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SWR2 Musikstunde

"Frauleinwunders" Wie junge Geigerinnen die Konzertsäle der Welt erobern“ Die Ursprünge (1)

Von Thomas Rübenacker

Sendung: Montag, 16. Dezember 2013 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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MUSIKSTUNDE mit Trüb Montag, 16. 12. 2013

… mit Thomas Rübenacker: „Frauleinwunders. Wie junge Geigerinnen die Konzertsäle der Welt erobern“, heute Teil 1: die Ursprünge.

MUSIK: INDIKATIV (CA. 20 SEC)

Weltanschauung. Realpolitik. Wanderlust. Schadenfreude. Wunderkind. Selbstmitleid. Weltschmerz. Alles Wörter, deren Bedeutung wir verstehen. Aber nicht nur wir – sondern auch die Amerikaner. Und nicht nur die Experten des Geheimdienstes NSA – alle Amerikaner. Dort hat man nämlich für komplexere Tätigkeiten oder Empfindungen gerne ein deutsches Fremdwort: möglichst ein zusammengesetztes, das selber komplex klingt. Das älteste dieser „Fremdwörter“ kam erst im vergangenen Jahr wieder prominent zum Einsatz, in einer Titelgeschichte des Intellektuellenblatts „The New Yorker“. Der wollte eine Titelgeschichte über junge, hochbegabte Geigerinnen ankündigen, „welche die Konzertsäle der Welt erobern“, und er tat es mit dem Wort „Frauleinwunders“: So nannten Besatzungssoldaten nach dem Zweiten Weltkrieg die deutschen Mädels, denen sie an die Wäsche wollten. Gemeint waren vom „New Yorker“ allerdings Geigentalente aus aller Welt, deren gemeinsame Sprache die Musik ist, z. B. aus Georgien, Tianwa Yang aus China, Vilde Frang aus Norwegen oder aus den USA. Auch Isabelle Faust aus Esslingen am Neckar oder Arabella Steinbacher aus München – ganz weg vom Fenster sind auch deutsche Weltklasseinterpreten nicht. Gemeinsam ist ihnen: relative Jugend und Geschlecht. Ich möchte Ihnen diese Woche zwei Händevoll vorstellen; nicht alle, denn sie wachsen ja nach. Aber einen gewissen Überblick, Ursprünge, Gegenwart und Zukunft der „Frauleinwunders“, das schon. Sie sind einander meist gar nicht so ähnlich. Sie können nur alle verflucht gut Geige spielen.

MUSIK: SPOHR, VIOLINKONZERT NR. 8, TRACK 4 (4:05) SPOHR, Violinkonzert „in Form einer Gesangsszene“; Hilary Hahn, Schwedisches Radio-SO, Eiji Oué; DG 477 6232 (LC 0173)

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Das war, da die Urmutter der „Frauleinwunders“, ja genau: Anne-Sophie Mutter, allmählich in die Jahre kommt, einer der Ursprünge dieses Phänomens: die US-Amerikanerin Hilary Hahn, mit dem Kopfsatz aus Louis Spohrs 8. Violinkonzert, dem „in modo di scena cantante“, in Form einer Gesangsszene. Begleitet wurde sie vom Schwedischen Radio-Symphonie- Orchester Stockholm, am Pult: Eiji Oue.

Es ist typisch für diese eminent kluge junge Dame, die, als ich sie einmal interviewte, trotz meines sehr guten Englischs darauf bestand, auf deutsch zu antworten: dass sie fürs Booklet einen kleinen Essay verfasste, der „Die Geige als Stimme“ überschrieben ist und so anhebt: „Die menschliche Stimme hat ungeheure Gewalt über uns. Sie kann Freude, Trauer, Liebe, Verzweiflung, Mut, Erniedrigung und Stolz auslösen – wenn genug Raum wäre, würde diese Liste alle menschlichen Gefühle überhaupt umfassen ... (Aber) mehr noch als gesprochene Sprache dringt Gesang unmittelbar ins Innerste des Menschen.“ So ungefähr hätte das der Komponist Louis Spohr, einer der größten Geiger des 19. Jahrhunderts, vermutlich auch gesagt, als er dieses (sein schönstes) „Violinkonzert in Form einer Gesangsszene“ schrieb. - Hilary Hahn wurde 1979 in Lexington, Virginia, geboren, als Tochter einer Familie mit deutschen Wurzeln, nämlich Bad Dürkheim in der Pfalz. Sie ist aber die einzige in der Familie, die Deutsch spricht – weil sie es sich aneignete, als sie bereits ein Teenager war, an der University of . Wie fast alle großen Geigerinnen war sie noch keine vier Jahre alt, als sie zu spielen begann, und mit zehn wurde sie Schülerin von Jascha Brodsky am Curtis Institute of Music. Brodsky war der letzte lebende Schüler von Eugène Ysaye, und so wurde Hahn zu einer der jüngsten Exponentinnen der franco-flämischen Violinschule; sie spielt auf einer Kopie von „Il Cannone“, Paganinis liebster Geige, gebaut von und nachgebaut von dem nicht minder genialen Jean-Baptiste Vuillaume. Immer noch sehr zarte 16 war Hilary Hahn, als sie ihre Debüt-CD aufnahm – gleich sehr anspruchsvoll die zweite Hälfte des „Alten Testaments der Violinmusik“ …

