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Hans Peter Herrmann

Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit Der »Fall Eggebrecht«, die Universität Freiburg und die Etappen deutscher Erinnerungspolitik 1957-2005

in memoriam Joachim W. Storck

Der Anstoß zu diesem Aufsatz kam von der Podiumsdiskussion des Studium generale zum »Fall Hans Heinrich Eggebrecht« am 9. Juli 2010.1 Sie hatte Klarheit bringen sollen über Eggebrechts Tätigkeit im »Dritten Reich«, immerhin war wieder einmal ein Mitglied der bundesrepublikanischen Bildungselite tiefer in den Nationalsozialismus verwickelt und näher an einem seiner Verbrechen gewesen, als wir von ihm bisher wußten und er je erzählt hatte. Doch die Veranstaltung im voll besetzten Höraal 1010 der Universität verlief turbulent und polarisierte sich rasch, auf dem Podium und in der Zuhörerschaft. Die einen kämpften immer wieder empört gegen Boris von Hakens Behauptung, der 22jährige Soldat Eggebrecht habe 1941 aktiv am Judenmord von teilgenommen; die anderen betonten die Bedeutung dieses Massakers auf der Krim und versuchten mehrfach, das Grundsätzliche an Eggebrechts Ge­ schichte in den Vordergrund zu rücken. Beide Positionen blockierten sich gegenseitig, eine Verständigung zwischen ihnen kam nicht zustande. Mich hatte die Heftigkeit irritiert, mit der an diesem Abend eine relevante Zahl von Akademikern den verstorbenen Kollegen, akademischen Lehrer und angesehenen Wissenschaftler verteidigte. Sie hatte mich an eine Podiumsdiskussion von 2002 über »Die Freiburger Medizin im Nationalsozialismus« erinnert (zu ihr später), als ein halber Hörsaal von — meist jungen — Medizinerinnen und Medizinern begeistert Beifall klatschte, sobald auf dem Podium etwas Entlastendes über das Handeln verstorbener Freiburger Medizinprofessoren im »Dritten Reich« vorgebracht wurde. Auch dort waren Teile der Zuhörerschaft vor allem daran interessiert gewesen, ehemalige Mitglieder der eigenen Institution gegen zweifelhafte Schuldvorwürfe zu verteidigen, und hatten damit verhindert, daß einläßlich über das NS-Herrschaftssystem selbst gesprochen wurde und daß die Verwicklungen in dieses System als ein historisches Problem sichtbar gemacht wurden, das alle anging. In beiden Veranstaltungen war nicht etwa der Nationalsozialismus verteidigt worden wie einst nach 1945. Im Gegenteil, der Nationalsozialismus drohte zu verschwinden. Er war bei vielen nur noch als ein vages Verhängnis präsent, abstrakt geworden durch

1 Zum Sachstand im »Fall Eggebtecht« s. »Stichworte zum Heft« S. 7-8. Ich gehe im Hinblick auf Eggebrechts Tätigkeit auf der Krim von den Untersuchungsergebnissen Friedrich Geigers aus: Friedrich Geiger, Quellenkritische Anmerkungen zum »Fall Eggebrecht«, Online-Publikation Hamburg 2010. URL: / [14.3.2012]. 75 die Identifikation mit einer angesehenen Person oder Wir-Gruppe, die vom Verdacht gereinigt werden sollte, an jenem Verhängnis mitschuldig gewesen zu sein. Verschwunden waren damit alle weitergehenden Fragen an das NS-System; verschwunden waren aus dem Blick aber auch diejenigen, um die es in den jeweiligen Situationen im »Dritten Reich« als Personen eigentlich ging: die russischen Juden zum Beispiel, die 1941 in Simferopol zu Tausenden umgebracht worden waren, oder die achtunddreißig jüdischen Mitglieder der medizinischen Fakultät, die 1933 unter stillschweigender Duldung ihrer Kollegen entlassen worden waren. Sie kamen in den hoch engagierten Verteidigungsdiskursen auf beiden Veranstaltungen nicht vor. Die Doppelerfahrung führte in meinen Augen zu grundsätzlichen Fragen. Woher kam und was bedeutete es, wenn individuelle Loyalitäten und kollektive Identifikationen derart den Blick auf die NS-Vergangenheit beherrschten? War das Verschwinden nationalsozialistischer Wirklichkeit aus dem Diskurs nur zufälliger Nebeneffekt momentaner, agonal bedingter Emotionalisierung oder diente die Heftigkeit berechtigter Schuldabweisung auch dem Zweck, eine inhaltliche Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu vermeiden? Und, in historischer Perspektive: in welchem Verhältnis stehen heute solche situativen Eliminierungsmechanismen zu jener früheren »Vergangenheitsverdrängung« nach 1945, auf deren mühsame Überwindung die deutsche Gesellschaft mit Recht einigermaßen stolz ist? Es sind Fragen, die die Geschichtswissenschaft m.E. auch dann stellen und ausarbeiten muß, wenn sie sie nicht eindeutig beantworten kann. Sie hatten mich schon früher beschäftigt, als 2004 die NSDAP-Mitgliedschaft von Walter Jens, Peter Wapnewksi und anderen öffentlich verhandelt worden war und die Betroffenen, wie ich meine, ihr historisches Wissen an ihr individuelles Rechtfertigungsbedürfnis verrieten. Jetzt tauchten diese Fragen erneut und erweitert auf. Um ihnen nachzugehen, werde ich die beiden Freiburger Diskussionen in ihren zugehörigen Kontext stellen: die lange Geschichte des Umgangs der Freiburger Universität mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit.2 3 Diese Geschichte ist in ihrem ersten Teil, dem Jahrzehnt nach 1945, gut erforscht.4 Doch für die Zeit nach 1957 gibt es bisher keine zusammenhängende Darstellung. Das war die Zeit, in der die Albert-Ludwigs-Universität damit konfrontiert wurde, daß der Nationalsozialismus nicht einfach vorbei war, sondern als traumatischer »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) ein nicht auszulöschender Bestandteil ihrer Ge­

2 Hans Peter Herrmann, »Rein« konnte im Dritten Reich niemand bleiben, in: Badische Zeitung, Freitag, 5.12.2003; ders., Sorge um Ehre und Anstand, in: Frankfurter Rundschau, 21.02.2004. Grundsätzlich zum Thema der erinnernden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, das im Zentrum dieses Aufsatzes steht: Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. Kritisch zu Assmanns Konzept des »kollektiven Erinnerns« und zu anderen Positionen gegenwärtiger Erinnerungskultur: Elke Jureit, Christian Schneider, Gefühlte Opfer, Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Stuttgart 2010. Silke Seemann, Die politischen Säuberungen des Lehrkörpers der Freiburger Universität nach Ende des Zweiten Weltkrieges (1945-1957), Freiburg 2002; dies., Die gescheiterte Selbstreinigung: Entnazifizierung und Neubeginn, in: Bernd Martin (Hg.), Von der Badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts. 550 Jahre Albert- Ludwigs-Universität, Bd. 3., Freiburg/München 2007, S. 536-554.

76 schichte blieb. Es war die Zeit meist verdecktet, manchmal offener Auseinandersetzungen zwischen denen, die öffentlich danach fragten, was damals eigentlich geschehen war und wie es zu verstehen sei, und denen, die solches »Bohren in der Vergangenheit« für unnötig oder imageschädigend hielten. Beide wollten eine tragbare, zukunftsfähige Einstellung zu den »Nazijahren« gewinnen - unter entgegengesetzten Prämissen. Am Ende dieser Zeit, 2005, hat die Universität ein öffentliches »Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus« eingeweiht, mit breiter Zustimmung. Dahinter droht nun die lange, schwierige Vorgeschichte zu verschwinden. Wichtige Etappen sind schon vergessen, anderes wird falsch im kollektiven Gedächtnis der Universität — und der Stadt — aufbewahrt. Ich will deshalb versuchen, einen Überblick zu geben über die Auseinandersetzungen der Freiburger Universität mit dem Nationalsozialismus seit 1957. Ich weiß mich dabei in guter Gesellschaft. Das Thema ist inzwischen — als »zweite Geschichte des Nationalsozialismus« — ein eigenes Aufgabenfeld der Zeitgeschichtsforschung geworden.5 Eine einzelne Universität ist unter diesem Gesichtspunkt meiner Kenntnis nach bisher nicht untersucht worden.6 Aus Zeitgründen und wegen der Sperrfrist auf wichtigen Personalakten geschieht dies im Folgenden mit einem begrenzten Anspruch auf Vollständigkeit und Eindringtiefe, doch mit dem Blick auf andere Universitäten und bundesrepublikanische Diskussionen. Dabei werde ich zuerst chronologisch über die Etappen der Freiburger Entwicklung berichten und diese dann zusammenfassend in den westdeutschen Rahmen stellen. Auch auf die Diskussion um Eggebrecht werde ich noch einmal zurückkommen. Wenn ich dabei von d e r Universität rede, so ist das keine willkürliche Konstruktion. Die Universität tritt in sprachlichen und symbolischen Handlungen, in Entschlüssen des Senats und Verlautbarungen des Rektoramtes als juristisches oder politisches Subjekt auf und hat als solches auch Positionen zum Nationalsozialismus bezogen. Mit geringerer Verbindlichkeit, aber auch als offizielle Stimme >der< Universität, haben die Freiburger Universitätsblätter, »herausgegeben im Auftrag des Rektors der Albert- Ludwigs-Universität«, gelegentlich Probleme der NS-Vergangenheit behandelt. Und unterhalb dieser beiden Ebenen gibt es das Studium generale als quasi halbamtliches Vortrags- und Veranstaltungsprogramm, mit dem die Universität Themen und Probleme ihres eigenen, vielfältigen Lebens und des Lebens >draußen< aufgreift, sofern

5 Peter Reichel [u.a.] (Hg.), Der Nationalsozialismus — Die zweite Geschichte. Überwindung, Deutung, Erinnerung, München 2009. Früher schon, für die Zeit der Entnazifizierung: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS- Vergangenheit, München 1996. 6 Materialien dazu in den neueren Arbeiten zu einzelnen Universitäten, in gegenseitiger Ergänzung verzeichnet bei: Bernd Martin, Martin Heidegger und das Dritte Reich<, Darm­ stadt 1989, S. 12, Anm. 29; Uwe Hoßfeld (Hg.), »Kämpferische Wissenschaft«: Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, Köln [u.a.] 2003, S. 91, Anm. 30, und Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Kulturwissenschaft und Nationalsozialismus, Stuttgart 2008, S. 13, Anm. 33. — Eine umfangreiche, nach Hochschulorten geordnete, immer noch nützliche, wenn auch nicht immer zuverlässige liste von Arbeiten zur Hochschulgeschichte im »Dritten Reich« ist von Studierenden angefertigt worden: Oliver Benjamin Hemmerle, Hochschulen 1933-1945 (Bibliographie), Mannheim 1998 [Hg. AStA Mannheim]), ein gleichnamiger Nachtrag erschien 1999; aufgenommen sind hier auch kleinere, abgelegene und studentische Beiträge zum Thema.

77 sie ihr wichtig scheinen, aber ohne daß sie sich damit identifizieren muß. Hier finden sich viele Beiträge zum Nationalsozialismus und zu Problemen des Umgangs mit ihm. Auf diesen drei Ebenen habe ich mir angesehen, welche Bedeutungen unter welchen Fragestellungen dem NS-Regime jeweils zugesprochen wurden. Weiter weg vom juristischen, organisatorischen und Macht-Zentrum der Hochschule habe ich nicht gesucht. Deshalb werde ich die Beschäftigungen mit dem Nationalsozialismus a n der Universität, also in Vorlesungen, Seminaren, studentischen Gruppen oder in sonstigen Veröffentlichungen, nur in Ausnahmefällen erwähnen. Das hätte sonst ein Buch ergeben.7 — Andererseits wollte ich eventuell Interessierten auch Wege in die vielfältige und kontroverse Forschung zur bundesrepublikanischen »Aufarbeitungsgeschichte« zeigen, — weshalb der Anmerkungsapparat umfangreicher geworden ist, als er eigentlich sollte. Da ich in der Zeit, um die es geht, in Freiburg gelebt, hier studiert und gelehrt habe, noch dies: ich wollte versuchen zu rekonstruieren, wie es, in meiner Sicht, gewesen war, und wollte nur in besonderen Fällen davon reden, wie ich selbst das Geschehen erlebt habe, — auch wenn ich weiß, daß die Rollen des »Historikers« und des »Beteiligten« nicht wirklich voneinander zu trennen sind, schon gar nicht bei einem Thema, das auch vom Historiker wissenschaftliche Objektivität und normativ­ moralische Urteilsbereitschaft verlangt.

1957:... endlich einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ßehen! Am Anfang des Zeitraums stand eine Veranstaltung, bei der jedes Eingehen auf den Nationalsozialismus bewußt ausgeschlossen worden war: das Fest zum 500sten Jubiläum der Gründung der Albert-Ludwigs-Universität, im Sommersemester 1957.8 9 Feierlichkeiten und Festschrift dieses groß aufgezogenen »ersten Universitätsjubiläums in der Nachkriegszeit auf westdeutschem Boden« waren ausdrücklich darauf angelegt, die finsteren Jahre der Nazi-Diktatur und die mühsame Zeit der Entnazifizierung hinter sich zu lassen, weil »endlich ein Schlußstrich gemacht werden müsse unter die schmerzlichen Vorkommnisse der Vergangenheit«.10 * Die Forderung nach einem »Schlußstrich«, schon vor 1950 weit verbreitet, war 1957 Mehrheitsmeinung in der westdeutschen Gesellschaft." Sie erwies sich, wie bekannt, als illusionär. Allerdings hatte es schon früh Gegenstimmen gegeben, vor allem von denen, die vom Regime verjagt worden waren. In Freiburg hatte der emeritierte Ordinarius für Römisches Recht, Fritz Pringsheim (1882-1967), einer der wenigen an die Universität zurückgekehrten Emigranten, bereits 1948 beklagt, daß

7 Ein Überblick über die Arbeiten zur Geschichte der Freiburger Universität im Nationalsozialismus bei Bernd Grün, Der Rektor als Führer?: die Universität Freiburg i.Br. von 1933 bis 1945, Freiburg, München 2010, S. 32-38. Ausführlich hierzu Meike Steinle, Das Universitätsjubiläum 1957: Die wiedergefundene Identität, in: Bernd Martin, 550 Jahre [s.o. Anm. 4], S. 609-622. 9 Steinle, ebd., S. 609. Rektor Tellenbach 1957 in einem Brief an eine Kritikerin, zitiert bei Silke Seemann, Säuberungen [s.o. Anm. 4], S. 349. Dazu u.a. Norbert Frei, Vergangenheitspolitik [s.o. Anm. 5],

78 die geschichtliche Verantwortung für den zweiten Weltkrieg zu übernehmen, in weiten und leider auch in studentischen und akademischen Kreisen vielfach in Vergessenheit gerät [...] Es ist nicht gut, daß vielfach das Leid, das man jetzt erduldet, das Leid, das man vorher zugefugt hat, verdeckt.

