Der unter in der Kreuzkirche zu Dresden vor 1945: „Singet dem Herrn ein neues Lied“ Ort zahlreicher Uraufführungen Foto: Sammlung von Prof. Dr. Matthias Herrmann, Fotograf unbekannt Zeitgenössische Chormusik beim Dresdner Kreuzchor Matthias Herrmann

Die Tradition der berühmten sächsischen dass Chorknaben an der damaligen Nikolai- Knabenchöre geht auf das liturgische Sin- kirche (der heutigen Kreuzkirche) bereits gen im Mittelalter zurück. Während sich in vor 1300 in die Liturgie einbezogen waren. Leipzig ein Gründungsdokument vom Jah- Nach der Einführung der Reformation (im re 1212 erhalten hat, gibt es ein solches für albertinischen Sachsen erst 1539) wurde Dresden nicht. Erst 1300 wird dort ein das lutherische Bildungsideal auch im schu- Schulmeister erwähnt, was belegt, dass da- lischen Bereich wirksam. Die Verklamme- mals längst eine Ausbildungsstätte existier- rung von Glaube, Bildung und Musik nahm te: die spätere Kreuzschule. Im Zuge der programmatische Züge an, und es war geschichtlichen Rückbesinnung schrieben selbstverständlich, dass die Schüler der La- im 19. Jahrhundert Historiker das Jahr der teinschulen regelmäßig in den Gottes- Ersterwähnung Dresdens als Stadt – 1216 diensten der städtischen Hauptkirchen – quasi als Gründungsjahr von Kreuzschule sangen. In dieser Tradition stehen der und -chor fest. Es steht aber außer Frage, Kreuzchor und der Thomanerchor, wäh-

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Kreuzkantor Rudolf Mauersberger (l.) mit Kurt Thomas, einem der wichtigsten Komponisten neuer Kirchenmusik um 1930 Foto: Sammlung von Prof. Dr. Matthias Herrmann, Fotograf unbekannt

rend die Wiener Sängerknaben und die die Schulchöre nicht nur erhalten blieben, Dresdner Kapellknaben aus der höfischen sondern zunehmend ins öffentliche Be- Praxis kommen. Die Windsbacher und wusstsein kamen. Ihr Streben nach hoher Göttinger Knabenchöre dagegen sind Neu- künstlerischer Qualität war für die weltliche gründungen nach 1945 durch ehemalige und kirchliche Obrigkeit ein wesentliches Kruzianer, die sich in Westdeutschland an- Kriterium, neben den aufstrebenden Or- gesiedelt hatten. chestern (der Dresdner Hofkapelle und Das lutherische Bildungsideal war eine we- dem Leipziger Gewandhausorchester) auch sentliche Grundlage für die Ausprägung der ihren „städtischen Vokalkapellen“ eine Zu- mitteldeutschen Kulturlandschaft. In ihr kunft einzuräumen. Dass das Kreuz- wie das spielte und spielt die Kirchenmusik eine Thomaskantorat bis zum heutigen Tage kein entscheidende Rolle. Ohne die Lateinschul- kirchliches Amt ist, begründet sich histo- Praxis und ohne den geistigen Hintergrund risch und erklärt, warum die Amtsinhaber hätten die Kruzianer und Thomaner nicht städtisch besoldet sind. zu dem werden können, was sie heute sind. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ihre heutige Breitenwirkung und internatio- entstanden im Geiste der „Gründerjahre“ nale Bekanntheit ist mit früheren Jahrhun- repräsentative Gebäude mit Alumnat für die derten nicht zu vergleichen. Durch die ge- Kreuz- und für die Thomasschule. Dies ver- sellschaftlichen Veränderungen kam es nach deutlicht ein weiteres Phänomen des dama- und nach zur Zurückdrängung des luthe­ri­ ligen Zeitgeistes: der Historismus mit der schen Bildungskanons, und im 19. Jahrhun- Adaption vergangener Stile in der Neupro- dert empfand man die Schülerchöre längst duktion von Kunst und Architektur. Zudem als anachronistisch. Ihre Zukunft galt als un- verschwand das bisher geltende Prinzip, in sicher. Die humanistischen Gymnasien muss­ erster Linie Musik der Gegenwart, also von ten sich verstärkt auf die gesellschaftlichen Zeitgenossen zur Aufführung zu bringen. Wandlungen und den Vorrang der Natur- Die allmähliche Loslösung vom Historismus wissenschaften einstellen. Die Musik verlor war um 1900 ein schwierig und die Ent- ihre zentrale Stellung, obwohl Singen und wicklung der Moderne, ihre Ausbreitung Musizieren für die ganzheitliche Erziehung und Akzeptanz im frühen 20. Jahrhundert junger Menschen zu keiner Zeit zu unter- ein komplizierter Vorgang. Nur mühsam schätzen ist. wurde die Neue Musik von Interpreten und Der Weitsicht von Kreuz- und Thomaskan- vom Publikum akzeptiert. So hing es von toren des 19. Jahrhunderts ist es zu verdan- einzelnen Dirigenten und Veranstaltern ab, ken, dass an den beiden namhaften städti- ob Experimente überhaupt gewagt und öf- schen Gymnasien in Dresden und Leipzig fentlich präsentiert wurden.