MUSIK: BACH, PARTITA NR. 2 D-MOLL (ALLEMANDE), TRACK 8 (5:13) BACH, Partita Nr. 2 d-moll; Hilary Hahn; Sony SK 62793 (LC 6868)

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Johann Sebastian Bach, die Allemande aus der 2. Partita d-moll für Violine solo, gespielt von Hilary Hahn auf ihrem Debütalbum für Sony – da war sie 16.

Ein anderes ehemaliges „Frauleinwunder“ trägt den deutschesten aller grüblerischen deutschen Namen, Faust, aber ihr Vorname Isabelle klingt eher nach Frankreich – und nach Fee. Isabelle Faust wurde 1972 in Esslingen am Neckar geboren, dem Vernehmen nach die zehntgrößte Stadt in Baden-Württemberg, in Wahrheit aber doch eher gemütliche Provinz, wo die Ureinwohner sich gegenseitig immer noch als „Zwieblinger“ bezeichnen. Mit fünf Jahren erhielt Isabelle Faust den ersten Geigenunterricht, aber anders als bei fast allen anderen Wunderkindern begleitete ihr damals 31jähriger Vater sie jedes Mal in die Stunde – und nahm mit seiner Tochter zusammen Unterricht! Talent habe er zwar keines gehabt, verriet diese im Interview, habe aber in diesem Doppelunterricht sowohl als Ansporn wie auch als Anker funktioniert - „als ich fünf Jahre alt war, bin ich zu seinem Lehrer mitgegangen … Für den Anfang war das wunderbar, ich habe nie etwas grundsätzlich an meiner Technik ändern müssen.“

MUSIK: WEBER, SONATE OP. 10/5, TRACK 15 + 16 (8:08) C. M. v. WEBER, Sonate op. 10/5; Isabelle Faust, Alexander Melnikov; harmonia mundi 902108 (LC 7045)

Isabelle Faust liebt auch entlegenes Repertoire: Hier spielte sie die zwei Sätze von Carl Maria von Webers Violinsonate op. 10/5 in A-dur; im ersten der beiden variierte der Komponist ein Thema aus seiner Märchenoper „Silvana“. Am Fortepiano: Faust bevorzugter Begleiter, der Russe Alexander Melnikov.

Natürlich gewann sie eine Handvoll der nobelsten Preise: z. B. 1987, also mit 15, den nach dem größten Geigenlehrer des 18. Jahrhunderts benannten Augsburger Leopold-Mozart- Wettbewerb oder 1993 den noch höher hängenden Premio Paganini in Genua. Beide Male gewann sie mit einer klangsatten Guadagnini-Geige. Wiederum drei Jahre später erhielt sie, als Leihgabe der Landesbank Baden-Württemberg, ihre erste Stradivari, benannt „Dornröschen“ - weil sie so lange geschlafen hatte, sprich: verschollen gewesen war. Auf die Interviewfrage „Und ist Dornröschen sofort für Sie aufgewacht?“ kam die Antwort: „Als ich 5 die Geige das erste Mal ausprobierte, gab es ein paar Töne, die mich sehr berührten. Da schienen sehr viele Obertöne hervorzulugen – wie bei einem beschmutzten Gemälde, auf dem hie und da noch die ursprünglichen Farben leuchten … Im Laufe der Zeit, es waren annähernd sechs Jahre, setzte sie mehr und mehr Obertöne frei. Heute ist sie ganz erschlossen, nur eben ein wenig wetterfühlig, vielleicht sogar noch mehr als andere Stradivaris. Sie kann am Morgen so klingen, am Abend wieder anders, manchmal ist es sogar von Stunde zu Stunde verschieden.“ So etwas kann natürlich des Musikers Leid sein – aber auch sein Abenteuer.