Zwei Jahre später, angesichts wachsender Selbstzufriedenheit der Westdeutschen nach der Währungsreform, hatte er seinen Hinweis auf die Anderen, an die bei der allgemeinen Schlußstrich-Sehnsucht nicht gedacht wurde, wiederholt.12 13 Aber die kritische Stimme des Emigranten blieb ohne dauerhafte Wirkung. Das war, zum Schaden der deutschen Entwicklung, nicht nur in Freiburg so. »Die unseligen Jahre des sogenannten tausendjährigen Reiches«14 sollten als erledigt gelten. Wie große Teile der westdeutschen Gesellschaft meinten auch die führenden Vertreter der Universität, unmittelbar an die gesellschaftlichen Zustände und die »geistigen Werte« der Zeit vor 1933 anknüpfen zu können. Zur Fehleinschätzung der Gegenwart kam die Vorstellung hinzu, der Nationalsozialismus sei ein von außen kommendes Unheil gewesen, das anfangs durch propagandistische Verführung und falsche Versprechungen, später durch Zwang und Intrige in die Universität — und in das deutsche Volk überhaupt — hineingebracht worden sei. Das weitverbreitetes Wunschbild findet sich auch in einem Vortrag, den Constantin von Dietze im Juli 1960 in der Universität gehalten hatte.15 Von Dietze (1891-1973), Mitglied der Widerstandsgruppe des »Freiburger Kreises«, Rektor von 1946-1949, hatte in dieser Rede wichtige, selbstkritische Sätze gesagt über die schuldhafte Verstrickung auch derjenigen »Männer, die die Untaten des Nationalsozialismus gemieden und bekämpft haben«;16 aber auch er folgte dem Akademiker-Bedürfnis nach einer unbeschädigten kollektiven Identität der Universität17 und schilderte die Freiburger Hochschule im »Dritten Reich« als

12 Fritz Pringsheim, Erziehung zur Politik. Ansprache an die Freiburger Studenten Juli 1948, in: Pringsheim, Rechtserziehung und politisches Denken. Worte an deutsche Studenten, Freiburg 1960, S. 29. Fritz Pringsheim, Student und Politik. Ansprache an die Freiburger Studenten Juli 1950, in: Pringsheim, a.a.O., S. 65-80, hier S. 71 f. und passim. O. Nachmann, Präsident der Oberrabbiner der Israeliten Badens, in seiner kurzen Ansprache beim Festakt (s. Gerd Tellenbach, Die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 1457-1957. Die Festvorträge bei der Jubiläumsfeier, Freiburg 1957, S. 224). Immerhin hat Nachmann die Zeit erwähnt; sonst sind in diesen Vorträgen nur die Zerstörung Freiburgs 1944 und der Zusammenbrach 1945 genannt worden. Constantin von Dietze, Die Universität im Dritten Reich, in: Mitteilungen der List- Gesellschaft, Fase, Nr. 3; 9.8.1961, S. 95-105. »Aber wer Professor im Dritten Reich war, der konnte nicht schuldlos bleiben, auch der beste nicht, auch diejenigen nicht, die im Kampfe gegen das Regime ihr Leben bewußt einsetzten und verloren. Nur wehmütig konnten wir daran denken, daß wir einst in voller Überzeugung gesungen hatten: >Wer die Wahrheit kennt und sagt sie nicht, der bleibt ein ehrlos erbärmlicher Wicht« Wir haben oft geschwiegen. [...] Aber wer das Dritte Reich als beamteter Professor überlebt hat, der hat vieles geschluckt, was einst als unerträglich galt, und dabei geheuchelt [...]«, v. Dietze, ebd., S. 103. Die eindrückliche Passage ist oft zitiert worden. Mit dem hier und im Folgenden verwendeten Begriff der »Identität« oder »Identdtätskonstraktion« wird der Tatsache Rechnung getragen, daß Institutionen von ihren Mitgliedern und von Außenstehenden bestimmte Merkmale zugeschrieben werden, die für das jeweilige Kollektiv die Eigenart der Institution bezeichnen. Früher sprach man in

79 umfassenden Hort »akademischer Gesinnung«,18 mit einem starken widerständigen Kern, einem weitgehend normalen Wissenschaftsalltag und einigen schlimmen, von außen kommenden Eingriffen von Nationalsozialisten. Von Dietzes »Erinne­ rungsnarrativ«19 beruhte auf seinen Erfahrungen in den Widerstandszirkeln um Ritter, Lampe und Eucken, doch die Verallgemeinerung ergab ein falsches Bild.20 Mit ihr bediente auch er, der NS-Gegner, das Bedürfnis vieler nach etwas Positivem in der belasteten Vergangenheit, an das sich ohne Bruch beim »Wiederaufbau« anknüpfen ließe. Politisch wache Studierende allerdings — als Jüngere die Zeitgenossen einer bereits angebrochenen gesellschaftlichen Zukunft — konnten die Vergangenheit der Universität schon damals anders sehen.21 Kurz vor v. Dietzes Rede veröffentlichte die Freiburger Studentenzeitung erstmals einschlägige Zitate aus Martin Heideggers Rektoratsrede, kritisierte Heideggers Rehabilitierung in Freiburg und sprach vom »weitgehenden Versagen« der deutschen Universitäten »vor und nach 1933«.22 Und es war nicht nur die FSZ; v. Dietze hatte seinen Vortrag auf Einladung des Freiburger AStA gehalten; der AStA hatte im gleichen Sommersemester 1960 bereits Theodor Litt aus Bonn zu einem Vortrag über »Die Deutsche Studentenschaft und der Nationalsozialismus« eingeladen und danach für das WS 1960/61 Franz Büchner zu einem Vortrag »Die Medizin im Dritten Reich« gebeten.23 Die Studierenden hatten

diesem Fall z.B. vom besonderen »Geist« der Freiburger Universität; demgegenüber hat der Begriff der »Identität« den Vorteil, mit seiner Herkunft aus der Sozialpsychologie einen sachlicheren Bedeutungsgehalt zu besitzen. Das Wort taucht in den 1980er Jahren auch in meinen Quellen auf, betont verwendet als »Identität« der Freiburger Universität (s. z.B. unten SvBff bei Anm. 72). — Gegenüber der Alltagssprache insistiert die wissenschaftliche Verwendung des Begriffs darauf, daß es sich bei Identitäten nicht um objektive Eigenschaften einer Institution, sondern um kollektive Zuschreibungen handelt. Identitätskonstruktionen sind dadurch immer auch zweckbestimmt. 18 v. Dietze, ebd, S. 97. Der Begriff (vom Medizinhistoriker Hans-Georg Hofer übernommen) bei Eduard Seidler/Karl Heinz Leven, Die Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Frei­ burg im Breisgau. Grundlagen und Entwicklungen, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage, Freiburg/München 2007, S. 618. Unmittelbar nach dem Krieg hatte v. Dietze ein etwas realistischeres Bild gezeichnet: Silke Seemann, Säuberungen [s.o Anm. 4], S. 337. Zum Gesellschaftsbild der FSZ: Hans Peter Herrmann, Studentische Politik in den 1950ern: Hochschulreform und Demokratisierung in der »Freiburger Studentenzeitung«, in: Archiv für Soziale Bewegungen (Hg.), Die Freiburger Studentenzeitung digitalisiert [DVD, erscheint 2012], Artikel »Das Dritte Reich und die Universitäten«, in: Freiburger Studentenzeitung 1960/5, S. 8 f. — Im Jahr zuvor hatte der ZEIT-Journalist Paul Hühnerfeld die Rektoratsrede mit einer vehementen, anspruchsvollen Heidegger-Kritik öffentlich gemacht: Paul Hühnerfeld, In Sachen Heidegger. Versuch über ein deutsches Genie, Hamburg 1959. — Constantin von Dietze übrigens hat sich durch das Wort vom »Versagen der Universität« persönlich gekränkt gefühlt (v. Dietze, Universität [s.o. Anm. 15], S. 105) — zu Recht, was seine Person anbelangt. Aber seine Reaktion zeigt, wie sehr er in seinem eigenen Bild der Universität verfangen war. 23 ö In: Franz Büchner, Von der Größe und Gefährdung der modernen Medizin, Freiburg [u.a.] 1961, S. 137-158. Büchner setzte sich darin kritisch mit der Weltanschauung des Nationalsozialismus auseinander und wandte sich gegen Vorwürfe über sein Verhalten im »Dritten Reich«. Zu diesen Vorwürfen Seidler, Fakultät [s.o. Anm. 19], 3. Aufl. S. 607 f. Nach Seidler (ebd, S. 582 f., 614 ff.) hat Büchner, Seltenheit unter Ordinarien, nach 1945

80 offenbar die Beschäftigung mit der bisher verdrängten Vergangenheit als Aufgabe erkannt. Allerdings begann jetzt auch auf der halbamtlichem Ebene der Universität, im Studium generale, eine Serie von einschlägigen Arbeitsgemeinschaften, Vorträgen und Vortragsreihen, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten und sich mit Pausen durch die 1960er und 1970er Jahre zogen. Es lohnt, auf sie einzugehen.

1961 f f : Die unerledigten Aufgaben melden sich zurück Im Sommersemester 1961 veranstaltete der Politologe Arnold Bergstraesser ein Internationales Wochenendseminar auf dem Schauinsland zum Thema »Der Nationalismus«;24 im Sommersemester 1963 hielt der Historiker Hans-Günter Zmarzlik einen Vortrag zum Thema »Sozialdarwinismus und Menschenwürde«. Bergstraesser (Jahrgang 1896), hatte 1937 Deutschland verlassen müssen, war 1954 aus den USA auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Wissenschaftliche Politik in Freiburg berufen worden und machte seine Studierenden mit amerikanischer Soziologie und einem modernen Demokratieverständnis bekannt; Zmarzlik (Jahrgang 1922) hatte sich 1961 mit einer Arbeit über den Sozialdarwinismus habilitiert. Ein Emigrant und ein engagierter jüngerer Kollege begannen an der Freiburger Universität mit der institutionsgestützten öffentlichen Diskussion über die Ideologie des »Dritten Reiches« und ihre Wurzeln in der deutschen und europäischen Kultur. — Weitere Veranstaltungen folgten, 1965 noch einmal Zmarzlik über »Politische Biologie im Dritten Reich« (im Rahmen einer dreiteiligen Arbeitsgemeinschaft »Die >Rasse< in der Ideologie des Nationalsozialismus«), 1966 Manfred Wolfson (Frankfurt) über die SS, und im Wintersemester 1969/70 eine fünfteilige Vortragsreihe (plus einem Diskussionsabend) im Auditorium Maximum: »Beiträge zur Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich«.25 Mit dieser Reihe, angekündigt als »dies academicus« der Universität, sollte Freiburg offiziell und ausdrücklich den Anschluß an diejenigen Universitäten erreichen, die eine erste »Auseinandersetzung einzelner Fachwissenschaften mit ihrer Vergangenheit während des Dritten Reiches« bereits absolviert hatten. So die Absicht des Juristen Hans Thieme,26 der schon 1961 während seines Rektorats eine überregionale Ausstellung, »Dokumente totalitärer Justiz«,27 in der Freiburger Hochschule eröffnet hatte und jetzt die Vortragsreihe organisierte. Er bezog sich damit auf die

öffentlich und nichtöffentlich mehrfach versucht, seine Kollegen zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Rolle im Nationalsozialismus zu bewegen. Im Folgenden, wenn nicht anders gesagt, alle Angaben zu Veranstaltungen des Studium generale nach den gedruckten Programmen des jeweiligen Semesters. Im gleichen Semester auch ein Einzelvortrag von Harald Deutsche (Minnesota) über »Der Widerstand gegen Hitler in historischer Perspektive«. Dies nach den entsprechenden Akten im Universitätsarchiv Freiburg: UAF C46/61, »Dies Universitatis WS 1969/70«. Zur Geschichte und zum Kontext dieser heute weitgehend vergessenen Ausstellung mit Dokumenten über die Sondergerichtsjustiz des Nationalsozialismus und die Weiterbeschäftigung dort beteiligter Juristen im bundesrepublikanischen Staatsdienst: Stephan Alexander Glienke, Die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« (1959-1962). Zur Geschichte der Aufarbeitung nationalsozialistischer Justizverbrechen, Baden-Baden 2008. Dort über die Freiburger Ausstellung S. 129-134.

81 Vorlesungsreihen, mit denen 1964 bis 1966 die Universitäten Tübingen, München und Berlin erste, wenn auch recht allgemeine und zeitgebundene Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus begonnen hatten, oft entlang der Leitvorstellung, daß die Anfälligkeit einzelner Fächer für den Nationalsozialismus aus ihrer Nähe zu nationalen Ideologien zu erklären sei, denen sie schon im 19. Jahrhundert bereitwillig gefolgt wären, statt sich an die Prinzipien reiner Wissenschaft zu halten.28 Es scheint also falsch, wenn immer wieder kolportiert wird, daß die Freiburger Universität im Gegensatz zu den als Signal verstandenen Ringvorlesungen in Tübingen, München und Berlin eine eigene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vermieden und sie erst 1988 nachgeholt hätte. Allerdings kam das, was hier 1969 versucht wurde, zu spät, geriet wenig überzeugend und wurde wohl zu Recht nicht in einem eigenen Band veröffentlicht. Schon der Umfang der Freiburger Reihe zeigt Unterschiede. Hatten z.B. in Tübingen 1963/64 dreizehn Kollegen mit z.T. großen Namen (Theodor Eschenburg, Hans Rothfels, Andreas Flitner) sowie zwei aufstrebende Mitglieder der »Flakhelfergeneration« (Hermann Bausinger und Ralf Dahrendorf) für eine große fachliche und thematische Breite gesorgt, so waren in Freiburg nach Absagen, vor allem von den Naturwissenschaftlern, mit Mühe gerade mal fünf Vorträge zusammengekommen.30 Einen wichtigen Freiburger Kenner, Zmarzlik, hatte Thieme zudem aus hochschulpolitischen Gründen gar nicht erst angesprochen.31 Und die

28 Andreas Flitner (Hg.), Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität, Tübingen 1965; Helmut Kuhn (Hg.), Die deutsche Universität im Dritten Reich, München 1966; Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Berlin 1966. Zu Tübingen und dem Streit, der der dortigen Vorlesungsreihe vorausging: Karl Christian Lammers, Die Auseinandersetzung mit der »braunen« Universität. Ringvorlesungen zur NS- Vergangenheit an westdeutschen Hochschulen, in: Axel Schild u.a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, S. 148-165. Auch in München (WS 1965/66) und Berlin (SS 1966) waren die Themen, prominent besetzt, breit gestreut und behandelten kritisch vor allem allgemein-ideologische Entwicklungen an den Universitäten. 30 ö Hans Thieme, Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus; August Franzen, Die Kirchen im Dritten Reich; Andreas Hillgruber, Die »Endlösung« und das deutsche Ostimperium als Kernstück des rassenideologischen Programms des Nationalsozialismus; Helmut Baitsch, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus; Karl S. Bader (Zürich), Strafverteidigung vor deutschen Gerichten im Dritten Reich. Die Vorträge liefen im Wochenrhythmus vom 22. Oktober bis 3. Dezember mit einem allgemeinen »Diskussionsabend« am 10. Dezember. Zmarzlik hatte sich 1961 mit einer Arbeit über den Sozialdarwinismus habilitiert und seither auch zum Antisemitismus veröffentlicht. — Über die Gründe berichtete Thieme (1906-2000) brieflich an den Biologen Hassenstein, nach Rücksprache mit Kollegen habe er von der ursprünglich geplanten Anfrage bei Zmarzlik »Abstand genommen, weil die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen war, der sehr stark engagierte Kollege Zmarzlik werde womöglich dem Thema eine Wendung allzu aggressiven Charakters im Sinne seiner eigenen politischen Überzeugung geben.« UAF C46/61. - Zmarzlik hatte sich 1967/68 in den Hochschulreformdiskussionen für eine gemäßigte Demokratisierung der Universität eingesetzt, zusammen u.a. mit dem damaligen Dekan Eggebrecht (der meiner Erinnerung nach damals bei seinen Ordinarienkollegen als »Linker«, bei den Studierenden und im »kritischen Mittelbau« der Assistenten und Akademischen Räte als »Linksliberäler« galt).

