Ondaatje an- gearbeitet und taucht fast wie eine Frem- hand der mythischen Outlaw-Gestalt den de in ihrer ehemaligen Heimat auf. Wilden Westen; in „Buddy Boldens Blues“ Ihre Untersuchung „war auf sieben Wo- (1976) schildert er die Biografie eines chen veranschlagt“, heißt es lapidar. „In gefeierten, aber abrupt dem Wahn verfal- lenen Jazz-Kornettisten im New Orleans der Jahrhundertwende; in „In der Haut Bestseller eines Löwen“ (1987) findet ein kanadischer Hinterwäldler der zwanziger Jahre un- Belletristik ter den osteuropäischen Einwanderern 1 (1) Joanne K. Rowling Harry Potter Torontos eine neue Heimat. Und in „Der englische Patient“ (1992) erinnert sich und der Stein ein Sterbender während des Zweiten der Weisen Weltkriegs an die verheiratete Frau, mit Carlsen; 28 Mark der er eine dramatische Affäre in Nord- afrika erlebte. Wenn im Oktober seine neuen Abenteuer „Der englische Patient“ gewann den auf Deutsch erscheinen, Booker Prize, seine Verfilmung war ein wird der Zauberlehrling Welterfolg, der mit neun Oscars ausge- wohl alle vier zeichnet wurde – und Ondaatje, der jahr- Spitzenplätze belegen zehntelang in Toronto halb im Verbor- genen vor sich hin gewirkt hatte, wurde 2 (2) Joanne K. Rowling Harry Potter unverhofft die Tarnkappe Kanada abge- und die Kammer des Schreckens rissen. Nun galt der bärtige, bärige Grüb- Carlsen; 28 Mark ler mit den zerknautschten Hemden und dem wohlerzogenen, zurückhaltenden Nu- 3 (3) Joanne K. Rowling Harry Potter scheln plötzlich als einer der größten Er- und der Gefangene von Askaban zähler des englischen Sprachraums. Statt nach dem „Patienten“ rasch ein Carlsen; 30 Mark Werk aus der Schublade nachzuschieben, 4 (4) Rosamunde Pilcher Wintersonne hat sich Ondaatje acht Jahre Zeit genom- men, bis er seinen neuen Roman veröf- Wunderlich; 49,80 Mark fentlichte. Mit „Anils Geist“ erobert der Autor neues Terrain für sich – und bleibt 5 (5) Henning Mankell Mittsommermord doch in vielem unverwechselbar der Alte. Zsolnay; 45 Mark Den politischen Hintergrund des Buchs umreißt Ondaatje in einer knappen Vor- 6 (6) Donna Leon In Sachen bemerkung: Auf Sri Lanka haben sich bis Signora Brunetti Diogenes; 39,90 Mark in die neunziger Jahre Regierungstruppen und zwei verschiedene Rebellenlager im 7 (7) Charlotte Link Die Rosenzüchterin Kampf um die Unabhängigkeit der Tamilen Blanvalet; 48 Mark befehdet. Alle Parteien führten ohne Gna- de einen inoffiziellen Krieg. 8 (9) John Grisham Das Testament Abertausende Menschen wurden von Heyne; 46 Mark Minen verwundet, von Folterknechten entstellt, von Terrorkommandos hinge- 9 (8) Bernhard Schlink Liebesfluchten richtet. „Er hatte Fälle erlebt“, erinnert Diogenes; 39,90 Mark sich ein Arzt gegen Ende des Romans, „wo jeder Zahn herausgerissen, die Nase 10 (10) Nicholas Sparks Das Schweigen verstümmelt, die Augen mit Säure ge- des Glücks Heyne; 36 Mark schändet, die Ohren durchbohrt worden waren.“ Einen solchen Krieg zu schildern, 11 (11) Zeruya Shalev Liebesleben ihm eine literarische Sprache zu geben, Berlin; 39,80 Mark ohne selbst zu verrohen und das Grauen zu verharmlosen, muss zu den quälends- 12 (15) Sándor Márai Die Glut ten Herausforderungen eines Schriftstel- Piper; 36 Mark lers gehören. Ungeklärte Menschenrechtsverletzun- 13 (12) Michael Crichton Timeline gen soll in „Anils Geist“ die Rechtsmedi- Blessing; 44,90 Mark zinerin Anil im Auftrag einer Genfer Kommission auf der Insel im Indischen 14 (13) Paulo Coelho Veronika Ozean untersuchen. Auf Sri Lanka gebo- beschließt zu sterben Diogenes; 34,90 Mark ren, hat Anil nach dem Schulabschluss (darin Ondaatje vergleichbar) den ein- 15 (–) Paulo Coelho Der Alchimist schlägigen Weg der Eliten ehemaliger bri- Diogenes; 32,90 Mark tischer Kolonialstaaten genommen: Sie

246 der spiegel 39/2000 der Menschenrechtskommission versprach enthusiastisch glaubt sie, endlich nachwei- sich niemand viel davon.“ sen zu können, dass auch der Staat in Sri Aber Anil findet – zusammen mit ihrem Lanka Verbrechen begangen hat. einheimischen Projektpartner, dem Ar- Der eine, unbekannte Knochenmann, chäologen Sarath – das Skelett eines Hin- den sie „Seemann“ tauft, soll ihr stummer gerichteten an einer Stätte, die nur Regie- Zeuge werden für die Gräueltaten, die an rungsangehörigen zugänglich ist. Naiv und Tausenden begangen wurden. Und so schleppt Anil das Skelett durchs Land, auf Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich dass es ihr nicht gestohlen werde. ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ Auf ihren Forschungsfahrten begegnet Anil der greisen, blinden Altertumskory- Sachbücher phäe Palipana, einem Forscher, der eines Tages begonnen hatte, seiner Intuition 1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben mehr zu glauben als den Fakten, für ihn – DVA; 49,80 Mark wie für den Schriftsteller Ondaatje – „kein Fehltritt, sondern das Eintreten in eine an- 2 (2) Lance Armstrong Tour des Lebens dere Realität“. Sie trifft den drogenabhän- Lübbe; 36 Mark gigen Arzt Gamini, der sein Kriegstrauma verdrängt, indem er Tag und Nacht im 3 (5) Hans J. Massaquoi Krankenhaus schuftet; und sie heuert den Neger, Neger, Schornsteinfeger! Trinker Ananda an, einst ein hoch ge- Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark schätzter Kunsthandwerker, der nach der Verschleppung seiner Frau den Halt verlor. 4 (4) Dietrich Schwanitz Bildung In typischer Ondaatje-Fasson schweift Eichborn; 49,80 Mark „Anils Geist“ weit von der Hauptachse der Handlung ab, um an ihren Rändern die 5 (3) Bodo Schäfer Der Weg zur Biografien von Anil, Sarath, Palipana, Ga- finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark mini und Ananda unterzubringen. Ver- gangenheit und Gegenwart, verschiedenste 6 (6) Florian Illies Generation Golf Orte und Zeiten, Fragmente und Erzähl- Argon; 34 Mark fetzen existieren nebeneinander: Ondaatje erweist sich wieder als Gott der kleinen 7 (7) Pascale Noa Bercovitch Dinge. Die Struktur von „Anils Geist“ er- Das Lächeln des Delphins Ullstein; 36 Mark innert an einen Scheiterhaufen: Jeder ein- zelne Handlungsscheit wirkt unscheinbar, 8 (9) Dale Carnegie Sorge dich vielleicht entbehrlich, aber zusammen nicht, lebe! Scherz; 46 Mark bringen sie den Roman lichterloh zum Brennen. 9 (8) André Kostolany Immer wieder gelingen Ondaatje jene Die Kunst über Geld nachzudenken großartigen, pathetischen Szenen, die ihm den Ruf eingetragen haben, ein in Filmbil- Econ; 39,90 Mark dern denkender Schriftsteller zu sein: Eines 10 (11) Joschka Fischer Abends etwa nimmt der betrunkene Anan- da das Skelett so zärtlich in die Arme, als Mein langer Lauf zu mir selbst wäre es seine verschwundene Frau, und Kiepenheuer & Witsch; 29,90 Mark trägt es in einem langsamen Totentanz durch die sanfte Nachtluft der Tropen. 11 (12) Sigrid Damm Christiane und Anil lässt den Trauernden gewähren, Goethe Insel; 49,80 Mark denn die Szene erinnert sie daran, dass der Knochenmann „nicht lediglich Be- 12 (10) Maarten ’t Hart Bach und ich weismaterial“ ist, „sondern jemand mit Arche; 39,80 Mark guten und schlechten Eigenschaften, Mit- glied einer Familie, Bewohner eines Dor- 13 (13) Rüdiger Safranski Nietzsche fes, der im unvermittelten Blitzlicht der Hanser; 49,80 Mark Politik die Hände im letzten Moment er- hoben hatte, weshalb sie ihm gebrochen 14 (–) Katharina Beta worden waren“. Katharsis Ibera; 55 Mark „Anils Geist“ ist ein politischer Roman, der die Politik verachtet, weil sie den Krieg Der ergreifende Bericht einer Frau, die gebiert. Aus einer radikalen pazifistischen durch einen Autounfall Haltung heraus verweigert Ondaatje jedes ihr Gedächtnis Urteil darüber, wer Recht oder Unrecht verlor und ihre Identität hat. Er schildert weder die Taktiken noch neu erfinden musste die Ideologien oder Ziele der Bürger- kriegsparteien. Vom Arzt Gamini heißt es 15 (14) Bodo Schäfer an einer Stelle: Money oder das 1x1 des Geldes Von da an war ihm die Herrschaft der Herbig; 29,90 Mark Menschen auf Erden suspekt. Er wollte mit niemandem zu tun haben, der einen

der spiegel 39/2000 247 Kultur

Krieg befürwortete oder Grundbesitz oder Privatbesitz oder auch nur indivi- duelle Rechte. All diese Motive endeten „Ich war Zeuge“ letztlich in den Armen gedankenloser Gewalt. Man war nicht besser und nicht Der Schriftsteller Michael Ondaatje über den Krieg in Sri Lanka, schlechter als der Feind. seine Liebe zum Kino und seinen neuen Roman „Anils Geist“ Das Einzige, was Ondaatje am Krieg schert, sind die Verheerungen, die er im SPIEGEL: Mr. Ondaatje, Ihr neuer Roman ins Auto steigen und das Radio anstellen. Leben der Menschen anrichtet. Darum handelt vom Bürgerkrieg in Sri Lanka Aber man muss sich permanent ent- üben seine Hauptfiguren Berufe aus, die und schildert eine Atmosphäre allgegen- scheiden, was an ihr dauerhaft sein wird sich nicht mit dem Handwerk des Krieges wärtigen Schreckens. Kann Literatur dem und was vergänglich. befassen, sondern mit seinen Folgen: Am gerecht werden? SPIEGEL: Ihr Wohnort ist Kanada. Fühlen offensichtlichsten ist das im Falle des Arz- Ondaatje: Das war eine der großen Fragen Sie sich dort heimisch? tes Gamini, der zerfetzte Bombenopfer zu- bei der Arbeit an „Anils Geist“. Schon Ondaatje: Das Hin und Her passt zu mei- sammenflicken muss. die Recherche war niederschmetternd. ner schizophrenen Natur. Wenn ich in Aber auch Anil hat als Rechtsmedizine- Nachdem ich ungezählte Fallstudien ge- Kanada bin, vermisse ich mein Geburts- rin gelernt, die Spuren der Kriegsgewalt lesen hatte, bin ich in schwere Depres- land Sri Lanka. Aber Kanada ist für an verräterischen Details zu identifizieren. sionen verfallen, weil ich nicht wusste, mich Heimat, weil ich hier zu jemandem Das Schlachtfeld, das sie erforscht, ist der wie ich das Buch schreiben sollte. Wie gereift bin, der ich vorher nicht war. Ich menschliche Körper. An der Art, wie die stellt man so etwas Furchtbares wie ein glaube, wir haben alle Familien, in die Rippen eines Toten gebrochen sind, kann Massaker dar? wir hineingeboren werden, und Fami- Anil erkennen, dass der Betroffene von ei- SPIEGEL: Wie haben Sie es gemacht? lien, die wir uns als Erwachsene selbst nem Hubschrauber aus großer Höhe ins Ondaatje: Man muss die Leser sicher aufbauen, durch Ehen oder Freund- Wasser geworfen worden sein muss. durch die Finsternis hindurchführen, so schaften. Selbst ihr Kompagnon Sarath, der Ar- dass sie am Ende mit einem Gefühl der SPIEGEL: Gehen Sie häufig ins Kino? chäologe, ist ein solcher Spurensucher, Hoffnung aus dem Roman auftauchen jedoch nicht gegenwärti- können. Ich wollte nicht, dass „Anils ger Schrecken, sondern Geist“ in absoluter Dunkelheit endet. vergangener: „Ein guter SPIEGEL: Die Rechtsmedizinerin Anil ist Archäologe“, heißt es an neben Hana im „Englischen Patienten“ einer Stelle, „kann einen die zweite weibliche Hauptfigur in Ihrem Eimer mit Erde lesen wie Werk. Warum haben Sie eine Frau nach einen komplexen histori- Sri Lanka geschickt? schen Roman.“ Ondaatje: Anils Perspektive macht es mir Mit Sarath tritt das Ge- leichter, aus meiner eigenen Haut her- dächtnis in den Roman. auszuschlüpfen. Ich schreibe ja nicht mit Er führt Anil auf ihren ihrer Stimme, sondern begleite sie, wie Forschungsfahrten durchs ein Mitreisender. Anil ist ja nicht nur eine Land zu entlegenen, ver- Frau, sondern auch eine Fremde, wenn- lassenen Waldklöstern gleich sie auf Sri Lanka geboren wurde. und Tempeln, in die stei-

Es gibt viele Frauen wie Anil, die eine X / STUDIO STILLS nernen Reste einer Ver- westliche Ausbildung genossen haben Autor Ondaatje, Filmheld Ralph Fiennes* gangenheit, die sowohl an und dann als Fachkräfte zurückgekom- „Am Ende ein Gefühl der Hoffnung“ die Vergänglichkeit allen Lebens erinnern men sind – in ein Land, in dem sie nie wie auch an die Würde der alten Kulturen Ärztin oder Akademikerin hätten wer- Ondaatje: Ein- bis zweimal in der Woche. auf der Insel. den können. Ich liebe das Kino, von Klassikern wie Neben allem anderen ist der Roman SPIEGEL: War Ihnen von Anfang an klar, dem französischen Liebesfilm „L’ Ata- auch eine Hymne auf die Schönheiten dass der Roman vom Krieg handeln lante“ bis zu alten Hollywood-Dramen Sri Lankas, auf sein spirituelles Erbe, würde? wie „Die Falschspielerin“ und chine- auf seine Landschaften, sein ungestümes Ondaatje: Ich wusste, dass er vorkommen sischen Historienfilmen wie „Rote La- Wetter, seine Flora und Fauna. Mit gro- würde, aber nicht, in welchem Umfang. terne“. Aber ich habe auch heimliche ßer Sinnlichkeit zelebriert Ondaatje vor Ich wollte über die Tragödie des Landes Trash-Vorlieben, etwa die John-Grisham- dem Hintergrund der Inselnatur einfache schreiben, ohne in Propaganda zu ver- Verfilmung „Die Firma“. Augenblicke des Tanzens, Essens oder fallen oder die Haltung eines fernen SPIEGEL: In Ihrem Roman schreibt Anil ei- Schwimmens, jene „süße Begegnung der westlichen Beobachters einzunehmen. nen Brief an den Regisseur John Boor- Welt“. Darum gefiel mir der Gedanke, aus der man, weil sie nicht versteht, wie der Held Er habe, sagt Ondaatje, „über die Tragö- Sicht einer Rechtsmedizinerin und eines seines Films „Point Blank“ angeschos- die des Landes schreiben“ wollen, „ohne in Archäologen zu schreiben: Beide Berufe sen noch durch die San Francisco Bay Propaganda zu verfallen oder die Haltung beruhen darauf, Dinge sehr detailliert zu schwimmen kann. Sind Sie auch „Point eines fernen westlichen Beobachters ein- untersuchen. Blank“-Fan? zunehmen“ (siehe Interview). Denn eine SPIEGEL: Bisher haben Ihre Romane in Ondaatje: Ja, aber das Tolle ist, dass mir Tragödie wirkt umso furchtbarer, je herr- der Vergangenheit gespielt. War es leich- Boorman einen Brief zurückgeschrieben licher die Welt ist, die sie zerstört, und ter, ein Buch über die Gegenwart zu hat, adressiert an Anil. Darin erläutert er, Ondaatje erschafft seine Inselwelt als ein schreiben? dass Filmhelden auch mit Schusswunden köstliches, kostbares Reich. Ondaatje: Es war viel schwieriger. Zwar ist in sehr kaltem Wasser überleben können. So kann gerade ein Dichter, der nichts es wunderbar, über eine Welt zu schrei- von der Politik wissen will, wahrhaftiger ben, in der die Leute Handys benutzen, * Hauptdarsteller in dem Film „Der englische Patient“. über den Krieg schreiben als mancher ideo- logisch versierte Kopf. ™

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Kleihues umgebaute Hamburger Bahnhof stellen vorwiegend risikoferne Klassiker KUNST aus. Und bereits die zweite Ausgabe der Überblicksschau „Berlin Biennale“, die für diesen Herbst geplant war, mussten die Hip im Hühnerstall Veranstalter auf das Frühjahr 2001 ver- schieben. Aber auch „Art Forum“, die Berlin präsentiert sich mit einem Ausstellungspaket und einem Messe für junge Kunst, die an diesem Mitt- woch startet, leidet noch im fünften Jahr neuen, hoch dotierten Preis als quirlige Kunst-City. unter dem Ruf, internationale Sammler nur Doch der Glamour überspielt den mangelnden Mut zum Risiko. schwer in die Stadt locken zu können. Im- merhin haben sich 94 ausländische Händ- hristo lässt grüßen: In Berlin wird ler, mehr denn je, angesagt. wieder einmal kunstvoll verpackt, Die Kundschaft muss sich vor allem un- Cdiesmal aber nicht der Reichstag, terhalten lassen. Sie soll einen essbaren Mes- sondern Asylbewerber. Der Provokateur sestand aufknabbern und einen Elektro-Esel heißt Santiago Sierra, und er will am kom- anfeuern, der eine Wand eintritt. Es gibt menden Wochenende Pappkartons in die auch einiges fürs Auge: Takashi Murakamis Räume der „Kunst-Werke“, ein Ausstel- Comic-Gemälde oder Fotografien von ei- lungsforum an der Auguststraße, stellen. ner Aktion des Chinesen Zhang Huan, der Neun Ausländer sollen im Dunkel der Hül- 1999 in den Vereinigten Staaten nackte Men- len wochenlang ausharren, täglich einige schen in Reih und Glied auf drei Käfig-Eta-

Stunden und für die Besucher unsichtbar. BILDERDIENST ULLSTEIN gen wie in einem Hühnerstall stapelte. Rei- Sierra, 34, ein in Mexiko lebender Spa- Museum Hamburger Bahnhof chen Gags und Horrorvisionen, um Berlin nier, ist ein Brutalo. Er quält seine Haupt- Von nun an wird geklotzt zum Avantgarde-Standort zu machen? Ausgerechnet die Stadt, die sich als Kunst-City mit New York vergleicht, kup- COURTESY KODAMA GALLERY OSAKA GALLERY KODAMA COURTESY Foto „Elevator Girl House“ von Miwa Yanagi (1998) Wettbewerb für Jungkünstler, Trend-Ware auf der Messe: Neue Energie in Berlin? Preiskandidatin Grosse beim Besprühen einer Wand im Hamburger Bahnhof VG BILD-KUNST, BONN 2000; J. RÖTZSCH darsteller mit symboltriefenden Aktionen Ein Aktionist wie Sierra, auch wenn er fert auch gern mal ab, was andernorts und will damit auf schwer erträgliche Dis- reißerisch auftritt, kommt den Berlinern schon den Hingucker-Test bestanden hat. kriminierungen hinweisen. gerade recht. Die Hauptstadt mag als hip- So wirkt das forsche Berlin bloß zögerlich. In Havanna ließen sich Freiwillige eine pe Metropole der Barbetreiber und Event- Bisher jedenfalls. Und darum wird jetzt Linie über den Rücken tätowieren und kas- Vermarkter bekannt sein, die Partymäuse geklotzt: Über 60 Projekte wurden rund sierten von ihm 30 Dollar. Er wollte de- zu einer Haute- oder VIP-Volee heran- um die Messe zum „Kunstherbst Berlin“ monstrieren, dass Armut die Menschen züchten. Geht es um aktuelle Kunst, wirkt gebündelt (www.kunstherbst.berlin.de). dazu bringt, für ein Taschengeld ihre Kör- sie merkwürdig lahm. Zwar leben und pro- Die Veranstaltungen – von der Ausstel- per zu verkaufen – und meinte bezahlte duzieren viele Künstler aus der ganzen lung „Cross Female“ im Künstlerhaus Be- Organspenden. 1997 fackelte er, um bür- Welt in Berlin, doch als aufregende Aus- thanien bis zur Fotoschau „Töchtern der gerkriegsähnliche Rassenunruhen und stellungsdrehscheibe gilt die Stadt nicht. Revolution“ im Haus der Kulturen – hätten Straßenkämpfe in den USA anzuprangern, Selbst Museen für Gegenwartskunst wie auch ohne das Label „Kunstherbst“ statt- eine Galerie in Mexico City ab. der staatliche, vom Schlossfan Josef Paul gefunden. Die Fusion betrifft nur die ge-

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Werbeseite Kultur meinsame Werbung. Für mehr Dienstleis- trum der europäischen Kunstszene. „War- deskreis-Reihen zu Wort. Wie der Ex-Ga- tungsphantasie, für Shuttle-Busse etwa, um“, fragt Rolf Hoffmann, Unternehmer, lerist und Sammler Paul Maenz. Er reichte das Budget nicht. „Wir haben“, Sammler und Initiator des Berliner Preises, schmähte die Preis-Idee als altbacken, da- klagt Silke Giersch, die für die Koordina- „sollen wir also das Rad neu erfinden?“ mit könne man nichts Neues anstoßen. So- tion des „Kunstherbstes“ zuständig ist, Allerdings gibt sich der Verein mit seiner gar eine Podiumsdiskussion wurde zum „keinen Sponsor begeistern können.“ 100000-Mark-Prämie spendabler: In Eng- Streit-Thema angesetzt. Nur: Ernsthaft Ein Berlin-Novum ist immerhin der land erhält der Sieger 64000 Mark. Berlin streiten mochte kaum jemand. 100000 Mark schwere „Preis der National- setzte zudem, anders als in London, ein Eben darüber, gesteht Preis-Initiator galerie für junge Kunst“, der vom Verein Höchstalter von 40 Jahren fest. Blamieren Hoffmann, sei er enttäuscht. Er habe sich der Freunde der Nationalgalerie ausgelobt wird man sich dennoch mit keinem der „viel mehr Aufregung“ gewünscht. Ein wurde. Er war fix: Eine Jury sichtete über Jung-Künstler. Schließlich handelt es sich Streit, schwärmt er, verhelfe dem Projekt hundert Dossiers und nominierte dann in keineswegs um bisher unentdeckte Talen- doch zu mehr Vitalität. einer eintägigen Sitzung vier Kandidaten. te. Eliasson hat es in Kunstmarktcharts un- Ginge es nur darum, die Massen zu un- Schon der Einzug in dieses Halbfinale kann ter die Top 40 geschafft. Jankowski sam- terhalten, so hätten sich die Freunde der als kleiner Sieg gelten: Von Donnerstag an melte in Venedig Biennale-Erfahrungen. Nationalgalerie auch von den jährlichen dürfen sich die Konkurrenten in einer ei- Auf Grund ihrer Nominierungen, und Auszeichnungen des Musiksenders MTV genen Schau im Hamburger Bahnhof prä- da funktioniert das Rezept, rückten alle inspirieren lassen können. Die meisten sentieren. vier Kandidaten in der kunstszenischen Awards räumte in diesem Jahr ein Rapper Der in Berlin lebende Isländer Olafur Bekanntheitsskala spürbar nach oben. ab, der wegen seiner meist obszönen, mal Eliasson, 33, hat ein großes Loch gebaggert Einer klettert weiter: Am 6. Dezember, rassistischen Texte Skandale auslöste. Aber und die Erde zu einer Mauer aufgeschüt- wenn der Siegername bei einem Charity- was hat der Mainstream-Mix von Stars und tet. Katharina Grosse, 39, besprühte und Dinner verkündet wird. Auch diese Sym- Sensationen mit Kunst zu tun? bemalte Riesenwände beidseitig mit ih- biose von Kunst-PR Bice Curiger, Heraus- ren leuchtend changierenden Farbfeldern. und Promi-Glamour geberin des Schweizer Christian Jankowski, 33, engagierte für sei- hat man sich in Kunstmagazins „Par- ne Videoschau vier eloquente Profiredner; England abgeschaut. kett“ und Mitglied der und Dirk Skreber, 39, zeigt großformatige Und Berlin hat ka- Berliner Jury, lobt, mit Einsamkeitsszenarien, darunter menschen- piert, dass öffentli- dem Preis stelle sich die lose Haus- und Lokomotivporträts. cher Zoff für die Stadt hinter junge Krea- Mit dem Wettbewerb kopiert der Verein Publicity nur gut ist. tive. Curiger spürt denn aber auch nur den „Turner Prize“ der bri- So meldeten sich auch schon eine „neue tischen Royal Academy – dank des Hypes prompt Kritiker aus Energie“ in Berlin. um die Trophäe gilt London als Epizen- den eigenen Freun- Doch nach junger Ware giert die ganze Welt. Das Durchschnitts- alter der vier Londo- ner Turner-Prize-Kandi- daten liegt in diesem Jahr bei 34 Jahren. Und der Schweizer Bankkon- zern UBS verleiht im Dezember, einen Tag nach den Berlinern, in London erstmals einen Preis für Nachwuchsma- ler. Jünger geht es nicht: COURTESY GALLERY LUIS CAMPANA LUIS GALLERY COURTESY COURTESY TOMIO KAYAMA GALLERY KAYAMA TOMIO COURTESY Eingeladen wurden aus- Gemälde „o.T.“ von Wettbewerbsteilnehmer Skreber (1999) Murakami-Bild „The Castle of Tin Tin“ (1998) schließlich Studenten. Hätte Berlin einen Preis für Künstler im Rentenalter gestiftet, wäre das innovativer gewesen. Insgesamt verteilt UBS stolze 160 000 Franken Preisgeld: mit Moos mehr los. Und was sagen die Künstler zu der Hysterie? Sie gehen zumindest in Berlin angenehm entspannt mit der Preis-Fra- ge um. In den Videos von Wettbewerbskandi- dat Christian Jankowski simulieren vier Berufsredner den Ernstfall: Jeder hält eine Laudatio, jedem Künstler wird zu sei- nem angeblichen Sieg gratuliert. Und je- des Mal klatschen Statisten begeistert in die Hände. Und ganz Kunst-Berlin ruft