Einer von Isabelle Fausts Lieblingsdirigenten ist Claudio Abbado, mit dem sie eine berühmte Aufnahme des Beethoven-Konzerts herausbrachte. Diese erste Zusammenarbeit war offenbar auf beiden Seiten so fruchtbar, dass Abbado Faust einlud, auch eines der anspruchsvollsten Konzerte der Literatur mit ihm einzuspielen, das von Alban Berg, gewidmet „Dem Andenken eines Engels“, der schon in jungen Jahren verstorbenen Manon, Tochter des Architekten Walter Gropius. Berichtet Isabelle Faust: „Abbado bat mich eigens nach Bologna, um mit mir gemeinsam durch die Partitur zu gehen. In den Proben zuvor hatte er längere Abschnitte durchspielen lassen. Nun stand ich neben ihm, die Geige in der Hand, es ging um jedes Detail. Es war das erste Mal, dass ich ihn über jedem kleinen Akzent, Punkt, Strich sitzen sah. Abbado bereitet sich monatelang auf Stücke vor, selbst wenn er sie in seinem Leben schon tausendmal dirigiert hat … (Die Dornröschen hat inzwischen übrigens gelernt, auch) mal richtig zuzugreifen. Auf der G-Saite wollte sie in den ersten Jahren nicht richtig Power bieten, das war lange ihre Schwäche. Und wenn es in die Höhen geht, in die ganz himmlischen Stellen, zu dem Bach-Choral, für dessen Einarbeitung dieses Konzert so berühmt geworden ist, da ist sie sowieso unschlagbar.“

MUSIK: BERG, VIOLINKONZERT, TRACK 2 (16:07; ACHTUNG! BITTE ERST BEI CA. 7:49 EINBLENDEN, DANN BIS ENDE!; CA. 8:18) ) BERG, Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“; Isabelle Faust, Orchestra Mozart, Claudio Abbado; harmonia mundi 902105 (LC 7045)

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Das Finale von Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“, mit dem Bach- Choral „Es ist genug“, gespielt von Isabelle Faust und dem Orchestra Mozart, der Dirigent war Claudio Abbado.

Mit ihren inzwischen 33 Jahren steht auch Sarah Chang schon an den Außengrenzen des „Frauleinwunders“. Sie ist zwar koreanischen Geblüts, aber 100 % Amerikanerin, nämlich geboren in Philadelphia. Ihre Eltern, Vater Geiger, Mutter Komponistin, waren aus- bzw. eingewandert, bevor Sarah (eigentlich: Yong-ju) geboren wurde. Wie viele spätere Weltklassegeiger fing Chang mit vier Jahren an, auf einer Sechzehntelgeige, aber wie nicht so viele gab sie ihr Konzertdebüt bereits vier Jahre später, mit 8, in der New Yorker , mit Max Bruchs erstem Konzert und der tatkräftigen Unterstützung eines der Big-Five- Orchester, des , am Pult stand ! Damit nicht genug: Während andere achtjährige Amerikanerinnen noch mit ihren Barbiepuppen spielen, spielte Sarah Chang kurz nach diesem Debüt noch mit einem anderen der Big Five, dem , diesmal unter . Kein Wunder, dass ein Jahr später schon die erste Plattenaufnahme folgte, für EMI. Das Coverfoto spricht Bände: Ein lächelndes neunjähriges Kind mit Geige und feuerwehrrotem Kleidchen steht vor drei Herren im Frack, denen der Fotograf allerdings die Köpfe abgeschnitten hat … Will wohl heißen: Die Herren (also: das Orchester) sind austauschbar, die kleine Heldin im feuerroten Kleid ist es nicht. Bei dieser Debütveröffentlichung begleitet allerdings kein Orchester Sarah, sondern die Pianistin Sandra Rivers. Und auch sie ist natürlich austauschbar …

MUSIK: ELGAR, LA CAPRICIEUSE, TRACK 7 (4:47) ELGAR, La capricieuse; Sarah Chang, Sandra Rivers; EMI 7 54352 2 (LC 6646)

Das, wie gesagt, war ein neunjähriges Kind – mit Edward Elgars „La capricieuse“, die Launische. Sarah Chang spielte aus Anlass ihres Plattendebüts auf einer Viertelsgeige, was es natürlich noch erstaunlicher macht, wie gut das klingt: denn Stradivari oder Guarneri bauten bekanntlich keine Viertelsgeigen. Die Klavierbegleiterin war Sandra Rivers.