82 Konzeption litt unter Halbherzigkeit und unter den Spannungen auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen. ‘ In Tübingen, München und Berlin hatten die Verantwortlichen sechs Jahre zuvor die zunehmend kritischer werdende studentische Öffentlichkeit als Gesprächsangebot und als Aufforderung zu ernsthafter, universitäts-kritischer Selbstreflexion verstanden; viele der Redner berichteten denn auch erstmals darüber, wie in ihren Fächern der Nationalsozialismus ideologisch vorbereitet worden war, und zumindest aus Tübingen wurde von erfolgreichen Diskussionen mit den Studierenden berichtet.32 33 1969 in Frei­ burg hingegen planten Thieme und seine Kollegen ihre Reihe gerade nicht als selbstkritisches Gesprächsangebot an die Studierenden, sondern als deren paternalistische Belehrung.34 In Thiemes eigenem, das Ganze einleitenden Vortrag trat die angestrebte fachspezifische »Auseinandersetzung« mit dem Nationalsozialismus denn auch immer wieder zurück hinter Passagen der Selbstrechtfertigung und hinter seinem Versuch, den studentischen Hörern die Schwierigkeiten eines Professorenlebens im »Dritten Reich« nahezubringen, um Respekt für seine Genera­ tion einzufordern.35 Das blieb hinter dem Niveau und den Ergebnissen der anderen Universitäten zurück und stieß zumindest bei »politisierten« Studierenden auf Ablehnung.36 Allerdings: In keiner der Ringvorlesungen an westdeutschen Universitäten der 1960er Jahre ist es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Institutionen, Personen und Handlungen der eigenen Universität während des »Dritten Reichs« gekommen. Dafür fehlten vorerst der eigene Aufklärungswille, ein hinreichender gesellschaftlicher Druck und das nötige Wissen. Auch in den Freiburger Studium-generale-Vorträgen ist

32 Unter anderem waren im Januar 1969 Studenten zu einer »Besetzung« in das Akademische Rektorat eingebrochen, hatten im Gästebuch der Universität Einträge von Roland Freisler, Theodor Maunz und anderen Nazigrößen entdeckt und ihren Fund öffentlich gemacht. Ein später Rückblick auf diese Aktion: Walter Mossmann, realistisch sein: das unmögliche verlangen. Wahrheitsgetreu gefälschte Erinnerungen, Berlin 2009, S. 107-113. Siehe das Nachwort des Rektors, Hermann Diem, in Flitner, Geistesleben [s.o. Anm. 28], S. 257 ff. Thieme schrieb, er wende sich vor allem an Kollegen, »die das Geschehen während des 3. Reiches noch aus persönlichem Erleben kennen und es der jungen Generation darzustellen vermögen, denn es besteht durchaus die Gefahr, dass die letztere vieles vereinfacht und vergröbert, schiefe oder ungerechte Urteile fällt und sich in den Akzenten irrt.« Der Geologe Max Pfannenstiel (1902-1976) bestätigte Thiemes Konzept in seiner Antwort: »In der Tat ist es ein guter Gedanke, der Jugend zu zeigen wie fürchterlich das 3. Reich war. Vielleicht merkt sie, dass die heutige Zeit nicht minder gefahrvoll ist.« UAF C46/61. Der Text im Konvolut C46/1777 des UAF. Die Vorträge von Franzen und Hillgruber habe ich nicht gefunden; sie dürften sachliche Berichte über das jeweilige Thema gewesen sein. Baitsch hatte immerhin das Universitätsfach Anthropologie in seine Darlegungen mit einbezogen: Helmut Baitsch, Die Rassenbiologie des Nationalsozialismus, in: H. Autrum, U. Wolf (Hg.), Humanbiologie. Ergebnisse und Aufgaben, Berlin [u.a.] 1973, S. 64-74. — Eindrücklich ist der Text von Karl S. Bader, ein sehr klarsichtiger und nüchterner Bericht eines aufrechten Zeitzeugen über die Widersprüche in der Praxis des NS-Rechtssystems: K.S. Bader, Strafverteidigung vor deutschen Gerichten im Dritten Reich, in: Juristenzeitung 1972, S. 6-12. - Zu Bader, der wegen seiner Ehe mit einer Jüdin 1933 aus dem Staatsdienst entlassen worden war: Alexander Hollerbach, Karl Siegfried Bader in Freiburg, in: Hollerbach, Jurisprudenz in Freiburg, Tübingen 2007, S. 373-396. Artikel »Unheilvolle Verstrickung. Wie die Freiburger Universität den Faschismus bewältigte«, Freiburger Studentenzeitung 1969, Heft 9 (4. Dezember), S. 8 f.

83 eine solche Selbstreflexion in den einschlägigen Titeln bis in die 80er Jahre nicht zu finden (ob in den Veranstaltungen selbst, wäre zu untersuchen). Aber immerhin griffen sie, nach einer siebenjährigen, durch Studentenbewegung und Hochschulreform bewirkten Pause, das Thema wieder auf: »1933 und die Kontinuität in der Neueren deutschen Geschichte« (Thomas Nipperdey, 1976/77); »Das Land Baden in der Zeit des 3. Reiches« (Hugo Ott, 1979/80); »Widerstand im Dritten Reich« (4 Vorträge 1982, darunter kein Titel zum »Freiburger Kreis«); »Faschismus, Nationalsozialismus, Neue Rechte — Ursachen und Wirkungen« (5 Vorträge 1982/83); schließlich »Nationalsozialistischer Völkermord — Ideologischer Hintergrund, Durchführung und juristische Ahndung«, eine neunteilige Vortragsreihe im Sommersemester 1983 mit vielen auswärtigen und ausländischen Autoren, einem Filmabend und einer Besichtigung des KZs Natzweiler-Strutthof im Oberelsaß. So bot Freiburg bis zum Beginn der 1980er Jahre ein zwiespältiges Bild.37 Im Studium generale kam ein durchaus zeitgemäßes Problembewußtsein zu Wort, aber eine offizielle erinnerungspolitische Bekundung der Universität gab es nicht, und das einzige Mal, als Freiburger Professoren im Namen ihrer Hochschule Stellung beziehen wollten, war das Ergebnis eher kläglich geraten. Daß in der 1960ern überhaupt eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Ideologie des »Dritten Reichs« begonnen hatte, war bekanntlich kein universitärer Alleingang. Eine Kette unerwarteter Ereignisse hatte die intellektuelle Öffentlichkeit in Deutsch­ land aufgewühlt: 1958 der Ulmer Einsatzgruppenprozeß, 1959/60 eine Serie antisemitischer Schmierereien in der Bundesrepublik, 1960 die Gefangennahme Adolf Eichmanns mit dem anschließenden Prozeß in Jerusalem und, mit besonders nachhaltiger Wirkung, Dezember 1963 bis August 1965 der große Auschwitzprozeß in Frankfurt.38 Diese erste Sensibilisierung hatte auch die Universitäten, die Geschichts- und andere Fachwissenschaften erreicht und in den bereits erwähnten vergangenheitskritischen Vorlesungsreihen ihren Niederschlag gefunden. Damals wurden zwei wichtige Einsichten formuliert, die später weiter ausgearbeitet wurden: daß nämlich die Anfälligkeit der akademischen Intelligenz für den Nationalsozialismus nicht ohne ihre Herkunft aus den autoritären Strukturen und dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts zu begreifen sei und daß ihre Distanz zum demokratischen Projekt der Weimarer Republik es war, die sie den Nazis in die Arme trieb. Doch Ende der 1960er Jahre hatte sich das ideologiekritische Paradigma dieser ersten kritischen Welle vorerst erschöpft.39 Zudem waren die universitären Vorlesungsreihen unter linke Kritik und in den Verdacht geraten, ein »bürgerliches« Rechtfertigungsunternehmen zu sein, das die Kontinuitäten zwischen dem

37 Einzelvorträge im Studium generale zum Nationalsozialismus in den 80er Jahren habe ich im Folgenden nicht mehr aufgeführt. Dazu das Kapitel »Die >Rückkehr< der Vergangenheit 1958-1961« in: Detlef Siegfried, Zwischen Aufarbeitung und Schlußstrich. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden deutschen Staaten 1958-1961, in: Axel Schild, Dynamische Zeiten (s.o. Anm. 28), S. 77-113, hier S. 78-91. 39 Welches ? Erkenntnispotential weiterhin in einem ideologiekritischen und dis- kursanalytischen Untersuchungverfahren steckt, zeigt Hausmanns umfassende Querschnittsdarstellung: Frank-Rutger Hausmann, Die Geisteswissenschaften im »Dritten Reich«, Frankfurt a.M. 2011.

84 Nationalsozialismus und der Bundesrepublik verschleiere.40 Zwar fand der pauschale »Faschismusverdacht« gegen den westdeutschen Staat, den die Marxisten dabei erhoben, in der bürgerlichen Öffentlichkeit keine Resonanz, und die Bemühungen um eine eigenständige marxistische »Faschismustheorie« im linken Lager drehten sich bald im Kreis und trugen wenig zu einer konkreten Erforschung des deutschen Nationalsozialismus bei. Aber zur gleichen Zeit wurden immer mehr Details über die NS-Vergangenheit hochrangiger Mitgliedern der bundesdeutscher Verwaltungs-, Wirtschafts- und Justizeliten bekannt und ließen tatsächlich viele Kontinuitäten erkennen. So kam es, daß die 1970er Jahre mit heftigen vergangenheitspolitischen Diskussionen angefüllt waren; in den Universitäten, in den Medien und in vielen Familien spielten Vorwürfe und Vorwurfsabwehrstrategien über die Beteiligung der Vätergeneration am Nationalsozialismus eine große Rolle. Aber diese im Einzelnen oft durchaus nützliche Aufgeregtheit förderte vorerst wenig an generalisierbaren Einsichten über die Verwicklung der deutschen Gesellschaft in den Nationalsozialismus zu Tage. So läßt sich also schließen, daß die erwähnte Aufarbeitungspause in den 1970ern nicht nur darin ihren Grund hatte, daß die politischen Unruhen der Studentenbewegung und der RAF-Zeit die Universitäten beschäftigten, wie oben gesagt; sie kam offenbar auch aus der Notwendigkeit, überhaupt einen Ansatz für eine weitere sinnvolle Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zu finden. Denn was hier geschehen war, war ein neues Phänomen, ein Schock, der die allgemeine Krise dieses Jahrzehnts zusätzlich verschärfte: erneut war der westdeutschen Gesellschaft die Erblast der eigenen Vergangenheit auf die Schultern gefallen, nunmehr ganz nah und konkret am eigenen Leib, als Taten ihrer eigenen angesehenen und vertrauten Mitglieder. Und die Gesellschaft wußte vorerst nicht, wie damit umzugehen. Das änderte sich gegen Ende des Jahrzehnts. Die heftige Zeit der Studentenbewegung und die ihr folgenden Jahre politischer Verunsicherungen und gesellschaftlicher Experimente hatten in der westdeutschen Öffentlichkeit und in den sie tragenden bildungsbürgerlichen Kreisen einen weitreichenden Selbstreflexions- und Neubestimmungsprozeß in Gang g e s e t z t . Er war die Voraussetzung dafür, daß um 1980 hemm auch die akademischen Eliten in größerer Breite als bisher die Einsicht zuließen und als öffentlichen Diskurs auszuarbeiten begannen, daß der Nationalsozialismus ihnen nicht von außen angetan worden war, sondern daß ihre Hochschulen das »Dritte Reich« selbst mit heraufgeführt hatten und durch ihr eigenes Handeln Teil seines Herrschaftssystems gewesen waren. Wissenschaftliche Spezialuntersuchungen aus den 1970ern und der bundesweite Erfolg der Holocaust-Fernsehserie 1978 hatten bei dieser Erkenntnis mitgewirkt; sie hatte, wie gezeigt, auch in Freiburg dazu geführt, daß das Thema im Studium generale ab 1976 wieder aufgegriffen wurde. Von besonderer Bedeutung für diese neue Periode von Vergangenheitsdiskussionen an den Universitäten waren dann die bundesweiten Vorbereitungen auf das Gedenkjahr 1983, fünfzig Jahre nach Machtergreifung und

40 So Wolfgang Fritz Haug: Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten, Frankfurt a.M. 1967 u.ö. Haugs Schrift hatte mit ihrer scharfsichtigen Kritik und ihrer standpunktfesten Kompromißlosigkeit damals großen Erfolg in der akademischen Intelligenz.

85 Bücherverbrennung. — Aber bevor davon für Freiburg die Rede sein kann, muß ich noch einmal zurückgehen und das zweite Thema behandeln, mit dem im Freiburger Studium generale nach 1957 die NS-Vergangenheit in den Blick genommen wurde.

