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KZ-System und Waffen-SS

Genese, Interdependenzen und Verbrechen

von

STEFAN HÖRDLER

Die SS-Totenkopfverbände waren ein fester Bestandteil der 1939/40 formierten Waffen-SS. Sie waren nicht nur für die Bewachung in den Konzentrationsla- gern zuständig, sondern gehörten gleichermaßen zum Personalstamm in den Kampfverbänden und Feldeinheiten. Darüber hinaus bildeten sie einen we- sentlichen Kern der Waffen-SS in der ersten Kriegshälfte von 1939 bis 1942. Lange Zeit trug die Fokussierung auf die SS-Verfügungstruppe dazu bei, sie als Gegenpol zu den SS-Totenkopfverbänden und eigentliche Wurzel der Waffen- SS zu stilisieren und ein apologetisches Gegensatzpaar von Frontsoldaten und KZ-Verbrecher zu konstruieren.1 Gleichwohl die SS-Wachverbände der Konzentrationslager seit Mitte der 1990er Jahre verstärkt im Fokus des Forschungsinteresses stehen2, sind über- greifende Studien – vor allem unter Einbezug der SS-Unterführer und Mann- schaftsdienstgrade – noch eine Ausnahme. Dies gilt ebenso für die frühen Netzwerke der SS-Stabswachen und Politischen Bereitschaften bis 1935, wel- che nicht nur die eigentlichen Vorläufer der SS-Verfügungstruppe, sondern auch der SS-Totenkopfverbände und damit der Waffen-SS verkörperten und den späteren Personalkern stellten.3 Nicht zuletzt muss mit dem Vorurteil aufgeräumt werden, die Interdependenzen zwischen den SS-Totenkopfverbän- den und der Waffen-SS beträfen seit Kriegsbeginn überwiegend die SS-Divisi- on »«.4 Das Versetzungskarussell zwischen dem KZ-System und den

1 Zum Forschungsdesiderat vgl. Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933- 1945. Studien zu Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite, 5. Aufl., Paderborn 1997, S. 355 f. 2 Siehe u.a. Karin Orth, Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographi- sche Studien, Göttingen 2000; Angelika Benz u. Marija Vulesica (Hg.), Bewachung und Aus- führung. Alltag der Täter in nationalsozialistischen Lagern, Berlin 2011, darin: Stefan Hördler, Die KZ-Wachmannschaften in der zweiten Kriegshälfte. Genese und Praxis, S. 127-145; Ferner Miroslav Kárný, Waffen-SS und Konzentrationslager, in: Ulrich Herbert u.a. (Hg.), Die natio- nalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Bd. 2, Göttingen 1998, S. 787-799. 3 Stefan Hördler, Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr, Dissertation Hum- boldt-Universität zu Berlin 2011, S. 54-94; ders., SS-Kaderschmiede Lichtenburg. Zur Bedeutung des KZ Lichtenburg in der Vorkriegszeit, in: Stefan Hördler u. Sigrid Jacobeit (Hg.), Lichtenburg. Ein deutsches Konzentrationslager, Berlin 2009, S. 75-129; , Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit, Paderborn 2014. 4 Himmler verwehrte sich sogar dagegen, »die Totenkopf-Division als exklusiven Klub nur alter Totenköpfe für sich zu belassen.« Schreiben von Heinrich Himmler an vom 28.11.1941, Bundesarchiv Berlin (BAB), SSO, Eicke, Theodor. KZ-System und Waffen-SS 81

Feldeinheiten der Waffen-SS erstreckte sich auf alle SS-Divisionen, insbeson- dere auf die sogenannten volksdeutschen und fremdvölkischen Verbände. Der vorliegende Beitrag untersucht zuerst die Entstehungsphase der bewaff- neten SS und der Politischen Bereitschaften 1934/35 sowie die personellen Verflechtungen zwischen den SS-Totenkopfverbänden und der SS-Verfü- gungstruppe in der Vorkriegszeit. Im zweiten Schritt stehen die Interaktionen und der Wissenstransfer zwischen dem KZ-System und den Feldeinheiten der Waffen-SS im Zentrum. Eine operationalisierbare Größe stellen dabei die bis- lang unbeachteten organisierten Besuchsfahrten von Feldeinheiten und vom SS-Führungskorps der Waffen-SS in verschiedene Konzentrationslager dar. Die Zusammenarbeit erstreckte sich jedoch nicht nur auf Besichtigungen und Kameradschaftsabende, sondern vor allem auf einen regen Personalaustausch zwischen Wach- und Feldeinheiten der SS. Die Versetzungen zwischen der »inneren« und »äußeren« Front von 1939 bis 1945 werden im dritten Schritt im Hinblick auf zentrale Versetzungslinien, dienstlich-funktionale Kontinui- täten und die Beteiligung an Verbrechen untersucht. Für den Beitrag kann auf umfangreiches und neu erschlossenes Datenmaterial zu mehreren zehntausend SS-Männern der SS-Totenkopfverbände zurückgegriffen werden.

Regionaler Aufbau und Netzwerke der bewaffneten SS vor und nach 1933

Die Ursprünge der bewaffneten SS gehen noch in die Frühphase nationalsozi- alistischer Herrschaft zurück. Eine Schlüsselrolle übernahmen dabei die Stabs- wachen der SS-Abschnitte bzw. Oberabschnitte. Sie erhielten eine paramilitä- rische Ausbildung und übten anfangs Sicherungsaufgaben für hohe NS-Funktionäre und Wachaufgaben in Konzentrationslagern aus. Eine Aus- nahme bildete die Stabswache Berlin (später Leibstandarte SS »«), die nicht als Privattruppe der SS-Oberabschnittsführer operierte, sondern Adolf Hitler persönlich verpflichtet war. Bedeutsam waren die Stabswachen im bayerischen, sächsischen und thüringischen Raum der SS-Oberabschnitte »Süd« mit Sitz in München und »Mitte« mit Sitz in Weimar (ab 1934 in Dres- den). Den SS-Oberabschnitt »Mitte« führte Friedrich Karl Freiherr von Eber- stein, dem sowohl die 7. als auch die 26. SS- unterstanden. Von 1936 bis 1945 stieg Eberstein zum Polizeipräsidenten von München, Führer des dortigen SS-Oberabschnitts »Süd« und Höheren SS- und Polizeiführer (HSS- PF) im Wehrkreis VII auf und fungierte zugleich als oberster Gerichtsherr der Dachauer SS.5 Eberstein unterstellt waren bis 1935/36 in Dresden der Führer des SS-Abschnitts II Hans Döring und der Verwaltungsleiter des SS-Oberab- schnitts »Mitte« Heinz Fanslau. Döring, der bis 1942 diverse SS-Abschnitte führte und von 1941 bis 1943 als SSPF im Stalino-Donezgebiet fungierte, dien-

5 BAB, SSO, von Eberstein, Friedrich Karl Freiherr. Eberstein stammte aus Halle.