Dass Sarah Chang bei Dorothy DeLay landen würde, der damals größten Geigerpatin der USA, ist geradezu selbstverständlich; und dass ihr seine Guarneri-del-Gesù-Geige 7 von 1717 testamentarisch vermachte, leuchtet ebenfalls ein. Dafür pflegt Sarah Chang Hobbies, die Geiger eigentlich fürchten müssten wie der Teufel das Weihwasser. Tennis geht ja noch an, auch schnittige Flitzer könnte man vertreten: Die dürfen in den USA sowieso nicht ausgefahren werden (dafür hat Chang in Europa, das war anno 2003, schon mal einen solchen Schlitten zu Schrott gefahren). Aber Paragliding als größte Leidenschaft neben dem Violinspiel?! Dabei ist man zwar über Gurtwerk mit dem Gleitschirm verbunden, aber die stärkste Kraft wirkt doch auf die beiden Hände bzw. deren Gelenke. Sie umfassen Steuerleinen und verlangen bei jeder Strömungsänderung „Gegenkräfte“, die eigentlich nicht geeignet sind für zarte Geigerhände, sie ruckeln und zerren an den Gelenken. Aber ganz offensichtlich reicht Chang das Außergewöhnliche im Konzertsaal nicht – sie braucht es auch in freier Wildbahn.

Angst hat sie eigentlich nur vor etwas, was sie den Autopiloten nennt. Wenn es vom Flieger mitunter, fast ohne Probe, gleich ins Konzert gehe, lasse man ein schon hundertmal gespieltes Konzert gerne „laufen“. Dem (also dem bloßen Abspulen blendender Routine) entgeht Chang, indem sie den Autopiloten gerade trainiert, nämlich beim Üben. „Beim Üben sehe ich fern“, sagt sie, „natürlich ohne Ton. Am liebsten mit Untertiteln, die kann ich lesen, dann weiß ich wenigstens, worum es geht. Oder ich lese ein Buch!“ Die Idee dahinter: Wenn beim Üben alles „wie von selbst“ läuft – kann man es später auf dem Podium dann zum Leben erwecken. „Wenn ich drei Abende hintereinander dasselbe Konzert spiele, ist es keine zwei Mal das gleiche ...“ So wird es die Südkoreanerin-per-Stammbaum wohl auch in der Höhle des Löwen gehalten haben, bei den Steinzeitkommunisten in Pjöngjang: Es war ihr Wunsch, dort einmal aufzutreten; auch wenn das Konzert „ausverschenkt“ war bis auf den letzten Platz, nur Staatsdiener und „verdiente Volksgenossen“ bekamen überhaupt eine Karte … Aber auch das war natürlich wieder ein Abenteuer für Sarah Chang, ein eigentlich außermusikalisches! Zum Abschluss möchte ich Ihnen jetzt noch aus dem Tschaikowsky- Violinkonzert der 11Jährigen die Canzonetta vorspielen, mit dem Symphony Orchestra unter Sir . Hier hatte das damalige „Frauleinwunder“ immerhin schon eine Dreiviertelsgeige unters Kinn geklemmt …

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MUSIK: TSCHAIKOWSKY, VIOLINKONZERT (CANZONETTA), TRACKS 2 + 3 (6:37; ACHTUNG! BITTE FALLS NÖTIG AUF ZEIT FAHREN UND GLEICH IN 3 RAUSGEHEN!; CA. 6:43) TSCHAIKOWSKY, Violinkonzert; Sarah Chang, London Symphony Orchestra, Colin Davis; EMI 7 54753 2 (LC 6646)

Mit der Canzonetta aus Tschaikowskys Violinkonzert endet die Musikstunde. Die 11jährige Sarah Chang spielte mit dem London Symphony Orchestra, der Dirigent war Colin Davis.