1980/81: Interesse für das Schicksal der Anderen, die Juden Es begann mit besonderen Vorsichtsmaßnahmen. Im Sommer 1964 lud der Tutor des Studium generale im Namen des verantwortlichen Leiters, Prof. Eugen Fink, den Freiburger Neutestamentler Anton Vögtl e zu einer Vortragsreihe ein: »Der Anteil des Judentums an der deutschen Geistesgeschichte« oder »Jüdische Einflüsse in der deutschen Geistesgeschichte« — der genaue Titel sei noch offen.41 Gedacht sei an eine Arbeitsgemeinschaft, »d.h. an einen kleineren übersichtlichen Zuhörerkreis«. Und: man habe diese Pläne mit Herrn Marx beraten, »der mit ihnen durchaus einverstanden ist, uns jedoch darauf aufmerksam gemacht hat, keinesfalls jüdische Referenten zu wählen, damit die Sache nicht nach Propaganda aussieht«. Daß Fink angesichts der belasteten deutsch-jüdischen Vergangenheit sich der Zustimmung eines der wenigen zurückgekehrten Juden im Kollegium versicherte, des Philosophen Werner Marx, der soeben als Nachfolger auf Heideggers Lehrstuhl in Freiburg berufen worden war, — das scheint selbstverständlich; daß Marx davor warnte, nicht in den Verdacht einer Propaganda-Veranstaltung zu geraten, zeigt, wie sehr auch 1964 mit antisemitischen Verdächtigungen in Westdeutschland zu rechnen war. Das war allerdings nicht die einzige Schwierigkeit. Neben Vögtle hatte man noch bei Walter Muschg in Basel, beim Musikwissenschaftler Eggebrecht und beim Kunst­ historiker Bauch angefragt. Eggebrecht allerdings hatte wegen Arbeitsüberlastung abgelehnt und zugleich auf die inhaltliche Belastetheit des Themas in der Musikwissenschaft hingewiesen:

Hinzukommt, daß das Arbeitsthema »Juden und Judentum in der Musik« (das ich als Vortrag seitens der Musikwissenschaft konkret formulieren würde: »Wagner, Mahler und Schönberg«) so schwierig ist, daß ich mich vor öffentlichen Formulierungen scheue. Diese Schwierigkeit wird auch der Grund dafür sein, weshalb keiner meiner Assistenten und Schüler sich da herantrauen wird.

Die Arbeitsgemeinschaft fand im WS 1964/65 statt.42 Wer von den anfangs Eingeladenen dort gesprochen hat, ist im Programmheft des Studium generale nicht verzeichnet; das Thema fand offenbar Anklang, es wurde im Sommer 1966 wiederholt.43 Und im SS 1965 hatte auch Gottfried Schramm einen Einzelvortrag über »Die Juden als soziales Problem« gehalten, im SS 1966 gab es einen »Doppelvortrag« mit zwei auswärtigen Referenten über »Der Anteil der Juden an der europäischen Kul­ tur«. Dann allerdings verschwand das Thema »Juden« und »Judentum« für über ein

Die Quellen für das Folgende: UAF B18/8: »Veranstaltungen 1959 — SS. 1965«. An drei Abenden, unter der Leitung von Doz. Dr. G. Schmidt, Dr. B. Caspar, Dr. J. Storck und mit dem entschiedeneren der beiden angedachten Titel: »Der Anteil des Judentums an der deutschen Geistesgeschichte«. Es erschien jetzt als der erste Titel eines »Doppelvortrag«, dessen anderer Teil die übliche christozentrische Perspektive umkehrte: »Jüdische Fragen an das Christentum«.

86 Jahrzehnt aus dem Programm des Studium generale — auch hier also eine Lücke im Prozeß der Vergangenheitsbearbeitung bis weit in die 1970er Jahre hinein. Doch 1977 tauchte das »Judenthema« mit dem Vortrag des israelischen Gelehrten E. Gutmann wieder auf (»Status-quo-Politik in Israel: Religion und Staat«); ihm folgte 1979 Salcia Landmann mit »Deutscher Nationalismus und Zionismus« und im WS 1980/81 die bisher umfangreichste Vorlesungsreihe des Studium generale überhaupt, eine Ringvorlesung des Historischen Seminars, angeregt vom Historiker Bernd Mar­ tin, zwölf Vortragsabende mit Freiburger Historikern und drei mit ausländischen Gelehrten besetzt, vor überfüllten Hörsälen gehalten, im Programm des Studium generale ohne übergreifenden Titel angekündigt (auch dies ein Unikum) und 1981 als dtv-Taschenbuch erschienen,44 1985 bereits in 4. Auflage: »Die Juden als Minderheit in der Geschichte«. Die Vorlesungsreihe war ein umfassend angelegter Versuch, in ausgewählten Kapiteln von der Antike bis zum Nationalsozialismus die Geschichte der europäischen Juden nachzuzeichnen. Sie berichtete von frühen Diffamierungen und Pogromen, von der »Judenemanzipation«, vom modernen Antisemitismus und von der Judenverfolgung und -Vernichtung durch die Nationalsozialismus. Sie sollte zur Information dienen »über die Schicksale einer Minderheit [...], von der die Jüngeren nichts wußten und die Älteren so lange nichts wissen wollten«.45 Sie war ein wichtiger Beitrag zur intellektuellen Wiedergutmachung an denen, die von der deutsche Vemichtungspolitik des »Dritten Reiches« am umfassendsten betroffen waren. Und sie durchbrach den Ring nationaler Identitätskonstruktionen, bei denen »die Juden« immer auf das Bild des Fremden festgelegt worden waren. Mit grundsätzlichem Anspruch wurde hier nach der Wirklichkeit jüdischer Schicksale und nach der Herkunft und Wirkung antijüdischer und antisemitischer Verfolgungen gefragt. Das war ein wichtiger Schritt aus dem selbst geschaffenen Gefängnis nationaler Vorurteile heraus, in dem sich die deutsche Professorenschaft seit dem 19. Jahrhundert eingemauert hatte. Der Band hat denn auch erhebliche Bedeutung gehabt bei der schrittweisen Hinwendung der deutschen Geschichtswissenschaft zum »Holocaust« seit Beginn der 1980er Jahre.46 Ob und in welcher Weise die Freiburger Universität selbst am Unrecht gegen ihre jüdischen Mitbürger beteiligt war, wurde dabei nicht thematisiert, obwohl eine erste

44 Bernd Martin, Ernst Schulin (Hg.), Die Juden als Minderheit in der Geschichte, München 1981 u.ö. Vorwort der Herausgeber, ebd. S. 8. Diese Hinwendung ist Thema eines Aufsatzes von Reinhard Rürup: »Die deutsche Geschichtswissenschaft und die deutsch-jüdische Geschichte« (erscheint 2012 in einem Aufsatzband Rürups zur neueren deutsch-jüdischen Geschichte im Wallstein-Verlag, Göttingen). Auch Rürup weist auf die Bedeutung der 1970er Jahren hin, die mit ihren neuen sozialen Bewegungen und ihrer Aufmerksamkeit auf Minderheiten auch das öffentliche wie das wissenschaftliche Interesse für die Juden gesteigert hätten. — Für das 19. Jahrhundert informiert die Arbeit von Ernst Schulin, »Das geschichtlichste Volk«. Die Historisierung des Judentums in der deutschen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, in: Ernst Schulin, Arbeit an der Geschichte. Etappen der Historisierung auf dem Weg zur Moderne, Frank- furt/New York, S. 114-163. Auch der Aufsatz zur »Judenverfolgung und -Vernichtung unter der nationalsozialistischen Diktatur« von Bernd Martin (in Martin/Schulin, Die Juden [s.o. Anm. 44], S. 290-315) behandelt nur kurz die Freiburger Situation in der Stadt und bei den Studierenden und geht dann rasch zu ideologischen und strukturellen Fragen seines Themas über. Die Situation der

87 einschlägige Untersuchung bereits 1964 in den Freiburger Universitätsblättem veröffentlicht worden war.48 Noch hielt die akademische Illusion, Antisemitismus und judenfeindliche Handlungen seien eine Sache der Nazis und der Volksmassen gewesen.

1982: Konfrontation mit der Realität: »Der Weg der Freiburger Universität ins Dritte Reich«. Auch das >kleine< 525er Jubiläum im Jahr 1982 wurde von der Universität nicht dazu genutzt, sich der eigenen »belasteten« NS-Vergangenheit zuzuwenden. Zwar beschwor der Rektor in der unvermeidlichen Festschrift ausdrücklich die »Erinnerung« an die »eigene Geschichte« als »eine Lebens- und Überlebensnotwendigkeit« der Universität, aber dabei schrumpften die im Jubiläumstitel in Anspruch genommenen »525 Jahre Universität Freiburg« auf ganze 25 Jahre zusammen: kein Beitrag der Fest­ schrift griff substantiell hinter das vorige Jubiläum von 1957 zurück. Die Zeit des Nationalsozialismus und der Entnazifizierung waren in Freiburg immer noch vermintes Gelände.50 Doch inzwischen waren zu viele Details über die aktive Rolle deutscher Universitäten und ihrer Professoren im Nationalsozialismus öffentlich diskutiert worden als daß diese Verweigerung noch problemlos durchgehen konnte, zumal jetzt nicht mehr nur Schriften und Meinungen zur Debatte standen, sondern auch Reden und Taten.51 Bereits 1977 hatte die Nachbar-Universität Tübingen daraus Konsequenzen gezogen, zwei einschlägige Vorabstudien von Uwe Dietrich Adam in ihre Festschrift zum 500jähigen Bestehen der Hochschule aufgenommen und damit ihre nationalsozialistische Vergangenheit offiziell zum Bestandteil ihrer eigenen Geschichte

Freiburger jüdischen Kollegen und ihre Entlassung, die später in den öffentlichen Diskussionen wichtig werden sollte, kommt bei ihm nicht vor. Albrecht Goetz von Olenhusen, Die nationalsozialistische Rassenpolitik und die jüdischen Studenten an der Universität Freiburg i. Br. 1933-1945, in: Freiburger Universitätsblätter 49 [FUB], November 1964, S. 71-80. Universität Freiburg (Hg.), 525 Jahre Albert-Ludwigs-Universität , Freiburg 1982, S. 7. Gewiß: die tiefgreifenden Veränderungen der Universität in den vorausgegangenen 25 Jahren waren gravierend genug, um sie in die Mitte des Festprogramms zu rücken. Aber Indizien zeigen, wie bewußt 1982 zugleich jedes Eingehen auf die NS-Vergangenheit vermieden werden sollte. Der Plan eines Festvortrags zur »Geschichte der Universität« (UAF Bl 16/86, Aktenvermerk vom 4.8.1880) wurde stillschweigend fallengelassen, er hätte die NS-Zeit nicht aussparen können. Und dem Physiker Helmut Spehl wurde eine kritische Erwähnung der NS-Zeit aus seinem Festschriftbeitrag kurzerhand gestrichen, gegen den erklärten Willen des Autors. »Das Rektorat der Universität empfand solche Gedanken anscheinend als Nestbeschmutzung«, kommentierte die Stuttgarter Zeitung (Artikel von Ute Köhler am 16.11.1982; zum Vorgang UAF B164/0146). 1964-1968 hatte der Münchener Journalist Rolf Seeliger mit einer Serie einschlägiger Dokumente die nationalistischen und nationalsozialistischen Schriften namhafter, z.T. noch tätiger Universitätsprofessoren öffentlich gemacht: Rolf Seeliger (Hg.), Braune Universität, Bd. 1-6, München 1964-1968. Und 1964 hatte die »ZEIT« die Wahl des belasteten Bonner Germanisten Hugo Moser zum Rektor in Bonn hochgespielt und damit auch die Aberkennung der Ehrendoktorwürde für Thomas Mann durch die Bonner Universität 1936 wieder ins Bewußtsein gerückt.

88 erklärt.52 Als Freiburg 1982 nicht wagte, diesem Schritt zu folgen, kam es zum Konflikt innerhalb der Professorenschaft. Der Freiburger Neugermanist Carl Pietzcker hielt am 19.10.1982 einen Vortrag »Der Weg der Universität Freiburg ins Dritte Reich«, der als Beitrag zum Jubiläum (20.-22.10.) geplant war, den Pietzcker aber außerhalb des offiziellen Festprogramms halten mußte53 und der erweitert in einer vom uAStA herausgegebenen »Antifestschrift« erschien, zusammen mit einigen studentischen Beiträgen.54 Pietzcker hatte darin erstmals und schonungslos den Anpassungsprozeß der Freiburger Universität an das NS-Flerrschaftssystem 1933 anhand von Professorenreden, amtlichen Dokumenten und Zeitungsausschnitten rekonstruiert und die Bereitschaft von Dozenten und Studenten, dem NS-Regime vor- und zuzuarbeiten, aus der Ge­ schichte der deutschen Akademikerschaft seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts hergeleitet. Kernsatz seiner Rede war eine Einsicht, die inzwischen Allgemeingut ist, damals aber noch vielfach bestritten wurde: »Die Universität Freiburg war nicht wehrloses Opfer des Nationalsozialismus, sie arbeitete ihm vor — wie andere Universitäten auch«.55 Viele seiner Zitate — unter ihnen einschlägige von Martin Fleidegger — waren nicht neu, sondern stammten aus Schneebergers »Nachlese zu Heidegger« von 1962 und aus einer Freiburger Dissertation von 1970.56 Dennoch wirkte der Vortrag als Eklat; so hatte noch niemand der Freiburger Universität ex ca­ thedra den Spiegel vorgehalten. Ausdrücklich als Akt öffentlicher Erinnerung und Selbstreflexion der Wissenschaft vorgetragen, wurde er von vielen als Befreiung empfunden. Auf studentischer Seite hat er die Ringvorlesung sechs Jahre später mit angeregt; historisch markiert er die wichtigste Zäsur in der Auseinandersetzung der Freiburger Hochschule mit dem »Dritten Reich«. Der Tabubruch war von einer Position weit außerhalb des universitären »Establish­ ments« gekommen, bei dem Pietzcker damals als unzuverlässiger »Linker« galt. Er hatte in den späten 1960ern als Assistentensprecher Positionen einer radikal­ demokratischen Universitätsreform vertreten und in den 1970ern in einer Gruppe von Dozenten und Assistenten am Deutschen Seminar einen alternativen Studiengang mit aufgebaut, der marxistische, psychoanalytische und traditionell hermeneutische

52 Uwe Dietrich Adam, Die Universität Tübingen im Dritten Reich. I. Selbstaufgabe oder Gleichschaltung? Strukturen und Wandlungen einer Universität im Nationalsozialismus. II. Ideologie und Wissenschaft. Personalrekrutiemng und Wissenschaftsbetrieb, in: Hansmartin Decker-Hauff [u.a.] (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477-1977 (500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen), Tübingen 1977, S. 193-250. Am 19.10.1982 in der Aula. Die Universität argumentierte damals, der Vortrag sei zu spät angemeldet worden — nicht gerade überzeugend angesichts der 5 Wochen Zeit zwischen Pietzckers Anmeldung und dem Fest, zumal das Rektorat auch spätere Veranstaltungsanmeldungen noch im Programm untergebracht hat: FUB Fasz. B 116/90, Aktennotizen vom 14. und 20.9.1982. — Die Badische Zeitung meinte am 3.11.1982 zum Fest, mit dem Hinweis auf Pietzckers Vortrag: »die Jahre (des Nationalsozialismus) werden von offizieller Seite nur allzu gern ausgespart«. In: Unabhängiger Allgemeiner Studentenausschuß und Fachschaftsräte der Universität Freiburg (Hg.), Der Weg der Freiburger Uni ins 3. Reich, 1933-1983, 50 Jahre. Anti- Festschrift zur 525-Jahr-Feier der Universität Freiburg, Freiburg 1982, S. 3-10. 55 Ebd. S. 9. 56 Wolfgang Kreutzberger, Studentenschaft und Politik 1918-1933. Der Fall Freiburg i. Br., Göttingen 1972, (Diss. phil. Freiburg 1970).