COURTESY DEITCH PROJECTS N. Y. N. Y. PROJECTS DEITCH COURTESY „Bravo“. Ulrike knöfel

Zhang-Huan-Foto „Hard to Acclimatize“ (1999) Aktuelle Kunst in Berlin Die ganze Welt giert nach junger Ware Werbeseite

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Wie ein Paradies, in dem Elfen Harfe spielen und Trolle dichten

KULTURPOLITIK Zahlenhexen und Tageslieder FRANCKE / BILDERBERG FRANCKE Island, die unwirtliche Insel unter dem Polarkreis, avancierte in jüngster Zeit zum Traumziel vieler Intellektueller. Auch weil die Bewohner in einzigartiger Weise ihr Leben auf Literatur, Sprachbegeisterung, Kunst und Theater gründen. Von Henryk M. Broder

ein, es war nicht der Italiener Chris- meisten Handys und die meisten Internet- terer Bühnen im Großraum Reykjavík, wo toph Kolumbus, der Amerika ent- Anschlüsse; sie verlegen und lesen mehr rund 60 Prozent der Isländer leben. Ndeckte, sondern Leif Eriksson, ein Bücher, reisen öfter ins Ausland und gehen Zufrieden, wenn auch ein wenig irritiert, Wikinger. Und das schon im Jahre 1000 häufiger ins Theater als andere Europäer: beobachten die Inselbewohner den Island- nach Christus, also fast 500 Jahre vor dem Bei 275000 Einwohnern gab es in der Spiel- Hype, der in den letzten Jahren ihrem Genuesen. Zu der Zeit hatte Island bereits zeit 1998 genau 265271 Besucher der Oper, Land zu Popularität verholfen hat. Kamen seit 70 Jahren eine Volksvertretung, Al- des National-Theaters, des städtischen früher Naturfreaks und Rucksacktouristen, thing genannt, die zugleich als Parlament Theaters und eines halben Dutzends wei- sind es heute Künstler, Musiker, Schrift- und Gerichtshof agierte. Das weiß in Island steller und Hightech-Experten, die nach jedes Schulkind, während im übrigen Eu- Inspiration suchen. „Wir sind die Exoten ropa die Briten als die Erfinder der moder- unter den Skandinaviern“, sagt Bollason, nen Demokratie gelten und Leif Eriksson „wenn es sein muss, vermarkten wir auch ein No-Name ist. die Dunkelheit im Winter.“ Heute haben die Isländer wieder die Na- Island, auf halbem Weg zwischen Euro- sen vorn, und wieder merkt es keiner. „Wir pa und Amerika unterhalb des Polarkreises sind in vielen Bereichen führend“, sagt Ar- gelegen, ist ein Phänomen, das zu verste- thúr Bollason, 50, Autor, Lyriker, Überset- hen auch den Isländern gelegentlich schwer zer und im Sommer Fremdenführer, „wir fällt. „Wir fragen uns schon seit 1100 Jah- kommen aber in vielen Statistiken nicht ren, wie wir es schaffen“, witzelt Olafur vor, und deswegen werden wir internatio- Davídsson, Direktor des Büros des Minis-

nal nicht wahrgenommen.“ / ARGUS H. SCHWARZBACH terpräsidenten, „aber eigentlich denken In Relation zur Einwohnerzahl haben Verleger Gudmundsson im Straßencafé wir gar nicht so viel darüber nach. Wir ma- die Isländer die meisten Abiturienten, die Was die Leselust angeht, eine Weltmacht chen es.“ Davídsson, 1942 in Reykjavík ge-

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sche Ausdrücke.“ Ein Com- puter heißt „tölva“, was so viel wie Zahlenhexe bedeu- tet, ein Laptop ist eine klei- ne Zahlenhexe. Wer eine CD will, bekommt einen „geisladiskur“, Strahlentel- ler. Für „Popkultur“ wurde das Wort „Kultur der Ta- geslieder“ erfunden. Nur für wenige Begriffe wie „Romantik“ und „Hip- pie“ gibt es keine isländi- schen Worte. „Wir wollen unsere Sprache bewahren, wir können unsere Literatur aus dem 13. Jahrhundert noch heute lesen“, erklärt Bollason, „das ist unsere Form des Nationalismus.“ Es ist ein Nationalismus, der sich nach innen richtet und keine Feinde kennt, die erobert, besiegt, niederge- macht werden müssen. Der einzige Feind ist die Natur, es sind die Vulkane, Glet-

FOTOS: / ARGUS H. SCHWARZBACH scher, das Meer und die lan- Maler Kristinsson mit Werk: „Unsere Kultur ist eine Folge des schlechten Wetters“ gen dunklen Winter. „Unse- re Kultur ist eine Folge des boren, hat in Kiel Ökonomie studiert. „Auf dem 18. Jahrhundert. Viele private Häuser schlechten Wetters“, sagt Thorlákur Kris- den ersten Blick sieht es aus, als ob hier viel in der Stadt sind repräsentativer. In der tinsson, Islands bekanntester Maler, „wir mehr Menschen lebten, aber unsere Statis- Lobby hängen die Fotos aller isländischen haben keine Strände, und wir können nur tiker sind sehr genau, und es sind wirklich Regierungen seit 1918, als die Insel ihre an ein paar Tagen im Juli und August in nur 275000 Einwohner, nur wenig mehr Autonomie von Dänemark erhielt. Pomp den Straßencafés sitzen“ – „Tolli“, Jahr- als in Kiel.“ ist auf Island keine Tugend. gang 1953, lebt in einer ehemaligen Woll- Es sei alles eine Frage der richtigen Or- „Kultur und vor allem Literatur sind die fabrik in Alafoss nahe Reykjavík. ganisation, versichert Davídsson. „Die Ein- absolute Grundlage unserer Existenz. Wir In seinen jungen Jahren war er Mitglied kommen sind bei uns höher als in den an- definieren uns über unsere Sprache.“ Am einer trotzkistischen revolutionären Grup- deren skandinavischen Ländern. Auch das Morgen war Davídsson beim Bildungsmi- pe. „Wir waren höchstens 60, 70 Leute im Steueraufkommen ist hoch, aber die Steu- nister, wo die ersten Windows-Programme ganzen Land, aber wütend und sehr laut.“ erbelastung ist für die meisten Verdiener ge- Nach der Kunstschule nahm „Tolli“ einen ringer.“ Bis etwa 1500 Mark monatlich sind Job in einer Fischfabrik an, und dort mach- alle Einkommen steuerfrei, danach wird te er auch seine erste Ausstellung, „für die eine „Flatrate“ von 39 Prozent mit einem Arbeiter“. Heute verkauft er große Bilder Zuschlag für Spitzenverdiener erhoben. in grellen Farben „in der ganzen Welt, di- Das System ist übersichtlich und spart rekt an die Sammler durch das Internet“ Personal. Allerdings beträgt die Mehr- und kann gut von seiner Kunst leben. wertsteuer 24,5 Prozent, was alle Waren, Doch Kristinsson grollt immer noch, Produkte und Dienste teuer macht. Trotz- wenn auch verhaltener als früher. „Es dem oder deswegen boomt Islands Wirt- stimmt, die Kultur hält uns zusammen. Wir schaft auf einem hohen Preisniveau. sind eine große Familie. Aber es gibt rei- Während ein Bier zehn Mark kostet und che und arme Verwandte, es gibt Klassen- ein ordentliches Essen für zwei Personen unterschiede und verschiedene Interessen, unter 200 Mark nicht zu haben ist, wächst doch darüber spricht man nicht.“ die Wirtschaft um vier Prozent jährlich, Nachtleben in isländischem Club Kristinsson weiß natürlich, dass die Klas- liegt die Arbeitslosigkeit bei unter zwei Die Exoten unter den Skandinaviern senunterschiede in Island relativ gering, Prozent, geht die Staatsverschuldung kon- dass die isländischen Reichen im interna- tinuierlich zurück – Traumdaten einer ge- von Microsoft auf Isländisch präsentiert tionalen Vergleich ziemlich arm und die sunden Volkswirtschaft. wurden. Lohnt der Aufwand? In einem Armen recht gut versorgt sind. Dennoch: Das beste Beispiel für eine vernünftige Land, in dem fast jeder Bürger mindestens „Der Abstand zwischen den Reichen und Organisation der Arbeit ist das Büro des zwei Fremdsprachen spricht? „Es muss den Armen wird größer.“ Island sei im Be- Ministerpräsidenten. Hier arbeiten zwölf sein. Wir sind absolute Sprachpuristen, sitz von höchstens 250 Leuten, die in der Männer und Frauen, einschließlich des Re- auch die Behördenbriefe müssen in reinem Politik und in der Wirtschaft das Sagen hät- gierungschefs. Davídsson schreibt seine Isländisch geschrieben werden.“ ten. „Die Fahne und die Hymne sind nur Briefe eigenhändig, und wenn er Besuch „Es wird alles verisländischt“, sagt der dazu da, diese Leute zu beschützen.“ bekommt, holt er den Gast am Empfang Autor und Fremdenführer Arthúr Bolla- „Über 70 Prozent unserer Devisenein- selbst ab. Der Amtssitz des Ministerpräsi- son, „es gibt kein Fast Food, keinen Jetlag nahmen kommen aus der Fischerei“, sagt denten ist ein ehemaliges Gefängnis aus und kein TV. Wir haben für alles isländi- Arthur Bollason, „wir exportieren Fisch

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Werbeseite Kultur und Literatur. Fisch bringt uns das Geld, „Unsere Vorfahren saßen im Dunkeln und dreißiger Jahren von Schriftstellern und die Literatur das Ansehen. Seit Halldór haben sich Geschichten erzählt.“ linken Nationalisten gegründet, die von ei- Laxness ist Islands Literatur international Doch die äußeren Umstände erklären nem freien Island träumten, ist „Mál og im Gespräch, vorher wussten nur wenige, nicht alles. „Obwohl wir bis vor kurzem ein Menning“ heute mit einem Umsatz von dass hier Bücher geschrieben werden; die armes Volk waren, gab es bei uns keinen etwa 27 Millionen Mark der größte islän- mittelalterliche Literatur war bekannt, die Analphabetismus. Nicht alle waren gebil- dische Verlag, eine private Stiftung. zeitgenössische nicht.“ det, aber jeder konnte lesen und schrei- „Wir bringen jedes Jahr 200 Bücher auf Das gilt lange nicht mehr. „Was Litera- ben. Die Sagas gingen von Hand zu Hand, den Markt, 150 neue und 50 von unserer tur angeht, sind wir eine Weltmacht“, sagt wurden immer wieder abgeschrieben.“ Backlist: Romane, Kinderbücher, Schul- Einar Már Gudmundsson mit dem Stolz Das klingt wie ein Märchen aus einem bücher, Sachbücher, Wörterbücher.“ 60 eines Matrosen, der auf einem Kreuzer der Paradies, in dem Elfen Harfe spielen und Prozent der Produktion sind isländischen Superklasse Dienst tut. 1954 in Reykjavík Trolle Gedichte schreiben. Aber es hat mit Ursprungs, 40 Prozent werden im Ausland geboren, hat er Geschichte und Literatur Überlieferung, Politik und der Verteilung eingekauft. Der Verlag hat Thomas Mann studiert und bis jetzt zwei Kinderbücher, der Mittel zu tun. Ein Teil der Mehrwert- und Bertolt Brecht verlegt, auch Schlinks fünf Gedichtbände, sechs Romane und vie- steuer aus dem Verkauf von Büchern geht „Vorleser“ ist bei „Mál og Menning“ er- le Kurzgeschichten und Essays geschrie- in einen Fonds, aus dem Schriftsteller ge- schienen („bevor ihn die Amerikaner ent- ben. Dazu Drehbücher, unter anderem für fördert werden. „Sie bekommen, wie Leh- deckten“), im Herbst kommen Ingo Schul- zes „Simple Stories“ auf Islän- disch. 75 Mitarbeiter, darunter 12 Lektoren, arbeiten für einen „Liliput-Markt“, den 48 Verla- ge mit 1500 bis 1800 Titeln pro Jahr beliefern. Wie kann man unter solchen Bedingungen ei- nen Verlag über Wasser halten? „Nach allen bekannten Re- geln sollte es nicht funktionie- ren. Wenn wir uns hinsetzen und überlegen würden, wie machen wir das, müssten wir sofort aufgeben.“ Bestseller wie „Die Teufelsinsel“ von Einar Kárason mit 40000 ver- kauften Exemplaren sowie Li- zenzverkäufe ins Ausland sor- gen für eine Bilanz mit nur drei Prozent Gewinn vom Umsatz. „Es ist knapp, aber es reicht.“ „Das Leben als Isländer ist eine poetische Leistung“, sagt Arthúr Bollason, „ich habe des-

H. SCHWARZBACH / ARGUS H. SCHWARZBACH wegen immer Gedichte ge- Schriftsteller Bollason: „Fisch bringt uns das Geld, Literatur das Ansehen“ schrieben“. Bollason hat Goe- the, Heine und Enzensberger den Film „Kinder der Natur“, der für den rer, jeden Monat ein Gehalt, unabhängig ins Isländische übersetzt und war eini- Oscar nominiert wurde. „Die vulkanischen davon, wie viel sie mit ihren Büchern ver- ge Jahre Korrespondent für den isländi- Ausbrüche in meinem Kopf haben früh be- dienen.“ Solche Stipendien gibt es für die schen Rundfunk in Deutschland. Seit Sep- gonnen und bis heute nicht aufgehört.“ Dauer von sechs Monaten bis zu drei Jah- tember 1999 leitet er das „Icelandic Saga Gudmundsson ist nicht nur begabt und ren. Und sie werden auf Antrag verlängert. Centre“ in Hvolsvöllur. In einer ehema- fleißig, er ist auch erfolgreich. Seine Bücher Gudmundsson, seit zehn Jahren ein Sti- ligen Fabrikhalle wird die Njáls-Saga wurden in 15 Sprachen übersetzt, er wur- pendiat, hat nicht das Gefühl, vom Staat reanimiert. Ende des 13. Jahrhunderts de mit Preisen überhäuft und gehört zu den ausgehalten zu werden. „Es ist eine Inves- entstanden, gilt sie als die schönste aller etwa 20 isländischen Schriftstellern, die tition. Wir bringen Devisen, und wir stär- isländischen Sagas. „full time“ schreiben und davon leben kön- ken die Kultur. Je besser die Kultur, umso Bollason hält Vorträge vor Schulklassen nen. Von dem Roman „Engel des Univer- glücklicher die Menschen. Und wenn Men- und fährt Besucher durch die Gegend, um sums“ wurden 30000 Exemplare verkauft, schen glücklich sind, haben sie weniger ihnen die Stellen zu zeigen, an denen die von „Fußspuren im Himmel“ über 10000. Probleme. So spart der Staat Geld, das er Njáls-Saga spielt. Auch der Staatspräsident In Deutschland wären das respektable Auf- sonst für Therapeuten ausgeben müsste. hat das Saga Centre inzwischen besucht. lagen, in Island sind es Mega-Seller. Jeder zehnte Isländer, behauptet Bolla- Olafur Ragnar Grimsson war nur mit ei- Der Dichter lebt mit Frau und fünf Kin- son, bringt zu seinen Lebzeiten eine Schrift nem Fahrer und einem Referenten unter- dern in einem kleinen Haus an der Peri- heraus – weswegen der wichtigste Verleger wegs, ohne Eskorte und ohne Leibwächter. pherie von Reykjavík mit einem großarti- des Landes, Halldór Gudmundsson (nicht „Niemand in Island käme auf die Idee, gen Blick über die Bucht. Die Garage hat verwandt mit dem gleichnamigen Schrift- einen Politiker zu attackieren“, sagt Bolla- er zu einem Arbeitsraum umgebaut, der bis steller), sagt: „Jeder Isländer ist ein Leser son, „die Einzigen, die bei uns gefährlich zur Decke mit Büchern gefüllt ist. Ebenso oder ein Erzähler. Oder beides. Und zwi- leben, sind die Meteorologen. Stimmen wie sein Freund Kristinsson, der Maler, ist schendurch schreibt er Gedichte.“ ihre Vorhersagen nicht, bekommen sie von Gudmundsson davon überzeugt, dass Na- Halldór Gudmundsson, 44, leitet seit den Bauern Morddrohungen.“ tur und Klima die Liebe der Isländer zur 1984 den Verlag „Mál og Menning“ (Spra- Auch die isländischen Wettermänner ste- Literatur entscheidend geprägt haben. che und Kultur) in Reykjavík. In den hen im Welt-Vergleich ganz weit vorn. ™

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ERNÄHRUNG Fröhlich durch Fisch ehr Fisch auf dem Teller hilft gegen MTrübsinn, glauben finnische For- scher: Wer mindestens einmal in der Wo- che Fisch isst, so zeigte eine Untersuchung von Wissenschaftlern der Universität von Kuopio, leidet seltener unter Depressio- nen. Für seine auf der diesjährigen Ta- gung der American Psychiatric Associa- tion vorgestellte Studie befragte Forscher Antti Tanskanen mehr als 3200 Finnen zu

Verstimmung und Niedergeschlagenheit GLOBE HANAK / TRANS sowie zur Häufigkeit ihres Fischverzehrs. Verkäufer auf Fischmarkt Über leichte bis schwere Depressionen berichteten 28 Prozent derjenigen Befragten, die wöchentlich das finnische Wissenschaftlerteam, könnte mit der geringeren weniger als einmal Meeresgetier auf ihrer Speisekarte hatten – Aufnahme von Omega-3-Fettsäuren zusammenhängen, die in damit war ihre Trübsalsrate um ein Drittel höher als bei Fisch- Meeresfrüchten reichlich vorkommen und auch als Schutzfak- Liebhabern. Die höhere Neigung zur Depression, so vermutet tor für Herzkreislauferkrankungen angesehen werden.

so machen die Aufnah- ARCHÄOLOGIE men deutlich, erholt sich derzeit von den extre- Schonung men, durch natürliche Klimaphänomene wie El für Fundstücke Niño und La Niña aus- gelösten Schwankungen chonenden Umgang mit kostbaren der letzten Jahre. Die SAltertümern ermöglicht eine Unter- Satellitenbilder zeigen die suchungstechnik, die Biophysiker der jeweiligen Meereshöhen Universität Münster unter Gert von

FOTOS: NASA FOTOS: und damit die Menge der Bally entwickelt haben. Die Fundstücke El-Niño-Schwankungen im Satellitenbild in den Ozeanen gespei- können mit Hilfe der „Archäoprofilo- cherten Wärme. Dem- metrie“ berührungsfrei vermessen und WETTER nach sind die durchschnittlichen Was- serhöhen, vor allem im tropischen Teil Besserung in Sicht des Pazifiks, nach drei Jahren dramati- scher Fluktuationen nun wieder auf ufnahmen des französisch-ameri- nahezu normalem Stand (grüne Farbe). Akanischen Forschungssatelliten To- Die Atmosphäre wird sich aber nach pex/Poseidon lassen hoffen, dass Wet- Ansicht der Experten vom National terkatastrophen wie Trockenperioden Weather Service der USA in nächster im Westen der USA oder wochenlange Zeit noch so verhalten, als beherrsche

sintflutartige Regenfälle in anderen La Niña die Szene – Hitze im Westen / UNI MÜNSTER D. DIRKSEN Weltregionen demnächst wieder selte- der USA und zahlreiche Hurrikane in Digitalisierte Keilschrift ner auftreten. Das globale Klimasystem, der Karibik. digital rekonstruiert werden. Dazu wirft ein Diaprojektor Lichtmuster auf das Untersuchungsobjekt. Die entstehenden MEDIZIN mit einer neuen Behandlungsmethode Zerrbilder dienen der punktgenauen einen überraschenden Heilungserfolg: Vermessung des Oberflächenprofils. Ein Hilfreiche Stammzellen Nach der Übertragung von Stammzellen im Computer erzeugtes digitales Dupli- aus dem Blut naher Angehöriger, kat des Fundstücks kann dann auf dem ie Überlebenschancen von Patienten deren Gewebsmerkmale weitgehend mit Monitor als realistisches Tiefenbild aus Dmit Nierenkarzinom galten bislang denen der Patienten übereinstimmten, verschiedenen Richtungen betrachtet als extrem schlecht, wenn sich schon schrumpften die Metastasen bei 10 von werden. Als eines der ersten Altertümer Metastasen in anderen Körperregionen 19 Kranken. In drei Fällen verschwanden ist so eine griechische Steintreppe gebildet haben. Nun erzielten US-Ärzte die Metastasen sogar gänzlich. vermessen und rekonstruiert worden.

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MEDIZINTECHNIK Schmetterling für Schnarcher ine dünne, schmetterlingsförmige ESilikonfolie, deren elastische Flügel die Nasenklappe weiten und auf diese Weise den Luftdurchfluss erhöhen, könnte nach Meinung von HNO-Ärzten der Kölner Universitätsklinik viele Schnarcher von ihrem ruhestörenden Übel befreien. Bei der Entstehung des schlafraubenden Volksleidens spielen Atemwegshindernisse wie etwa eine Schwäche der Nasenklappe (der Eng- stelle rund einen Zentimeter hinter dem Naseneingang) eine wichtige Rolle. Bei einem Vergleich mit den bei Sport- lern populären elastischen Nasenpflas- D. AUSSERHOFER / JOKER Jurastudentinnen im Repetitorium

SOZIOLOGIE forschung in Heidelberg hatten in einem gemeinsamen Projekt nach „psychoso- zialen Determinanten von Langlebig- Kluge Frauen keit“ gesucht. „Produktive und konsum- tive Aktivitäten“, so habe sich gezeigt, steigerten offenbar bei Mann und Frau leben länger gleichermaßen die Lebenserwartung. Dagegen könnten ausgedehnte Ruhe- Einsetzen ntelligente, an Politik interessierte pausen und der Drang, sich selbst allzu des Silikon- Iund gesellschaftlich engagierte Frau- pfleglich zu behandeln und zu schonen, Nasendilatators en leben länger als ihre passiveren, we- eher das Gegenteil bewirken – nach der niger gebildeten Geschlechtsgenossin- alten Weisheit: „Wer rastet, der rostet.“ nen. Die Konzentration auf die Familie Erheblichen Einfluss auf die Lebens- tern, die gleichfalls die Sauerstoffauf- hingegen, so berichten Wissenschaftler erwartung habe, abgesehen von bio- nahme durchs Riechorgan erleichtern in einer Studie für den Kongress der logischen und genetischen Faktoren, sollen, schnitt der von den Kölner Deutschen Gesellschaft für Psycholo- bei Frauen auch ihre gesellschaftliche HNO-Ärzten zusammen mit Siemens- gie diese Woche in Jena, wirke sich für Stellung: „Sozioökonomisch benachtei- Medizintechnikern entwickelte Silikon- Frauen lebensverkürzend aus; vorteil- ligte Frauen“, so die Psychologen, hät- Dilatator glänzend ab: Während sich haft sei in dieser Hinsicht das Heimchen- ten ein höheres Sterberisiko. Allein im der Luftdurchfluss mit Hilfe des Pflas- dasein nur für die Männer. Die Psycho- 20. Jahrhundert hat sich die statisti- ters um 20 Prozent (von 400 Kubik- logen vom Max-Planck-Institut für de- sche Lebenserwartung von Frauen um zentimeter pro Sekunde auf 480) er- mografische Forschung in Rostock und 32 und die von Männern um 29 Jahre höhte, ließ er sich mit den Schmetter- vom Deutschen Zentrum für Alterns- verlängert. lingsflügeln fast verdoppeln.

