NORDWESTSCHWEIZ MITTWOCH, 31. OKTOBER 2018 KULTUR 17

Electro-Punk «Was chunnt ächt no aues?» zitieren sich selbst Literatur Der Mundart-Autor Ernst Burren bleibt sich treu und blickt im schwermütigen Sie haben die Kombination von Geschichtenband «I däm Auter no nes Gschleipf» seinen Figuren in die verknorzten Seelen Punk und -Kultur aus dem Un- tergrund in die MTV-bestrahlten Wohnzimmer weltweit gebracht: VON HANSRUEDI KUGLER The Prodigy. Jetzt will es das Trio mit dem siebten Album «No Tou- Schon im Buchtitel hört man das kopf- rists» wieder wissen. schüttelnde Missfallen der biederen Ihre Karriere begann 1990 in der Volksmeinung: Pfui, so was gehöre Untergrundszene, sie galten aber sich doch nicht, so spät im Leben noch bald als «Wunderkind» – so der eine Liebschaft anfangen – in diesem Bandname übersetzt. Die Kerle mit Alter! «Es Gschleipf» tönt schliesslich Punk-Attitüde setzten nicht auf Gi- bünzlihaft abschätzig. Ernst Burren tarre und Schlagzeug, sondern auf zeigt hier seine Meisterschaft, den ein- elektronische Musik mit schnellen fachen Leuten aufs Maul zu schauen und immer wieder nacheinander ab- und Biederkeit leise zu verspotten. Mit gespielten Ausschnitten von Rhyth- seiner Mentalitätsforschung kommt er mus-Aufnahmen, den Samples. seit Jahrzehnten sprachlich ungewöhn- Breakbeat wurde das Ganze dann lich nahe an seine Figuren, die sich genannt. Mit dazugemischten ver- dem Erzähler in nachbarschaftlicher schiedenen Musikrichtungen mach- Plauderei anvertrauen. Die Mundart ten The Prodigy schliesslich aggres- hilft ihm dabei enorm. sivere elektronische Tanzmusik auf Ironischerweise entpuppt sich das der ganzen Welt bekannt. Gedankt missmutige, neidische Schimpfen in wurde es ihnen mit millionenfach der kurzen Erzählung «Bettmeraup» als verkauften Platten, entsprechenden berechtigte Warnung. Denn der alte Ue- Chartplatzierungen und ausverkauf- li fällt auf einen weiblichen Blaubart ten Konzerten weltweit. herein. Barbara bringt einen Mann um Auch der geschickte Einsatz von den anderen ins Grab – ausgerechnet Musikvideos, die auf ihren oft düste- auf der Bettmeralp, wo den älteren ren und kampflustigen Klang abge- Herren das Herz versagt vor Liebe und stimmt waren, hat zum Erfolg beige- dünner Höhenluft. Es ist eine jener Ge- tragen: Einer ganzen Generation schichten, derentwegen man Burren dürfte sich Sänger und Tänzer Keith als tiefsinnig-humorvollen Antiheimat- Flint ins Gedächtnis gegraben haben dichter liebt. mit seinem Auftritt als zappelnder, gepiercter und geschminkter «Fire- Wo ist das Schmunzeln? starter» mit grünen Haarstreifen. Das Leider bleiben solche überraschen- Video zu «Smack My Bitch Up» gilt den Wendungen, bleibt Ironie, Grotes- heute als Meilenstein, wurde damals ke und schwarzer, trockener Humor, aber etwa wegen Gewaltszenen mehr die Burrens Erzählungen sonst als char- als kontrovers diskutiert und war manter Blick in Seelenabgründe aus- schon alleine deshalb in aller Munde. zeichnen, in diesem Erzählband allzu Auch heute, gut 20 Jahre nach selten. Über weite Strecken herrscht dem Megaerfolg des Albums «The ein schwermütiger Ton vor: Todesfälle, Fat Of The Land», zieht der Name Krebs, Depressionen, Betrug, vernach- The Prodigy noch auf der Bühne lässigte Kinder, Verbitterung im Alter, und wird deshalb von Festivalveran- Bauern-Not und Lehrer–Burnout. staltern jeweils weit oben beim Man kennt die Szenerien aus frühe- Line-up auf Werbeplakaten platziert. ren Büchern von Ernst Burren. Im letz- An ihrem Klang hat sich wenig ge- ten Roman «Dr