89 Literaturwissenschaft zu verbinden suchte und in dem die Lehrenden gemeinsam mit Studierenden nicht-hierarchische Lehrformen entwickelten. Aber sein Vortrag durchkreuzte die hochschulpolitischen Fronten und trat mit dem Anspruch auf, für die Universität als Ganzes zu gelten. Ohne Polemik und Anklage, auf Faktenbeschreibung und Erklären gerichtet, enthielt er eine Vorstellung von Wissenschaft und Universität, die sich deutlich von dem Universitätsbild der Jubiläumsbeiträge unterschied. Dort hatte etwa der Orientalist Hans Robert Roemer die Freiburger Universität der letzten 25 Jahre als ein weitgehend ohnmächtiges Opfer gesetzgeberischer Reformwillkür, studentischer Aggressionen und öffentlichen Unverstandes gezeichnet. Und der Politologe Wolfgang Jäger hatte zwar den Philosophischen Fakultäten einen aktiveren, mitgestaltenden Part im Umstrukturierungsprozeß der 1970er Jahre zugestanden, hatte aber beim Seitenblick auf die NS-Zeit wiederum auf das Standardbild von den »Fluten des Nationalsozialismus« zurückgegriffen, gegen die man »so wenig [...] auszurichten vermocht habe«. Pietzcker hingegen verstand die Wissenschaft als aktiv und mitverantwortlich für die Entwicklungen in der NS-Zeit und sah in der Hochschule eine Institution, deren Identität auch die fragwürdigen Zeiten ihrer Vergangenheit umfaßt. In der Eingangspassage seines Vortrags wurde der Blick auf die Beteiligung von Wissenschaftlern am Desaster von 1933 zur Aufforderung für eine kritische Selbstprüfung der Gegenwart. Es gehe nicht um Empörung über die Taten der Vorgänger und Älteren, sondern um eine Frage an die Wissenschaftspraxis der jetzigen Generation, die den Fragenden mit einschloß. — Die Unterschiede im Wissenschaftsbild, die sich hier zeigten, waren nicht nur Unterschiede der Generationen: Roemer war 1915 geboren, Pietzcker 1936, Jäger 1940. Die Einstellung zur NS-Vergangenheit, der Wissenschaftsbegriff und das Universitätsbild der Beteiligten hingen jeweils eng miteinander zusammen. Die Revision im Selbstbild der Universität, die damit endlich angestoßen wurde, stand in einem größeren Kontext. Auch im Breisgau waren 1982 die bundesweiten Vorbereitungen auf das Erinnerungsjahr 1933 wahrgenommen worden59 und hatten

57 525 Jahre Albert-Ludwigs-Universität [s.o. Anm. 49], S. 127. »Warum ist die Wissenschaft, wie wir sie treiben, — warum und unter welchen Bedingungen sind wir als Wissenschaftler fähig und willens, Analyse und besonnene Reflexion im Bereich unseres Fachs und im gesellschaftlichen Leben zugunsten einer Macht zu opfern, die verspricht, gesellschaftliche Widersprüche vernunftwidrig zu lösen?« (Pietzcker, Der Weg [s.o. Anm. 54], S. 3). Während Freiburg 1982 mit seinem Jubiläum beschäftigt war, hatten andere Universitäten den Vorblick auf das Erinnerungsjahr 1933 benutzt, um mit umfangreichen Aufarbeitungsprojekten zu beginnen. Bereits im Mai 1982 hatten in Hamburg auf Initiative von Vizepräsident Ludwig Huber offizielle Planungsüberlegungen begonnen, wie mit dem Jahr 1983 umzugehen sei. Das Ergebnis war eine Vorlesungsreihe 1983 und ein voluminöses, dreibändiges Werk 1991, das ausdrücklich als Gedenk- und Wiedergutmachungsarbeit angelegt war: Eckart Krause [u.a.] (Hg.), Hochschulalltag im »Dritten Reich«. Die Hamburger Universität 1933-1945, Band I-III, Berlin/Hamburg 1991. — Und im Sommer 1982 hatte sich in Göttingen eine Projektgruppe gebildet, die 1987 ihren Aufsatzband vorlegte: Heinrich Becker [u.aj (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte, München [u.a.] 1987.

90 eine Unzufriedenheit mit der offiziellen Jubiläumsvorbereitung befeuert, die in Pietzckers Vortrag ihren Ausdruck fand und seine Wirkung erklärte. Der Rückblick auf 1933 wurde auch zum Anstoß für einen weiteren Freiburger Neuanfang, für den Beginn der Auseinandersetzung mit der Erblast Heidegger. 1983 gab Hermann Heidegger die Rektoratsrede und eine spätere Selbstrechtfertigung seines Vaters heraus und provozierte damit den Freiburger Wirtschaftshistoriker Hu­ go Ott zu einer kritischen Untersuchung von Martin Heideggers Rektoratsbeginn 1933, die dann, über eine Serie weiterer, Legenden auflösender Aufsätze Otts, zu seinem viel beachteten Heidegger-Buch von 1988 führte.60 Auch das machte Epoche, denn Heideggers Bedeutung und der Einfluß seiner erinnerungspolitisch sehr aktiven Anhängerschaft (im Freiburger Uni-Jargon »die Heidegger-Mafia« genannt) stellten immer noch einen, gelegentlich sogar sichtbaren, Grund dar für das Schweigen, mit dem Rektorat und Senat der Universität 40 Jahre lang die NS-Vergangenheit ihrer Hochschule bedachten. Der >größte Philosoph< des 20. Jahrhunderts, dieser Garant für die Bedeutung der Universität Freiburgs und ihrer Mitglieder, durfte nicht angetastet werden, indem man seine politischen Verfehlungen öffentlich verhandelte. Im Schutz des Heideggertabus konnte dann vieles, was um und nach 1933 an offiziellem Unrecht im Umkreis der Universität geschehen war, im Halbdunkel bleiben. Daß nun mit Ott (Jahrgang 1931) ein Konservativer unter dem Motto, »zu zeigen, wie es gewesen ist«, die politische Entmythologisierung Heideggers voranzutreiben begann — gegen welche Widerstände, ist in seinem Buch nachzulesen —, schlug eine Bresche in diese Flanke — oder war es das Mittelstück? — der Freiburger Schweigemauer. Die Veröffentlichung der Rektoratsrede hatte das Interesse an Heideggers Einstellung zum »Dritten Reich« auch über Freiburg hinaus geweckt; das veranlaßte die Freiburger Universitätsblätter zu einem entsprechenden Themenheft. Es kam nach längerer Vorbereitungszeit 1986 heraus. Doch vorher wurde die Universität auf einem ganz anderen Feld gedrängt, sich ihrer Vergangenheit genauer zu erinnern, als es bisher geschehen war.

1984: Das Problem der entzogenen akademischen Grade Die Tatsache, daß die deutschen Hochschulen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten jüdischen und politisch mißliebigen Akademikern den Doktorgrad entzogen hatten, war seit 1945 in der Öffentlichkeit immer wieder als ein besonderer Makel der deutschen Universitäten angeprangert worden. 1984 trat die Universität Freiburg mit einer Stellungnahme zu diesem Problem an die Öffentlichkeit.

Hugo Ott, Martin Heidegger: unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt/Main [u.a.] 1988. 61 Noch Anfang 1983 weigerte sich der Rektor der Universität, bei einer Gedenkversammlung der Stadt Freiburg zum 30. Januar 1983 der Bitte des Oberbürgermeisters nachzukommen, »einige Worte über Heidegger zu sagen«; die Rolle, »diesen heiklen Punkt [...] anzusprechen« mußte dann Freiburgs Oberbürgermeister übernehmen. So Rolf Böhme, Orte der Erinnerung — Wege der Versöhnung. Vom Umgang mit dem Holocaust in einer deutschen Stadt nach 1945, Freiburg [u.a.] 2007, S. 47. 62 Hugo Ott, Martin Heidegger und die Universität Freiburg nach 1945. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich, Historisches Jahrbuch 105, 1985, S. 95-128, hier S. 99.

91 »Auf Antrag seiner studentischen Mitglieder«63 beschloß der akademischen Senat am 15.02.1984 eine Ehrenerklärung für diejenigen, denen während der NS-Zeit aus politischen Gründen die akademischen Grade, Doktor und Ehrendoktor, aberkannt worden waren. Der Senat bedauerte darin das Geschehene, sagte in jedem Einzelfall auf Antrag Überprüfung und ggfls. Wiedergutmachung zu und beauftragte den Rektor, Volker Schupp, zu einem ausführlichen Bericht über das damalige Geschehen und den Stand der Wiedergutmachungen. Schupp legte den Bericht im Juli 1984 vor und veröffentlichte ihn im Dezember in den Freiburger Universitätsblättern. Beschluß, Berichtsvorlage und Veröffentlichung wurden jeweils in Presseerklärungen bekannt gemacht und in lokalen und überregionalen Medien mit z.T. durchaus kritischen Kommentaren begleitet. Der Bericht ist kurz, 7 Druckseiten, gefolgt von einem vierseitigen »Anhang« über den Fall des jüdischen Journalisten Alfons Goldschmidt. Den größten Platz nehmen Ausführungen über die Rahmenbedingungen ein: über die gesetzlichen Voraussetzungen 1933 und die nur teilweise rekonstruierbare Geschichte der Aberkennungen, — über steckengebliebene Bemühungen der Westdeutschen Rektorenkonferenz in den 50er Jahren, sich einen Überblick über die Fälle zu verschaffen und eine generelle Wiederverleihung zu bewerkstelligen, — und über eine Reihe rekonstruierbarer Fälle von Wiedereinsetzungen in Freiburg. Über die Freiburger Aberkennungen selbst wurde auf einer halben Seite berichtet, u.a. daß in etwa 135 Fällen die Universität akademische Grade entzogen hatte, die meisten, etwa 100, wegen der Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit durch ein NS-Gesetz vom 14. Juli 1933, das einen Entzug der akademischen Grade vorschrieb. Viel mehr gab das damals zugängliche Material im Uniarchiv nicht her; Namen nannte Schupp nur in wenigen Einzelfällen. Für Freiburg bedeutete Schupps nüchterner Bericht den ersten Schritt auf dem langen Weg der Universität, öffentlich zu ihrer Vergangenheit zu stehen und politische Verantwortung für sie zu übernehmen. Noch geschah das zögerlich, mit Formeln der Schuldabwehr und nur auf Druck von außen. Der Anstoß dazu war ja nicht etwa von den Ordinarien und nicht aus dem Rektorat gekommen, sondern von den Studierenden — und die hatten wohl nur deshalb mit ihrem Antrag Erfolg gehabt, weil es eine längere Vorgeschichte dazu gegeben hatte, mit medialer Aufmerksamkeit und mit einer Anfrage im Baden-Württembergischen Landtag.5 Doch auf welchem Weg

63 Volker Schupp, Zur Aberkennung der akademischen Grade an der Universität Freiburg. Ein Bericht, in: FUB 86, Dezember 1984, S. 9. Schupp ebd., S. 9-19; dort S. 1 der Wortlaut der Senatserklärung. Daß das Problem im Senat auf die Tagesordnung kam, ging offenbar auf Pietzckers Vortrag 1982 zurück und auf Aktivitäten der damals als »kommunistisch« diffamierten »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN«. Mitglieder der Freiburger Gruppe hatten nach Pietzckers Vortrag Kontakt mit ihm und dem uAStA aufgenommen; auf ihre Anregung hin hatte Pietzcker aus Unterlagen im Universitätsarchiv eine Liste von 19 Personen erstellt, denen die Freiburger Universität aus politischen Gründen die Doktorwürde aberkannt hatte — sehr bekannte Namen darunter —, und hatte diese Liste als Teil seines Vortrags in der »Anti-Festschrift« veröffentlicht (s.o. Anm. 54, S. 10). Daraufhin hatte die VVN beim Rektorat den Antrag gestellt, die Universität möge allen Betroffenen die Doktorwürde zurückgeben, DGB und uAStA hatten die Bitte unterstützt. Erst ein erneuter Aufruf der VVN vom Oktober 1983 hatte zu einer Antwort des neuen Rektors Schupp geführt, dann

92 auch immer: im Entscheidungsgremium der Universität hatte die Einsicht Fuß gefaßt, daß die Wiedergutmachung von im Nationalsozialismus verübten Unrecht kein nur privater und formaljuristischer Akt sein konnte (so war bundesweit die bisherige Pra­ xis), sondern daß sie eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse und gesellschaftlicher Verantwortung war. Der Rektor befestigte diesen Aspekt im Schlußwort seines Artikels.66 Der Schritt hatte überregionale Bedeutung. Mit ihm hatte zum ersten Mal eine Universität ihre Situation in dieser für die deutschen Hochschulen peinlichen Angelegenheit öffentlich dargestellt. Die Universitäten, auch Freiburg, hatten bisher bei Vorhaltungen darauf hingewiesen, daß sie einiges an Wieder-Zuerkennungen in Ordnung gebracht hatten, und das stimmte auch, aber es war durchweg im Verborgenen und je individuell vorgenommen worden, mit nur teilweise einleuchtenden Begründungen für diese Heimlichkeit.67 1984 durchbrach die Freiburger Initiative dieses Schweigekartell. 1988 stellte die Ständige Konferenz der Kultusminister umfangreiche Erhebungen bei den westdeutschen Hochschulen an, dann folgten auch andere Hochschulen mit einer Veröffentlichung.68 Inzwischen ist eine namentliche Gesamtliste von 1665 »Depromotionsverfahren« an deutschen Universitäten 1937-1945 im Internet zugänglich.69 In Volker Schupps Rektorat fiel auch der nächste Schritt auf dem nun eingeschlagenen Weg, die bereits erwähnte Ausgabe der Freiburger Universitätsblätter zu Heideggers Verwicklung in den Nationalsozialismus.70

1986: Die überfällige Auseinandersetzung mit Martin Heideggers Rektorat Das Themenheft war gegen erhebliche Widerstände aus dem Heidegger-Kreis (und entsprechenden Gegendruck der Heidegger-Gegner) durchgesetzt worden; es zeichnete ein komplexes, durchaus »ausgewogenes« Bild seines Gegenstandes.

zu der Landtagsanfrage der Grünen, zu einer Anweisung des Ministeriums und schließlich zum Senatsantrag der studentischen Mitglieder (Quellen: mündliche Auskunft Carl Pietzcker; Handakte Schupp, UAF B244/58 (eingesehen mit freundlicher Erlaubnis des Verf.); Daland Segler, Eine Universität verliert ihr Gedächtnis, Badische Zeitung 05.04.1984). Es war offenbar einiges nötig gewesen, um die Universität zum Handeln zu bringen. 66 Schupp a.a.O., S. 15. Die juristische Situation war kompliziert, und Rücksicht auf den Persönlichkeitsschutz der Geschädigten war sicher oft angebracht; doch die meist vagen und verdrucksten Antworten, mit denen Universitäten und Ministerien Anfragen beschieden und Vorwürfe abzuwehren suchten, lassen sich damit nicht erklären. Eine entsprechende Liste bei Margit Szöllösi-Janze/Andreas Freitäger (Hgg.), »Doktorgrad entzogen«. Aberkennungen akademischer Titel an der Kölner Universität 1933-1945, Nürnberg 2005. Auf der Webseite des Universitätsarchivs Leipzig: URL http:// www.archiv.uni- leipzig.de/universitatsgeschichte/die-ul-im-20-jahrhundert/aberkennungen-akademischer- grade/ (25.05.2011), dort S. 2. Ergänzend dazu, allerdings unvollständig und von 1999, eine »Übersicht über die Rehabilitationen und Gedenken nach 1945« in Hemmerles Nachtrag zu seiner Bibliographie (s.o. Anm.6), unter III.A. 70 Martin Heidegger. Ein Philosoph und die Politik, FUB 92, Juni 1986. Das Heft war bald vergriffen; die einschlägigen Texte wurden erneut veröffentlicht in: Gottfried Schramm/Bernd Martin (Hg.), Martin Heidegger. Ein Philosoph und die Politik, 2. erweiterte Ausgabe, Freiburg 2001.