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Gesprächspause bei der Aufnah- me der „Moralitäten“ im Dresdner Schallplattenstudio Lukaskirche 1967: Der in Italien lebende Komponist Hans Werner Henze (l.) u.a. mit älteren Kruzianern Foto: Sammlung von Prof. Dr. Matthias Herrmann, Fotograf unbekannt

Kreuzkantor Otto Richter (1906–1930) Moderne mit! Und dies, obwohl eine solch stand modernen Strömungen in der Kir- anspruchsvolle Aufgabe eigentlich professi- chenmusik noch misstrauisch gegenüber. Er onellen Chören und Spezialensembles ob- orientierte sich an der Musik der Renais- liegt und nicht unbedingt Knabenchören. sance, des Barock und vor allem der Roman- Der Programmschwerpunkt „Moderne“ fin- tik. Eine Wende vollzog sich beim Dresdner det sich in dieser Dichte und Vielfalt übri- Kreuzchor unter Rudolf Mauersberger gens weder bei den Regensburger Domspat- (1889–1971) im Jahre 1930. Sein Verständ- nis und sein Einsatz für die in Gang gekom- mene Moderne im vokalen Bereich war ei- ner der Gründe, ihn von Eisenach in die Elbestadt zu berufen. Seit Mitte der zwanziger Jahre zeigte sich die Abkehr vom romantischen Chorsatz und die Hinwendung zur Neuen Sachlichkeit auch in der evangelischen Kirchenmusik. Die Harmonik wurde herber und Dissonan- zen wurden „salonfähig“. Dafür verschwan- den gefühlvoll-pathetische Momente aus den Werken, und auf die musikalische Aus- deutung des Textes wurde großer Wert ge- legt. Dies gilt für Kurt Thomas (1904–1973), Johann Nepomuk David (1895–1977) und Hugo Distler (1908–1942), damals junge, Kruzianer in historischer Kur- rendetracht vor dem Altar der hochmotivierte Komponisten, die in der Dresdner Kreuzkirche: Aufführung „Leipziger Schule“ ihr Rüstzeug erhalten des 1947/48 für den Kreuzchor hatten. Ihr umstrittenes Werk wurde nun entstandenen Dresdner Requiems vom Dresdner Kreuzchor an die Öffentlich- von Rudolf Mauersberger für 3 keit gebracht. Neben der Pflege klassischer Chöre, Blechbläser, Schlagwerk, Kontrabässe, Celesta und Orgel Kirchenmusik von Heinrich Schütz und Jo- Foto: Sammlung Prof. Dr. Matthias hann Sebastian Bach schreiben die Kruzia- Herrmann, Fotograf unbekannt ner seitdem Interpretationsgeschichte der