VERKEHR können aus allen verfügbaren Quellen von dem Zentralrechner besser erfasst Lotse aus dem Handy und Alternativrouten entwickelt wer- den. Auch die Kosten für die An- atellitennavigationsgeräte für Autos können noch einfa- schaffung des Systems sind mit 2200 Scher, billiger und wirkungsvoller werden. Die Daimler- Mark etwas geringer als bei den Chrysler-Tochter Tegaron wird im November zusammen mit meisten Konkurrenten. Einziger dem Computerhersteller Compaq das erste Navigationssystem Nachteil: Jede Abfrage kostet einführen, das sich nicht auf einen eigenen Rechner mit CD- Telefongebühren. Für eine Laufwerk stützt. Stattdessen empfängt ein Mini-PC im Fahr- Routenplanung will Tegaron zeug über eine Handy-Leitung die Lotsensignale aus dem dem Nutzer zwei Mark in Bonner Tegaron-Zentralrechner. Die Vorteile: Veränderungen Rechnung stellen. des Straßennetzes werden automatisch aktualisiert, ohne dass der Kunde eine neue CD-Rom kaufen muss. Stauwarnungen Navigationsgerät von Tegaron

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Werbeseite M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV Surfer im Internet-Café: „Die Aufmerksamkeit anderer Menschen ist die unwiderstehlichste aller Drogen“

INTERNET Jahrmarkt der Meinungsfreude Die Verbraucher ergreifen die Macht: Im Internet sitzen sie zu Gericht über Gefrierschränke, Sex-Dienste und Fruchtsäfte. Der Erfolg der Konsumentendemokratie beruht auf trickreicher Computertechnik – nur die besten Warenprüfer setzen sich durch.

annilein fährt nachts Taxi in Hanno- Diese Leidenschaft hat auch andere Leu- ver, hasst ihren Job und gehört zu den te zu Zehntausenden erfasst. Überall im Sfleißigsten Autoren der Gegenwart. Land setzen sie sich hin und schreiben Kri- Anfang März erst hat sie das Schreiben tiken über Produkte, die ihnen Freude entdeckt; heute gehen schon mehr als 1300 oder Ärger gemacht haben. Sie bewerten Artikel auf ihr Konto – alle zu lesen im In- Autos, Aktien und den Service von Flug- ternet und von den Lesern geliebt. gesellschaften; sie sitzen zu Gericht über Die Texte handeln von Aldi-Eis, Auto- den Geschmack von Storck Riesen und die fit-Werkstätten und einer Online-Zentrale Fahrgeschäfte der örtlichen Kirmes. für Sado-Maso-Sex, die Sannilein nur All diese Urteile finden sich nun zum empfehlen kann: „Alles, was man so wis- Nachlesen im Internet, wohlverstaut und sen sollte.“ Außerdem schrieb sie einen nach Produktgruppen sortiert. Zwei deut- Leitartikel über Frauen in Männerberufen, sche Firmen versprechen sich davon glän- ein Lob der Hildesheimer Rosentherme Internet-Testportal von Epinions zende Geschäfte: Ciao (www.ciao.de) in und einen Verriss des Gefrierschranks ih- Mehr als eine Million Verbraucherberichte München und Dooyoo (www.dooyoo.de) in rer Mutter. Kurze Urteile sind ihre Sache, Berlin. Wer etwa einen guten Kinder- Daumen rauf, Daumen runter, dazu ein Fanfare im Fanfaren- & Majorettencorps hochstuhl sucht, stößt unter diesen Adres- paar Ratschläge für den Hausgebrauch – Stadt Ronnenberg e. V. Aber wenn die sen auf Berichte von Eltern, die auf jahre- fertig. Große morgens zum Schulbus eilt und die lange Erfahrungen mit dem Modell Tripp Nicht, dass ihr sonst langweilig wäre. Zwillinge noch schlafen, genügt ein halbes Trapp zurückblicken. Nebenbei sieht er In- Sannilein, bürgerlich Martina Gaßmann- Stündchen, und schon sind wieder drei, serate der Möbelindustrie, und den Stuhl Steinbring, hat drei Kinder und bläst die vier Artikel getippt und abgeschickt. seiner Wahl kann er gleich bestellen. Für die

266 der spiegel 39/2000 Technik FOTOS: N. ENKER FOTOS: Warenkritiker Gaßmann-Steinbring (mit Tochter, Testgeräten), Wessels: Stets aufgelegt zu bejubeln und zu verdammen

Internet-Firma fällt eine Provision ab. Und gen an die Urnen, stets aufgelegt zu beju- lich Stunden mit Schreiben. Und was ist weil das Geschäftsmodell so verführerisch beln und zu verdammen: Die Pizza auf der Dank? Noten wie in der Schule. klingt, versuchen die Konkurrenten, einan- amerikanische Art von Dr. Oetker ist bei Die Leser können jeden Beitrag sofort der mit immer neuen Rekorden einzu- Dooyoo, je nachdem, „eine Frechheit“ nach seiner Qualität bewerten, indem sie schüchtern: 900000 „Meinungen“ meldet oder eine „Supersache“. Aber auch Pro- auf eine Skala klicken, die von „sehr nütz- Dooyoo, mehr als eine Million Ciao – und dukte wie die „Tagesschau“, von denen lich“ bis „nutzlos“ reicht. Die Meinungen dabei sind beide Dienste noch kein Jahr alt. fast jeder dasselbe denkt („Sehr glaub- über Waren sind hier selbst nur Waren und Das Besprechen von Waren hat etwas würdig“, „Weiter so!“), werden hundert- müssen vor dem Verbraucher bestehen. Unwiderstehliches: Alle sind hier aufgeru- fach mit Gutachten bedacht. Die hilfreichsten Kritiker rücken in den fen als Experten des Alltags. Jeder hat ein Hier hat endlich der Verbraucher das Hitlisten nach oben. Fach, in dem er sich auskennt. Es gibt Win- Wort, und er gibt es nicht mehr her. Was Für die Autoren ist die Metakritik ein delsachverständige und Baumarktkapa- einst gedacht war als Einkaufsberatung auf mächtiger Ansporn. Sie haben, wenn sie zitäten, und Thomas Hoops (alias Gegenseitigkeit, ist zu einem Freizeitver- am Bildschirm ihre Texte aufrufen, ein Er- Schlumpf-Box) aus Stade, seit jeher ein gnügen geworden, einem Jahrmarkt der folgsregister vor Augen, in dem alles erfasst großer Computerspieler, spielt jetzt für Meinungsfreude. ist: jeder Leser, jede Note, jeder Kom- Dooyoo nächtelang zu Testzwecken. Bei Martina Gaßmann-Steinbring ent- mentar. Das Aufkommen an Texten ist enorm. stehen tagein, tagaus die Meinungen wie Sannilein hat bei Ciao inzwischen mehr Allein für den SPIEGEL liegen bei Ciao von selbst. Morgens ein Anruf bei der als 30000 Lesevorgänge verbucht und tau- schon mehr als 150 Rezensionen vor saumseligen Opel-Werkstatt, mittags ein sendfach gute Noten kassiert. Das bringt ihr („eines der besten deutschen Nachrichten- Bissen vom schlappen Hamburger für die nebenbei auch Geld. Die Firma Ciao zahlt magazine“), und das ist im Vergleich noch Mikrowelle – macht schon wieder zwei für jeden Leser 10 Pfennig – außer, er hat wenig. Ein geiles Handy-Modell kommt auf Verrisse. Die Welt ist, zum Glück für San- auf „nutzlos“ geklickt. Bei Dooyoo gibt es tausend Beiträge und mehr. nilein, voller Mängel. Ihr Refrain: „Da Punkte, die sich in Sachprämien umtau- Das ist die Konsumentendemokratie: Al- könnt ich ein Lied drüber singen!“ schen lassen. les, was auf dem Markt ist, steht hier zur Viele Freizeitkritiker verbringen, wie die Aber das Geld ist es nicht. Es sind die Volksabstimmung. Und die Bürger drän- Fanfarenbläserin aus Ronnenberg, fast täg- Noten. Die ersten kommen oft schon nach

Meinungsbörsen im Internet 2 Haben die Leser mit einem 3 Die Mitglieder steigen im Rang, Autor gute Erfahrungen ge- • je öfter ihre Artikel gelesen werden, 1 Die Mitglieder schreiben macht, können sie ihm ihr Ver- • je besser ihre Artikel benotet werden, trauen aussprechen. Dann • je mehr Leser ihnen das Vertrauen aussprechen. Kritiken über Produkte und VER bekommen sie seine Beiträge TRAUEN Dienstleistungen... bevorzugt angezeigt. 4 Je höher der Rang eines Mitglieds, desto gut schlecht mehr zählt seine Mei- nung über Produkte ... sie benoten aber auch und andere Mitglieder. gegenseitig ihre Texte. V ER TR A gut schlecht U E N

5 Der Computer errechnet aus diesen Daten für jedes Produkt, jede Kritik und jedes Mitglied ein Urteilsprofil. Die am höchsten bewerteten Beiträge erscheinen bei Leseranfragen an prominenter Stelle.

der spiegel 39/2000 267 Technik wenigen Minuten. Das ist ein Erlebnis, en mehr als 700 Mitglieder, die das durch nach dem sich selbst abgebrühte Viel- Mausklick bekundet haben. Das reicht al- schreiber noch verzehren. Es sei eine lerdings nicht für den Spitzenplatz. Dort re- Sucht, sagen sie. In den Mitgliederforen sidierte lange Zeit der deutsche Pharma- klagen sie genüsslich über die Symptome: Manager Jens Thieme, der seit zwei Jahren Wer abends noch ein paar Artikel absetzt, in den USA arbeitet. bleibt oft genug die halbe Nacht mit Herz- Thieme hat, sagt er, „viel getan, um ganz klopfen vor dem Rechner sitzen, nur um nach vorn zu kommen“. In der Welt der den Weg seiner Geisteskinder in die Welt Produktforen ist ein mittlerer Platz auch hinaus zu verfolgen. Wie schneiden sie ab nicht sehr gemütlich. Hier wissen alle von bei den Lesern? Wann kommen die ersten allen, was sie einander wert sind. Es ist, als Wertungen? Wer findet sie gut? liefen die Leute mit Zahlenschildern her- „Die Aufmerksamkeit anderer Men- um, die ihren Status anzeigen. schen“, weiß der Wiener Philosoph Georg Weil Thieme in letzter Zeit beruflich ab- Franck, „ist die unwiderstehlichste aller gelenkt war, musste er die Führung abge- Drogen. Ihr Bezug sticht jedes andere Ein- ben an einen anderen Deutschen im US- kommen aus.“ Einsatz, den Programmierer Peter Tie- Auch die Warenprüfer sind der Sehn- mann. Der ist bei Epinions so was wie ein sucht verfallen, bemerkt zu werden. In den Bestsellerautor geworden. Seine Beiträge Produktforen tauschen sie gemeinnützige wurden bis jetzt fast 100000-mal abgerufen. Arbeit gegen das süße Gift der Aufmerk- Dieser Zuspruch bringt ihm nebenbei mehr samkeit. Der Gegenwert ist messbar: in als tausend Dollar im Monat ein. R. FROMMANN Freizeitkritiker Hoops: Nächtelang zu Testzwecken am Computer daddeln

Noten, Punkten, Leserzahlen. Und ausbe- Tiemanns Karriere beruht auf den gut zahlt wird bar auf die Hand. 2000 Leuten, die ihm inzwischen vertrau- Das ist der Unterschied zum alten Eh- en. Sie bekommen seine Artikel bevorzugt renamt, das nach 25 Jahren einen Ge- zugespielt. Das sichert dem Autor eine pro- schenkkorb abwirft. Dem modernen Ego minente Position in dem Gewimmel, in ist es lieber, wenn die Gratifikation sofort dem er sonst verloren wäre. Wo alle schrei- eintrifft. Danach will es immer mehr. Hun- ben dürfen, tummeln sich auch Langweiler dert Leser für einen Beitrag sind wunder- und Zwangsoriginelle. „Aber das Faszi- bar, aber weniger als die tausend, die der nierende ist“, sagt Tiemann, „dass die Qua- Nachbar schon beisammen hat. lität sich hier automatisch durchsetzt.“ Die US-Firma Epinions, Pionier der neu- Die Technik, die nutzlose Kritiken von en Produktforen, hat vielerlei Ranglisten den Lesern fern hält, arbeitet im Hinter- aufgestellt, damit die Mitglieder heiß blei- grund. Ein Autofreund, der bei Epinions ben. In jeder Warengruppe gibt es eine Art die Berichte über den neuen Jeep aufruft, Ehrenloge für die meistgelesenen Gutach- bemerkt davon nichts. Aber in der Zentrale ter. „Anfangs hüpfte ich vor Freude, wenn der Firma macht sich sogleich ein Compu- ich auf einer dieser Listen erschien“, sagt ter ans Werk: Wem vertraut dieser Leser? Beth Margarida aus Washington, die unter Und wem vertrauen wiederum seine Ge- dem Alias Forkids die Sparte Kinderbedarf währsleute? Und so immer weiter. Im Nu betreut. „Das ist, wie wenn der Lehrer dich frisst der Rechner sich durch das ganze so auffordert, deinen Aufsatz vorzulesen, und genannte „Web of Trust“, das Netz des Ver- danach stehen alle auf und klatschen.“ trauens. Dann sortiert er die Meinungen In der ruhmreichsten Liste sind die Re- nach den Vorlieben des Ratsuchenden. zensenten nach Vertrauenswürdigkeit sor- So ist dafür gesorgt, dass mit der Zeit die tiert. Der Gutachterin Margarida vertrau- nützlichen Beiträge emporsteigen, wäh-

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rend die wertlosen mitsamt ihren Autoren im Nichts des Vergessens versinken. Diese Maschinerie, eine Art Klärwerk der kollektiven Vernunft, arbeitet gnaden- „Haben Affen Weisheitszähne?“ los und unbeirrbar. Aber die Menschen sind auch nicht dumm: Es sind bereits Seil- Im Internet blühen die Expertenbörsen: Klempner, Eheberater und schaften von Autoren entstanden, die ein- pensionierte Lehrer geben Auskunft in allen Lebensfragen. ander als Leser beistehen. Manche klicken sich täglich durch die Beiträge ihrer Kum- ie US-Firma AskMe betreibt im pane, nur damit deren Leserzähler aus- Internet eine gewaltige Aus- schlägt. Sie spenden ihre Aufmerksamkeit Dkunftei: 120 000 Fachleute für nicht ohne Eigennutz. Die erste Regel der alle Wissensgebiete sind dort inzwi- Feierabendschreiber lautet: Lies, und du schen versammelt. Unter der Adres- wirst gelesen. se www.askme.com warten sie auf Fra- Manipuliert wird mit allen Mitteln. Es gen – vom Klempner im Ruhestand bis gibt Streber, die sich der Reihe nach unter zum Fachmann für finnougrische Dia- 20 falschen Namen anmelden, um dann lekte. ihre eigenen Texte zu loben. Das sei aber Jedermann kann eintippen, was er ein minderes Problem, meint die Firma wissen möchte. Und wahrlich, es bleibt Epinions. Sobald eine kritische Masse von nichts unbeantwortet: Kann man das Lesern erreicht sei, könnten selbst Hun- Alter von Spinnweben ermitteln, und dertschaften von Verschwörern das Ergeb- wenn ja, wie? Haben Affen Weisheits- Antwortzentrale AskMe nis kaum mehr verfälschen. zähne? Kennt jemand einen guten Nachbarschaftshilfe im Weltmaßstab Das Gute setzt sich in der Statistik durch, Scheidungsanwalt in Virginia? Und eine weil es lebenstüchtiger ist als der Schwach- Frau will übersetzt haben, was „tum „physicskw“ schon mehr als 12000 Ant- sinn: Dieser Glaube hat schon viele bohot khoop surat hai“ bedeutet; ein worten verfasst. An die 60 macht er an Gemeinschaften im Internet hervorge- Inder habe ihr das per E-Mail geschrie- guten Tagen. bracht. Neben den Produktforen wie Ciao, ben. (Es heißt: „Du bist sehr schön.“) Der behinderte Pensionär hängt seit Dooyoo und Epinions gedeihen neuerdings Die Antworten sind alle gratis, und acht Jahren an einem Sauerstoffgerät. auch Expertenbörsen (siehe Kasten). Dort dennoch tippen manche Feierabend- Bei AskMe kann er sich, sagt er, noch schreiben die Autoren nicht einfach drauf- experten wie im Akkord. Die Wonne, als nützliches Wesen erleben: „Das hält los; sie setzen sich erst in Gang, wenn je- gefragt zu sein, treibt sie zu Höchstleis- die Depression in Schach.“ mand eine Frage stellt. tungen. Von den Top Ten bei AskMe Deshalb leistet Wagner nun Nach- Die Expertenbörsen leben von der Ge- hat ein jeder schon mehrere tausend barschaftshilfe im Weltmaßstab. Seine wissheit, dass die Fragen auf Erden nie- Fragen bewältigt. Die Firma prämiert Fächer sind, neben der Biologie, vor al- mals ausgehen. Dagegen sind die Produkt- die Antworten nach einem ausgeklü- lem Physik und Chemie. Aber auch in portale stets von Stoffknappheit bedroht. gelten System mit Punkten, die aber englischer Grammatik und als Brief- Die Zahl der Dinge, die ein Mensch testen nach einem Monat wieder verfallen. kastenonkel für Teenager hat er bereits kann, ist endlich. Wer sich also in den Ta- vielhundertfach Aus- „Nach 60 bis 80 Beiträgen gehen ei- bellen der Spitzenexper- kunft gegeben. nem einfach die Ideen aus“, erzählt Jens ten halten will, muss stets Neben AskMe gibt es Thieme, der Vizemeister auf der Ver- gute Leistungen zeigen. noch Dutzende anderer trauensliste bei Epinions. Was dann? Thie- Michelle Hardenbrook Wissensbörsen, darunter me fing an, in Läden zu stöbern, kaufte aus Seattle zum Bei- AllExperts.com und ei- sich Software, nur um sie zu besprechen. spiel wirbt mit der Aus- nen kleinen deutschen Andere kommen an keinem Restaurant kunft, sie sei viermal ge- Antwortdienst, der unter mehr vorbei, ohne an ein Testessen zu schieden, habe 400 Ren- der Adresse wer-weiss- denken. dezvous bestanden und was.de mit 40000 einge- Gründliche Naturen gehen methodisch mehr als 50 Trennungen tragenen Fachleuten auf- vor: Der Schüler Sebastian Wessels, 19, aus hinter sich. Die Viel- wartet. Dort darf nur Fra- Kleve hatte Glück und fand einen Job in ei- erfahrene hilft nun in Sa- gen stellen, wer sich im nem Getränkemarkt. Dort kann er sich nun chen Beziehungen, Sex Gegenzug selber für Aus- für Dooyoo durchs Sortiment bechern, und Scheidung. Bislang künfte zur Verfügung vom Eistee bis zum Billigwodka. hat sie noch keine ein- stellt. Andere Warenprüfer weichen aus in die zige Frage ausgelassen, Feierabendexperte Wagner Solche Expertenbör- Welt der Städte, Länder und Ausflugsziele. nicht nur weil das den 60 Antworten pro Tag sen saugen aus allen Aber auch dort gibt es immer weniger Punkteschnitt verdürbe. Richtungen das Wissen weiße Flecken zu erobern. Selbst der Bag- Schließlich handle es sich um Men- an, das zuvor im Streubesitz über den gersee von Kirchentellinsfurt ist bereits bei schen, sagt sie, die Hilfe brauchen. Erdball verteilt war. Das muss nicht nur Ciao bewertet mitsamt Parkplatz („ge- „Dann beißt man eben die Zähne zu- dem Privatvergnügen dienen: Die Firma bührenpflichtig, aber bezahlbar“). sammen.“ AskMe will die Technik jetzt an große Nur Sannilein aus Ronnenberg, so scheint An der Tabellenspitze aber liegt Unternehmen verkaufen. Auch in ei- es, gebietet auch nach 1300 Meinungen noch uneinholbar der pensionierte Biologie- nem Chemiekonzern ist es manchmal über unerschöpfliche Ressourcen. Sie hat lehrer Kent Wagner aus Florida. Wag- nicht leicht, den Menschen zu finden, jetzt vorsorglich TV-Spots in ihr Sortiment ner, ein Schwerathlet der Hilfsbereit- der sich mit Rührwerksfiltern aus Korea aufgenommen; da kommt immer was nach. schaft, hat unter dem Pseudonym auskennt. Und wenn es doch mal knapp wird? „Knapp? Haha! Bei mir warten noch 300 CDs im Schrank!“ Manfred Dworschak

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VERKEHR Frachtdrohnen in der Unterwelt Als Ausweg aus dem Stauchaos auf den Straßen schlägt ein Bochumer Professor ein neues Verkehrssystem vor: Güter sollen künftig vollautomatisch in Röhren unter den Städten transportiert werden. Ökonomen glauben, dass sich das Tunnelprojekt rechnen könnte.

„Cargo Cap“-Frachtkapseln in Tunnelröhre, Warenanlieferung im heimischen Keller, futuristischer Verkehrsknotenpunkt (Computeranimationen):

lanz und Elend der Unterwelt kennt Stein will nicht weniger als den Großteil 1,20 x 0,80 Meter, etwa 1 Meter hoch) an Dietrich Stein ganz genau. Der Bo- des Güter- und Warenverkehrs in den Un- Bord nehmen kann. Dafür aber sind die Gchumer Professor hat einen Best- tergrund verbannen. So, wie unterirdische Frachtdrohnen flink und flexibel. Ihre Zahl seller verfasst mit dem Titel „Instandhal- Röhren das Regenwasser abführen und geht in die Tausende, und alle zusammen tung von Kanalisationen“. Das Buch gilt in Überschwemmungen in der Stadt vermei- ersetzen sie größtenteils den Stau verursa- Abwasser-Fachkreisen als die Bibel der den helfen, so sollen die subterrestrischen chenden Lkw-Regionalverkehr: Sie rau- Kloake. Nirgendwo sonst werden Malai- Leitungen auch die Flut der schen vom Schlachthof zum sen wie Fäulnis im Kanalrohr, Attacken Lkw eindämmen. Supermarkt, bringen Süd- von Kanalratten oder Fäkalienaustritt im Steins Vision: Ein dichtes früchte vom Flughafen zum Erdreich so schonungslos beschrieben. Röhrengeflecht zieht sich Großhandel, die Herbstkol- Stein, 61, hegt tiefen Respekt vor der tief durch den Boden der lektion aus den Lagern in die Unterwelt und ihren Röhren, die den be- Städte und Ballungsgebiete. Kaufhäuser, Postpakete zum siedelten Boden durchziehen wie Arterien. In diesen Röhren (Durch- Postverteilzentrum und pa- „Diese wunderschönen Bauwerke“, sagt messer: 1,60 Meter) sausen lettenweise Tiefkühlpizza der Bauingenieur, „machen die moderne 24 Stunden am Tag dicht an zum Aldi. Zivilisation erst möglich.“ Seit der Antike dicht selbstfahrende Fracht- Der Transport erfolgt ohne sind sie ein Erfolgsmodell, sie lassen auf kapseln umher. Die Trans- Stau, Lärm oder Gestank – elegante Weise alles verschwinden, was portdrohnen sind intelligent, und ohne Verkehrstote. Es

niemand auf der Straße vor Augen haben reich bestückt mit Compu- FOTOARCHIV R. OBERHÄUSER / DAS werden auch keine Flächen will: Waschwasser, Kot, Kondome, Küchen- tern und Sensoren, sie wis- Bauingenieur Stein verbraucht: Oben spielen die reste und Krankheitskeime. Und ebenso sen, wo sie hinwollen, bie- „Die Idee ist reif“ Kinder – und unten, in der selbstverständlich bringen Leitungssyste- gen selbständig ab und Metropolen-Rohrpost, zischt me Wasser, Gas oder Fernwärme ins Haus. melden fortlaufend ihre Position an die Nachschub für die Konsumgesellschaft um- Das kann nicht alles sein, dachte sich Oberwelt. her. Im Internet werden Waren bestellt – Stein. Jede Kapsel wird zwei der heute gängi- und in Steins Unternet flitzen sie unsichtbar Vor etwa drei Jahren gebar der verkehrs- gen Europaletten aufnehmen können. Das den Kunden entgegen. frustrierte Kanalisationsforscher („Auto- entspricht im Schnitt rund 600 Kilogramm Anfangs erging es dem Bochumer Pro- fahren ist im Ruhrgebiet zum Kotzen“) ei- Fracht – wenig im Vergleich zu einem Sat- fessor wie allen Konstrukteuren und Inge- nen verwegenen Plan: eine Frachtleitung. telschlepper, der über 30 Paletten (Maße: nieuren, die mit schillernden Ideen die

274 der spiegel 39/2000 Welt verändern wollen: Er wurde belächelt. den Straßen hat er neu nachgedacht. Jetzt Stein ist nicht der Einzige, der den Aber einige grinsten nur kurz. Es gelang ist der RWI-Präsident überzeugt: „Das Pro- Frachttransport in den Untergrund ver- Stein tatsächlich, Forschungsgeld vom jekt ist ökonomisch vorteilhaft.“ Weil oh- bannen will. Ende dieser Woche treffen nordrhein-westfälischen Wissenschafts- nehin in Zukunft sehr viel mehr Geld ministerium zu bekommen. Er gewann für den Lastverkehr auf Rädern Juristen, Maschinenbauer und Ökonomen. bezahlt werden müsse, so urteilt Gemeinsam erstellten sie eine erste Mach- Klemmer, „wird sich das Tunnel- barkeitsstudie und dachten sich einen grif- projekt rechnen“. figen Namen aus: „Cargo Cap“. Und nun ist sich Stein sicher: Der Plan geht auf. Wirklich? Oder wird, was wahrscheinli- cher erscheint, am Ende Steins Idee im Un-