93 Es enthielt — über das 1986 bereits Bekannte hinaus — weitere Fakten über Heideggers fatales Wirken 1933, aber auch Beiträge, die sein Handeln und dessen Wirkungen im Kontext seiner Philosophie und im Spiegel damaliger Zeitgenossen zu erklären und ein Stück zurechtzurücken suchten. Die Wirkung dieser 82 Seiten war groß; vor allem ein langes Interview mit dem emeritierten Philosophen Max Müller erregte Aufsehen, weil hier ein Heidegger Nahestehender neben ernsthaftem Verständnis deutliche Worte der Distanzierung fand und vor allem Heideggers Position nach 1945 als Flucht vor der eigenen Verantwortung kritisierte. Die Schlußpassage des Herausgebervorwortes von Bernd Martin und Gottfried Schramm kann zeigen, wie anstrengend und riskant, wie wenig selbstverständlich Heideggerkritik 1986 in Freiburg für die Beteiligten gewesen ist:

Möge dieses Heft ohne Selbstgerechtigkeit und ohne Zimperlichkeit gelesen werden. Wirklich strittig ist an unserem Thema nicht mehr viel. Das Wesentliche liegt längst am Tage. Aber es auszuhalten fällt — wie all unsere Besinnung auf eine unselige Vergangenheit — immer von neuem schwer.

»Nicht mehr viel strittig« sollte sich zwar als Irrtum erweisen; die Heidegger- Enthüllungen und der Heidegger-Streit gingen nach 1986 erst richtig los, auch an und in der Freiburger Universität. Aber der Schlußsatz behielt und behält seine Gültigkeit. Er könnte auch als Motto über dem »Fall Eggebrecht« stehen. Im Freiburger Kontext war das Wichtige an dem Heidegger-Heft, daß damit der Bann über der Freiburger Universitätsvergangenheit gebrochen war. Das zeigte sich auch an dem Selbstbild der Hochschule, das ihre Repräsentanten in diesem Heft vertraten. Rektor Schupp bezog jetzt ausdrücklich in die »Identität« der Universität »diese kritische Periode ihrer Geschichte« mit ein,72 und auch die Herausgeber, die Historiker Bernd Martin und Gottfried Schramm, sahen den »weltweiten Ruf« der Hochschule, den sie u.a. Heidegger verdanke, davon abhängig, daß die Freiburger Universität nun auch zu der »Bürde« stehe, »daß gerade dieser Mann 1933/34 ihr Rektor war«.73 Daß hier die nationalsozialistische Vergangenheit der Universität als Bestandteil ihrer Geschichte akzeptiert wurde, ist m.E. ein Schritt von allgemeiner gesellschaftspolitischer Bedeutung. Es war eine Kernvorstellung bildungsbürgerlichen Elitedenkens seit dem Deutschen Idealismus gewesen, daß akademische Bildung und Wissenschaft denen, die sie betreiben, per se einen hohen moralischen Status verleihen und damit ihren gesellschaftlichen Führungsanspruchs legitimieren würden. Nach 1945 war diese Vorstellung reaktiviert worden; der Hinweis auf die Jahrtausende alte abendländische Tradition der Universität und die Formel von der alltags- und politik-enthobenen Qualität des »Geistes«, dem Forschung und Lehre angeblich

Ebd. S. 10. Schupp hatte sich bereits 1984, ein Jahr nach Antritt seines Rektorats, um dieses Problem gekümmert und eigene Recherchen im Fall Heidegger angestellt (UAF B244/58, Handakte Schupp, Brief des Schiller-Nationalmuseums Marbach (Dr. Joachim W. Storck) an Schupp vom 24.X.1984). Ebd. S. 8 und 9.

94 »dienen«, wurden zu zentralen topoi der Nachkriegszeit.74 Mit beiden wurde die Besonderheit universitärer Arbeit und Ausbildung begründet, mit beiden den Hochschulen ihr herausgehobener Platz im diskursiven und finanziellen Gefüge der westdeutschen Gesellschaft gesichert. Und das kulturell tief verwurzelte, akademische Standesbewußtseins von der Besonderheit >geistiger< Arbeit war eine Voraussetzung dafür gewesen, daß viele deutsche Professoren mit innerer Überzeugung die gewaltsamen Ereignisse der NS-Zeit als etwas der Universität wesentlich Fremdes abwehren konnten, — wie auf der anderen Seite die Notwendigkeit, das eigene Selbstbild vor der Konfrontation mit den vielen >niedrigen< Handlungen und Motiven von >damals< zu schützen, zu der Verkrampfung beigetragen hat, mit der nach 1945 in den Universitäten am Ideologem einer besonderen, unanfechtbaren akademischen Würde festgehalten wurde. Es gibt im übrigen Anzeichen dafür, daß auch die individuelle Verdrängung persönlicher Beteiligung an nationalsozialistischem Unrecht nach 1945 oft über diesen Mechanismus gelaufen ist: anspruchsvolle Bildungsbürger, zumal wenn sie Ordinarien waren, konnten durch ihre Zugehörigkeit zur Akademischen Gemeinschaft die eigene Identität über eine Teilhabe am erhabenen Reich des >Geistes< definieren; dem gegenüber fielen dann die >niedrigen< Handlungen praktischer Gemeinheiten oder Unterlassungen — die eigenen wie die der Kollegen — nicht weiter ins Gewicht. Meines Erachtens nach steht Martin Heideggers Verhalten nach 1945 exemplarisch für dieses Selbstbild: ein Philosoph — allemal ein so großer — ist über die Niederungen seiner politischen Irrtümer erhaben. Die Akzeptanz, die Heidegger mit seiner Haltung bei vielen erfuhr, zeigt ihre Verbreitung. Volker Schupps und der Herausgeber Formulierungen von einer universitären »Identität«, die das politisches Handeln der Hochschule von 1933 einschließt, hatte im Prinzip mit diesem hierarchischen Gesellschafts-, und Universitätsbild gebrochen. Was sie hier schrieben zeigt, daß die Freiburger Universität damit begonnen hatte, sich in ihrem Rollenverständnis den egalitären Prinzipien eines demokratischen Gemeinwesens zu öffnen, zu der sich die bundesrepublikanische Gesellschaft in den 1970er Jahren auf den Weg gemacht hatte.75

1988/89: Das Ausmaß der eigenen Beteiligung wird sichtbar: Die Bangvorlesung Den nächsten Anstoß, der eigenen Vergangenheit ins Auge zu sehen, gab es im Wintersemester 1988/89, in einer Vorlesungsreihe »Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus«.76 An 12 Abenden berichteten Freiburger und auswärtige Wissenschaftler vor vollen Hörsälen über einzelne Freiburger Fakultäten,

74 Zur gleichen Entwicklung in Tübingen: Silvia Paletschek, Entnazifizierung und Universitätsentwicklung in der Nachkriegszeit am Beispiel der Universität Tübingen, in: Rüdiger vom Bruch (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik: Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 393-408. Alle drei Professoren gehören der Nachkriegsgeneration an: Schupp ist Jahrgang 1934, Mar­ tin 1940, Schramm 1929. Eckhard John, Bernd Martin, Marc Mück und Hugo Ott, Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus, Freiburg/Würzburg 1991. 95 Institute, Personen und übergreifende Themen zwischen 1933 (vereinzelt auch davor) und 1945. Der erste Vortrag fand im überfüllten Audimax statt, der Rektor, der Chemiker Christoph Rüchardt, leitete die Reihe mit einem offiziellen Grußwort ein, dann referierte Bernd Martin über den neuesten Stand seiner und anderer Forschungen zum Rektorat Heidegger, im Anschluß gab es eine, z.T. durchaus erregte, Diskussion. Diskussionen prägten auch den weiteren Verlauf der Reihe, die u.a auch zwei Beiträge über die Widerstandsgruppe der »Freiburger Kreise« und deren Nachkriegspläne enthielt, ergänzt durch eine eigene, gut besuchte Ausstellung, die parallel zur Ringvorlesung im Kollegiengebäude I stattfand, mit einem umfangreichen Katalog und einem eigenen Themenheft der Freiburger Universitätsblätlen1 Damit wurde erstmals offiziell, in repräsentativer Breite, kritisch und genau über Anpassungs- und über Widerstandsprozesse an der Freiburger Hochschule im »Dritten Reich« berichtet.78 Das ergab noch lange kein Gesamtbild, zumal wichtige Bereiche weiterhin im Dunkeln blieben, die Naturwissenschaften z.B. völlig ausgefallen waren. Aber aus dem Dämmerlicht von Vertuschungen und Verdächtigungen waren die realen Konturen von Personen und ihrem Verhalten aufgetaucht, es waren Handlungszwänge und Handlungsspielräume sichtbar geworden, manches erschien nun verständlicher, anderes um so brutaler, es wurden Unterschiede zwischen universitärem Alltag, Ideologie und Verbrechen benannt, aber auch Zusammenhänge zwischen ihnen deutlich gemacht. Erstmals zeichneten sich die Dimensionen auch der Freiburger »Verwicklung« in den NS-Herrschafts- und Unrechtsstaat ab. Und zumindest an einem Beispiel, dem der Medizin, war deutlich geworden, was denen angetan worden war, die in diesen Jahren aus der Universität ausgestoßen, verbannt oder umgebracht worden waren, und zu welch inhumanem Verhalten hochkultivierte Universitätsprofessoren gebracht werden konnten. Die Fassungslosigkeit über diesen Vorgang, die Eduard Seither an dieser Stelle seines Referats artikulierte, und die nachhaltige Wirkung seines Berichts in der Zuhörerschaft verweisen auf den Paradigmenwechsel, den die gesamte Vortragsreihe vorantrieb: es ging 1988 in der Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« nicht mehr vorrangig um Fragen der Weltanschauung, sondern in wachsendem Maß um die Ungeheuerlichkeiten praktischen Handelns und dessen Folgen. Die Ringvorlesung bedeutete den endgültigen »Abschied [...] von Bildern einer Universität, die in provinzieller Idylle kaum berührt von der Nazi-Herrschaft am >Dritten Reicht vorbeiträumte«.0

77 »Wiederhergestellte Ordnungen: Zukunftsentwürfe Freiburger Professoren 1942-1948«, FUB 102, Dezember 1988. 78 Kritische5 Aufarbeitungen zu einzelnen Universitäten gab es bis dahin für Tübingen 1977, Gießen 1982, Heidelberg 1982, 1985 (in mehreren Bänden), Göttingen 1987 und Köln 1987/88; mehr dazu s. oben Anm. 6. Am 11. April 1933 hatte der Dekan der Medizinischen Fakultät 38 beamtete jüdische Medizinerkollegen, vom Ordinarius bis zum Assistenten, fristlos endassen, auf Anweisung des Ministeriums, ohne jeden Widerstand der Fakultät und noch vor Erlaß der notwendigen Durchführungsbestimmungen für das Reichsgesetz »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7.4.1933. S. dazu Seidler in: John, Freiburger Universität [s.o. Anm. 76], S. 76 f. und ausführlicher in: Seidler, Medizinische Fakultät [s.o. Anm. 19], S. 305 ff. John a.a.O., S. 7, Vorwort der Herausgeber.

96 Auch hier gehört zum Bild, daß der kritische Impuls »von außen«, von der Peripherie in den Lehrkörper der Universität hineingetragen worden war, dieses Mal durch eine Gruppe von Studierenden, Mitgliedern eines Seminars zur Geschichte der deutschen Universität im »Dritten Reich« von Bernd Martin. Sie hatten übernommen, was Sache der gewählten Vertreter und etablierten Professoren gewesen wäre, hatten das Thema auf die Tagesordnung gesetzt und die Ringvorlesung organisiert, dem Studium generale angeboten und die einzelnen Vorträge eingeleitet. Vier der vierzehn Referentlnnen waren nicht promovierte Studierende; zwei Studenten, zwei Professoren bildeten das Herausgeberkollegium für den Band, in dem die Reihe, etwas erweitert, im Druck erschien. Und der Rektor, dessen Grußwort zur Vortragsreihe noch sehr defensiv ausgefallen war,81 konnte nicht umhin, die studentische Initiative in seinem Rechenschaftsbericht über das Akademische Jahr 1988/89 zu würdigen und »die Frage nach der Rolle der Universität Freiburg im Dritten Reich [...] zu einem zentralen Thema des akademischen Jahres« 1988/89 zu erklären.82 Auch dieses Unternehmen war nicht ohne Konflikte abgelaufen. Noch im Vorfeld hatten mehrere Vortragende, auch ich, unerwartete Schwierigkeiten bei ihren Recherchen bekommen. Auf Bitten um Auskünfte über das »Dritte Reich« reagierten etablierte Professorenkollegen mit Unmut und passivem Widerstand, und oft waren es gerade die damals 40- bis 50-Jährigen, die verwundert fragten, ob man denn »das alles wirklich wieder aufrühren« wolle.83 Auf der anderen Seite überraschte, wie viel clandestines Wissen über »braun eingefärbte« Fachveröffentlichungen und angepasstes Ordinarienverhalten mit Ingrimm bei Mitgliedern des »Mittelbaus« gespeichert war und dem Fragenden gerne, mitgeteilt wurde. Da korrelierte die Nähe oder Distanz zum Schweigekartell auffallend häufig mit der Positionshöhe in der akademischen Stellenhierarchie. Wirklich ärgerlich aber war, daß wir im damaligen Freiburger Universitätsarchiv nur gegen zähen Widerstand — und oft gar nicht — an benötigte Akten aus der NS-Zeit heran kamen und kaum Auskünfte über Umfang und Gründe der Verweigerung erhielten. Offensichtlich wirkten persönliche Bindungen an die Vergangenheit beim Archivpersonal und formale Prinzipien bei der Verwaltungsspitze zusammen und

81 Abgedruckt im Anhang von Rüchardts »Rechenschaftsbericht des Rektors 1. Juli 1988 - 30. 82 Juni 1989«, UAF Bl 64/0024. Ebd. (Unterstreichung im Original). Die Ringvorlesung, Hugo Otts Heidegger-Buch und die Ausstellung zum »Freiburger Kreis« hatten Rüchardt zu Initiativen angetrieben; er muß den Eindruck gewonnen haben, daß die Universität jetzt handeln müsse. In seinem Rechenschaftsbericht vor dem Großen Senat kündigte er »die Erarbeitung einer umfangreichen wissenschaftlichen Dokumentation zur Rolle der Universität Freiburg im Dritten Reich« an, für die ein »Gremium erfahrener Kollegen aus allen Fakultätsbereichen als Herausgeber« fungieren sollte, und berichtete von dem Beschluß des Akademischen Senats, den Platz zwischen den Kollegiengebäuden der Universität »Platz der Weißen Rose zu nennen« (ebd.). Die Dokumentation ist in der angekündigten Form nicht erschienen; zum »Gremium« und zum »Platz der Weißen Rose« weiter unten mehr. Derartige Schwierigkeiten waren keine Freiburger Besonderheit. Das umfangreiche Ham­ burger Aufarbeitungsprojekt hatte es zwischen 1983 und 1991 mit z.T. sehr viel härterer Gegnerschaft zu tun: Eckart Krause, Hochschulalltag [s.o. Anm. 59], Bd. 1, S. xxxix — xlii. — Auf der bundesdeutschen Bühne gab es in dieser Zeit den vergangenheitspolitisch wichtigen »Historikerstreit« von 1986/87; im Freiburger Geschehen scheint er keine Spuren hinterlassen zu haben.