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zen noch bei den Wiener Sängerknaben, sik mit gezupftem Kontrabass des Heidelber- wohl aber bei den Thomanern während der ger Heinz Werner Zimmermann (geb. 1930) Kantorate Karl Straubes (1918–1939) und oder „schräge“ Chorwerke mit Orgel von Gi- Georg Christoph Billers (1992–2015). selher Klebe (1925–2009, Detmold) und Während das Ausloten neuer Ausdrucksfor- Günter Bialas (1907–1995, München). Wie men und Spielweisen bei professionellen sehr das stilistisch Gewohnte überschritten Spielern im instrumentalen Sektor eher wurde, zeigte sich an Reaktionen von Besu- umsetzbar ist, gibt es im vokalen Bereich chern der Kreuzkirche, die nicht verstehen stimmlich-technische Grenzen, die immer konnten, dass der über 70jährige Kreuzkan- wieder einer Erweiterung bedürfen. Zumin- tor Mauersberger so offensiv für die Moder- dest ist der Probenaufwand weitaus größer ne einstand. als bei klassischer Literatur. Zieht man Re- Sein Nachfolger Martin Flämig (1971–1990) zensionen der 1930/40er Jahre über Ur- galt als Spezialist für zeitgenössische Musik. und Erstaufführungen des Kreuzchores zu Dass er durch sein Wirken in der Schweiz Rate, dann wird deutlich, wie versiert, per- auch praktisch mit dem französischen Kul- fekt und überlegen gesungen wurde. Dies ist turkreis in Berührung gekommen war, kam regelmäßig nachzulesen, gleich ob es sich dem Kreuzchor sehr zugute. Sein Repertoire um die „Deutsche Liedmesse“ von Wolfgang wurde trotz des Eisernen Vorhangs euro­ Fortner (1935), die Motetten „Vom rechten päischer und bezog häufiger große Orches­ Glauben“ und „Christus, der Sohn Gottes“ terbesetzungen ein (mit der Dresdner Phil­ von Günter Raphael (1938) oder den abend- harmonie und der Staatskapelle Dresden). füllenden A-cappella-Zyklus „Der Wagen“ Auch DDR-Komponisten wie Paul Dessau von Ernst Pepping (1941) handelt. Aus ei- (1894–1979), Rainer Kunad (1936–1995) nem eher rückgewandten, „schön“ singenden und der ehemalige Kruzianer Udo Zimmer- Schülerchor war also ein für die Moderne mann (geb. 1943) schrieben für den Chor. In geschultes Ensemble geworden: unsangbare Dresden hat Flämig die große Hörergemein- Intervalle, vertrackte Rhythmen und expres- de des Kreuzchores vertraut gemacht mit sive Textauslegungen stellten kein Hindernis Werken eines Adolf Brunner (1901–1992), mehr für engagierte Interpretationen dar. Arthur Honegger (1892–1955) oder Frank Der Kreuzchor war zum gefragten Ensemble Martin (1890–1974) aus der westliche Welt. zeitgenössischer Musik geworden und mach- Der in Griechenland umstrittene Mikis Theo- te als solches auch im Ausland von sich Re- dorakis (geb. 1925) komponierte für den den. Kreuzchor die Liturgie in h-moll „Den Kin- Obwohl Krieg und Zerstörung die Kreuzcho- dern, getötet in Kriegen“ (Uraufführung rarbeit völlig zum Erliegen brachten, siegte 1983). Auch Alfred Schnittke (1934–1998) am 1. Juli 1945 der Wille zum Neuanfang. In hatte auf seine Weise – und zwar in der Sow- der Nachkriegszeit spielten viele der neuge- jetunion – Grenzen überschritten. Sein Re- schaffenen Werke Rudolf Mauersbergers quiem aus der Bühnenmusik für Soli, Chor eine identitätsstiftende Rolle. Aufgeteilt auf und Orchester zu dem Drama „Don Carlos“ mehrere Chöre in getrennter Aufstellung, von Schiller kam 1982 zu Gehör. Geistliche wird durch sichtbare liturgische Elemente Musik eines sowjetischen Komponisten in die christliche Botschaft auf mehreren Ebe- der Kreuzkirche zu den Dresdner Musikfest- nen vermittelt. So in der „Lukaspassion“, im spielen? Eigentlich passt das nicht in das gän- „Dresdner Requiem“ oder in der „Geistlichen gige Bild der DDR-Kulturpolitik. Das Mu- Sommermusik“. Obwohl der Kreuzkantor da- sikleben war offenbar vielfältiger, mals ausschließlich für den Kreuzchor kom- interessanter und unangepasster als es über- ponierte, liegen Teile seines Werkes inzwi- lieferte engstirnige kulturpolitische Konzep- schen in Notenausgaben vor und sind zum te vermuten lassen. Allgemeingut geworden. Während sich im Kantorat Gothart Stiers In den 1950/60er Jahren führte der Kreuz- (1991–1994) wenig Neues in Bezug auf die chor regelmäßig neueste Chormusik auf: von Moderne tat, dirigierte Matthias Jung (1994– dem Schweizer Willy Burkhard (1900– 1996) wieder Uraufführungen. Herausra- 1955), dem Briten Benjamin Britten (1913– gend anlässlich des Internationalen Hein- 1976) oder dem in Italien lebenden Hans rich-Schütz-Festes 1995 der auch technisch Werner Henze (1926–2012). Trotz der Ab- so schwierige 90. Psalm für zwei Chorgrup- schottung der DDR waren stets auch west- pen von Michael-Christfried Winkler, dem deutsche Komponisten in den Kreuzchor- damaligen Kreuzorganisten als wichtigem Programmen präsent: verjazzte Kirchen­mu- musikalischen Partner des Kreuzkantors.