Transport ohne Stau, Lärm oder Gestank – und ohne Verkehrstote

tergrund verschwinden, weil sie sich als Selbst die Regierung von Wolfgang Cle- sich die Frachtkanalforscher aus aller Welt teuer und aufwendig erweist und zudem in ment (SPD) in Düsseldorf bekennt sich zu im niederländischen Delft zu ihrer Jah- offener Feindschaft steht zu etablierten dem Rohr-Pionier von der Ruhr-Uni – zu- reskonferenz. Niederländische Ingenieure Lobbyisten wie den Lkw-Herstellern, den mindest auf dem Papier. Auf wundersame planen, zwischen der Blumenbörse in Aals- Spediteuren, der Bundesbahn und der Weise hat es der Professor vermocht, sei- meer und dem Flughafen Schiphol eine Bundespost? nen Plan auf Seite 61 im rot-grünen Koali- Art Frachtmetro zu bauen. Der Blumen- Einer von Steins Mitstreitern ist der tionsvertrag zu verankern: „Wir unterstüt- tunnel könnte die schnellverderblichen Wirtschaftswissenschaftler Paul Klemmer, zen … technische Weiterentwicklungen Pflanzen schneller und sicherer zum Flug- 64. Er ist Präsident des Rheinisch-Westfä- von Logistiksystemen und Güterumschlag, hafen bringen. Und in Japan wird bereits lischen Instituts für Wirtschaftsforschung wie z. B. moderne unterirdische Rohr- Schüttgut unterirdisch transportiert. (RWI) in Essen und war Mitglied der Päll- Transportsysteme …“ Im Ruhrgebiet phantasieren Stein und mann-Kommission, die sich im Auftrag der Ein weiterer Stein-Fan ist Gerhard seine Kombattanten nun von einer Pilot- Bundesregierung ein Jahr lang Gedanken Schnürch, Verwaltungsleiter des Regional- strecke: 75 Kilometer Frachttunnel entlang gemacht hat zur künftigen Finanzierbar- lagers von Quelle in Bochum. Bis zu 100 der stauverseuchten A 40. Zunächst 13 keit des Verkehrs. Die Zukunft auf den Lkw schickt er jeden Tag auf die Straße, Haltestellen sind eingeplant. „Die Idee ist Straßen sieht demnach nicht rosig aus – doch gerade im Ruhrgebiet wird das immer so reif“, resümiert Wirtschaftsforscher unentrinnbar ist Deutschland zum Stau- schwieriger. Auf der Autobahn A 40, der Klemmer, „dass sie jetzt erprobt werden land verdammt: Nach Öffnung des Ostens Revier-Traverse, euphemistisch „Ruhr- sollte.“ wird vor allem der Transitverkehr drama- schnellweg“ genannt, sind Riesenstaus Der Bochumer Maschinenbauer Ger- tisch zunehmen. Bis 2015 steigt allein das ganz normal. Ein Ausbau ist kaum möglich. hard Wagner, 53, hat bereits zahlreiche Frachtaufkommen auf den Straßen um „Cargo Cap wäre ein Traum“, sagt Cargo-Cap-Entwicklungen zum Patent an- mindestens 60 Prozent. Schon jetzt, so die Schnürch. Statt mit dem Lkw durch das gemeldet. Jedes der vier Wagenräder, so Pällmann-Kommission, fehlen jedes Jahr ganze Ruhrgebiet zu fahren, könnte er die plant er, wird elektrisch von einem „Fre- vier Milliarden Mark für Erhalt und Aus- Fracht außerhalb der Stauzonen unterir- quenzumrichter-Asynchron-Motor“ ange- bau der Straßen. Eine „Instandhaltungs- disch mitten ins Zielgebiet schießen. Die trieben. Des geringeren Widerstandes we- krise“ sei bereits angebrochen. letzten Meter würde er die Waschmaschi- gen laufen sie auf einem Stahlblech, nicht Klemmer betrachtete Steins Tunnelplä- nen, Kühlschränke und Fernseher mit klei- auf dem Beton der Röhre selbst. „Das Pro- ne zunächst voller Skepsis. Aber vor dem nen Transportern befördern. Schnürch: jekt entfaltet Dynamik“, findet Wagner. Hintergrund des zu erwartenden Chaos auf „Wir müssen jetzt neue Wege gehen.“ Noch vor seiner Emeritierung in zwölf Jah-

der spiegel 39/2000 275 Werbeseite

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Werbeseite ren, da ist er zuversichtlich, wird das erste Cargo-Cap-Netz stehen. Kanalspezialist Stein kümmert sich der- weil um die Röhren, die er, ganz Bauinge- nieur, „Fahrrohrleitung“ nennt. Cargo Cap, sagt er, habe nur deshalb eine Chan- ce, weil es seit wenigen Jahren möglich sei, Rohre kostengünstig unterirdisch zu verle- gen. Beim „Horizontalspülbohrverfahren“ etwa muss die Strecke nicht aufgegraben werden. Moderne Vortriebsmaschinen wühlen sich durch den Untergrund, ohne dass Menschen darüber etwas bemerken. 20 Meter schafft ein solcher Bohrer am Tag. Nur alle zwei Kilometer muss es einen Schacht geben, durch den vorfabrizierte Stahlbetonrohre nach unten und Abraum nach oben gelangen. Jeder Meter Frachtröhre, so haben Klemmers Wirtschaftswissenschaftler aus- gerechnet, wird 4000 Mark kosten – das ist nur ein Bruchteil dessen, was für einen Meter Autobahn normalerweise zu zahlen ist. Dennoch: Für die 75 Kilometer lange Doppelröhre unter dem Ruhrgebiet müsste ein privater Investor mindestens 600 Mil- lionen Mark aufbringen. Weitere Millionen sind fällig für Haltestellen, Verzweigungen, die Cargo-Cap-Drohnen und den Betrieb. Aber dafür, so rechnen Stein und seine Anhänger vor, würde sich einiges im Revier verändern: Pro Stunde könnte Cargo Cap 374 Lkw ersetzen, jeden Tag ganze 8977 Stück. 66,3 Prozent des Lastverkehrs auf der Ruhrautobahn A 40 lasse sich mit der geplanten Doppelröhre in den Untergrund verfrachten. Und das Ruhrgebiet könne sich hervorheben mit einer stausicheren, standorthebenden Infrastruktur. Und Cargo Cap bietet noch einen wei- teren Vorteil, glaubt Stein: Die Frachtröh- re ließe sich ohne nennenswerte Bürger- proteste bauen. Denn ob Bahnstrecke, Startbahn oder Autobahn – noch bevor der erste Bagger anrollt, müssen stets jahre- lang teure Prozesse mit Anliegern und Grundbesitzern ausgefochten werden. Bei Cargo Cap, so verspricht Stein, löst sich Volkszorn in Wohlgefallen auf: Niemand werde von der Frachtleitung tief unter sei- nem Haus gestört werden. Weil er so gut in Fahrt ist, plant Stein gleich noch weiter. Er will die totale Sub- vernetzung – nichts weniger als die beton- gewordene Entsprechung des Internet tief im Boden. Jedes einzelne Haus soll der- einst über eine kleine Frachtröhre mit dem Rest der Unterwelt verbunden sein. Le- bensmittel, Bierkästen, Pakete – in Steins Welt muss niemand mehr Einkäufe schlep- pen. Müllmänner gibt es auch nicht mehr, denn auch der Unrat verschwindet ge- räusch- und geruchlos in der Röhre. Dieser visionäre Höhenflug geht selbst Steins Mitstreitern dann doch zu weit. Der Bauingenieur aber bleibt unbeirrbar. „Ich kriege manchmal Anrufe von Privatleuten“, sagt der Professor. „Die muntern mich auf: ,Halten Sie bloß durch!‘“ Marco Evers

278 der spiegel 39/2000 Technik

ELEKTRONIK Rausch der Tiefe Kommt bald das 3D-Fernsehen? Auf der Photokina präsentieren Hersteller neuartige Monitore, auf denen ohne Spezialbrillen räumliche Bilder zu bestaunen sind.

rritiert bleibt das Pärchen vor dem selt- M. JEHNICHEN samen Bildschirm stehen. Vor seinen Feinoptiker Grasnick, 3D-Bildschirm: „Dachfenster der Unendlichkeit“ IAugen pumpt plastisch und greifbar nah ein Herzmuskel. Ungläubig versucht die Die erste Vorserie von 22 Stück hat Gras- nah wie eine Fata Morgana. 1851 präsen- Frau, das scheinbar vor ihnen schwebende nick bereits verkauft (Stückpreis für den tierte der schottische Physiker Sir David Herz zu berühren – und fasst ins Leere. 15-Zoll-Bildschirm: 8500 Mark). „Nächstes Brewster sein Stereoskop auf der Weltaus- Stundenlang könnte Armin Grasnick Jahr wollen wir 1000 Geräte absetzen“, stellung in London. „Bald darauf beugten zuschauen, wie Messebesucher auf der verkündet er, während er per Joystick sich Tausende gieriger Augenpaare über Photokina in Köln über seine Erfindung durch das Ballerspiel „Doom“ irrt, dessen die Öffnungen des Stereoskops“, schrieb staunen. Der 34-Jährige trägt zum unge- bluttriefendes Labyrinth durch die Raum- der Dichter Charles Baudelaire, „wie über mein kreativen Pferdeschwanz meist edle tiefe noch grusliger wird. „Nach Medizin- die Dachfenster der Unendlichkeit.“ Anzüge – eine Mischung aus Rocker und und Architektursoftware wollen wir auch Hundert Jahre später eroberten Raum- Broker. den Spielemarkt aufmischen.“ effekte mit Hilfe von Rot-Grün-Brillen Erst vor zwei Jahren gründete Grasnick Vor wenigen Jahren noch arbeitete Gras- auch das Kino. In den Achtzigern wurde in Jena die Firma 4D-Vision. Schon in zwei nick als Feinoptiker bei den Jenaer Zeiss- dann die laserbasierte Holografie zu einer Jahren, sagt er, werden seine 3D-Bild- Werken: Er schmirgelte Test-Linsen für kurzlebigen Mode. All diese Illusions- schirme für unter 2000 Mark in jedem Feldstecher oder berechnete Brechungs- maschinen blieben auf dem Niveau der Kaufhaus stehen. Der kollektive Rausch winkel für Zielfernrohre, „die übliche Jahrmarktsbelustigung stecken. der Tiefe werde kommen, „schließlich be- Feld-, Wald- und Wiesenoptik“. Doch am Diesmal allerdings könnten die Raum- nutzt heute auch niemand mehr Schwarz- Wochenende bastelte er im Hobbykeller bildschirme tatsächlich den Massenmarkt weißbildschirme“. an seiner Illusionsmaschine – und damit erobern. Paradoxerweise ermöglichen aus- Grasnicks Bildschirmvorsatz erzeugt an einer neuen Karriere. gerechnet moderne Flachbildschirme – vollfarbige, räumliche Bilder, ohne dass die Trotz aller Finesse wirken die Raumbil- aufgrund ihres präziseren Bildes – den Betrachter dafür, wie bislang, eine Spezi- der leicht psychedelisch und irisieren in Aufbruch in die räumliche Tiefe. albrille aufsetzen müssen (siehe Grafik). schillernden Farben. Auch sind sie für das Elektronikkonzerne wie Samsung und Prinzipiell lässt sich damit jedes Compu- Lesen von Texten zu unscharf. Und wenn Philips haben schon holografische Moni- terbild räumlich darstellen, nachdem es sich der Betrachter bewegt, „springt“ das tore angekündigt. Auch in Dresden wird von der 4D-Software umgerechnet worden Bild hin und her, wie bei „Wackelpostkar- ein neues 3D-System entwickelt. Unter ist. Fernsehfilme dagegen müssten, um ten“, auf denen kesse Blondinen blinzeln. dem Namen D4D hat Ingenieur Armin räumlich erscheinen zu können, mit zwei Schon seit 150 Jahren steht die Raum- Schwerdtner ein hochauflösendes Display Kameras gleichzeitig gedreht werden. illusion vor dem Durchbruch – zum Greifen entwickelt, das im Gegensatz zu Grasnicks Billigvariante auch im anspruchsvollen Optische Illusionen 3-D-Verfahren im Vergleich Beobachtungskameras Grafikbereich einsetzbar ist – dafür aber auch mindestens 29000 Mark kostet. Schwerdtner, ein 62-jähriger Forscher an der TU Dresden, hat die früher erforderli- che 3D-Brille sozusagen als bewegliche Prismenscheibe vor den Monitor gesetzt: Zwei Kameras verfolgen, wo sich die Au- gen des Betrachters gerade befinden, und steuern die Verschiebung der Prismen- fester beweglicher Linsenvorsatz Prismen- scheibe auf fünf Tausendstel Millimeter vorsatz genau. Dadurch entsteht eine perfekte Tiefenillusion – allerdings muss der Zu- schauer halbwegs still sitzen. 25 Geräte hat Schwerdtner bereits ver- kauft, die meisten an Ärzte. 100 weitere sind schon bestellt. Ermutigung genug, um nun kurz vor der Pensionierung seinen Uni-Job zu kündigen, und eine Firma zu gründen, Herkömmliche 3-D- Der D4D-Bildschirm ist be- die Dresden 3D GmbH. „In dreieinhalb Jah- Bilder müssen durch eine sonders scharf und brillant. ren werden wir räumliches Fernsehen ha- Spezialbrille betrachtet Aber er funktioniert nur für je- werden. Denn nur, wenn Bei 4D-Vision wird die Brille durch einen weils einen Betrachter, dessen ben“, schwärmt Schwerdtner. „Allerdings die Augen die Szenerie festen Bildschirmvorsatz ersetzt, ein so genann- Position ständig von zwei Ka- werden am Anfang wohl nur wenige Sen- aus leicht verschiedenen tes „Linsen-Array“. Das rechte und linke Bild meras verfolgt wird. Bewegt dungen in 3D-Qualität ausgestrahlt. Tele- Blickwinkeln sehen, ent- werden in unterschiedliche Richtungen gelenkt, sich der Betrachter, wird der shoppingprogramme zum Beispiel. Oder steht der Raumeindruck. sichtbar für mehrere Betrachter gleichzeitig. Prismen-Vorsatz nachgeführt. Olympia-Wettkämpfe.“ Hilmar Schmundt

der spiegel 39/2000 279 handlung und der damit verbundene Ar- beitsausfall, schätzt Gerngroß, verursachen jährlich Kosten in Höhe von 16 Milliarden Mark. „Durch eine konsequente Behand- lung“, sagt Gerngroß, „ließe sich davon locker die Hälfte einsparen.“ Das größte Problem sind chronische Wunden, wie sie typischerweise durch den gestörten Abfluss des Venenbluts bei Krampfadern, bei schlechter Durchblutung wegen einer Verkalkung der Beinarterien, bei Diabetes oder als Druckgeschwür auf Grund von Bettlägerigkeit entstehen. Doch auch bei der Vermeidung und Behandlung von Wundheilungsstörungen nach Opera- tionen liegt vieles im Argen. Andere Länder sind längst weiter. Dabei ist eine wirksame Therapie keine Frage von teuren Apparaten, sondern vor allem ein Organisationsproblem. „Im Prinzip ist die richtige Behandlung ganz einfach“, sagt Horst Dieter Becker, Chefarzt in Tübingen

T. RAUPACH T. und Mitbegründer der dortigen Wund- Ärzte bei Knieoperation: Rasur vor dem Eingriff ambulanz. „Aber in Deutschland klappt die Umsetzung einfach nicht.“ Während in den USA, in England, Skan- MEDIZIN dinavien, Frankreich und Italien längst zahl- reiche so genannte Wound Care Centers existieren, an denen sich Chirurgen, Internis- Heilung durch Wollsocken ten, Dermatologen, Orthopädietechniker und speziell ausgebildete Pfleger gemein- Mehr als zwei Millionen Menschen in Deutschland leiden unter sam der Wunden annehmen, doktert hier zu Lande meist jeder Arzt allein vor sich hin. chronischen Wunden. Vielen Kranken könnte Da im Medizinstudium Wundpflege nur schon mit erstaunlich einfachen Therapien geholfen werden. selten unterrichtet wird und das Thema bei vielen Ärzten als zu trivial oder zu ekelhaft ach 25 Jahren Krankheit war der den wie bei der Wundbehandlung.“ Auch gilt, um sich ernsthaft damit zu beschäfti- Metzger aus der Nähe des Boden- Heinz Gerngroß, der am Bundeswehr- gen, werden oft grobe Fehler gemacht. Nsees am Ende. Sein Geschäft, so krankenhaus in Ulm ein ähnliches Projekt Noch immer lassen beispielsweise viele stand für ihn fest, müsse er jetzt wohl auf- wie in Tübingen betreibt, berichtet: „Wir Ärzte eine Wunde austrocknen, was den geben. Denn an seinen Schienbeinen zogen sehen in unserer Ambulanz teilweise atem- Heilungsprozess extrem verzögert. Oder sich faulende Wunden bis zum Knie hinauf. beraubende Krankengeschichten.“ sie behandeln mit einer Unmenge von Sal- Der Geruch ließ sich vor den Kunden nicht Nun schlagen die Fachleute Alarm. Im ben oder ähnlichen Mitteln. „Doch eine mehr verbergen. Auch das Stehen im La- Oktober soll eine Arbeitsgemeinschaft solche Vorgehensweise“, sagt Coerper, den wurde ihm zur Qual. Viele Ärzte Wundheilung in der Deutschen Gesellschaft „nutzt allenfalls der Pharmaindustrie.“ hatte er schon aufgesucht, immer neue Sal- für Chirurgie gegründet werden. Mehr als Auf die Wunde aufgetragene Antibioti- ben und Spezialverbände waren ihm ver- zwei Millionen Menschen in Deutschland ka führen meist nur zu gefährlichen Resis- schrieben worden – alles ohne Erfolg. leiden an chronischen Wunden. Deren Be- tenzbildungen; oft zerstören die aggressi- Durch Zufall erfuhr der Metzger dann von einer Spe- zialsprechstunde für Wund- Wärme gegen Wunden kranke an der Tübinger Uni- versitätsklinik. Zum ersten Mal behandelten die Ärzte dort die Bildung von Granulationsgewebe Bildung neuer Hautzellen offenen Stellen konsequent. Und durch eine Operation be- hoben sie auch die Ursache Faktoren, die die Faktoren, die die seines Leidens: Krampfadern. Wundheilung fördern Wundheilung hemmen Acht Wochen später waren die gute Durchblutung Durchblutungsstörung Beinwunden verheilt. warmes, feuchtes Wundklima Stoffwechselstörung Was nach einem ungewöhn- Wachstumsfaktoren, die (Diabetes) lichen Behandlungsfehler aus- von körpereigenen Zellen Infektion sieht, ist Alltag in deutschen gebildet werden Auskühlung, Überhitzung und Entfernung von totem Gewebe Austrocknung der Wunde Arztpraxen. „Es gibt kaum ein Kapillaren anderes Krankheitsbild“, klagt aus der Wunde totes Gewebe in der Wunde Stephan Coerper, Leiter der ausreichende Versorgung mit Eiweiß- und Vitaminmangel Tübinger Sprechstunde, „bei Eiweiß und Vitaminen Rauchen dem die gültigen Therapiestan- Wunde von Druck entlasten Druck dards so wenig beachtet wer-

280 der spiegel 39/2000 Werbeseite

Werbeseite Wissenschaft ven Substanzen sogar das zarte nachwach- heilung verzögern kann. Vor und nach ei- sende Gewebe wieder. Auch traditionelle ner Operation für zwei oder drei Wochen Antiseptika wie Jod oder Wasserstoffper- aufzuhören kann die Gesundung erheblich oxid, sagt der Vorsitzende der Deutschen beschleunigen. Auch die Heiltemperatur Gesellschaft für Krankenhaushygiene, Axel muss möglichst genau eingehalten werden: Kramer, „richten auf chronischen Wunden In den USA, berichtet Thomas Hunt, mehr Schaden als Nutzen an“. Trotzdem Wundspezialist an der University of Cali- sind sie immer noch weit verbreitet. fornia in San Francisco, werden Patienten In Tübingen und Ulm führt vor allem während einer längeren Operationen in Teamarbeit und ein konsequentes Vorge- spezielle Wärmedecken („bear huggers“) hen zum Erfolg; die Behandlung selbst ist gepackt. Wunden werden mit Decken, meist ziemlich simpel: Totes Gewebe wird Wollsocken und Fellstiefeln warm gehal- konsequent weggeschnitten. Wenn es dabei ten. Eine aktuelle Untersuchung amerika- ein bisschen blutet, werden Wachstums- nischer und österreichischer Forscher hat faktoren freigesetzt, die wiederum die Bil- ergeben, dass die Wunde dadurch viel bes- dung von neuem Gewebe anregen. Die ser durchblutet wird und die Infektionsrate Wunde spülen verhindert Infektionen; sie sich um 50 Prozent senken lässt. feucht und warm verbinden fördert die In vielen deutschen Kliniken hingegen Durchblutung und damit die Heilung. ist noch immer die Unsitte verbreitet, auf ei- Außerdem muss die Ursache des Leidens bekämpft werden. Fast alle Patienten in Tübin- gen werden ambulant behan- delt. Nur in Ausnahmefällen sind komplizierte Operationen wie eine Hauttransplantation erforderlich. Doch die Erfolge überraschen. Coerper: „Unsere Heilungsrate bei zuvor thera- pieresistenten Wunden liegt zwischen 70 und 80 Prozent.“ Oft kommen die Tübinger Ärzte sogar auf verblüffend ein- fache Lösungen, an die jahre- lang kein Kollege gedacht hat. Unlängst erschien ein 52-jähri- ger Diabetiker in der Sprech- stunde, weil ihn seit fünf Jahren eine fünfmarkstückgroße Wun- de am Fußballen plagte. „In

drei großen Kliniken“, erzählt K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Coerper, „war er mit großem Wundexperte Becker: „Die Patienten verstecken sich“ technischen Aufwand von oben bis unten durchgecheckt und behandelt ner ganzen Station die Verbände schon lan- worden. Nichts half. Dabei brauchte der ge Zeit vor einer Chefvisite abzunehmen – Patient nur ein spezielles Gestell im Schuh, damit der Chefarzt seinen Rundgang schnell um den Ballen vom ungewöhnlich hohen über die Bühne bringen kann. Doch durch Druck des Körpergewichts zu entlasten – das Auskühlen der Wunden kommt der Hei- dem Mann waren nämlich vor geraumer lungsprozess für Stunden zum Stillstand, und Zeit die Zehen amputiert worden.“ Acht das Infektionsrisiko steigt dramatisch an. Wochen nach Beginn der Behandlung war Selbst die berühmtesten Beine der Welt die Wunde verschwunden. blieben von dem Leiden nicht verschont. Auch zur Verhinderung von Wundhei- Unter ihrem prachtvollen Kleid oder den lungsstörungen nach Operationen gibt es perfekt sitzenden Hosen versteckte Marle- ganz einfache Rezepte – gegen die aber im ne Dietrich zwischen 1973 und 1974 mona- Klinikalltag immer wieder hartnäckig ver- telang eine nicht heilen wollende Wunde. stoßen wird. So kommt es weit häufiger zu Beim Verbeugen nach einem Auftritt war Wundinfektionen, wenn die Haare auf dem die Dietrich betrunken in den Orchester- Operationsfeld zu früh abrasiert werden, als graben gestürzt. Dabei stieß sie sich das wenn dies unmittelbar vor der Operation Bein auf. Da sie an chronischen Durchblu- geschieht. Denn an den rasierten Stellen bil- tungsstörungen litt, schloss sich die Verlet- den sich innerhalb weniger Stunden winzig zung nicht wieder von selbst. Doch Dietrich kleine Abszesse, die mit dem Skalpell in die trat weiter auf. Wunde verschleppt werden. Dennoch wer- Als sich die Ränder der Wunde bereits den die Haare vielerorts bereits am Abend schwarz zu verfärben begannen, ließ sich vor der Operation entfernt – weil die Pfle- die Diva heimlich an beiden Beinen By- ger abends mehr Zeit für die Rasuren haben. pässe legen. Doch erst nach einer Haut- Kaum ein Patient wird zudem darauf hin- transplantation schloss sich die Wunde gewiesen, dass Rauchen massiv die Wund- endgültig. Veronika Hackenbroch

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Werbeseite Technik AP Brennende Concorde (beim Start in Paris)*: Zwei Desaster pro Woche?

Allein im Bereich der US-Airports stieg LUFTFAHRT die Zahl potenzieller Kollisionen startender und landender Jets seit 1993 um 71 Prozent auf mehr als 300 im vergangenen Jahr, Ten- Hilfe aus dem Simulator denz weiter steigend: In den ersten fünf Monaten 2000 nahm die Zahl der Beinahe- Mehr Beinahe-Zusammenstöße, mehr Opfer bei Abstürzen und Zusammenstöße in den USA noch einmal um mehr als ein Viertel gegenüber den rätselhafte Unfälle verunsichern Fluggesellschaften, Piloten Vergleichszahlen des Vorjahres zu. und Passagiere. Experten fordern ein Datennetz für die Luftfahrt. Der Startbahn-GAU gilt Sicherheits- experten als eines der größten Luftfahrt- ie Korean-Air-Crew beschleunigte beschleunigte. Nur 61 PanAm-Passagiere risiken der kommenden Jahre. Da der ihren Jumbo auf dem Flughafen und Crew-Mitglieder überlebten das In- Passagierverkehr um jährlich fast fünf Dvon Chicago zum Start, als plötzlich ferno, als sich der KLM-Gigant in die Prozent wachsen werde, erwartet die In- eine Boeing 747 der Air China auf ihren Jet Flanke des US-Jets bohrte. 583 Menschen dustrie eine Verdoppelung der weltweiten zurollte. Instinktiv zog der Korean-Kapitän starben beim bislang folgenschwersten Jet-Flotte von heute gut 14000 auf über seine Maschine über die Nase des Geister- Unglück in der Geschichte der Zivilluft- 30000 Flugzeuge im Jahr 2020. Statt derzeit Jumbos in die Luft. Nur wenige Höhen- fahrt. etwa 50 tödlicher Unglücke jährlich drohen meter trennten die 387 Menschen an Bord Es sei „nur eine Frage der Zeit, bis nach Experten-Rechnungen künftig jede der Jets im April vergangenen Jahres von es erneut zu einer verheerenden Start- Woche bis zu zwei Desaster vom Ausmaß einem Desaster, wie es sich am 27. März bahnkollision“ komme, warnt James der Concorde-Katastrophe, bei der am 1977 unter nahezu gleichen Bedingungen Hall, Präsident der US-Sicherheitsbehörde 25. Juli in Paris 113 Menschen umkamen. zugetragen hatte. National Transportation Safety Board Denn: Starben in den sechziger Jahren Damals war eine Boeing 747 der US- (NTSB): Seit Jahren wachse die Zahl bei Jet-Abstürzen im Schnitt jeweils 54 Gesellschaft PanAm über die Startbahn gefährlicher Zwischenfälle auf Start- und Menschen, waren es in den Neunzigern, des Los-Rodeos-Flughafens von Teneriffa Landebahnen. Und noch immer fehle der Ära der Großraumflugzeuge mit gerollt, als ein KLM-Jumbo zum Start es an einer wirkungsvollen Überwachung, mehr als 250 Sitzen, bereits 97. Die Zahlen um Katastrophen auf Flughäfen zu ver- dürften weiter nach oben gehen, wenn * Am 25. Juli auf dem Flughafen Charles de Gaulle. hindern. von 2005 an Airbusse vom Typ A3XX

Risiko Rollbahn Januar bis Mai Beinahe-Zusammenstöße bei Starts und Landungen 300 in den USA Quelle: Federal Aviation Ad- ministration 200

100

M. KERSTGENS / PLUS 49 / VISUM / PLUS M. KERSTGENS 0 Lotsen im Tower: Online-Blick ins Cockpit? 19931994 1995 1996 1997 1998 1999 2000