Chlaueputzer trinkt nu- ändert: Noch immer mischen sie me Orangschina» hatte der Solothurner Musikrichtungen und verwerten In- Schriftsteller dem Leser immer wieder strumentalaufnahmen – wie etwa noch ein Schmunzeln geschenkt: Über die opulent wirkende E-Gitarre in Jasmin, die sich ein Kind von der däni- der Single «Light Up the Sky». «No schen Samenbank bestellt; über Erika, Tourists» klingt dann tatsächlich an Der Solothurner Mundart-Schriftsteller Ernst Burren (73) in seinem Schreibzimmer. TOMAS WÜTHRICH/13 PHOTO die nicht 93 werden will, weil man vielen Stellen, als würde sich die dann zu viele Krankheiten durchma- Band selbst zitieren, sich selbst sam- chen müsse. Im neuen Erzählband gefälliger Moral daher: Mal haben sie lichen Köpfe und Wünsche und gele- Ernst Burren die Schweiz als Groteske plen. Fans dürften zufrieden sein. gönnt uns Burren kaum eine Atempau- in der Bescheidenheit eine Zufrieden- gentlich blitzen Schalk und Erfin- und man mag sich mit der Schwermut Zu denken gibt aber ein Zitat des se, schon kommt der nächste Krebs, heit gelernt, dann beklagen sie den dungslust des Autors durch. dieses Buches wieder versöhnen. musikalischen Kopfs der Gruppe, Li- die Depressionen häufen sich. Und kompromisslosen Egotrip der Men- Wenn Heiri sich nach fünfzig Ehejah- am Howlett, im Pressetext: «In die- dann seufzt Lorli stellvertretend für al- schen und lassen das Jammern von ren von seiner Frau trennen will, um Ernst Burren: «I däm Au- sen Zeiten, in denen wir leben, sind le Figuren erschöpft: «Was chunnt ächt Bauern und Lehrern über die Verän- ein paar Jahre mit einer japanischen ter no nes Gschleipf». die Menschen bequem geworden no aues.» Ja, man muss sich als Leser derung der Welt kommentarlos ste- Silikonpuppe zu leben; wenn die von Mundartgeschichten. und vergessen, wie man neugierig während der Lektüre selbst ein wenig hen. In diesen Geschichten fehlen die ihrer Ehe frustrierte und naive Manue- Cosmos Verlag, 128 S. bleibt und forscht.» MARIE FRECH (DPA) vor so viel Altersschwermut schützen. Pointen. la auf einen rumänischen Internetbe- Buchvernissage: 31. Ok- Die wechselnden Erzähler kommen Eine Qualität des Buches: Burren trüger reinfällt, der sich als amerikani- tober, 20 Uhr, Bücher Lü- The Prodigy: (tba) immer mal wieder mit simpler, selbst- holt wieder die ganze Welt in die dörf- scher General ausgibt. Dann zeichnet thy, Solothurn. Erscheint am 2. November

CH-Musikmarkt Der Staat wird nicht überflüssig Musikvertrieb Kulturförderung Podium über die Zukunft der Kulturfinanzierung. Welches Potenzial haben alternative Geldquellen? beteiligt sich an Hitmill

VON STEFAN KÜNZLI nen immer schwieriger geworden, men im Internet. Dabei sind die sozia- genden das Vertrauen in die Mittelver- Sponsoring-Partner zu finden. Rund len Medien zentral. Der Aufwand zur wendung des Staates abnimmt». Reiche Die Musikvertrieb AG, das grösste «Wer ist zufrieden mit der Aargauer 1,5 Millionen Franken gibt die Neue Mobilisierung ist aber riesig. entscheiden sich für Stiftungen, weil sie Independent-Label der Schweiz, be- Kulturpolitik?», fragt der Moderator Aargauer Bank (NAB) pro Jahr für Die Eigeninitiative ist entscheidend. hier wissen, wohin ihr Geld fliesst. teiligt sich an Hitmill von Roman Ca- und ehemalige Pro-Helvetia-Direktor Sponsoring aus, wie Thomas Acker- 35 Prozent der Initiativen scheitern. menzind. «Mit diesem Zusammen- Pius Knüsel im Odeon Brugg. Niemand mann, Leiter Marketing & Communica- Trotzdem hat Crowdfunding starken «Verrückte gibt es immer» schluss erwirbt