97 behinderten die Aufklärung. Das führte zu dienstlichen Beschwerden, öffentlichen Protesten und hämischen Zeitungsartikeln, dann zu einer Demarche Freiburger Historiker beim Rektorat und schließlich, noch im Dezember, zu einer Rektoratssitzung, in der beschlossen wurde, die neue Stelle eines Archivdirektors zu beantragen und das Universitätsarchiv zu reorganisieren. Eine gleichzeitige, liberalere Neufassung des Landesarchivgesetzes kam dem entgegen. Heidelberg und Tübingen hatten ihre Universitätsarchive schon lange modernisiert, in Freiburg dauerte es zwar noch, aber 1991 war die neue Stelle da und konnte sehr gut besetzt werden. So hatte denn die Ringvorlesung sogar praktische Folgen gehabt.

1995: »Schicksale. Jüdische Gelehrte an der Freiburger Universität in der N S-Zeit« Die Reorganisation des Universitätsarchivs war eine Voraussetzung für die nächste, die wohl gewichtigste selbstkritische Aktion der Universität. 1995 erschien ein umfassender Rechenschaftsbericht über »die Entlassung der jüdischen Lehrkräfte an der Freiburger Universität und die Bemühungen um ihre Wiedereingliederung nach 1945«. So der Titel des einleitenden Überblicksaufsatzes von Bernd Martin 1995 in einem Themenheft der Freiburger Universitätsblätter. Das Heft enthielt zudem fünf Darstellungen über betroffene Gelehrte unterschiedlicher Fakultätszugehörigkeit und einen Bericht über die Entlassungen bei den Medizinern. Auch Martin war in seinem Text auf sechs Einzelschicksale eingegangen. Der mühsame Weg der Selbstaufklärung über die eigene NS-Vergangenheit hatte die Freiburger Universität zum genauen Blick auf diejenigen geführt, die in Freiburg aus der akademischen Gemeinschaft ausgestoßen worden waren, als deren Mehrheit eintrat ins »Dritte Reich«. Der Jurist Alexander Hollerbach, der Herausgeber des Heftes, hatte in seinem kurzen Vorwort vermerkt, daß das Thema durch die Ringvorlesung von 1988/89 angeregt worden sei und daß der Rektor, Manfred Löwisch, den Anstoß zu diesem Heft gegeben habe. Das war wichtig zu sagen, es ließ allerdings die Vorgeschichte aus. Bereits 1964 hatte der Freiburger Rechtsanwalt Albrecht Goetz von Olenhusen in den Freiburger Universitätsblättern auf Fakultätsangehörige hingewiesen, die in Freiburg aus rassischen oder politischen Gründen entlassenen worden waren. Er hatte dabei auch Zahlen aus einer englischen Untersuchung von 1937 mitgeteilt,86 und 1982 hatte Pietzcker erste Namen von im Jahr 1933 entlassenen jüdischen Professoren und Dozenten bekannt gemacht.87 Aber die eine Veröffentlichung lag weit zurück, die andere hatte es offiziell gar nicht gegeben; beide gehörten offensichtlich nicht zu den Details, die man wissen oder erwähnen mußte. — Und auch jetzt war der Anstoß von außen gekommen, von einer Bitte der Jüdischen Gemeinde an Bernd Martin um einen Vortrag zu diesem Thema. Das Heft war der Versuch, angesichts zugefügten Unrechts und Leids zu rekonstruieren, was damals wem, wie und in welchen spezifischen Zusammenhängen

Auch dies verkündete Rüchardt in seinem Rechenschaftsbericht (s. Anm. 81). Schicksale. Jüdische Gelehrte an der Universität Freiburg in der NS-Zeit, FUB 129, Sep­ tember 1995, S. 5-108. Olenhusen, Rassenpolitik [s.o. Anm. 48], S. 71. Anti-Festschrift [s.o. Anm. 54], S. 5.

98 angetan worden war. Zwei ausführliche Listen, die 1937 im Ministerium angelegt worden waren und hier wiedergegeben wurden, gaben einen weitgehend gesicherten Überblick über die Endassungen bei Professoren, Assistenten und Angestellten; die Einzeldarstellungen informierten an repräsentativen Beispielen über private Konsequenzen für die Betroffenen, über ihr weiteres Schicksal und über die wenigen Wiedergutmachungsakte. In Martins Einleitungsaufsatz wie in Seidlers Medizinerartikel wurde der allgemeine politische und hochschulspezifische Rahmen der Freiburger Geschehnisse skizziert. Herausgeber und Autoren hatten sich jeglicher erinnerungspolitischen Begründung enthalten. Das hier Dargestellte sollte offensichtlich durch sich selbst wirken und verfehlt seinen Eindruck auch heute nicht.88 Der Veröffentlichung waren vielfältige Detailuntersuchungen vorausgegangen. Vor allem Eduard Seidler, seit 1967 Inhaber des Freiburger Lehrstuhls für die Geschichte der Medizin, hatte 1991 in seiner Geschichte der Medizinischen Fakultät faktenreich, abwägend und genau auch über diesen wichtigen und in der Öffentlichkeit heftig umstrittenen Teilbereich universitärer Vergangenheit im »Dritten Reich« informiert. Er hatte sich dabei auf eigene Vorarbeiten und auf Dissertationen aus seinem medizinhistorischen Seminar stützen können. Auch Bernd Martin hatte, neben eigenen Aufsätzen, eine Reihe von Examens- und Doktorarbeiten zur Freiburger NS- Geschichte angeregt; einige von ihnen sind später teils direkt, teils indirekt in die Freiburger Jubiläumsschrift von 2007 eingegangen (zu ihr s.u.). Darüber hinaus gab es einen an den Problemen der »Aufarbeitung« interessierten, informellen

Es war nicht der erste selbstkritische Bericht einer Universität mit Namensliste über die von ihr durchgeführten »Säuberungen«. Bereits 1985 gab es zwei entsprechende Listen aus Hei­ delberg: Karin Buselmeier [u.a.], Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg, Mann­ heim 1985, dort S. 273-292, — und Wilhelm Doerr [u.a.], Semper apertus, Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. Bd. III. Das Zwanzigste Jahrhundert 1918-1985, Berlin 1985, dort S. 16-20. — 1991 hat auch Hamburg eine Dokumentation »Vertriebene Wissenschaftler« zusammengestellt (Krause, Hamburger Universität, s.o. Anm. 59, S. 1471-1490); andere Universitäten folgten. — 1987 hat sich eine Sektion des Deutschen Romanistentages mit dem Schicksal von emigrierten und verfolgten Kollegen und Kolleginnen beschäftigt: Hans Helmut Christmann, Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, Tübingen 1989 (mit einer ausführlichen bio-bibliographischen Dokumentation »Verfolgte Romanisten« (S. 265-329). — Für die Germanistik gibt es eine Namensliste der Emigranten in: Petra Boden, Grenzschritte. Remigranten in der Literaturwissenschaftlichen Germanistik an deutschen Universitäten nach 1945, in: Euphorion 98, 2004, S. 425-463. Für andere Fächer u.a. Beiträge in Sammelbänden der Emigrationsforschung: Herbert A. Strauss [u.a.] (Hg.), Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien, München 1991, und Claus-Dieter Krohn [u.a.], Handbuch der deutschsprachigen Emigra­ tion 1933-1945. Darmstadt 1998. — Ein Gesamtüberblick und eine übergreifende Bibliographie zum Komplex der Vertreibung und Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933 fehlen, von Seiten der Universitäts- wie der Fächergeschichte. 89 Eduard Seidler, Medizinische Fakultät [s.o. Anm. 19], Kap. 4. Seidlers Standardwerk war zuerst 1991 erschienen, in einem korrigierten Nachdruck 1993; die »zweite, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuauflage« von 2007 wurde in die universitätsoffizielle Reihe »Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, N.F.« als Bd. 2 aufgenommen.

99 Professorenkreis, das »Historicum«,90 dessen politisches Gewicht nicht ohne Einfluß auf Senat und Rektorat geblieben war und der bei diesem Band im Hintergrund mitgearbeitet hatte. Die Veränderungen in der offiziellen Erinnerungspolitik der Freiburger Universität in den 90er Jahre beruhten auch auf diesen vielfältigen Aktivitäten. Das alles schien darauf hinzudeuten, daß die Freiburger Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus 1995 ihren Höhepunkt erreicht hatte und nunmehr in ruhigere Bereiche gelangen würde, wie gewohnt wissenschaftliche Arbeiten generierend in einem Gebiet ernster, aber nicht mehr besonders aufregender Themen. Doch dann kam erneut eine dieser überraschenden Wendungen. Im Wintersemester 1996/97 konfrontierte eine von Ulrich Herbert organisierte Vortragsreihe des Historischen Seminars, »Die Ermordung der europäischen Juden: Neue Forschungen und Kontroversen«, die umfangreiche Hörerschaft mit Fakten von unerwarteter Härte. Referenten waren vor allem jüngere Wissenschaftler, auch aus Freiburg — die »Aufarbeitung« der Vergangenheit war bereits an die dritte Generation übergegangen.91 Die Reihe handelte nicht von Freiburg, aber sie durchkreuzte auch hier die allgemeine Erwartung, über die Vergangenheit hinreichend Bescheid zu wissen. Sie zeigte an sorgfältig recherchierten Beispielen, wie viel ausgedehnter, und wie viel brutaler als bisher bekannt, die Zerstörungs- und Tötungsaktionen von SS und Wehrmacht vor allem in Osteuropa gewesen waren. Und sie zeigte durch ihre unerwartet zahlreiche Zuhörerschaft, daß unter Studierenden und im gebildeten Bürgertum Freiburgs das Interesse an einem schonungslosen Einblick in die nationalsozialistischen Verbrechen immer noch anhaltend groß war, oder doch immer wieder aktuell geweckt werden konnte. Auch hier gab es bundesweite Kontexte. Anfang des Jahres 1996 waren die heftigen Diskussionen um die Wehrmachtausstellung losgebrochen und im Frühsommer und Herbst 1996 hatte es in den Medien erregte Debatten um Daniel Goldhagens Holo­ caust-Buch gegeben. Beide Auseinandersetzungen hatten das Thema wieder einmal unerwartet aktualisiert. Beide hatten die politischen Dimensionen der Vergangenheitsdiskussionen offen gelegt. Und beide hatten gezeigt, daß die nationalsozialistische Vergangenheit immer noch für Medienskandale gut war — aber auch, daß ihr traumatischer Charakter immer noch die Kraft hatte, die Gegenwart ernsthaft zu verstören, Nachdenklichkeit zu erzeugen und die Forschung zu neuen Fragestellungen anzuregen.93

90 Uber die • Entstehung und den wechselnden Teilnehmerkreis des »Historicum« habe ich nichts Genaues erfahren können, auch nicht darüber, ob es einen Zusammenhang gibt mit dem von Rektor Christoph Rüchardt 198991 geplanten »Gremium« (s.o. Anm. 82). Gedruckt als Fischer Taschenbuch: Ulrich Herbert (Hg.), Nationalsozialistische Vernichtungspolitik 1939-1945. Neue Forschungen und Kontroversen, Frankfurt am Main 1998. 92 Daniel Goldhagen, Hiders willige Vollstrecker: ganz gewöhnliche Deutsche und der Holo­ caust, Berlin 1996 u.ö. 93 Es gab Erwartungen, auch in der Zeitgeschichtsforschung, daß die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit in den 1990ern durch die Auseinandersetzung mit der DDR- Vergangenheit zurückgedrängt werde (so etwa bei Helmut König, Das Erbe der

WO 2002: Die Medizinerausstellung Auch in Freiburg blieb eine Bereitschaft zu vergangenheitspolitischen Kontroversen und ein Verlangen nach Aufklärung aktivierbar. 1996 hatte ein Fernsehfilm der ARD über Ärzte im Nationalsozialismus in Freiburg zu öffentlichen Diskussionen und zu Umbenennungen einer Straße und einer Station im Universitätsklinikum geführt.94 Und im Jahr 2000 hatten die staatlichen Bemühungen um Wiedergutma­ chungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter — auch dies eine unerledigte Erblast des »Dritten Reiches« — entsprechende Nachforschungen der Klinikverwaltung ausgelöst. Der Personalrat, der eingebunden war, regte daraufhin an, die Freiburger Ereignisse dieser Zeit öffentlich darzustellen, und das Institut für die Geschichte der Medizin wurde von der Verwaltung beauftragt, eine Ausstellung zu erarbeiten: »Die Freiburger Medizinischen Fakultät im Nationalsozialismus«. Sie wurde 2002 zuerst an einem prominenten Ort, dem Neurozentrum, im Klinikum gezeigt, dann in der »Prometheushalle« des Kollegiengebäudes I. Die Ausstellung brachte viel informatives Anschaungsmaterial. Sie arbeitete mit Erfolg einigen Legenden über Beteiligungen Freiburger Mediziner an NS-Verbrechen entgegen und berichtete über Akte des Unterlaufens, des Rettens und des Widerstands an dieser Fakultät. Sie zeigte aber auch die vielfältige Zuarbeit, die im Alltag von Wissenschaft und klinischer Praxis dem NS-Herrschaftssystem geleistet worden war. Die praktischen Seiten von Krankenpflege und Krankengymnastik hatten ebenso eine eigene Tafel bekommen wie die Beschäftigung von Zwangsarbeitem am Klinikum. Das breite Themenspektrum zeigte die Omnipräsenz des Nationalsozialismus in allen Lebensbereichen, vor allem nach 1939. Zur Ausstellung gab es einen Katalog und ein umfangreiches Buch mit ausführlichen wissenschaftlichen Artikeln zu Einzelaspekten und Grundsatzfragen, die die kurzen, manchmal verkürzenden Angaben der Ausstellung entscheidend erweiterten und vertieften.95 Die Medizinerausstellung von 2002 war in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Auch sie verdankte sich Angriffen von außerhalb und einer Anregung aus der Peripherie.