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Werbeseite Technik

550 Passagiere befördern. Boeing plant Bordsysteme überwachen, an Flugleitstel- Jumbo-Enkel mit ähnlichen Kapazitäten. len weitergeleitet werden. Geriete eine Diese Entwicklung sei „nicht hinnehm- Maschine in Luftnot, hätten Experten am bar“, so Boeing-Sprecher Ross Young, und Boden dieselben Informationen wie die bedürfe einer gemeinsamen Anstrengung Besatzung. Sie könnten als virtuelle Crew von Flugzeugbauern, Airlines und natio- in Simulatoren Tipps ins Cockpit weiter- nalen Sicherheitsbehörden. geben. Je komplexer Jets würden, warnen Wis- Möglicherweise hätte so etwa das senschaftler der US-Denkfabrik Rand Cor- Swissair-Unglück vom September 1998 ver- poration, desto größer sei die Gefahr, „dass hindert werden können, als die Besatzung verborgene Design- oder Materialmängel“ einer MD-11 nach Rauchentwicklung im den Maschinen zum Verhängnis werden. Cockpit kostbare Zeit vergab und einen „Wir werden künftig Unfälle erleben, die Notanflug auf Halifax verpasste. Bei dem wir nie gesehen haben“, sagt der Sicher- Absturz starben 229 Menschen, die Ur- heitsforscher Michael Barr von der Uni- sache ist bis heute nicht geklärt. versity of Southern California. Der Datentransfer wäre der Sprechfunk- Als Vorboten einer Zukunft, in der Jets und Radarkontrolle weit überlegen. Statt wie von Geisterhand berührt vom Himmel Punkte auf den Radarschirmen könnten zu fallen drohen, gelten die Abstürze von Lotsen Flugzeugsymbole sehen, deren Be- zwei Boeing-Flugzeugen des Typs 737, bei wegungen getreu den Steuerbefehlen der denen 157 Menschen starben. Viereinhalb Crew oder des Autopiloten angezeigt wer- Jahre waren nötig, um die Unglücke aus den Jahren 1991 und 1994 zu klären. Beide Maschinen stürzten ohne Vorwar- nung im Landeanflug ab, weil sie, so das NTSB, durch abrupte Ruderbe- wegungen außer Kon- trolle gerieten. Auslöser war ein Hydraulikventil, das bei bestimmter Tem- peratur das Seitenruder blockieren kann. Für alle B-737-Jets, kündigte die US-Luftfahrtbehörde Fe- deral Aviation Admini-

stration an, seien Design- DPA Änderungen am Ruder Jumbo-Wrack (auf Teneriffa): Sprechfunk gestört nötig. Wichtig für die höhere Sicherheit wäre den. Auf Probleme an Bord, wie Feuer nach Ansicht von Fachleuten vor allem, oder Treibstoffmangel, würden Warnsym- die Datenschreiber von Jets künftig nach bole aufmerksam machen. jedem Flug zu analysieren und nicht Bei Maschinen am Boden könnte ein wie heute üblich praktisch nur im Kata- solches System den Fluglotsen einen Blick strophenfall. Das sei, so US-Ingenieur Sy auf die wichtigsten Rollparameter des Flug- Levine, als würden Daten von Intensiv- zeugs gestatten: Neben der Bewegung des patienten „erst nach dem Tod ausgewertet“. Jets auf der Start- und Landebahn würde Datenschreiber moderner Passagierflug- der Zustand des Fahrwerks, der Bremsen zeuge erfassen mehrere hundert Parame- und der Triebwerke angezeigt. ter, die einen präzisen Einblick in das Ver- Das Desaster auf Teneriffa wäre so ver- halten des Jets am Boden und in der Luft mutlich verhindert worden. Damals kam es erlauben. Würden Probleme der Piloten im Sprechfunk zwischen Tower und Piloten schon im Vorfeld erkannt, könnte die Un- zu Funkstörungen und Missverständnis- fallrate im Luftverkehr nach Boeing-Schät- sen. Die PanAm-Crew, die auf der Bahn zungen bis zum Jahre 2007 um über 50 zum Start rollte und nach dem KLM-Jum- Prozent gesenkt werden. bo abheben sollte, verstand bestimmte An- Mehr Sicherheit könnte zudem ein Da- weisungen der Lotsen nicht. KLM-Kapitän tennetz der Luftfahrt bringen: Nach dem Veldhuyzen van Zanten deutete ein „OK“ Vorbild der US-Raumfähre Space Shuttle, aus dem Tower offenbar als Startfreigabe, deren Flugdaten bei jeder Mission zur Bo- ohne den zweiten Teil des Satzes zu hören, denkontrolle übermittelt werden, um im der ihn anwies zu warten. Notfall Hilfe leisten zu können, sollen Lot- Die Lotsen wussten nicht, dass der KLM- sen und Piloten via Satellit und Datenlei- Kapitän seinen Jet da bereits mit Vollgas auf tungen online verknüpft werden. Dazu den PanAm-Jumbo zu beschleunigte. Ein würden alle sicherheitsrelevanten Werte Online-Blick in van Zantens Cockpit hätte der Flugdatenschreiber, die bei modernen die Katastrophe vermutlich noch abwen- Flugzeugen in jedem Moment nahezu alle den können. Ulrich Jaeger

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DEUTSCHE MANNSCHAFT Der lange Abschied Franziska van Almsick war immer eine Symbolfigur im deutschen Olympiateam. Jetzt, wo die erwarteten Erfolge ausbleiben, ist das nicht anders. Sie steht für den Misserfolg. Von Alexander Osang

Dara Torres ist eine 32 Jahre alte amerikanische Olympia- siegerin, die nach sieben Jah- Schwimmerin van Almsick* ren Pause wieder schwimmt. Ewige Göre Ihre letzten Olympischen Spiele waren 1992 in Barcelona. Das ist lange her. Kann sie sich noch an jemanden erinnern? „Fran- zi“, sagt Dara Torres schnell. Sie spricht es „Fränsi“ aus und so, als sei dies ein Name, den man nicht weiter kommentieren muss. Ein Name, der für sich spricht. Torres erinnert sich an ein 14-jähriges unbekümmertes Mädchen. Einen Kinderstar namens Fran- zi. Der Name eines Maskottchens. Dann lacht Dara Torres, als kenne sie die ganze Geschichte bereits, auch das Ende, und die Deutschen sowieso. Sie wissen gern, wer Schuld hat, die Deutschen. All das, was in der ersten Olympiawoche in der deutschen Mann- schaft schief gelaufen ist, all die verpassten Medaillen, all die Ausreden und die Schmach scheinen zu einem Namen zu ge- rinnen: Franziska van Almsick. Sie hat immer gut als Symbol funktio- niert. 1992 in Barcelona galt sie als das Wunderkind der deutschen Einheit. Sie war niedlich, schlagfertig und lachte viel. Alles wird gut, sagte dieses Mädchen. Vier Jahre später reiste sie als Favoritin und Mil- lionärin nach Atlanta und gewann nur Sil- ber. Geld allein machte also auch nicht glücklich, sagte diese junge Frau. Als sie vorige Woche auf ihrer Lieblings-

strecke über 200 Meter Freistil im Halb- FOTOS: REUTERS finale ausschied, brach alles über ihr zusammen. Die Boulevardjournalisten schrieben, sie sei zu reich und zu dick, anderen fiel jetzt auf, dass sie ihren Weltrekord ja 1994 in der Hoch-Zeit des Doping ge- schwommen habe. Nichts war mehr heilig. Irgendetwas löste sich und fiel ihr auf den Kopf. Das hatte nicht nur mit ihr zu tun. Aber auch mit

* In Sydney am vergangenen Mon- tag; unten: in Atlanta 1996.

288 ihr. Denn sie selbst hat natürlich in den auf dem er alle Schuld an der fiesen letzten acht Jahren die Relationen ver- Überschrift auf sich nimmt. Den kön- loren. Sie nahm, was sie kriegen konn- nen sie jetzt vorzeigen, damit die te, und sie verhielt sich weiter wie Sportler weiter mit ihnen reden. ein 14-jähriges Mädchen. Was manch- Köster erzählte wirres Zeug, zum mal gut ankommt, manchmal aber Schluss sagte er noch: „Was sie total auch nicht. hasst, ist ein Rücktritt vom Rücktritt.“ Als sie nach ihrer Niederlage aus Der Manager glaubte die Nachricht in dem Wasser stieg, rannte sie einen der Hand zu haben. Die letzte Nach- Trainer um, sie gab keine Interviews, richt. sie floh aus dem olympischen Dorf, Tritt sie zurück oder nicht? später hieß es, sie rede nach der Staf- Franziska van Almsick hat die An- fel nur zur Staffel und am Tag danach gewohnheit, sich aus unbequemen Fra- zu den anderen Sachen. gen wegzuträumen. Sie schaut dann Welche anderen Sachen eigentlich? nachdenklich und schweigt so lange, Die Erwartungen waren groß. Man bis sich die Frage aufgelöst hat oder in hatte den Eindruck, Franziska van eine beantwortbare Form geflossen ist. Almsick werde bald erklären, warum Was wollen Sie eigentlich nach dem die deutsche Einheit nicht funktioniert Schwimmen machen? und wie sich der Neue Markt ent- „Ich habe ja den Vorteil, dass ich fi- wickelt. Sie ist in der Öffentlichkeit nanziell nicht unter Druck stehe“, sagt groß geworden, sie hält alles, was ihr so sie. „Vielleicht lerne ich ein Instru- durch den Kopf purzelt, für mittei- ment. Das wollte ich schon immer.“ lenswert. Sie weiß nicht, was sie nach dem Vor kurzem hat sie der Zeitschrift Ruhm machen wird, weil sie nicht will, „Max“ anvertraut, was in ihrem Tage- dass es zu Ende ist. Deswegen ließ sie buch steht. „Manchmal fühle ich mich sich von der „Bunten“ mit Zigarette sehr einsam. Dann ruft ein Freund an und hochhackigen Schuhen fotografie- und erzählt mir, dass eine Frau an ren, sie beißt gegen Konkurrentinnen Krebs gestorben ist. Er hat sie gut ge- und hält ihr Liebesleben im Vagen. Al-

kannt und war bis zum Schluss bei ihr. K + C FOTO les soll deutbar bleiben. Ich schäme mich. Ein Würstchen bin Model van Almsick (1997): „Meine Sorgen? Pille-Palle“ Die Beziehung zu ihrem Freund ich, wenn ich mir das Selbstmitleid Steffen Zesner beschreibt sie sehr ge- nicht aus dem Kopf schlage. Meine Sor- Franziska van Almsick gekämpft und im- heimnisvoll. Sie könnte noch zu haben gen? Pille-Palle.“ mer verloren. sein. Sie wehrt sich lustlos gegen die Af- „Franziska van Almsick – reif fürs Le- Kielgaß hat inzwischen verstanden, dass fären, die man ihr anhängt. Und wenn man ben“, kommentierte die „Bild“-Zeitung sie dagegen nichts mehr machen kann. Sie den Amerikaner Lenny Krayzelburg diese Erkenntnis. war die beste Schwimmerin in der Staffel schwimmen sieht, denkt man an sie, weil Ihre ganze Karriere lang wurde sie nach und auch im Einzelrennen, aber das heißt man aus der „Bild“-Zeitung weiß, dass sie Sachen gefragt, die sie eigentlich nicht be- nichts. „Franziska ist gut geschwommen, mal bei ihm übernachtet hat. Franziska van antworten konnte. Sie sagte Belanglosig- obwohl ich mir sicher bin, dass sie noch Almsick gehört Wagner, sie gehört allen. keiten zu Aids, der Stasi und der deutschen schneller schwimmen kann“, sagte sie un- Vielleicht fängt sie an zu trinken wie E.T.s Asylpolitik. Alle lasen es ihr dankbar von gefragt. Und lächelte, als die Journalisten kleine Freundin Drew Barrymore oder den Lippen ab, als seien sie froh plötzlich anfingen mitzuschrei- Harald Juhnke. Vielleicht hat sie mal Af- darüber, dass sie sprechen kann. ben. Neben ihr saß die Schwim- fären mit Politikern. Sie könnte zurücktre- Ein begabtes Kind. Sie blieb die Sie nahm, was merin Sara Harstick stumm und ten und wiederkommen wie Dara Torres. ewige Göre, auch als sie 20 war. sie kriegen ahnungslos und machte deutlich, Sie könnte dick werden, dann dünn und In der Nacht, als die deutsche konnte, und sie wie langweilig die Zeit nach wieder dick. Freistilstaffel die Bronzemedaille verhielt sich Franziska van Almsick sein wird. Viel Stoff für Franz Josef Wagner, der gewann, saß sie mit versteiner- weiter wie ein Es hieß jetzt, van Almsick weiß, dass nur Franziska zum Harald Juhn- tem Gesicht hinter den Start- würde zurücktreten. Aber wo- ke des Schwimmsports werden kann. Sie ist blöcken. Sie weinte und tauchte 14-jähriges von eigentlich? die Folie für die Träume, deswegen hat sie anschließend ins Sprungbecken, Mädchen Wahrscheinlich wusste sie das die besten Werbeverträge, deswegen wird als wolle sie für immer ver- selbst noch nicht so genau. Am sie jetzt verprügelt. Sie ist der einzige Star schwinden. Natürlich gab auch das Anlass nächsten Tag erschien ihr Manager Werner der deutschen Olympiamannschaft, und zu Spekulationen. Was dachte sie? Köster im Deutschen Haus und sagte die das spürt sie gerade. Pille-Palle? angekündigte Pressekonferenz erst mal ab. Es wird ein langer Abschied werden. Nach dem Rennen warteten zwei Dut- Die deutschen Journalisten standen mit Sie wolle später nichts mehr mit dem zend deutsche Journalisten darauf, wie es ihren durchgeschwitzten Hemden demütig Schwimmen zu tun haben. Anders als ihr weitergeht. Womit auch immer. Es war im Staub. An der Rezeption lag ein Stapel Freund Steffen Zesner hänge sie nicht am klar, dass Franziska van Almsick nichts mit Presseerklärungen von Kösters PR-Fir- Schwimmen, sagt sie. „Ich brauche das sagt, und irgendwann war auch klar, dass ma, in der Franz Josef Wagner von der nicht. Wenn Schluss ist, ist Schluss.“ sie gar nicht kommt. Die Männer waren Berliner „BZ“ erklärte, er liebe Franzi. Die Womöglich hat sie in der Nacht der Trä- müde, die Maßstäbe verrutscht, am Ende Schlagzeile „Franzi van Speck“, die Tau- nen begriffen, dass das nicht so einfach ist. wussten sie nur noch, dass sie warten muss- sende Leser erzürnt habe, sei aus ent- Es geht nicht mehr ums Schwimmen. Des- ten, aber nicht mehr, worauf. Kurz vor Mit- täuschter Liebe entstanden. Nie wieder halb ist es unerheblich, ob sie damit auf- ternacht saß Kerstin Kielgaß auf der Büh- würde ihm so was passieren. Der Chef- hört oder nicht. ne, aber niemand hatte eine Frage an sie. redakteur hat seinen Sportreportern einen Franziska van Almsick kann gar nicht Kerstin Kielgaß hat ihr Leben lang gegen Entschuldigungszettel nach Sydney gefaxt, mehr zurücktreten. ™

der spiegel 39/2000 289 DPA Turner Wecker: „Ich habe meinen Job getan, jetzt ist mein Manager dran“

Im Innenraum des neuen, schönen Sta- dions hatten Hundertschaften von Helfern Korridore gebildet, durch die der Sport- schütze Schumann und die anderen Ath- leten durchlaufen mussten. Es war wie „Wie war der Name?“ beim Viehtrieb. Dann trat die Sängerin Vanessa Amorosi auf und sang „Heroes Wenn deutsche Sportler weniger Medaillen gewinnen, als die Live Forever“. Funktionäre kalkuliert haben, sinkt die Stimmung. Was Andreas Wecker, 30, saß auf einem Bar- hocker und aß Salat, als das Fest im Gan- Goldmedaillen tatsächlich wert sind, zeigen die Geschichten der ge war. Olympiasieger von 1996, Wecker, Schumann und Wyludda. Der Turner guckte auf eine große Lein- wand, die im Deutschen Haus gleich neben Am Tag, als Olympia seinen dem Büfett aufgestellt ist. Das Deutsche ersten Rausch hatte, saß Ilke Haus, eine Sammelstelle für deutsche Wyludda, 31, in einem elek- Olympiateilnehmer mit deutschem Bier trobetriebenen Golfwägel- und deutscher Wurst, ist nicht mal einen chen und ließ sich zur Arbeit Kilometer vom Stadion entfernt. Aber bringen. Andreas Wecker durfte nicht zur Party. Er Sie fuhr durch eine hatte am nächsten Tag einen Wettkampf Ferienanlage, die 1000 und deshalb Ausgangssperre. Kilometer weit weg ist von Was man von Menschen wie Wecker in Sydney. Das Golfwägelchen Sydney erwarten kann, war wenige Stun- hielt vor einer großen Wiese, den vorher zu erfahren, als das Deut- Ilke Wyludda stieg aus und sche Haus öffnete. Rolf Ebeling vom übte für den Tag, an dem Olympia für sie Deutschen Sportbund, als „Leistungssport- beginnt. Sie warf Diskusscheiben auf die koordinator“ von Amts wegen zuständig Wiese, ein paar Stunden lang. für das Zählen von Medaillen, sagte: „Wir Ilke Wyludda wollte nicht in Sydney hoffen, schon in den ersten Tagen die ers- sein, als Olympia eröffnet wurde. Nicht ten Medaillen gewonnen zu haben.“ nur, weil es da kälter ist als in Brisbane, Wir? wo sie im Arbeitslager war. Der Aufwand Rolf Ebeling hatte keine guten ersten schien ihr einfach zu groß. „Erst steht man Tage in Sydney. Jeden Tag klaffte ein fieses stundenlang rum“, sagt sie, „und dann dickes Loch zwischen dem, was nach der muss man meilenweit laufen.“ Laufen Hochrechnung sein sollte und dem, was ist ihr zu anstrengend. Sie hat Arthrose wirklich war: eindeutig zu wenige Medail- im Knie. len. Die „Bild“-Zeitung, die ihre Titelseite

Ralf Schumann, 38, fächelte sich mit ei- / BONGARTS M. SANDTEN gern schwarz-rot-gold flaggt, maulte je- nem weißen Strohhut Luft ins Gesicht, als Olympiasieger Wecker denfalls: „Gold kann man nicht kaufen.“ Olympia losging. Kurze Hosen und feuchte Achseln Vor vier Jahren war es genauso. Auch in

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Atlanta sollte alles ganz fix gehen. Es dauerte und dau- erte, und am Ende wurde es doch noch gut. Von denen, die damals auf den Punkt funktionier- ten, sind in Sydney Ilke Wy- ludda, Ralf Schumann und Andreas Wecker wieder dabei. In Atlanta gewan- nen sie Goldmedaillen. Als sie ins Deutsche Haus kamen, machten die Funktionäre fröhliche Gesichter. Und Rolf Ebeling machte neue Striche auf seiner Liste. Und dann? War

Olympia vorbei und FOTOS: BONGARTS Ilke Wyludda, Ralf Schütze Schumann: „Zitterarm und Flatterhand“ Schumann und An- dreas Wecker so un- „Jetzt wird Wecker pichreinigungsmaschine. „Kostenpauscha- wichtig wie in der so bekannt wie Be- le zzgl. Reisekosten und Unterbringung auf Zeit, als sie noch Schumann mit Goldmedaille cker“, sagte er nach Anfrage“. Barren und Musik bringt er nicht bei Olympia ge- „Welchen Sport macht der?“ dem Olympiasieg. selbst mit. wonnen hatten. Ihre Weckers Problem ist, Bevor er losfuhr nach Sydney, sagte Goldmedaillen hatten dafür gesorgt, dass dass er dazu neigt, die eigene Bedeutung Andreas Wecker, er werde ein paar von der Sport in Deutschland weiter Geld vom zu überschätzen. Er ist weder Franzi noch diesen Dossiers mitnehmen. „Um Sponso- Staat bekam und dass Leute wie Rolf Ebe- Boris, noch Schumi, noch Henry. We- ren zu akquirieren“. Sydney, meinte er, sei ling ihren Job behalten konnten. cker war nie zur richtigen Zeit im richti- die Gelegenheit. Und Antje Hertel sagte, Vier Jahre lang hat es Deutschland nicht gen Sport. entscheidend für die Zukunft sei, ob er in interessiert, ob die Diskuswerferin Ilke Wy- Er ist Turner. Und Turnen klingt nach Sydney eine Medaille gewinne. ludda oder der Schütze Ralf Schumann kurzer Hose und feuchten Achseln. Turnen Auf der Anzeigetafel steht: Nr. 138, oder der Turner Andreas Wecker gewin- ist so deutsch wie die Loreley. Und bisher Wecker A., GER. Andreas Wecker tritt mit nen oder verlieren. Sie haben trotzdem ge- hatte keiner der Spaßgesellschafts-Strate- fünf anderen Turnern im Mannschaftswett- nauso weitergemacht wie in der Zeit, als sie gen eine Idee, was man aus Turnen noch so bewerb an, sie tragen rote Hosen und gelbe noch nicht Olympiasieger waren. Wyludda alles machen könnte. Trikots, und Wecker hat ein mieses hat geworfen, Schumann geschossen, Ein Jahr nach seinem Olympiasieg stürz- Gefühl. Wecker geturnt. Jeden Tag. te Andreas Wecker beim Training vom Seit zwei Tagen schmerzt die rechte Und wenn man sie fragt, warum sie das Reck. Danach gab er seinen Rücktritt be- Schulter, wahrscheinlich ist ein Muskel ka- gemacht haben, sagen sie: Weil wieder kannt. Er sagte, er habe Angst um sein Le- putt. Er hat sich spritzen lassen. Der Mann, Olympia ist. ben; aber das stimmte nicht, es sollte nur der nur 1,63 Meter groß ist und einen Bi- * scharf klingen. zeps hat, der aussieht wie ausgestopft, zieht Aus der „Bild“-Zeitung vom 1. August In Wirklichkeit hatte er die Schnauze die Gummilatschen aus und springt auf ein 1996: „Gold-Recke Wecker: Ab heute wie- voll, weil alles auf der Stelle trat. Er selbst, Podium, auf dem das Seitpferd steht. Er der Sex.“ der Sport, die Einkünfte. Er turnte beim reibt Magnesia in seine Hände und dreht berühmten „Cirque du Soleil“ in Kanada sich zu einem Tisch, an dem vier Männer Als Andreas Wecker noch in der DDR vor. Aber weil der Zirkus zu wenig zahlen in grauen Anzügen sitzen. Er hebt den lebte, gewann er bei den Olympischen wollte, wurde Wecker wieder Sportler. Er Arm und beginnt mit seinem Vortrag. Und Spielen 1988 in eine Silbermedaille. wollte jetzt der erste deutsche Turner sein, immer, wenn etwas nicht korrekt ist, Danach bekam er von Erich Honecker den der viermal bei Olympia war. schreiben die vier Männer im Verdienstorden. Ums Management kümmert sich Anzug etwas auf ihre Zettel. Acht Jahre später turnte er für das ver- jetzt die Freundin. Antje Hertel, „Jetzt wird Als alles vorbei ist, ist Deutsch- einigte Deutschland und gewann bei den eine ehemalige Tänzerin im Ber- Wecker so land ausgeschieden. Wecker war Olympischen Spielen in Atlanta die Gold- liner Friedrichstadtpalast, sagt, bekannt wie nicht besonders gut, aber die Kol- medaille am Reck. Danach wollte er von sie habe ein Händchen für so Becker“, sagte legen waren nicht besser. Werner Köster Werbeverträge. was. Wenn man die Dinge rich- er nach Am Morgen nach dem De- Köster war sein Manager. Und Köster tig anpacke, sagt sie, sei „brutal saster ist Mannschaftssitzung. hatte schon Franziska van Almsick zur Hel- viel rauszuholen“. Frau Hertel dem Olympia- Sergej Pfeifer, ein Kollege aus der din der Werbung gemacht. „Ich habe mei- ist zu einer Werbeagentur ge- sieg Mannschaft, sagt, Wecker sei ein nen Job getan, jetzt ist mein Manager gangen und hat ein schickes Dos- Egoist. Er habe nur an seine vier- dran“, sagte Wecker. sier fertigen lassen. „Andreas Wecker – ten Olympischen Spiele gedacht. Wecker Franziska van Almsick warb für Milka der Vorturner“, steht vorne drauf. Es ist verlässt die Sitzung und zeigt Pfeifer den und Opel und bekam dafür Millionen. hauptsächlich goldfarben und aufwendig ausgestreckten Mittelfinger. Andreas Wecker trat zum Beispiel auf, produziert. Andreas Wecker musste 100 In der „Bild“-Zeitung steht: „Wecker wenn irgendwo ein Karstadt eröffnet wur- Mark pro Stück zahlen. zeigte Stinkefinger! 1. Olympia-Skandal.“ de. Sein Tarif liegt zwischen vier- und Wer darin liest, erfährt, dass man den Von den goldfarbenen Dossiers hat An- sechstausend Mark pro Termin. Turner Wecker mieten kann wie eine Tep- dreas Wecker fünf Exemplare nach Sydney

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Werbeseite mitgenommen. Sie liegen im Koffer, „da- mit sie nicht knicken“. Er hat noch alle fünf. Wo in Sydney die Sponsoren sind? „Irgendwie hab ich noch keinen so rich- tig getroffen.“ * Aus der „Bild“-Zeitung vom 26. Juli 1996: „Peng! Peng! Peng! Peng! 698 Ringe – die Goldmedaille. Super-Schumann war un- schlagbar.“