unsere Firma Künst- hebt die Hand. Kein Wunder, denn im tion der NAB, ausführt. Doch die Unter- Zulauf. Bis zu 350 000 Franken wurden Interessant ist, dass aber ausgerech- lerrechte jeglicher Art. Die Einnah- Publikum überwiegen Aargauer Kultur- nehmen erwarten für ihre Leistung im- bisher über wemakeit gesammelt. Fal- net im Kanton Aargau die Stiftungs- mequelle beschränkt sich nicht nur schaffende und Kulturveranstalter. Sie mer eine Gegenleistung. Das ist das let ist überzeugt, dass noch mehr mög- dichte am geringsten ist. Die Gründe auf die Ton-/Bildträgerverkäufe, son- können nicht zufrieden sein mit dem Prinzip von Sponsoring. Es geht um lich ist, dass das Potenzial noch nicht sind unklar und können nur vermutet dern auch auf Konzerteinnahmen, aktuellen Sparimperativ des Kantons. «Kundenbeglückung», um die «Exklusi- ausgeschöpft ist. werden. Bestimmt gibt es im Aargau Synchronisationsrecht und Mer- Woher kommt in Zeiten sinkender vität und Einzigartigkeit» eines kultu- weniger Reiche als in Basel, Zürich und chandising», sagt Jack Dimenstein Kulturbudgets das Geld? Wie kann die rellen Erlebnisses. Nicht jede Kultur- Stiftungen boomen Zug. Aber womöglich sind vielen Ver- vom Musikvertrieb. Umgekehrt freut Kultur ihr Angebot aufrechterhalten? sparte eignet sich also für Sponsoring. Die Schweiz ist das Land der gemein- mögenden die Vorzüge von Stiftungen sich Camenzind über das gewonne- Wie können Schliessungen von Kultur- Als jüngste Alternative bietet sich nützigen Stiftungen. 13 000 gibt es ins- zu wenig bekannt. «Vergesst die Mäze- ne «Knowhow und das Netzwerk» institutionen verhindert werden? Wel- Crowdfunding an. «Alles ist hier mög- gesamt, davon widmen sich rund 1500 ne nicht. Irgendwelche Verrückte gibt und glaubt, dass vor allem «unsere ches sind die alternativen Geldquel- lich», sagt Céline Fallet, Geschäftsfüh- Stiftungen der Kulturförderung. «Es es immer», sagt Ackermann. Künstler profitieren». len? Diesen Fragen ist das von der Kul- rerin von wemakeit, der Crowdfun- gibt immer mehr Stiftungen», sagt Re- Alternative Quellen zur Geldförde- Zu diesem Zweck wird HitMill in turstiftung Pro Argovia initiierte Podi- ding-Plattform, die vor sieben Jahren gula Koch, Geschäftsführerin Landis & rung werden künftig immer wichtiger, zwei Bereiche aufgeteilt: In die Mu- um «Kulturfinanzierung 2.0» nachge- als erste in der Schweiz gegründet wur- Gyr Stiftung, die «künstlerische Projek- doch der Staat wird nicht überflüssig. sikproduktionsfirma Hitmill AG, wel- gangen. de. Die Crowd ist «schnell, einfach und te von hoher Qualität aus verschiede- Darin ist sich das Podium einig. «Die Al- che Künstler- und Werbemusik pro- offen für alles». Sie trägt zu Demokrati- nen Sparten» unterstützt. Die Stiftun- ternativen sind gut, wir prüfen sie alle, duziert, sowie mit Beteiligung des Crowdfunding hat Potenzial sierung der Kulturförderung bei und ist gen und ihre Geldgeber profitieren von aber sie sind nur ergänzend», sagt Oli- Musikvertreibs die HitMill 360 AG, Sponsoring, Kulturgeld aus der Wirt- ideal, um ein Netzwerk aufzubauen Steuerbefreiung und Steuerreduktion. ver Dredge, Geschäftsleiter vom KIFF die in ihrem 360 Grad Label sämtli- schaft, ist ein wichtiger Pfeiler. Doch in und zu vergrössern. Crowdfunding Dem Staat entgehen also Steuergelder. Aarau. «Ohne staatliche Kulturförde- che Tätigkeiten für ihre eigenen jüngster Zeit ist es für Kulturinstitutio- nutzt die neuen Kommunikationsfor- Koch hat festgestellt, dass «bei Vermö- rung geht es nicht.» Künstler wahrnimmt. (SK)