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Der griechische Komponist Mikis Theodorakis mit Kreuzkantor Martin Flämig (Mitte I.) und dem Dresdner Kreuzchor im Studio Lukaskirche Dresden anlässlich der Aufnahme der Liturgie in h-moll „Den Kindern, getötet in Kriegen“, 1983 Foto: Sammlung von Peter Kopp, Fotograf unbekannt

Literaturhinweis: Seit 1997 wirkt Roderich Kreile (geb. 1956) in die Neufassung zwei Jahre später im Rahmen Herrmann, Matthias (Hrsg.): diesem Amt. Die Moderne spielte von Anfang der Münchner Biennale ihre Premiere. Aus der Dresdner Kreuzchor und Neue an eine wichtige Rolle in der Konzertplanung. Vielzahl der Zeitgenossen, die vom Kreuzchor Chormusik. Ur- und Erstauffüh- rungen zwischen Richter und Dabei fällt auf, dass Komponisten aus dem in letzter Zeit präsentiert wurde, ragt die be- Kreile, in: Schriften des Dresdner Umfeld der Hochschule für Musik Carl Maria rühmte russische Komponistin Sofia Gubai­ Kreuzchores, Bd. 2, Marburg 2016 von Weber nun verstärkt für den Kreuzchor dulina (geb. 1951) heraus: mit dem „Sonnen- (in Vorbereitung) schrieben: Jörg Herchet (geb. 1943), Wilfried gesang“ nach Franz von Assisi für Chor, Jentzsch (geb. 1941), Wilfried Krätzschmar Vio­loncello, Große Trommel, Windgong, (geb. 1944), Christian Münch (geb. 1951) und Flexaton, Schlagwerk (Pauken, Glasglocken, Manfred Weiss (geb. 1935). Die Handschrif- Zimbeln, Crotales/antike Zimbeln, Tam-tam, ten reichen vom A-cappella-Chorsatz bis hin Plattenglocken, Röhrenglocken, Glockenspiel, zum elektroakustischen Experiment in Gestalt Marimbaphon, Vibraphon) und Celesta (2012). der „Apokalyptischen Visionen“ für Chor, Dass auch unter Kreile wie unter seinen Vor- Sprechstimme und elektronische Klänge gängern Werke von Kruzianern einstudiert (Jentzsch). 2003 sorgte die „Occulta Humana“ und aufgeführt wurden, verdeutlicht der 1998 des Nürnbergers Max Beckschäfers (geb. geborene Jan Arvid Prée u. a. mit seinen im 1952) für eine vielbeachtete Kooperation mit März 2015 uraufgeführten „Lebenslichtern“ der Palucca Hochschule für Tanz und auch die für Sprecher, drei Chöre und Orchester. Uraufführung der Jazz-Adaption von Händels Auch das beweist, wie sehr der ganzheitliche „Messias“ machte 2005 von sich Reden. Im Bildungsauftrag vergangener Jahrhunderte Riesenraum der Kreuzkirche prallten immer noch heute beim Kreuzchor verankert ist, wieder ganz unterschiedliche Klangwelten auch in Bezug auf die Moderne. So ist es eine aufeinander. Auch außerhalb der Heimatkir- Erfahrung, dass Kruzianer im Laufe der Zeit che brillierten die Kruzianer mit Neuer Musik, gerade bei zeitgenössischer Musik „Sinn für so 2006 anlässlich des Stadtjubiläums „800 Stilistik und Qualität“ entwickeln. Dass Autor Jahre Dresden“ im Festspielhaus Hellerau. Die „hochanspruchsvolle Werke“ in der Proben- Prof. Dr. israelische Komponistin Chaya Czernowin arbeit „oft sehr mühsam“ sind, weil „man Matthias Herrmann hatte die „Pilgerfahrten“ für Knabenchor und sich abseits vertrauter Tonsprache und Har- Hochschule für Musik Carl Instrumente nach Tove Jansson und Stefan moniefolgen“ bewegt, hat zu keiner Zeit die Maria von Weber, Institut George, zum Teil in experimenteller Nähe zu Kruzianer davon abgehalten, sich „auf die für Musikwissenschaft den Kruzianern, erarbeitet. Während die Ur- Mühe einzulassen“. Kreuzkantor Roderich Wettiner Platz 13 aufführung anlässlich der Dresdner Tage der Kreile, der dies formuliert hat, weiß es aus 01067 Dresden zeitgenössischen Musik stattfand, so erlebte langjähriger Erfahrung!

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