Wenn sich Ralf Schumann auf den Sport vorbereitet, den er seit 24 Jahren betreibt, zieht er sich zuerst eine rote Kappe auf den Kopf. Dann setzt er eine Brille auf, die so groß ist wie sein halbes Gesicht. Am Ende stülpt er sich einen roten Lärmschutz über

die Ohren. Er sieht jetzt aus wie eine Fach- BONGARTS FOTOS: kraft an der Kreissäge im Baumarkt Obi. Diskuswerferin Wyludda: Ein Stück verbliebene DDR Schumann arbeitet mit der Schnellfeu- erpistole, Kaliber 5,6 Millimeter, 1260 schlechteste Wettbewerb seines Lebens. Auf die Frage, ob seine Medaille „der Gramm schwer. Er muss 60-mal aus 25 Me- „Nur Gülle geschossen“, sagt er. Die Durchbruch“ für seinen Sport sei, antwor- tern auf fünf Scheiben schießen. Das macht „Bild“-Zeitung schreibt: „Zitterarm und tet er: „Auf jeden Fall. Für Tennis hat sich in der Regel keiner besser als er. Schumann Flatterhand.“ auch keiner interessiert, bis Boris kam.“ war sechsmal Europameister, zweimal Welt- Wenn man so will, ist Schumann auch Ungefähr so fühlte auch der Bahnrad- meister, zweimal Olympiasieger. Seine Me- ein Verlierer der Wende. Weil er verlässlich fahrer Robert Bartko, als er mit dem Vie- daillen ruhen daheim in einer rustikalen für Olympiamedaillen sorgte, war er bei rer seine zweite Goldmedaille gewonnen Eichenvitrine mit Innenbeleuchtung. Honecker ein Bürger mit Privilegien: Neu- hatte. Der Trainer Bernd Dittert weiß es Letztes Mal, als in Atlanta fünf Tage bauwohnung, Wartburg, Kindergartenplatz besser, er sagte: „Wenn hier morgen der ohne Goldmedaille vergehen mussten, ließ um die Ecke. Und gelegentlich Reisen Jan Ullrich gewinnt, redet von Robert sich Deutschlands Olympiachef Walther „nach dem westlichen Ausland“. Er muss- Bartko kein Mensch mehr.“ Immerhin Tröger an den Schießstand fahren, weil te nicht arbeiten gehen, nur gut schießen. wird Robert Bartko demnächst irgendwo Schumann dran war. Treffer. Tröger kam Nach der Wende traf er einen von der einen Profivertrag unterschreiben. Das mit aufs Siegerfoto. Obrigkeit des Deutschen Schützenbundes, kann Ralf Schumann nicht. Es gibt keine Ralf Schumann erinnert sich, dass er und der sagte ihm, er solle erst mal bewei- Profi-Schützen. nach der Siegerehrung „gleich abgeführt sen, ob er auch unter West-Bedingungen so Als seine vierten Olympischen Spiele worden“ ist; erst Fernsehen, dann Deut- gut sei. Dann wurde Schumann 1992 Olym- vorbei sind, haben nur noch ein paar ver- sches Haus, dann wieder Fernsehen. Und piasieger, und er glaubte, jetzt sei Schießen sprengte Journalisten aus dem Fachgebiet zwischendurch habe sich „die Obrigkeit“, ein Sport für alle Deutschen. Schießsport Gesprächsbedarf. Kein Fern- wie er Funktionäre nennt, angeschmiegt. Das glauben alle, die zum ersten Mal bei sehen, kein Deutsches Haus. Diesmal war die Obrigkeit woanders. Olympia etwas gewinnen. Als der Triathlet Ralf Schumann, der Held der „Deut- Ralf Schumann hatte schon nach dem Vor- Stephan Vuckovic in Sydney nach seiner schen Schützenzeitung“, will nur noch mit kampf keine Chance mehr. Nr. 193, Schu- Silbermedaille ins Deutsche Haus darf, solchen Journalisten reden, die nicht im- mann R., GER, wurde Fünfter. Es war der kriegt er in der Pressekonferenz Applaus. mer bloß bei Olympia aufkreuzen. Die an- Olympia deren, sagt er, „sollen weiter die ‚Bild‘ le- schissn!“, oder er sagt „Bääässer!“. Manch- per nicht verkraftet“, sagt sie. Die Wunde sen und mich in Ruhe lassen“. mal sagt er auch gar nichts. heilte nie mehr richtig zu. Im Athletendorf hat das Nationale Bevor Ilke Wyludda vergangenen Freitag Seit den letzten Olympischen Spielen ist Olympische Komitee ein Büro eingerichtet, von Brisbane nach Sydney flog, hieß es in Ilke Wyludda 15-mal operiert worden. Vier in dem man anrufen kann, wenn man ihrem Betreuerstab, sie nähere sich all- Monate lang saß sie im Rollstuhl. Sportlern eine Nachricht hinterlassen will. mählich „dem 68er Niveau“. Wer in Syd- „Ich habe immer gewusst: Wenn ich wie- Wer hier fragt, ob es möglich sei, dem ney eine Chance auf Gold haben will, muss der laufen kann, kann ich auch wieder wer- Schützen Ralf Schumann etwas auszurich- den Diskus um die 68 Meter weit werfen. fen“, sagt sie. Warum sie wieder werfen ten, muss erst mal selbst Fragen beant- Wyludda hat schon mal 74,56 Meter weit wollte? Weil sie noch mal zu Olympia woll- worten. geworfen. Das war 1989, im vorletzten Jahr te. „Man fühlt sich in dem Moment als et- „Welchen Sport macht der?“ der DDR. Sie ist in einem Sportsystem groß was Besonderes. Wenn man dran denkt, „Schießen.“ geworden, das seine Angehörigen mit Do- dass in 100 oder 200 Jahren jemand noch „Und wie war der Name?“ pingzeug gestopft hat. „Da- mal die Liste aller Olympiasieger anguckt, „Schumann. Ralf Schu- mals hatte ich ein anderes und man steht da drinne, dann ist das doch mann.“ Leistungsvermögen“, sagt sie ein schönes Gefühl, wenn man seinen Na- * lapidar. Zumindest ist das men in die Ewigkeit eingebracht hat.“ Aus der „Bild“-Zeitung vom nicht falsch. Als sie alle Disken auf die Wiese gewor- 31. Juli 1996: „Den ersten „Damals“. Damals war fen hat, geht Herr Böttcher los, um alle Siegerkuss drückte Ilke Wy- Herr Böttcher für die Kugel- wieder einzusammeln. Ilke Wyludda kann ludda ihrem Glücksbrin- stoßerin Helma Knorscheidt nicht mehr schmerzfrei laufen, wegen der ger, dem Stoffbärchen, aufs zuständig, und die war da- Arthrose im Knie. „Jedes Leben hat seinen Fell. Jubelnd hüpfte der mals tüchtig voll mit den Preis. Wenn ich mir einen Bauarbeiter mit Diskus-Wonneproppen ganzen DDR-Mitteln. 35 angucke, der den ganzen Tag den Press- durch das Stadion.“ Ilke Wyludda ist keine lufthammer in der Hand hat – der sieht Athletin, die der deutsche auch nicht besser aus“, sagt sie. Jedes Mal, wenn Ilke Wy- Sport wirklich gern vorzeigt. Sie lässt sich auf die Erde fallen, und als ludda einen Diskus aus dem Einerseits. Andererseits: sie liegt, fragt ein Betreuer: „Und wie willst Eisenkäfig herausschleudert, Warum nicht, solange sie du da wieder hochkommen?“ Sie rollt sich schreit sie, als sei ein Knüp- Olympiasiegerin Wyludda Medaillen holt? Die Frau aus auf den Bauch und stemmt sich schweratmig pel in ihrem Kreuz gelandet. Kein Frolleinwunder Sachsen ist ein Stück ver- auf Armen und Beinen in die Höhe. Als sie Sie schreit kurz und trocken, bliebene DDR in der ge- steht, sagt der Betreuer: „Gut gelöst.“ und dann guckt sie der Scheibe hinterher, samtdeutschen Olympiamannschaft von Ihre Sponsoren sind ein Sanitätshaus aus die zum Meer der australischen Gold Coast Sydney. Im Sport der DDR gab es keine Halle und eine Firma, die Verbandszeug hin fliegt. Schönheitspreise und keine Frolleinwun- herstellt. Ihre Sponsoren sind wie ein zy- Von einem Stuhl aus, der hinter dem der. Ilke Wyludda ist 1,84 Meter groß und nischer Gag von Harald Schmidt. Käfig steht, guckt ihr der Trainer zu. Ger- 95 Kilogramm schwer. Sie wirft den Diskus Die Verträge laufen am Ende des Jahres hard Böttcher trägt eine schwarze Base- seit 19 Jahren. Wenn sie übt, trägt sie ein aus. Ob sie verlängert werden, hängt davon ballkappe, auf der „“ steht, eine Trikot, auf dem „Erdgas Chemnitz“ steht. ab, ob Ilke Wyluddas Olympia so endet kurze Hose, ein Paar Sandalen und sonst Ein Trikot wie ein Programm. wie das Olympia von Andreas Wecker und gar nichts. Sein Bauch wölbt sich der Ein halbes Jahr nachdem sie in Atlanta das Olympia von Ralf Schumann. australischen Sonne entgegen und wird all- Gold für Deutschland gewonnen hatte, riss Weiterhin werfen wird sie so oder so. mählich rot. Der Mann aus Sachsen-Anhalt ihr die rechte Achillessehne. Sie wurde Warum? sagt nicht viel. Wenn der Diskus gelan- operiert, und gut drei Monate später riss „Weil es einfach traumhaft ist, wenn ein det ist, sagt er entweder „Herrlisch be- die Sehne noch einmal. „Das hat mein Kör- Diskus weit fliegt.“ Matthias Geyer Olympia

Chen Yan verliert alles in Sydney, aber es scheint ihr nichts auszumachen. Sie klet- SCHWIMMEN tert aus dem Becken, man sieht nicht, ob sie sich ärgert oder freut. Sie nimmt es hin. Sie wird in dieser Woche noch oft aus- Die letzte Kaiserin scheiden. Eigentlich immer. Sie startet über 200 und 400 Meter Lagen und in beiden Chen Yan war Weltmeisterin und Weltrekordlerin. In Sydney ist sie Freistilstaffeln. In Perth 1998 war sie noch Doppelweltmeisterin. In Atlanta holte sie rätselhaft schwach. Fürchtet China einen Dopingskandal, Bronze. Sie ist die erfolgreichste chinesi- der die Bewerbung für die Spiele 2008 in Peking gefährdet? sche Schwimmerin, die in Sydney antritt. Vermutlich ahnt sie bereits an diesem ers- ten Abend, dass sie kein einziges Finale erreichen würde. Sie verlässt die Halle un- behelligt von den Fernsehreportern. Die Leute schreien. Aus den Boxen läuft jetzt „Supernatural“ von Santana. Chen Yan taucht erst wieder zum nächs- ten Rennen auf. „Oohh“, ruft der chinesische Delega- tionsleiter der Schwimmer. Er heißt Shi Tianshu und ruft noch einmal „Ohhoh“ und dann: „Kompliziert. Sehr kompliziert, Chen Yan zu sprechen. Sie muss viel trai- nieren. Das wird sehr, sehr kompliziert. Welche Fragen haben Sie?“ Zum Beispiel, warum sie schlechte Zei- ten schwimmt, wo sie herkommt, was ihre Eltern machen, was sie zu den Rekorden der anderen Schwimmer sagt, und wie lan- ge sie noch schwimmen will. „Ich werde Chen Yan fragen“, sagt Shi Tianshu. Am nächsten Tag hat er Nachrichten: „Ihr Vater ist Arbeiter. Hafenarbeiter. Ihre Mutter ist Verkäuferin in einem kleinen Geschäft. Sie stammt aus dem Norden, aus der Stadt Dalian. Sie hat Probleme mit dem Magen, deswegen schwimmt sie jetzt langsamer. Aber sie will weiterschwimmen und ihr Bestes probieren. Wir alle müssen uns verbessern. Wir müssen lernen von

BONGARTS den besten Schwimmern der Welt. Deutsch- Olympia-Teilnehmerin Chen Yan: Der Welt hinterherschwimmen wie ein schlechtes Gewissen land hat auch sehr gute Schwimmer. Wir müssen von Deutschland lernen.“ Chen Yan sieht aus, als habe Sie erwarten viel von Chen Yan. Sie hält Hat sie das alles gesagt? sie sich verirrt. In diesen den Weltrekord auf dieser Strecke. „Ja“, sagt Shi Tianshu. „Und sie liebt Lauf, in diese Halle, in diese Sie wird Sechste. Das reicht nicht fürs Fi- Australien.“ Welt. Aus den Boxen schreit nale. Sie ist acht Sekunden langsamer ge- Was ist mit den Rekorden? Tom Jones „Sex Bomb“, die schwommen als bei ihrem Weltrekord vor „Es gibt klare Kontrollmöglichkeiten. Blitzlichter flackern wie drei Jahren. Acht Sekunden sind viel im Wir müssen uns an die Kontrollwerte hal- Sterne über die Ränge. Schwimmen. Auch die vier Sekunden, um ten. Ich traue den internationalen Organi- Chen Yan ist blass und die sich Jana Klotschkowa aus der Ukrai- sationen“, sagt Shi Tianshu. Er macht das schmal, und man hofft, dass ne in diesem Rennen verbessert, sind viel. seit dreieinhalb Jahren, er hat keine einfa- sie von all dem nicht wirk- Am nächsten Abend holt sich die Klotsch- che Aufgabe diesmal. Die besten Schwim- lich berührt wird. kowa auch noch Chen Yans Weltrekord. mer Chinas sind zu Hause geblieben, 4 von Sie steht vor Bahn sieben. Sie schaut auf ihnen waren unter den 27 die andere Seite der Halle, wo die Delega- Kurze Schwemme Sportlern, die neun Tage vor tion sitzt. Sie schüttelt ihre Arme aus, die Beginn der Spiele nach Blut- Medaillengewinne chinesischer Schwimmerinnen Musik wechselt zu Blur. Die Stimmung er- tests aus dem Kader genom- innert an Sechstagerennen, aber es sind die Olympia WM Olympia WM Olympia men wurden. 1992 1994 1996 1998 2000 olympischen Halbfinale über 400 Meter La- „Der Blutwert der Sportler gen der Damen. Die Halle ist voll, die Men- Gesamt 9196 60lag über dem IOC-Grenzwert. schen sitzen bis weit in den Himmel, sie Der Rückzug erfolgt zum kreischen, als Jennifer Reilly vorgestellt Gold 4121 30Schutz ihrer Gesundheit und wird, eine Australierin. Chen Yan starrt wei- zur Aufrechterhaltung der Fair- ter zu ihrer Delegation. Eine kleine Gruppe Silber 56310ness der Spiele“, schrieb das mit weißen T-Shirts und roten Papierfähn- Nationale Olympische Komitee chen. Sie winkt schwach, als ihr Name ge- Chinas. Bereits im Juli war Wu rufen wird. Die Papierfahnen wedeln leicht. Bronze 01220Yanyan, die Weltrekordlerin

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Aber diesmal ist es anders. In Sydney schwimmen die Chinesin- nen der Welt hinterher wie ein schlechtes Gewissen. Ein winziges Land wie Holland bricht die Weltrekorde, ein riesiges Land wie China wird immer langsa- mer. Die italienischen Schwimmer kommen aus dem Nichts. Doppel- olympiasieger Domenico Fiora- vanti hat seine Jahresbestzeit in Sydney um vier Sekunden verbes- sert, was als unmöglich galt. Und die holländische Olympiasiegerin Inge de Bruijn sieht aus wie eine Drag Queen. Die besten Mittel aber würden die australischen Schwimmer benutzen, behauptet der australische Leichtathlet Wer- ner Reiterer in einem gerade er- schienenen Buch. Nur die Begeis- terung der Zuschauer hält das alles noch zusammen.

AP Vor jedem Rennen starrt Chen Dopingschmugglerin Yuan Yuan*: „Wir versuchen, den Schaden zu reparieren“ Yan zu ihren Getreuen. Aber nachdem ihre Staffel im Vorlauf und Weltmeisterin über 200 Meter Lagen, spiele 2001 vor. Das ist der eigentliche ausgeschieden ist, hat sie jetzt Zeit für wegen Dopingvergehen für Sydney gestri- Höhepunkt. Beim nächsten Mal werden ein Interview. chen worden. Chen Yan ist die einzige sie sicher besser sein.“ Der Dolmetscher ist Shi Tianshu, und Weltmeisterin im Aufgebot, sie ist auch die Sie können es nicht erklären. Die Wel- Chen Yan erscheint mit der Hand auf dem Einzige, die schon in Atlanta dabei war. ten sind sich zu fremd. China war immer Leib und einem leidenden Blick. Sie spielt Sie ist die letzte Kaiserin. ein schlechtes Beispiel für die Welt. Es war Bauchschmerzen vor, jedenfalls am An- Bei den Weltmeisterschaften in Perth weit weg und sehr verschlossen. Die Na- fang. Später vergisst sie es. Sie beginnt mit waren vier Schwimmerinnen positiv getes- men der Sportler schienen sich zu ähneln ihren Bauchschmerzen und damit, dass tet worden, man hatte überlegt, die gesam- wie ihre Gesichter. Es gab auch mal eine China von der Welt lernen muss. Dass alle te Mannschaft zu sperren. Vor allem die gedopte Rückenschwimmerin, die Chen immer ihr Bestes geben müssen. Australier wollten das. „Wir hatten einige Yan hieß. Irgendwie schienen alle unter ei- Mag sie Australien? Übeltäter, die uns ein sehr schlechtes Image ner Decke zu stecken. Sie schweigt. Sie sieht Shi Tianshu an. eingebracht haben. Aber wir versuchen, den „Ja“, sagt er. „Sie hat noch nicht viel Schaden zu reparieren“, erklärte Zhang Zeit gefunden, sich umzusehen. Vielleicht Qiuping, Vizepräsident des chinesischen nach den Wettkämpfen.“ Schwimmverbands in diesem Jahr. Das Chen Yan muss Australien fürchten, nach müssen sie auch, wenn Peking die Olympi- dem, was sie in Perth erlebte – als zu ihren schen Spiele 2008 bekommen soll. IOC-Prä- Ehren die Nationalhymne gespielt wurde, sident Juan Antonio Samaranch hat sich pfiffen die Zuschauer. Das hat sie auch dem sehr gefreut, dass China die 27 Sportler zu französischen Journalisten Benoit Lallement Hause ließ. „Ich bin sehr glücklich“, sagte anvertraut, der vier Jahre lang aus China er. „Das ist gut für das Image der Spiele.“ über Sport berichtet hat. Sie hat ihm gesagt, Aber es ist schwer für Herrn Shi Tianshu. sie komme nur, weil es eine Olympiade ist. China war über Jahre eine der erfolg- „Sie ist sehr scheu“, sagt Lallement. „Ihr reichsten Schwimmnationen. 1994 holten Heimtrainer geht mit ihr um wie mit einem die Frauen 12 von 17 WM-Titeln, noch beim Soldaten, er schreit und kommandiert sie. Weltcup im Januar dieses Jahres in Schang- Er ist ein dicker Kerl, der ständig raucht, hai gewannen die chinesischen Schwim- auch in der Schwimmhalle. Sie ist schon als mer 28 von 34 Wettbewerben. In der ver- kleines Mädchen in sein Trainingszentrum gangenen Woche in Sydney holten sie nicht gekommen. Es gibt dort strenge Pläne. Man eine einzige Medaille. wird kaum eine chinesische Schwimmerin Die meisten Starter erreichten nicht mal mit einer eigenen Meinung finden. Sie wer- das Finale. „Ohhoh“, sagt Shi Tianshu. den einfach ausgetauscht, wenn sie nicht „Die Welt ist stärker geworden. Wir müs- mehr funktionieren.“ sen von der Welt lernen. Wichtig ist, dass Es gibt keine Guten in diesem System. die Weltfamilie vereinigt ist.“ Wenn die Chinesen bessere Mittel finden, Der Schwimmreporter Wen Shu, der für werden sie wieder schneller schwimmen. die chinesische Nachrichtenagentur arbeitet, Was machen ihre Eltern? „Sie haben ein sagt: „Wahrscheinlich bereiten sich unse- kleines Restaurant“, sagt sie. re Schwimmer auf die Chinesischen Sport- Ist ihr Vater nicht Hafenarbeiter und ihre

AP Mutter Verkäuferin? „Nein, nein“, sagt sie. * Bei ihrer Festnahme vor den Schwimmweltmeister- Olympia-Werbung in Peking Shi Tianshu lächelt verständnislos. Als schaften 1998 in Perth. Weit weg und sehr verschlossen käme es darauf an. Alexander Osang

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HELDEN „Ein pubertäres Land“ Der australische Sportkritiker Barry Spurr über den Starkult um den Schwimmer Ian Thorpe, die Folgen der Spiele für die Nation und falsche Vorbilder

Spurr, 50, lehrt an der Uni- für Spiritualität. Und auf einmal reden versity of Sydney Englische die Fernsehreporter so salbungsvoll da- Literatur. Im traditionell her: „Wird Ian Thorpe wieder Gold nach sportverrückten Australien Hause bringen?“ Das fing ja schon an, hat er sich mit kritischen als diese Fackel durchs Land getragen und hintersinnigen Ver- wurde. öffentlichungen über SPIEGEL: Die Ovationen für die olympische den nationalen Kult um Flamme haben Ihnen missfallen? die Athleten einen Namen Spurr: Das ist doch pure Ironie. Wir sind gemacht. das wahrscheinlich unreligiöseste Volk auf der Erde, und dann wird diese Fackel SPIEGEL: Den Australiern ist ein neuer Held angebetet, als sei sie ein Fragment des erschienen: Ian Thorpe. Können Sie die biblischen Kreuzes. Alte Frauen wurden Begeisterung über seine Goldmedaillen interviewt, die sagten: „Ich habe die Flam- nachvollziehen? me gesehen, jetzt kann ich glücklich ster- Spurr: Thorpe ist eine rei- ben.“ Was repräsentiert zende Person. Er steht für denn diese Flamme – das Fleiß, Talent, für physische IOC etwa?

Stärke. Das ist in Ordnung. SPIEGEL: Ihre Landsleu- / SAMPICS S. MATZKE Wir brauchen aber nicht te sind dennoch seit den Werbeträgerin Freeman nur sportliche, sondern ver- ersten Triumphen ihrer „Durch die rosarote Brille“ schiedene Arten von Vor- Schwimm-Heroen mächtig bildern. Unser Land hat in Fahrt: 85 Prozent der bekommen wir zu hören, wir seien eine große Probleme im Bereich Karten sind verkauft, Plät- Sportnation, erfolgreiche Sportler seien le- der Bildung, und die Selbst- ze mit Großbildschirmen bende Legenden. Ich sage Ihnen: Wir sind

mordrate bei männlichen / SAMPICS S. MATZKE wurden wegen Überfüllung ein pubertäres Land. Die meisten hier glau- Jugendlichen erreicht epi- Kulturkritiker Spurr geschlossen. Souvenirhänd- ben, der bedeutendste Australier aller Zei- demische Ausmaße. Da „Kein Sinn für Spiritualität“ ler mussten schon ihre Be- ten sei Don Bradman, der Kricketspieler. sind wir Spitzenreiter in der stände auffüllen, die Nach- SPIEGEL: Wer ist es dann? Welt. Diese sozialen Probleme kann frage nach der australischen Flagge ist Spurr: Natürlich ist es Howard Florey, der Thorpe nicht lösen. gewaltig. das Penicillin entwickelt und damit vielen SPIEGEL: Anders als bei Ihren Landsleuten Spurr: Seltsam, nicht? Es ist dieselbe Flagge Millionen Menschen das Leben gerettet ist der olympische Geist offenbar nicht in mit dem Union Jack, die viele kürzlich noch hat. Aber die meisten Australier kennen Sie gefahren. abgeschafft sehen und durch ein Symbol den nicht mal. Sport dagegen, wird uns Spurr: Das mit dem Geist wundert mich mit einem Känguru ersetzt haben wollten. eingetrichtert, sei die wichtigste Sache der doch sehr. Wissen Sie, wir sind ein sehr Das ist ein sehr oberflächlicher, unreifer Pa- Welt. Wenn du nicht dafür bist, bist du skeptisches, eher zynisches Volk. Nicht triotismus. Weil er einzig auf sportlichen kein wahrer Australier. Schauen Sie sich sehr traditionsbewusst, ohne jeden Sinn Leistungen basiert. Von Kindesbeinen an diesen Werbespot an, in dem ein Läufer hinfällt und ein anderer ihm auf die Füße stadt sei Wien. Sie verwechseln Australia hilft. Zum Schluss kommt der Spruch: „Fei- mit Austria. ert die Menschlichkeit!“ Du meine Güte, SPIEGEL: Leidet Australien an einem Min- Menschlichkeit! So toll das ist, wenn ein derwertigkeitskomplex? Athlet dem Konkurrenten hilft – ist Spurr: Wir wollen einen guten Eindruck hin- Menschlichkeit nicht etwas Größeres? terlassen. Alle hatten eine Heidenangst vor SPIEGEL: Sie meinen, die Spiele bekommen der Eröffnungsfeier. Heraus kam ein völlig mehr Aufmerksamkeit, als sie verdienen? falsches Bild, etwa was die Aborigines an- Spurr: Das Wort „Games“ bedeutet Spiel, geht: Australien durch die rosarote Brille. Es Vergnügen, Unterhaltung. Im letzten Jahr waren nur glückliche Eingeborene zu se- starb Morris West, einer der großen austra- hen. Als dann das Feuer um Cathy Freeman lischen Schriftsteller – das hat keinen in- kreisrund brannte, wurde ja auch kein teressiert. Nicht auszudenken, was passiert, australisches Bild transportiert, sondern ein

wenn Bradman stirbt. PRESS / ACTION REX FEATURES deutsches. Das war original Richard Wag- SPIEGEL: Australiens Schwimmstars haben Australische Sportfans ner: Brünnhilde in der „Walküre“. sich ihre Spitznamen als Warenzeichen re- „Oberflächlicher Patriotismus“ SPIEGEL: Die Einschaltquote ist australi- gistrieren lassen. Thorpe hat „Thorpedo“ scher Rekord. Hat der Sender Recht, wenn geschützt, Kieren Perkins „Superfish“. er von den Spielen als dem größten Event Sponsoren schätzen, eine Goldmedaille sei in Australiens Geschichte spricht? durch Vermarktung umgerechnet rund fünf Spurr: In gewisser Weise ja. Nie hat die Millionen Mark wert. Welche Botschaft ha- Welt so intensiv auf uns geschaut, nie ha- ben die Sportler? ben sich so viele Freiwillige für etwas ein- Spurr: Unsere Athleten werden durch gesetzt. Und wir erleben die größte Eva- Sponsoring zu Hollywood-Stars. Das gibt kuierung Sydneys, die es jemals gab: Mehr ihrem Vorbildcharakter eine tragische Leute haben die Stadt für die Zeit der Spie- Komponente. Ich glaube, dass die meisten le verlassen, als hereingekommen sind. Kinder von einem Thorpe nicht inspiriert Aber man verwechselt Umfang mit Be- werden. Eher sagen sie: So gut, wie er ist, deutung. War nicht das Überleben der kann ich niemals sein. Es ist aussichtslos. Nation im Zweiten Weltkrieg das bedeu- SPIEGEL: Aber Australien ist ein Sportland. tendste Ereignis? Wenn Olympia das Größ-

Spurr: Falsch. Unsere Gesellschaft lebt in PRESS / ACTION ALLSPORT te wäre, müssten wir danach in eine tiefe einem absurden Widerspruch zu ihrer Schwimmstar Thorpe (r.)* Depression fallen. Selbstdarstellung. Nie waren Australier im „Fleiß, Talent, physische Stärke“ SPIEGEL: Wird sich Australien durch Syd- Schnitt fetter, nie zuvor haben unsere Kin- neys Olympia verändern? der so wenig Sport getrieben. Und nie zu- res, als die Pommies, wie wir die Englän- Spurr: Kulturell sicher nicht. Wir bleiben vor haben wir uns überzeugter als Sport- der nennen, im Kricket zu schlagen. Jetzt eine Entertainment-Gesellschaft. Ob ein nation präsentiert. Da sitzen dann die ist es genauso mit den Yanks. Dabei war Thorpe zur Ikone wird, macht keinen Un- dicken Fans mit Bierdose auf der Tribüne Australien noch nie so amerikanisiert wie terschied. Wir haben schon genug Sport- und brüllen: „Aussie, Aussie, oi-oi-oi“. Es heute. Wir sind längst der 51. Staat von helden. Schön wäre es, wenn die Wirtschaft fehlt uns die Ironie, das zu bemerken. Amerika. profitierte, wenn der Tourismus angekur- SPIEGEL: Nach dem Sieg der Schwimmstaf- SPIEGEL: Die Rivalität ist also künstlich? belt würde. Aber ich bin skeptisch. fel ließ sich zu aggressiven Spurr: Es ist unreif, mit den Amerikanern zu SPIEGEL: Warum? Gesten gegenüber den Amerikanern hin- konkurrieren. Wir sorgen uns immer, was Spurr: Die Leute in Übersee schauen auf reißen. Woher rührt diese Feindseligkeit? man in Übersee über uns denkt. Dabei wis- Sydney, gucken sich jedoch in erster Linie Spurr: Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sen die meisten Amerikaner gar nicht, wo die Wettkämpfe an. Zurzeit interessieren wir zu Amerika eine ähnlich schwieri- Australien liegt. Sie glauben, unsere Haupt- sich die Medien für Australien, aber dann ge Beziehung wie zuvor zu den Briten. kommt wieder etwas Neues. Es wird sein Wir verhalten uns wie Teenager, die wie in einem Musical, wenn der Vorhang * Nach dem Sieg der australischen 4x100-Meter-Freistil- von ihren Eltern abhängig sind, sie aber Staffel mit Ashley Callus, Chris Fydler und Michael Klim fällt. Dann ist es eben vorbei. hassen. Früher gab es nichts Wichtige- vorvergangenen Samstag in Sydney. Interview: Jörg Kramer, Alfred Weinzierl Olympia

Asien, die daran scheitert, ihren Rückflug umzubuchen. Die wenigsten Sportler spre- ATHLETEN chen Englisch. Also bleibt man unter sich. Bisweilen wird sogar im deutschen Team gefremdelt. Friedrichsen sitzt beim Abend- „Eine einzige Fleischbeschau“ essen Franziska van Almsick gegenüber. Doch der Blick der Schwimmerin geht ins Wie die beiden deutschen Beachvolleyballerinnen Leere. Friedrichsen verzichtet darauf, die sieben Jahre jüngere Tischnachbarin anzu- Danja Müsch und Maike Friedrichsen die Tage von Sydney erleben sprechen: „Sie wirkt so unnahbar.“ Auf dem Heimweg spaziert Dienstag, 12. September sie an der McDonald’s-Filiale Einzug ins olympische Dorf. des Dorfes vorbei. Der Fast- Danja Müsch und Maike Fried- Food-Schalter hat rund um die richsen warten am Kontroll- Uhr geöffnet. Auch deutsche punkt, bis die Delegation aus Schwimmer stehen in der Tonga eingecheckt hat. Schlange. Zuerst der König, dann sieben Funktionäre, zum Donnerstag, 14. September Schluss die drei Athleten. Die Busfahrt vom Dorf zum Der Beamte am Checkpoint Beachvolleyball-Zentrum am prüft auch ihr Gepäck, dann Strand von Bondi, im Osten sagt er „Welcome“. Der Moment, auf den von Sydney gelegen, gerät zur sie vier Jahre lang hingearbeitet haben. Irrfahrt durch die Innenstadt. Jede Nation hat im Dorf ihr eigenes Der Fahrer kennt den Weg Viertel. Das deutsche liegt in der „Grünen nicht. Statt 50 Minuten dauert Zone“, es ist nicht zu übersehen: An Türen der Trip anderthalb Stunden. und Fenstern hängen schwarz-rot-goldene 15 Uhr, Trainingsbeginn. Die Fahnen. Müsch und Friedrichsen wohnen Sonne scheint, aber es ist kühl. in Haus Nummer 146, sie teilen es sich mit Die Sportlerinnen tragen Woll- vier deutschen Triathleten. Ihre Zimmer mützen. Ein Gerücht geht um: sind zwölf Quadratmeter groß, sie haben Schon die ersten Spieltage sol- ein eigenes Bad. Schmutzige Wäsche wird len ausverkauft sein. Müsch morgens abgeholt und abends sauber ge- und Friedrichsen bestreiten um bügelt ins Haus geliefert, „der reinste Lu- neun Uhr das Eröffnungsspiel. xus“. Auf der dunkelblauen Bettwäsche Erstmals kommt Nervosität prangt das „Sydney 2000“-Logo. Den Be- auf. Sie beschließen, sich die zug darf jeder Athlet am Ende der Spiele Eröffnungszeremonie nur im als Andenken mitnehmen. Fernsehen anzuschauen. Auf ihrem ersten Rundgang durchs Dorf treffen die Beachvolleyballerinnen den au- Samstag, 16. September stralischen Tennisprofi Patrick Rafter. Er 9000 Zuschauer sind im Stadi- grölt: „Good day, good day.“ on und machen einen Höllen- lärm. Die Gegnerinnen von

Mittwoch, 13. September PRESS / ACTION ALLSPORT Müsch und Friedrichsen spie- Sieben Uhr, Frühstück in der Mensa, einem Beachvolleyball-Stadion: Irrfahrt durch die Innenstadt len überraschend gut. Nach großen Zelt. An die Essgewohnheiten an- 45 Minuten haben die Deut- derer Sportler müssen sich Müsch und schen zwar Matchball, doch Friedrichsen erst gewöhnen. Neben ihnen zehn Minuten später haben die sitzt ein ostdeutscher Boxer am Tisch. Sein Französinnen gewonnen. Fried- Teller ist beladen mit Steak und Würstchen. richsen ist kreidebleich: „Ich Maike Friedrichsen erlebt Olympia zum bin geschockt.“ ersten Mal. Das Dorf wirkt auf sie wie ein Bis jetzt war Olympia ein „Freigehege für Selbstdarsteller“. Am Ter- toller Ausflug. Doch damit ist minal der Shuttlebusse trifft sie türkische es nun vorbei. Sie fährt nach Trainer mit turbanartigen Hüten. Sportler dem Spiel zurück ins Dorf. aus Afrika tragen wallende Gewänder und Müsch kommt am Abend Trachtenschmuck. Die Leichtathleten aus nach. Sie ist deprimiert. Im Kanada und England präsentieren sich eher Bus unterhält sie sich mit ei- modern. Sie haben beim Joggen riesige nem deutschen Bahnradfahrer, Kopfhörer auf, aus denen HipHop dröhnt. der auch einen schlechten Tag Gern zeigen sie bei ihren Dehnübungen erwischt hat. Er sagt: „Die auf den Grünflächen einander ihre Mus- Spiele könnten so schön sein – keln. „Eine einzige Fleischbeschau.“ wenn bloß die Wettkämpfe Nach dem Training macht sich Fried- nicht wären.“ richsen auf die Suche nach dem „olympi- Müsch geht um halb neun schen Geist, dem großen Miteinander der ins Bett. Ihre Partnerin sitzt

Völker“. So einfach ist das aber gar nicht. AP noch auf dem Balkon, betrach- Im Reisebüro trifft sie eine Athletin aus Duo Friedrichsen, Müsch: Wieder „im Geschäft“ tet das olympische Feuer und

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Werbeseite ne Daseinsberechtigung.“ Sie will Konsequenzen ziehen: „Ich habe mich von diesem ganzen Trubel zu sehr ablenken lassen, Das Olympiaprogramm diese ganzen neuen Eindrü- der Woche cke waren zu viel für mich. Ich muss mich mehr auf den Sport (Alle Angaben in deutscher Sommerzeit) konzentrieren.“ Am Abend ist eine Party in Haus 146. Mitbewohner Ste- Montag, 25. September (ZDF) phan Vuckovic hat im Triathlon Silber geholt. Müsch und Fried- Entscheidungen: richsen sagen ab. Morgen be- 2 Uhr: Segeln 49er Offen ginnt die Verliererrunde – die 3 Uhr: Beachvolleyball Frauen Chance, sich doch noch für das 6.30 Uhr: Kunstturnen Pferdsprung Männer, Achtelfinale zu qualifizieren. Schwebebalken Frauen, Barren Männer, Boden Frauen, Reck Männer

S. MATZKE / SAMPICS S. MATZKE Dienstag, 19. September 9 Uhr: Stabhochsprung Frauen Olympisches Dorf: „Freigehege für Selbstdarsteller“ Am Vormittag schlagen sie zwei 9.30 Uhr: Gewichtheben Männer, Griechinnen, am Nachmittag Klasse bis 105 Kilogramm spricht zu sich selbst: „Dabei sein ist eben die Australierinnen. Sie sind wieder „im 10 Uhr: Tischtennis Einzel Männer doch nicht alles. Gute Nacht.“ Geschäft“. Nicht nur sportlich: Müsch und 10.20 Uhr: Diskus Männer Friedrichsen sollen für das ZDF posieren, 11 Uhr: Dreisprung Männer Sonntag, 17. September mit Pazifikwellen im Hintergrund. Am 11.10 Uhr: 400 Meter Frauen Müsch hat schlecht geschlafen, die ganze Abend sind sie ins Studio der ARD einge- 11.25 Uhr: 400 Meter Männer Nacht wurde sie von Magenkrämpfen ge- laden, für eine Live-Schaltung nach 11.40 Uhr: 110 Meter Hürden Männer plagt. Friedrichsen erwacht mit einem Deutschland. 11.55 Uhr: 5000 Meter Frauen quälenden Gedanken: „Was denken wohl Obwohl sie spät nach Hause kommen, 13.15 Uhr: 800 Meter Frauen die Leute zu Hause?“ schlafen sie schlecht. Die Nächte sind neu- 13.45 Uhr: 10000 Meter Männer Im Lagezentrum der deutschen Delega- erdings etwas lauter. Dorfpolizisten in blau- tion, untergebracht in einem Container, le- en Uniformen, die auf Fahrrädern patrouil- sen Müsch und Friedrichsen „Sport Bild“ lieren, sind häufiger unterwegs. Vor allem Dienstag, 26. September (ARD) und den „Kicker“. Friedrichsen hat nach die Sportler aus Armenien, die bis spät in der Lektüre den Eindruck: „Gold ist nicht die Nacht vor ihren Unterkünften rauchen Entscheidungen: alles, aber Silber ist gar nichts.“ und trinken, müssen öfter zur Ruhe er- 1 Uhr: Radrennen Straße Frauen Die Olympischen Spiele sind plötzlich mahnt werden. 3 Uhr: Beachvolleyball Männer so anstrengend. Die Fahrt im Bus zum 5 Uhr: Synchronschwimmen Duett Strand „nervt“. Müsch kann die schwarz- Donnerstag, 21. September 8 Uhr: Ringen, Klassen 54, 63, 76 und weißen Trainingsklamotten mit dem Bun- Im Achtelfinale müssen sie gegen Brasilien 97 Kilogramm desadler „nicht mehr ertragen“. Friedrich- antreten und scheiden aus. Sie verlieren 9.30 Uhr: Gewichtheben Männer, sen wird ungeduldig: „Ich will jetzt endlich 9:15, gar nicht so schlecht, immerhin sind Klasse über 105 Kilogramm Michael Johnson sehen.“ die Südamerikanerinnen Weltmeister. 10 Uhr: Wasserspringen Dreimeterbrett Zwölf Matchbälle benötigten die Favori- Männer Montag, 18. September tinnen, und Danja Müsch war sogar Zu- 10.30 Uhr: Softball Am Nachmittag treffen sie die deutschen schauerliebling. Jede gelungene Aktion be- Handballer. Müsch fragt: „Wie lief’s?“ Die jubelte das Publikum mit einem langen: Antwort lautet: „Besser als bei euch.“ Die „Muuusch.“ Mittwoch, 27. September (ZDF) Mannschaft hat gegen Kuba gewon- nen. „Die Leistung“, spürt Olympia-Neu- Freitag, 22. September ling Friedrichsen, „steht hier im Vorder- Das Dorf verwandelt sich langsam in einen grund. Wer verliert, der verliert auch sei- Vergnügungspark. Das Kino ist voll be- setzt, es läuft „Shakespeare in Love“. An den Automaten in der Spielhölle gleich um die Ecke ist Hochbetrieb, am beliebtesten sind die Spiele, bei denen man etwas ab- schießen kann. Friedrichsen und Müsch lassen es nun „etwas entspannter“ angehen. „Wir sind jetzt Olympiatouristen“, sagt Friedrichsen. Sie haben sich Karten für Hockey und Handball besorgt. Mit den Vergünstigun- gen, die aktive Sportler genießen, ist es in- DPA des vorbei. Die Leichtathleten rücken ins Deutsche Hoffnung: Franka Dietzsch Dorf ein. Müsch und Friedrichsen müssen Die Olympia-Vierte von Atlanta ist Welt- ihr Haus räumen. Ihnen wird ein Wohn- meisterin im Diskuswerfen. Dietzsch, 32,

BONGARTS container zugeteilt. Gerhard Pfeil isst bevorzugt „Hausmannskost à la Mutti“ und will in Sydney ihre erste Medaille bei Freundinnen Müsch, Friedrichsen Olympischen Spielen gewinnen. „Wir sind jetzt Olympiatouristen“

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Entscheidungen: Segeln Finn Dinghy Männer, Starboot Offen, 1 Uhr: Radsport Straße Männer, Reiten Dres- Freitag, 29. September (ZDF) Soling Offen, Matchrace sur Mannschaft, Grand Prix 3 Uhr: Fußball Männer 2 Uhr: Segeln 470er (Frauen und Männer), 4 Uhr: Boxen Halbfliegen-, Bantam-, Leicht-, Tennis Einzel Frauen, Doppel Männer Welter-, Mittel-, Schwergewicht 8 Uhr: Ringen, Klassen 58, 69, 85 und 130 6 Uhr: Volleyball Frauen Kilogramm 7 Uhr: Moderner Fünfkampf Männer 10.30 Uhr: Baseball, Taekwondo, Klasse unter 8 Uhr: Ringen Freistil, Klassen 54, 63, 76 49 Kilogramm (Frauen und Männer) und 97 Kilogramm 11.10 Uhr: 100 Meter Hürden Frauen 10 Uhr: Hochsprung Frauen, 10000 Meter 11.20 Uhr: 800 Meter Männer Frauen 11.30 Uhr: Diskus Frauen 10.30 Uhr: Hockey Männer, Rhythmische 12.10 Uhr: 400 Meter Hürden Männer Sportgymnastik Gruppe, Taekwondo Frauen, 12.30 Uhr: 400 Meter Hürden Frauen Klasse über 67 Kilogramm, Männer, Klasse 23.30 Uhr (ARD): Springreiten, Mannschaft über 80 Kilogramm 10.40 Uhr: 4x100 Meter Frauen Deutsche Hoffnung: Heike Drechsler 11 Uhr: Basketball Frauen, Speerwurf Frauen, Donnerstag, 28. September (ARD) Die dienstälteste deutsche Leichtathletin Wasserspringen Turm Männer ist bisher 141-mal über sieben Meter weit 11.05 Uhr: 4x100 Meter Männer gesprungen. Die 35-jährige Olympia- 11.20 Uhr: 1500 Meter Frauen Siegerin von 1992 sagt: „Ich bin wie Lothar 11.50 Uhr: 5000 Meter Männer Matthäus, ich habe nur die bessere Figur.“ 12.30 Uhr: Handball Männer 12.35 Uhr: 4x400 Meter Frauen 13.20 Uhr: 4x400 Meter Männer Entscheidungen: 7.30 Uhr: Synchronschwimmen Gruppe 9 Uhr: Hammerwurf Frauen Sonntag, 1. Oktober (ZDF) 9.30 Uhr: Stabhochsprung Männer 10.20 Uhr: Weitsprung Frauen Entscheidungen: 10.25 Uhr: 3000 Meter Hindernis Männer 0 Uhr: 500 Meter Einer-Kajak (Frauen und 10.30 Uhr: Hockey Frauen, Taekwondo Männer), 500 Meter Einer-Canadier Männer, Frauen, Klasse bis 67 Kilogramm, Männer, 500 Meter Zweier-Kajak (Frauen und Män- Klasse bis 80 Kilogramm ner), 500 Meter Zweier-Canadier Männer 11 Uhr: 1500 Meter Männer 1 Uhr: Springreiten Einzel 4 Uhr: Basketball Männer, Boxen Fliegen-, Feder-, Halbwelter-, Halbmittel-, Halbschwer- Samstag, 30. September (ARD) und Superschwergewicht 5 Uhr: Rhythmische Sportgymnastik Einzel Entscheidungen: 5.30 Uhr: Ringen Freistil, Klassen 58, 69, 85 0 Uhr: 1000 Meter Einer-Kajak Männer, 1000 und 130 Kilogramm Meter Einer-Canadier Männer, 500 Meter Vie- 6 Uhr: Volleyball Männer FOT rer-Kajak Frauen, 1000 Meter Zweier-Kajak 7 Uhr: Marathon Männer, Moderner Deutsche Hoffnung: Frank Busemann Männer, 1000 Meter Zweier-Canadier Män- Fünfkampf Frauen Der Zehnkämpfer aus Recklinghausen, der ner, 1000 Meter Vierer-Kajak Männer, Rad- 7.15 Uhr: Wasserball Männer vor vier Jahren in Atlanta sensationell die sport Einzelzeitfahren (Frauen und Männer) 7.30 Uhr: Handball Frauen Silbermedaille gewann, strebt in Sydney 2 Uhr: Reiten Dressur Einzel, Grand Prix Kür, 9 Uhr: Schlussfeier eine persönliche Bestleistung an. Als Fa- vorit gilt aber der Tscheche Tomás Dvorák. Deutsche Hoffnung: Entscheidungen: Jan Ullrich 1 Uhr: Wasserspringen Turm Synchronsprin- Der Radprofi vom gen Frauen, Dreimeterbrett Synchronspringen Team Telekom sinnt Männer auf Revanche: Im 1.45 Uhr: 20 Kilometer Gehen Frauen Zeitfahren über 2 Uhr: Segeln Europe Frauen, Laser Offen 46,8 Kilometer ist 4 Uhr: Tennis Einzel Männer, Doppel Frauen sein ärgster Rivale 9.45 Uhr: Weitsprung Männer der US-Amerikaner 10.30 Uhr: Taekwondo Frauen, Klasse bis 57 Lance Armstrong, Kilogramm, Männer, Klasse bis 68 Kilogramm der Ullrich im Juli 10.55 Uhr: 200 Meter Frauen bei der Tour de 11 Uhr: Fußball Frauen, Kugelstoßen Frauen, France besiegte. Wasserspringen Dreimeterbrett Frauen Ullrich, 26, ist Welt- 11.20 Uhr: 200 Meter Männer meister im Zeitfah- 12.20 Uhr: Zehnkampf Männer ren und erstmals

23 Uhr: 50 Kilometer Gehen Männer BONGARTS FOTOS: bei Olympia dabei.

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Redaktion: Petra Bornhöft, BRÜSSEL Dirk Koch; Winfried Didzoleit, Sylvia Schreiber, Telefon: (00331) 47421711 Fax: (00331) 47428044 Susanne Fischer, Martina Hildebrandt, Jürgen Hogrefe, Horand Bd. Charlemagne 45, 1000 Brüssel, Tel. (00322) 2306108, Fax 2311436 Knaup, Christoph Mestmacher, Alexander Neubacher, Dr. Gerd ISTANBUL Bernhard Zand, Be≈aret Sokak No. 19/4, Ayazpa≈a, 80040 für Fotos: Telefon: (040) 3007-2869 Rosenkranz, Harald Schumann, Alexander Szandar Istanbul, Tel. (0090212) 2455185, Fax 2455211 Fax: (040) 3007-2966 E-Mail: [email protected] DEUTSCHLAND Leitung: Clemens Höges, Ulrich Schwarz, Georg JERUSALEM Annette Großbongardt, 16 Mevo Hamatmid, Jerusa- DER SPIEGEL auf CD-Rom Mascolo (stellv.). Redaktion: Annette Bruhns, Carsten Holm, Ulrich lem Heights, Apt. 8, Jerusalem 94593, Tel. (009722) 6224538-9, Fax 6224540 Telefon: (040) 3007-2485 Fax: (040) 3007-2826 Jaeger, Sebastian Knauer, Gunther Latsch, Udo Ludwig, Cordula E-Mail: [email protected] Meyer, Norbert F. Pötzl, Thilo Thielke, Andreas Ulrich. Autoren, JOHANNESBURG Birgit Schwarz, P. O. Box 2585, 44a, 7th Avenue, Reporter: Jochen Bölsche, Klaus Brinkbäumer, Gisela Friedrichsen, Parktown North, SA-Johannesburg 2193, Tel. (002711) 8806429, Abonnenten-Service Gerhard Mauz, Bruno Schrep; Berliner Büro Leitung: Heiner Schim- Fax 8806484 SPIEGEL-Verlag, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg möller, Wolfgang Krach (stellv.). Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan KAIRO Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Muhandisin, Kairo, Reise/Umzug/Ersatzheft Berg, Dr. Carolin Emcke, Susanne Koelbl, Irina Repke, Dr. Rüdiger Tel. (00202) 3604944, Fax 3607655 Telefon: (040) 411488 Scheidges, Peter Wensierski, Steffen Winter LONDON Michael Sontheimer, Christoph Pauly, 6 Henrietta Street, Auskunft zum Abonnement WIRTSCHAFT Leitung: Armin Mahler, Gabor Steingart. Redaktion: London WC2E 8PU, Tel. (004420) 75206940, Fax 73798599 Telefon: (040) 3007-2700 Fax: (040) 3007-3070 Dr. Hermann Bott, Konstantin von Hammerstein, Dietmar MOSKAU Jörg R. Mettke, Uwe Klußmann, 3. Choroschewskij E-Mail: [email protected] Hawranek, Frank Hornig, Hans-Jürgen Jakobs, Alexander Jung, Projesd 3 W, Haus 1, 123007 Moskau, Tel. (007095) 9400502-04, Klaus-Peter Kerbusk, Thomas Tuma. Autor: Peter Bölke; Berliner Fax 9400506 Abonnenten-Service Schweiz: Büro Leitung: Jan Fleischhauer (stellv.). Redaktion: Markus NEW DELHI Padma Rao, 101, Golf Links, New Delhi 110003, Tel. DER SPIEGEL, Postfach, 6002 Luzern Dettmer, Oliver Gehrs, Christian Reiermann, Michael Sauga, Ulrich (009111) 4652118, Fax 4652739 Telefon: (0041) 41-248 44 18 Fax: (0041) 41-248 44 04 Schäfer NEW YORK Thomas Hüetlin, Mathias Müller von Blumencron, E-Mail: [email protected] AUSLAND Leitung: Dr. Olaf Ihlau, Fritjof Meyer, Hans Hoyng Alexander Osang, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N Y Abonnement für Blinde (stellv.). Redaktion: Dieter Bednarz, Adel S. Elias, Manfred Ertel, 10036, Tel. (001212) 2217583, Fax 3026258 Audio Version, Deutsche Blindenstudienanstalt e. V. Rüdiger Falksohn, Hans Hielscher, Joachim Hoelzgen, Siegesmund PARIS Dr. Romain Leick, Helmut Sorge, 1, rue de Berri, 75008 Telefon: (06421) 606265 Fax: (06421) 606259 von Ilsemann, Reinhard Krumm, Claus Christian Malzahn, Paris, Tel. (00331) 42561211, Fax 42561972 E-Mail: [email protected] Dr. Christian Neef, Roland Schleicher, Helene Zuber. Autoren, PEKING Andreas Lorenz, Ta Yuan Wai Jiao Ren Yuan Gong Yu Reporter: Dr. Erich Follath, Carlos Widmann, Erich Wiedemann 2-2-92, Peking 100600, Tel. (008610) 65323541, Fax 65325453 Elektronische Version, Stiftung Blindenanstalt WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Johann Grolle, Olaf PRAG Jilská 8, 11000 Prag, Tel. (004202) 24221524, Fax 24220138 Frankfurt am Main Stampf (stellv.). Redaktion: Philip Bethge, Jörg Blech, Manfred Dwor- RIO DE JANEIRO Matthias Matussek, Jens Glüsing, Avenida São Telefon: (069) 955124-15 Fax: (069) 5976296 schak, Marco Evers, Beate Lakotta, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hilmar Sebastião 157, Urca, 22291-070 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) E-Mail: [email protected] Schmundt, Matthias Schulz, Christian Wüst. Autoren, Reporter: 2751204, Fax 5426583 Abonnementspreise Dr. Hans Halter, Werner Harenberg ROM Hans-Jürgen Schlamp, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (003906) Inland: zwölf Monate DM 260,– KULTUR UND GESELLSCHAFT Leitung: Wolfgang Höbel, 6797522, Fax 6797768 Studenten Inland: zwölf Monate DM 182,– Dr. Mathias Schreiber. Redaktion: Susanne Beyer, Anke Dürr, SAN FRANCISCO Rafaela von Bredow, 3782 Cesar Chavez Street, Nikolaus von Festenberg, Angela Gatterburg, Hauke Goos, Lothar San Francisco, CA 94110, Tel. (001415) 6437550, Fax 6437530 Schweiz: zwölf Monate sfr 260,– SINGAPUR Jürgen Kremb, 15, Fifth Avenue, Singapur 268779, Europa: zwölf Monate DM 369,20 Gorris, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Jürgen Hohmeyer, Ans- bert Kneip, Ulrike Knöfel, Dr. Joachim Kronsbein, Reinhard Mohr, Tel. (0065) 4677120, Fax 4675012 Außerhalb Europas: zwölf Monate DM 520,– Dr. Johannes Saltzwedel, Peter Stolle, Dr. Rainer Traub, Klaus Um- TOKIO Dr. Wieland Wagner, Chigasaki-Minami 1-3-5, Tsuzuki-ku, Halbjahresaufträge und befristete Abonnements bach, Claudia Voigt, Susanne Weingarten, Marianne Wellershoff, Yokohama 224, Tel. (008145) 941-7200, Fax 941-8957 werden anteilig berechnet. Martin Wolf. Autoren, Reporter: Ariane Barth, Uwe Buse, Urs Jenny, WARSCHAU Krzywickiego 4/1, 02-078 Warschau, Tel. (004822) Abonnementsaufträge können innerhalb von 14 Tagen Dirk Kurbjuweit, Dr. Jürgen Neffe, Rainer Schmidt, Cordt Schnibben, 8251045, Fax 8258474 ab Bestellung mit einer schriftlichen Mitteilung an den Alexander Smoltczyk, Barbara Supp WASHINGTON Dr. Stefan Simons, Michaela Schießl, 1202 National SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Postfach SPORT Leitung: Alfred Weinzierl. Redaktion: Matthias Geyer, Maik Press Building, Washington, D.C. 20 045, Tel. (001202) 3475222, 10 58 40, 20039 Hamburg, widerrufen werden. Großekathöfer, Jörg Kramer, Gerhard Pfeil, Michael Wulzinger Fax 3473194 Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung. SERIE 21. JAHRHUNDERT Leitung: Jürgen Petermann, Dr. Jürgen WIEN Walter Mayr, Herrengasse 6-8/81, 1010 Wien, Tel. (00431) Scriba (stellv.). Redaktion: Wolfram Bickerich, Klaus Franke, 5331732, Fax 5331732-10 ✂ Christian Habbe, Rainer Paul, Katja Thimm, Gerald Traufetter ZÜRICH Jan Dirk Herbermann, Postfach 3108, 8021 Zürich, Abonnementsbestellung SONDERTHEMEN Dr. Rolf Rietzler; Dr. Walter Knips Tel. (0041) 792869961, Fax 227333316 bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an SONDERTHEMEN GESTALTUNG Manfred Schniedenharn SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- PERSONALIEN Dr. Manfred Weber; Petra Kleinau, Katharina Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Dr. Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Stegelmann Britta Bugiel, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz Egleder, Johannes Oder per Fax: (040) 3007-2898. CHEF VOM DIENST Horst Beckmann, Thomas Schäfer, Karl-Heinz Erasmus, Klaus Falkenberg, Cordelia Freiwald, Anne-Sophie Fröhlich, Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Körner (stellv.), Holger Wolters (stellv.) Dr. André Geicke, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thorsten Hap- Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. SCHLUSSREDAKTION Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, ke, Hartmut Heidler, Susanne Heitker, Carsten Hellberg, Gesa Höpp- Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das Hermann Harms, Bianca Hunekuhl, Anke Jensen, Rolf Jochum, ner, Stephanie Hoffmann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, monatliche Programm-Magazin. Maika Kunze, Katharina Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Joachim Immisch, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Jürgens, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte Manfred Petersen, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Sonny Krauspe, Peter Hefte bekomme ich zurück. Tapio Sirkka Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig-Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- Ulrich Meier, Gerhard Minich, Cornelia Moormann, Bernd Musa, gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Manuela Cramer, Werner Nielsen, Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Andreas M. Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Antje Klein, Matthias Krug, Peets, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Thomas Riedel, Con- Claudia Menzel, Peer Peters, Dilia Regnier, Monika Rick, Sabine stanze Sanders, Petra Santos, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Name, Vorname des neuen Abonnenten Sauer, Karin Weinberg, Anke Wellnitz. E-Mail: [email protected] Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Steh- Renata Biendarra, Thomas Hammer, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, mann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Julia Saur, Michael Walter Tappe, Dr.Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Hans-Jürgen Vogt, Straße, Hausnummer LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wil- Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker Fens- kens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt ky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles PLZ, Ort Andreas Salomon-Prym, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst PRODUKTION Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank Schu- INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Kirsten Wiedner, Peter Zobel Ich möchte wie folgt bezahlen: mann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland KOORDINATION Katrin Klocke ❑ TITELBILD Stefan Kiefer; Thomas Bonnie, Oliver Peschke, Monika LESER-SERVICE Catherine Stockinger Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung Zucht SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- ❑ Ermächtigung zum Bankeinzug REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND mation GmbH & Co.) Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4-jährlich DM 65,– BERLIN Friedrichstraße 79, 10117 Berlin; Deutsche Politik, Wirtschaft Tel. (030) 203875-00, Fax 203875-23; Deutschland, NACHRICHTENDIENSTE AP, dpa, Los Angeles Times / Washington Kultur und Gesellschaft Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 Post, New York Times, Reuters, sid BONN Heussallee 2–10, Pressehaus 1, 53113 Bonn, Tel. (0228) Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Ge- Bankleitzahl Konto-Nr. 26703-0, Fax 26703-20 nehmigung des Verlags. Das gilt auch für die Aufnahme in elektro- DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 nische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfältigungen Dresden, Tel. (0351) 26620-0, Fax 26620-20 auf CD-Rom. DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- Geldinstitut SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, Verantwortlich für Vertrieb: Lars-Henning Patzke Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 54 vom 1. Januar 2000 Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 FRANKFURT AM MAIN Dietmar Pieper; Felix Kurz, Wolfgang Druck: Gruner Druck, Itzehoe Widerrufsrecht Johannes Reuter, Wilfried Voigt, Oberlindau 80, 60323 Frankfurt am Diesen Auftrag kann ich innerhalb von 14 Tagen Main, Tel. 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308 der spiegel 39/2000 Chronik 16. bis 22. September SPIEGEL TV

SAMSTAG, 16. 9. senden ein Schwergewichtigen-Anteil von MONTAG 75 Prozent. 23.15 – 23.50 UHR SAT.1 KUNST Bundeskanzler Gerhard Schröder eröffnet als Ehrengast das Museum des FERNSEHEN Die Italo-Version der „Big SPIEGEL TV REPORTAGE spanischen Bildhauers Eduardo Chillida in Brother“-Show setzt Maßstäbe für die Rambos auf zwei Rädern der baskischen Kleinstadt Hernani. Kölner Schwestersendung: Eine Bademeis- Sie benutzen Einbahnstraßen bevorzugt terin und ein Student vergnügen sich hin- in der Gegenrichtung, rasen ohne Licht GROSSER BRUDER Die neuen Kandidaten ter einem Vorhang, die Regierung in Rom durch die Nacht, und rote Ampeln ignorie- der RTL-Peepshow „Big Brother“ ziehen spricht von „schmutzigem Fernsehen“. ren sie sowieso. Radfahrer sind die Anar- in den Wohncontainer in Hürth ein. chisten des Straßenverkehrs. Ralph Quin- MITTWOCH, 20. 9. SONNTAG, 17. 9. ke hat die „Fahrradstaffel“ der Hambur- HANDEL Die USA normalisieren den Han- ger Polizei bei ihrem aussichtslosen Kampf WEHRPFLICHT Nach Grünen und PDS gegen den rasenden Gegner beobachtet. spricht sich die FDP als dritte Bundestags- del mit China. Der Beschluss, dem Kon- partei auf ihrem Berliner Sonderparteitag gress und Senat zustimmten, ermöglicht Chinas Aufnahme in die Welthandelsorga- DONNERSTAG gegen die Wehrpflicht und für eine Berufs- 22.05 – 23.00 UHR VOX armee aus. nisation WTO. KOHL II In einer Vorabveröffentlichung aus SPIEGEL TV EXTRA OLYMPIA Der 24-jährige Berliner Radsport- ler Robert Bartko holt in der Einerverfol- seinem Buch „Mitten im Leben“ rechnet Vom Rasen, Blitzen und Kassieren – gung die erste Goldmedaille für das deut- Ex-CDU-Chef Wolfgang Schäuble mit dem Autofahrer in der Radarfalle sche Team bei den Olympischen Spielen Verhalten des Ex-Kanzlers in der CDU- Mit Laserpistolen, mobilen Blitzgeräten von Sydney. Spendenaffäre ab. und versteckten Radarfallen machen Po- lizisten Jagd auf Raser. Doch die sind DONNERSTAG, 21. 9. MONTAG, 18. 9. längst zum Gegenangriff übergegangen. FESTAKT Der Zentralrat der Juden in ABGANG Das Schiedsgericht des Internatio- Deutschland feiert mit einem Festakt in FREITAG nalen Leichtathletikverbandes sperrt Die- Berlin sein 50-jähriges Bestehen. 22.05 – 0.10 UHR VOX ter Baumann für zwei Jahre. Der Läufer SPIEGEL TV THEMENABEND war vom Deutschen Leichtathletikverband FREITAG, 22. 9. trotz zweier positiver Proben vom Doping- Expedition Mammut – verdacht freigesprochen und für Olympia EHRUNG Die Kleingärtner Berlins und das Rätsel um die Riesen der Eiszeit nominiert worden. Brandenburgs küren Kanzler Gerhard Die Dokumentation zeichnet die Ge- Schröder wegen seiner guten Beziehungen schichte des Mammutfunds von Chatan- KOHL I Anlässlich einer Ehrung in Buda- zur Gartengilde in der Berliner Kolonie pest erklärt Altbundeskanzler Helmut „Togo“ zum obersten Laubenpieper. Kohl seinen Rückzug aus der Politik. Er werde im Jahr 2002 nicht wieder für den EURO Die drei wichtigsten Notenbanken Bundestag kandidieren und auch kein po- der Welt stützen den Euro durch litisches Amt mehr anstreben. gemeinsame Interventionen an den Devisenmärkten. DIENSTAG, 19. 9. ZUSCHUSS Um steigende Ölpreise auszu- WACHSTUM Ernährungswissenschaftler sor- gleichen, will die Bundesregierung in die- gen sich um die Leibesfülle der Deut- sem Winter einen einmaligen Heizkosten- schen. Während zurzeit etwa zwei Drittel zuschuss zahlen. Die Kilometerpauschale SPIEGEL TV der Bevölkerung an Übergewicht leide, wird in eine Entfernungspauschale umge- Mammutfund von Chatanga drohe in der Generation der Heranwach- wandelt und von 70 auf 80 Pfennig erhöht. ga nach: von der Entdeckung 1997 bis Kampfschwimmer der Bundeswehr pro- zur Bergung im Oktober 1999. ben im Rahmen der Übung „Schneller Seewolf 2000“ auf der Insel Usedom die SAMSTAG Befreiung von Geiseln. VOX SPIEGEL TV SPECIAL entfällt

SONNTAG 22.00 – 23.30 UHR RTL SPIEGEL TV THEMENABEND Aufbruch aus Ruinen Das Jahr der Einheit – eine Zeitreise Es war ein Jahr, das Geschichte machte: 1990. Als die Mauer gefallen war, brach die DDR zusammen. Weniger als elf Mo- nate später feierten die Deutschen die Wiedervereinigung. Reporter von SPIE- GEL TV begleiten den Umbruch. J. KOEHLER / DDP KOEHLER J.

309 Register

gestorben 1945 den Befreiungskämpfern gegen die niederländischen Kolonialherren an und German Titow, 65. Sein Leben lang stieg zum Stabschef der indonesischen kämpfte er gegen ein Gerücht an: Eigent- Armee auf. Er unter- lich sei er als Moskaus erster Mann im All stützte Suharto bei der auserwählt gewesen, hieß es. Nur wegen Errichtung des autori- des angeblich deutschen Vornamens habe tären Regimes, im Ru- Staats- und Parteichef Chruschtschow auf hestand übte er an dem Jurij Gagarin gesetzt. Der hoch gebildete korrupten Präsidenten Flieger aus Sibirien brach im August 1961, öffentliche Kritik. Ab- knapp vier Monate nach Gagarins Premie- dul Haris Nasution re, mit „Wostok-2“ in den Weltraum auf. starb am 6. September

Als Erster umrundete er die Erde, er war AP in Jakarta. 25 Stunden und 18 Minuten im All. Später baute Titow in Baikonur die Anlagen für Douglas Jacobson, 74. Zuletzt lebte der die von den Militärs ersehnte „Buran“- einstige Immobilienverkäufer im Rentner- Fähre auf – das Pendant zum amerikani- paradies Florida, über seine Heldentaten schen Shuttle. 1995 ließ sich der General- sprach er nur auf ausdrückliche Bitten. oberst als Vertreter der Kommunisten in Doch die höchste Tapferkeitsauszeichnung die Duma wählen. Ein Wunsch, den er 1998 der USA erhielt Jacobson als eine Art Ur- dem SPIEGEL anvertraute, blieb uner- Rambo. 1945 hatte er an der Eroberung der Pazifikinsel Iwo Jima teilgenommen, die durch das berühmte Bild des Fotogra- fen Joe Rosenthal zum Symbol des US-Er- folgs im Zweiten Weltkrieg wurde. Drei Tage nachdem Kameraden von der Marine- infanterie die US-Flagge auf der von Japa- nern gehaltenen Insel aufgerichtet hatten, entbrannte ein blutiger Kampf um den als „Fleischwolf“ berüchtigten Hügel 382, den höchsten Punkt im Norden von Iwo Jima. Als seine Einheit unter Beschuss geriet,

P. KASSIN P. griff Jacobson sich von einem toten Ka- meraden eine Panzerfaust sowie Spreng- füllt: Er wollte den Rekord John Glenns stoff und begann zu wüten. In der Be- brechen, der im Alter von 77 Jahren noch gründung für die Verleihung der Ehren- einmal in ein Raumschiff gestiegen war. medaille des Kongresses heißt es: „Mit German Titow starb am 20. September in furchtloser Geschicklichkeit und Tapfer- Moskau an den Folgen einer Kohlenmo- keit zerstörte der Obergefreite Jacobson noxid-Vergiftung in seiner Sauna. insgesamt 16 feindliche Stellungen und tö- tete etwa 75 Japaner.“ Douglas Jacobson Jeanloup Sieff, 66. „Tut so, als wäre ich starb am 20. September in Port Charlotte nicht da“ war die Devise des in Frauen ver- an Herzversagen. narrten Fotografen, und so lautete auch der Titel seines letzten Bildbands. Mit 14 Jehuda Amichai, 76. „Weinburg“ nannte begann er zu fotografieren, mit 17 hob er er seine Geburtsstadt Würzburg in seinem ab, zunächst als Modefotograf, zu einer Roman „Nicht von jetzt, nicht von hier“. großen Karriere bei „Elle“, der Agentur Mit 34 traute sich der Vertriebene, einer Magnum, „Vogue“, „Harper’s Bazaar“ und der anerkanntesten israelischen Lyriker, „Esquire“. Sieff arbeitete in Schwarz- erstmals wieder nach Deutschland, um Weiss; Aufnahmen vom jungen Yves Saint „eine Tür zu schließen, die in meinem Le- Laurent, nackt und muskulös, oder von ben nicht recht zuge- Alfred Hitchcock mit einer schönen Frau hen wollte“. Doch die vor dem Haus, das durch „Psycho“ be- Wunde blieb offen, rühmt wurde, sind Klassiker. Schon 1986 und so kehrte der Lite- widmete das Pariser Museum für moderne raturprofessor auch in Kunst dem späteren Träger des „Grand prix seinen Gedichten in national de la photographie“ (1992) eine die Kindheit zurück, weltweit beachtete Retrospektive. Jeanloup aus der ihn die Nazis Sieff starb am 20. September in Paris. gerissen hatten. In Pa-

STILLS / STUDIO X / STUDIO STILLS lästina, seiner neuen Abdul Haris Nasution, 81. Als „Hamlet In- Heimat, wurde der donesiens“ galt der General, der 1965 nach scheue Ludwig Pfeuffer zum leidenschaft- der Niederschlagung eines Putschversuchs lichen Israeli Amichai, der mit seiner so lange zauderte, bis der spätere Präsident Dichtkunst zur Identitätsbildung des jun- Suharto die Macht an sich riss. Im Norden gen Staates beitrug. Jehuda Amichai starb Sumatras geboren, schloss Nasution sich am 22. September in Jerusalem.

310 der spiegel 39/2000 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Gregor Gysi, 52, PDS, zeigt am Ende seiner politischen Karriere ungewöhnlichen Bekennermut. Während seiner zehnjährigen Amtszeit als Gruppen- und Frak- tionschef der PDS im Bundestag sei er nur dreimal mit dem Zug gereist, gestand der leidenschaft- liche Hobbyflieger. „Ich gebe zu, das ist nicht viel“, sagte Gysi wenige Tage vor der Wahl eines Nachfolgers am 2. Oktober, in der Bahn seien ihm Hooligans ge- fährlich nahe gekommen. Dieses Argument erstaunt die Umwelt- politiker der Sozialisten-Partei. Sie argwöhnen, Gysi sei in Sa- chen Ökologie ein hoffnungslo-

ser Fall: So ließ der Fraktionschef / CORBIS SYGMA O’NEILL T. offiziell mitteilen, die Ökosteuer Keeler heute sei zu „einer unerträglichen Be- in ihrer Pose von 1963 lastung“ geworden und gehöre abgeschafft. Stattdessen solle un- um Sex. Es wird ein detaillier- ter anderem eine „verkehrsmit- ter Bericht über alles, was telunabhängige Entfernungspau- damals so los war“ – in den schale von einer Mark pro Kilo- Swinging Sixties, als Christine

meter“ als „wesentliche Hilfe“ BUREAU / THE ACKHURST L. MORLEY Keeler nicht nur mit dem so- eingeführt werden. Deutlicher, wjetischen Attaché in London, meint ein PDS-Parlamentarier, „können Christine Keeler, 57, ehemaliges briti- Jewgenij Iwanow, schlief, sondern auch wir die Botschaft gar nicht rüberbringen: sches Callgirl, das in den sechziger Jahren mit dem britischen Kriegsminister John Autofahrer, die PDS steht an eurer Seite!“ manchem Politiker gehörte, eine Regie- Profumo. Der musste 1963 sein Amt nie- rungskrise auslöste und einen Minister derlegen, nachdem er das Parlament be- Bill Clinton, 54, US-Präsident, hat ein- stürzte, arbeitet an ihrer Autobiografie. logen hatte: Er habe keine Affäre mit dem einhalb Jahre nach dem Lewinsky-Skan- Das Buch erscheint beim Verlag Mac- Partygirl gehabt. Für die Ankündigung dal einen weiteren Fall von sexueller millan. Harold Macmillan hieß der briti- des Enthüllungswerks Anfang nächsten Belästigung am Hals. Diesmal ist er al- sche Regierungschef, dessen Kabinett Jahres nahm die Keeler zu einer Art Er- durch die Enthüllungen der Dame ins innerungsfoto Platz. Noch einmal setzte Wanken geriet. Er leitete vor seinem po- sie sich rittlings auf einen Designer-Stuhl litischen Amt den Verlag. Verlagsinsider in jener Pose, mit der sie in den sechziger verraten über den Inhalt des Werks im- Jahren weltberühmt wurde – nur war sie merhin so viel: „Es geht nicht einfach nur damals nackt.

im Weißen Haus sich niemand um ihre Klassenfeindes USA – als Rockmusiker. über die Jahre vorgebrachten Beschwer- Details über seine musikalische Vergan- den gekümmert habe. Schlimmer noch. genheit enthüllte der ausgebildete Kran- Als der französische Meisterkonditor von kenpfleger und ehemalige Europa-Abge- McCullochs Bezichtigungen erfuhr, ver- ordnete Hue, als er sich vorvergangenes donnerte er sie zu niederen Arbeiten wie Wochenende auf dem traditionellen KP- Kiwi schälen und verbot ihr, an der Ge- Festival „Fête de l’Humanité“ bei Paris burtstagstorte des Präsidenten mit Hand ostentativ mit dem Ehrengast, Frank- anzulegen. reichs legendärem Uralt-Rocker Eddy Mitchell, verbrüderte. Robert Hue, 53, Vorsit- Als Junggenosse, so der

ARCHIVE PHOTOS zender der Kommunis- Kommunistenchef stolz, McCulloch, Mesnier tischen Partei Frank- habe er in einer eigenen reichs, gab jetzt der Rock-Gruppe namens lerdings nicht unmittelbar beteiligt, son- Öffentlichkeit einen Hin- Les Rapaces (sinnge- dern Opfer angeblicher Aktivitäten seines weis darauf, wie er die mäß: Die Geier) „gegen Chefkonditors Roland Mesnier, 56. Der Läuterung vom beinhar- eine der internationalen soll, laut Klageschrift, seine Assistentin ten Stalinisten zum bra- Öl-Gesellschaften“ an- Franette McCulloch, 53, über neun Jah- ven Regierungspartner gesungen. Mitchell, da- re hinweg um Gunstbeweise der Art verbürgerlichter Sozia- mals Lead-Sänger der „Greif mal unter meine Schürze“ gebeten listen verkraftete: Der aufrührerischen Chaus- haben. Für ihr erlittenes psychisches Leid geschulte Klassenkämp- settes Noires (Schwarze

fordert das Opfer je eine Million Dollar fer sympathisierte schon CORSAN O. Socken), konnte sich vom Konditor und von Bill Clinton – weil 1963 mit der Kultur des Hue, Mitchell zwar an Hues Geier-

312 der spiegel 39/2000 Band nicht erinnern, rühmte aber ge- rene Herzog, der „im Zweiten Weltkrieg nerös die fruchtbare „Stunkmacher- in der Royal Navy gegen Nazi Germany Rolle“ der KPF in der nationalen Politik. gekämpft hat“, umgehend eine persönli- Anschließend fanden die beiden Rock- che Entschuldigung der Oberen des BBC. Veteranen sich in der kapitalistischen „Ihn einen Nazi zu nennen“, so eine Realität wieder: Hue musste Eddy für Sprecherin des Königshauses, „ist falsch sein Konzert vor den „camarades“ mit und unakzeptabel.“ 300000 Francs – etwa 90000 Mark – ent- lohnen. Antje Vollmer, 57, Bundestagsvizepräsi- dentin (Bündnis 90/Grüne), und Monika Joachim Erwin, 50, Oberbürgermeister Griefahn, 45, Vorsitzende des Bundes- von Düsseldorf, arbeitet hart an sich. Alte tagsausschusses für Kultur und Medien Fotos zeigen den Politiker noch mit grau- (SPD), waren dieser Tage unterwegs in en Schläfen und schiefen Teheran in gewöhnungsbedürftigem Zähnen. Das Gebiss ließ er Outfit. Bereits an Bord der Iran-Air- kurz nach seiner Wahl zum Maschine hatten sich die beiden Da- OB im September vergan- men den Sitten der Mullahs zu un- genen Jahres richten – die terwerfen. „Blickdichte Strümpfe Zähne waren so schlecht, und Kopftücher“, so die evangeli- dass er auf den Wahlplaka- sche Pastorin Vollmer, waren Vor- ten nie lächeln durfte. Die schrift. Nach der Ankunft in Teheran Haare des Juristen und mussten sich die beiden Damen von

Hobby-Läufers sind inzwi- A. VIEWEG der Frau des deutschen Gesandten schen bemerkenswert dun- mit angemessen langen Mänteln aus- kel, ein bisschen „Schröder- helfen lassen. Bei Begegnungen mit Effekt“ für den CDU-Chef verschiedenen Funktionsträgern gab der Landeshauptstadt. es eine weitere Überraschung für die beiden Frauenrechtlerinnen. Voll- Al Gore, 52, US-Vizepräsi- mer: „Die Männer begrüßten sich dent und Präsidentschafts- per Handschlag, wir hatten mit ei- kandidat, der sich schon mal nem würdevollen Nicken, die Hand

als Miterfinder des Internet B. THISSEN dabei auf der Brust, zu grüßen.“ ausgab, verschweigt hin und Erwin 1999, 2000 Während die SPD-Politikerin sich wieder Details seiner Bio- auf dem Rückflug der fundamentalis- grafie. So etwa eine gefährliche Begeg- tischen Bekleidung entledigte („ein Akt nung mit einem Bären, als die Gores 1971 der Befreiung“), genoss die Grüne nach im Yosemite Park zelteten. Die junge Fa- ihrer Rückkehr einen Spaziergang durch milie hatte damals, so sein Biograf David Kreuzberg in knielangem schwarzem Maraniss in dem Buch „The Prince of Mantel samt vorschriftsmäßiger Kopfbe- Tennessee“, die Warnungen von Wildhü- deckung: „Ich fühlte mich dort voll ak- tern in den Wind geschlagen und vor dem zeptiert.“ Einschlafen einen angeknabberten Scho- koriegel im Zelt liegen gelassen. Prompt kam ein Braunbär des Wegs, zerriss mit seinen Tatzen die Zeltleinwand und hätte beinahe den Lauf der Geschichte geän- dert, wanderte dann aber weiter. Gore weigerte sich bislang stets, die Geschich- te trotz Drängens von Freunden zu er- zählen. Der Umweltpolitiker, der er auch ist, kann, so sein Biograf, nicht eingeste- hen, dass er keine Ahnung hat von den Fressgewohnheiten der Bären.

Prince Philip, 79, Herzog von Edinburgh und Ehemann der britischen Königin, er- hielt Genugtuung von der BBC. In ei- ner Talkrunde des Senders hatte der ägyptische Kaufhauskönig und Beinahe- Schwiegervater der tödlich verunglück- ten Princess Diana, Mohamed Al-Fayed, den Prinzgemahl einen „German Nazi“ geheißen. Der Moderator witzelte dazu: „Nicht ganz richtig – er ist eigentlich ein griechischer Nazi, um genau zu sein.“ Nach der Beschwerde des Buckingham Palace erhielt der in Griechenland gebo- Vollmer, Griefahn in Teheran

der spiegel 39/2000 313 Hohlspiegel Rückspiegel Aus einem Schreiben der Itzehoer Versi- Zitate cherung: „Der Hund Ihres Mandanten hat den Hund unseres Versicherten schon Die „Frankfurter Allgemeine“ zu den früher gebissen. Seit diesem Zeitpunkt Kommentaren von SPIEGEL-Herausge- hasst der Hund unseres Versicherten den ber Rudolf Augstein über die Politik Hund Ihres Mandanten.“ von Außenminister Joschka Fischer „Der Nationalstaat wird verabschiedet“ (Nr. 42/1999), „Er kuscht“ (Nr. 44/1999):

Woher stammt die Sonderstellung dieses einen Mannes? Warum ist der deutsche Aus „Sport Bild“ Außenminister die große Ausnahme unter den Politikern, fast über den Parteien ste- hend? Wie schafft er es, die Journalisten zu Aus dem „Badischen Tagblatt“: „Zum Ju- becircen wie noch vor einigen Tagen San- biläum ließ die Feuerwehr Rheinmünster dra Maischberger, die am Schluss eines ein Auto aus 60 Meter Höhe auf den Interviews ihr Lachen nicht mehr kontrol- Asphalt vor der Grundschule Greffern lieren konnte – oder sie zu ohnmächtigem krachen. Dies war Teil des Schaupro- Zorn anzustacheln wie Rudolf Augstein, gramms, mit dem die Wehr ihr Können der über Wochen einen Privatkrieg gegen demonstrierte.“ Joschka Fischer führte, der wie die Verflu- chungen eines greisen Lear gegen die ent- artete Nachkommenschaft anmutete?

„Die Woche“ zum selben Thema:

Man schweigt über die Causa. Aus Freund- schaft, Sentimentalität, Wehmut die einen, Aus dem badischen „Südkurier“ langjährige Weggefährten. Aus Furcht vor dem Herrn die anderen, politisch Abhän- gige und Medienleute. Denn Beleidigung Aus dem „Langenfelder Wochenanzeiger“: der Majestät wird mit Verbannung vom „Im Haus des Mannes, bei dem es sich um Hofe bestraft. Nur wenige finden den Mut, einen Jäger handelt, wurden zahlreiche Joschka Fischers unheimlichen Wandel Schusswunden aufgefunden und zunächst zum öffentlichen Thema zu machen. Ru- sichergestellt. Die kriminalpolizeilichen Er- dolf Augstein zuallererst, der vor einem mittlungen dauern an.“ Jahr schon im SPIEGEL gegen den neuen Außenminister vom Leder zog: Der werfe „seine Vergangenheit hinter sich wie der Apostel Paulus“. Doch das Netz aus Freundschaft und Furcht hielt, von wenigen Ausnahmen abgesehen.

Der SPIEGEL berichtete …

… in Nr. 37/2000 „Rechtsextreme – Zynischer Umgang“ und Nr. 38/2000 „Brandenburg – ,Wer ist da der Chef?‘“ über den Umgang der branden- burgischen Landesregierung mit Asylbewerbern und Opfern rechts- radikaler Gewalt.

Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) erklärte vergangene Woche, Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) werde in Zukunft „in kritischen Fällen“ über das Bleiberecht von Asylbewerbern selbst entscheiden. In zwei konkreten Fällen revidierte die Lan- Aus der „Mitteldeutschen Zeitung“, Aus- desregierung ihre Position: Eine vietna- gabe Quedlinburg mesische Familie, die seit Wochen im Kir- chenasyl lebt, erhielt einen Duldungsbe- scheid. Ein Asylbewerber aus Nigeria, der Aus den „TV-Tipps“ der „Badischen Zei- von einem Skinhead zusammengeschlagen tung“: „Die Sydney-Trichterspinne gehört worden war, der später V-Mann des bran- zu den giftigsten Spinnen der Welt. Ihr Biss denburgischen Verfassungsschutzes wur- kann ein Kind in 15 Minuten töten. Aus der de, erhält aus der Landeskasse das Schmer- Reihe ,Wunderbare Welt‘.“ zensgeld, das ihm der Neonazi schuldet.

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