Vergangenheit. Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Bundesrepublik, in: König u.a., Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 301-316, dort S. 310). Tatsächlich hat in diesem Jahrzehnt der verstärkte Blick auf die Täter und die Opfer neue Tatsachen zutage gefördert, bisher unbekannte Dimensionen der Massenmorde gezeigt und ein breites Interesse in der Öffentlichkeit gefunden. Paul Klee, Ärzte ohne Gewissen, ARD 15. Oktober 1996. Klee hatte dort Vorwürfe gegen die beiden Freiburger Professoren Paul Uhlenhuth und Franz Büchner erhoben. Sie wurden von Eduard Seidler in einem eigenen Artikel der FUB 136, Juni 1997, zurückgewiesen, doch kam es im Fall von Uhlenhuth zu den oben genannten Umbenennungen (zu Büchner s.o. Anm. 23). Hans-Georg Hofer/Karl-Heinz Leven (Hg.), Die Freiburger Medizinische Fakultät im Nationalsozialismus. Katalog einer Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin, Frankfurt am Main, Berlin [u.a.] 2003. - Bernd Grün [u.a.] (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Die Freiburger Medizinische Fakultät und das Klinikum in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«, Frankfurt am Main [u.a.] 2002. Nach Auskunft des damaligen Personalrats, Ingo Busch, ging die Initiative von zwei gewerkschaftlich organisierten Pflegekräften aus, die schon bei der Uhlenhuth-Geschichte beteiligt gewesen waren und nun eine umfassende öffentliche Rechenschaft der Fakultät über die NS-Zeit anregten.

101 Aber anders als alles Bisherige war sie von Wissenschaftlern, die lange nach Kriegsende geboren waren, und von Studierenden auf die Beine gestellt worden.97 Die Mitglieder dieser Gruppe hatten schon aufgrund ihres Alters nicht nur einen großen Abstand zu den untersuchten Ereignissen selbst, sondern hatten auch Distanz zu den erinnerungspolitischen Kämpfen der vergangenen Jahrzehnte. Das ermöglichte ihnen einen unbefangenen Blick und animierte sie zu einem eigenen Ethos neutraler, von moralischen Gefühlen und Bedenken freier, »objektiver« Wissenschaft. Mit diesem Wissenschaftsbegriff, den sie entschieden und offensiv äußerten, stießen sie nun allerdings auf Skepsis und Mißtrauen bei denen, die schon länger das Aufarbeitungsprojekt an der Universität voranzutreiben versucht hatten. Denen erschien angesichts ihrer Erfahrungen der demonstrierte Glaube an eine »objektive« Wissenschaft, die unbeeinflußt von kollegialem Druck und institutioneilen Zwängen auf die Sachen selbst zugreifen könne, als zu naiv. Und sie hielten das Postulat, ohne normativ-moralische Positionierung an einen Gegenstand wie den Nationalsozialismus herangehen zu wollen, für unangemessen und für instrumentalisierbar. So kam es zu Spannungen zwischen »alten Kämpen« und »Neulingen«,98 die sich in der eingangs erwähnten, turbulent kontroversen Podiumsdiskussion am 21. Oktober 2002 entluden. In der Rückschau scheint mir bei diesem Konflikt, an dem ich beteiligt war,99 einiges an wechselseitigen Projektionen und Kommunikationsmängeln im Spiel gewesen zu sein; der Forschungsband zumindest läßt m.E. keinen Raum für die damaligen Bedenken gegen die Ausstellungsmacher. Aber gerade diese windschiefe Konstellation kann wohl als Zeichen dafür gelesen werden, daß die Medizinerausstellung von 2002 einen weiteren Wendepunkt in der Aufarbeitungsgeschichte der Freiburger Hochschule markiert. Bei diesem >sekundären< Konflikt standen sich nicht mehr Aufklärer und Vertuscher gegenüber wie bisher, sondern zwei Generationen von >Aufklärern<, keine so unvoreingenommen, wie das Objektivitätsideal der Jüngeren es für möglich hielt, aber auch keine auf eine Verteidigung fragwürdiger Vergangenheiten aus, wie die Älteren es befürchteten. Beide waren am gleichen Projekt interessiert; Leute und Gruppen, die es verhindern wollten, spielten keine erhebliche Rolle mehr. Die bisherige politische Konstellation der Vergangenheitsbewältigung war vorbei.100 Sie hatte darin bestanden, daß die einen eine kritische Aufarbeitung der universitären NS-Vergangenheit wollten und betrieben und andere, mit privilegiertem Zugang zu Senat und Rektorat, genau dies verhindern

97 Die Tafeln und ihre Texte waren von einem Hauptseminar am Medizinhistorischen Institut erarbeitet worden, das von Karl-Heinz Leven, Jahrgang 1959, geleitet wurde. Auch Hofer und Grün gehörten der jüngeren Generation an. Und von den Texten des Forschungsbandes mit ihrem durchweg hohen Professionalitätsniveau stammten laut Autorinnenliste elf von Studierenden, zwei von Promovierten, einer von einem Arzt und nur sechs von »gestandenen« Wissenschafdern (darunter ein Archivar): Bernd Grün, a.a.O., 98 S. 496. Sie verteilten sich nur teilweise fachspezifisch auf »Historiker« und »Mediziner«. 99 Hans Peter Herrmann, Der Medizin.r ist das nicht von außen zugestoßen, Leserbrief, Badische Zeitung Freiburg, 04.11.2002, S. 32. 100 Zum zeittypischen Charakter dieses Konflikts: Christoph Cornelißen, Erforschung und Erinnerung — Historiker und die zweite Geschichte, in: Peter Reichel, Die zweite Geschich­ te (s.o. Anm. 5), S. 242.

102 wollten und deshalb das Thema der NS-Vergangenheit überhaupt vermieden — sei es (anfangs) aus biographischer Nähe zum Nationalsozialismus, sei es (später) aus der Furcht, das Bild ihrer Universität könne Schaden nehmen. Wobei der Übergang zwischen beiden gleitend war und nur jeweils im Einzelfall bestimmt werden könnte. Diese Konstellation bestand nicht mehr. Diejenigen, die ihre eigene Vergangenheit verteidigen mußten, waren inzwischen gestorben; diejenigen, denen die Vergangenheit peinlich war oder unerheblich schien, waren inzwischen in die Defensive geraten. Immerhin hatte es fast sechs Jahrzehnte gedauert, bis es soweit war. Was blieb noch zu tun? Ein Zeichen für die neue Situation der Vergangenheitspolitik101 war ein offizieller Akt, mit dem »die Albert-Ludwigs-Universität« sich drei Jahre später ausdrücklich, und öffentlich sichtbar, zur Verantwortung für die von ihren Mitgliedern begangenen Taten und unterlassenen Hilfen bekannte.

2005: Der Schritt in die Erinnerungskultur: Das Mahnmalfür die Opfer des Nationalso­ zialismus Am 26.4.2005 weihte Rektor Wolfgang Jäger im Foyer des Kollegiengebäudes I der Universität feierlich ein Denkmal ein für diejenigen Universitätsmitglieder, »die unter dem nationalsozialistischen Regime als jüdische Opfer der Rassenideologie oder als politisch Verfolgte Tod, Vertreibung oder schwere Benachteiligung erlitten haben«.102 Seither zieht sich über eine ganze Seite der weiten Eingangshalle ein von dem Kölner Künstler Professor Marcel Odenbach anspruchsvoll gestaltetes Wandbild, mit einer Gedenktafel, die von »Trauer und Scham« spricht, mit einer programmatischen Col­ lage in Form eines Vorhangs aus Bildern und Texten von 1933-1945 und mit den Namen der Betroffenen, soweit sie in mühsamer Suche ausfindig gemacht werden konnten — über 260 Namen, bekannte und viele unbekannte, alphabetisch gereiht, eine erschreckend lange Liste. Ausdrücklich werden alle diejenigen einbezogen, »deren Namen und Schicksal wir nicht mehr kennen«, und am Ende der Liste ist Platz freigelassen für weitere Einträge. Die Mitglieder des »Historicum« hatten den Gedenktext entworfen und bei der Eruierung der Namen Hilfe geleistet, die Gestaltung des Ganzen war vom Land Baden-Württemberg ausgeschrieben worden und konnte durch Spenden von der Uni selbst realisiert werden, eine eigene Broschüre erläutert Entstehung, Absicht und Programm. Über die Entstehungsgeschichte des Mahnmals, das von der deutsch-jüdischen Gesellschaft 1998 angeregt wurde, berichtet die Rektoratsbroschüre; es sei dabei durchaus kontrovers, aber im Ziel einvernehmlich zugegangen. Aber auch hier gibt es eine längere Vorgeschichte, noch einmal Stationen mühsamer Erinnerungspolitik. Das früheste sichtbare Symbol universitären Gedenkens an die Schrecken des »Dritten Reiches« war (und ist) ein steinernes Gefallenendenkmal an der Südwestecke des

101 Der kritischen Besetzung des Begriffs »Vergangenheitspolitik« bei Norbert Frei, Vergangenheitspolitik (s.o. Anm. 5) folge ich in diesem Aufsatz nicht. 102 Aus dem Text der Gedenktafel, abgedruckt in der Broschüre: Das Freiburger Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Vorträge und Aufsätze aus Anlaß der Einweihung des Mahnmals in Freiburg i. Br. am 26. April 2005. Herausgegeben im Auftrag des Rektors der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg 2007, dort S. 7.

103 Kollegiengebäudes I, eine »Trauernde Alma mater« von 1927. In deren Sockel war, wohl »in den 60er Jahren«,103 unter dem ursprünglichen Text, »Den Toten 1914— 1918«, ein ergänzendes »1939—1945« eingemeißelt worden: der zweite Weltkrieg als eine Fortsetzung des ersten und als das eigentliche Unglück der Nazizeit. Nach 1982 wurde den Verantwortlichen deutlich gemacht, daß das nicht ausreichte. Ein Mitglied des Mittelbaus beantragte 1984 im Großen Senat, die Universität möge »an deutlich sichtbare Stelle« eine Gedenktafel für ihre der NS-Herrschaft und dem Krieg zum Opfer gefallenen Angehörigen anbringen.104 Nun wurde das zweite bereits vorhandene Erinnerungsmal der Hochschule ergänzt, eine bronzene Gedenkplatte von 1929 im Treppenaufgang des KG I mit den Namen der im 1. Weltkrieg gefallenen Universitätsangehörigen. Unter diese Tafel wurde 1985 ein eigenes neues Bronzeband mit der Inschrift »Den Opfern von II. Weltkrieg und Gewaltherrschaft« eingelassen. Es war die Formel, die in jenen Jahren auf vielen Erinnerungstafeln zu lesen war. In meinem Bekanntenkreis hat man sich damals erzählt, es habe Auseinandersetzungen im Senat gegeben, um wenigstens das zu erreichen. 1989 entschloß sich die Universität zu einer selbständigen Gedenkstätte: der Innenhof zwischen den Kollegiengebäuden im Zentrum Freiburgs sollte den Namen »Platz der Weißen Rose« erhalten. Das vom Rektor Christoph Rüchardt noch während der Ringvorlesung initiierte und zügig vorbereitete Projekt ging im Senat mit keiner sehr überzeugenden Mehrheit durch105 und es dauerte sechs Jahre, bis am 26.4.1995 der Platz eingeweiht wurde.106 Seitdem wies eine Tafel an der Mauer des Kollegiengebäudes II auf das Schicksal dieser Münchner studentischen Widerstandsgruppe hin und zog eine dünne Verbindungslinie von Freiburg nach München.107 Aus den Akten geht nicht hervor, welche Überlegungen dazu geführt

103 Datierung von Ute Scherb, »Wir bekommen die Denkmäler, die wir verdienen«. Freiburger Monumente im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg im Breisgau 2005, S. 225. 104 Antrag von Dr. Norbert Ohler, Akademischer Oberrat am Historischen Seminar, UAF Bl 64/0022, Sitzung des Großen Senats am 24.02.1984. 105 Protokoll der Senatssitzung vom 22.03.1989 (Registratur des Akademischen Rektorats der Albert- Ludwigs-Universität Az. 31-FR-1410-6: Bauakten). 106 Die Verzögerung entstand, weil die Benennung mit einem Umbau des Platzes verbunden worden war, der sich als sehr teuer erwies, sodaß am 25.8.1993 als vorläufige Lösung das Anbringen einer Gedenktafel beschlossen wurde, was aber auch erst nach einer studentischen Anfrage im Großen Senat vom 26.4.1993 geschah. Die einschlägigen Akten lassen sich als die Geschichte eines normal umständlichen Behördengangs lesen; sie legen aber auch den Schluß nahe, daß mit der wachsenden Distanz zur Ringvorlesung 1988/89 der Wille abnahm, gerade dieses Projekt voranzutreiben.— Erst 2007 konnte der Platz im Zusammenhang mit dem Jubiläum durch eine Spende der Freiburger Bauwirtschaft endlich umgestaltet werden; am 09.7.2010 wurde er in einer Meinen Feier eingeweiht. Vor kurzem ist die kleine Tafel durch eine in den Boden eingelassene größere Steinplatte ersetzt worden, die nun auch die studentische Oppositionsgruppe »Kakadu« und die Professoren des »Freiburger Kreises« in die Widmung einschließt. 107 Zwei Freiburger Freunde des 1943 hingerichteten Willi Graf, Heinz Bollinger, Doktorand am Philosophischen Seminar, und Helmut Bauer, waren »zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt« worden. Der Text der Tafel war von Ott entworfen worden, der 1990 eine Wanderausstellung zur Weißen Rose mit einer eigenen Rede eröffnet hatte: Hugo Ott, »Al­ len Gewalten zum Trutz sich erhalten«. Die WirUichkeit eines geheimen Deutschland, FUB 111,1991, S. 77-95. — 2007 machte Ott auf eine weitere Verbindung zwischen den Münchnern und Freiburg aufmerksam: Hugo Ott, Die Weiße Rose und ihr Umfeld in Frei-

104 haben, daß damals nicht an die Opfer, sondern an einen gescheiterten Widerstand erinnert werden sollte, dann aber nicht an die für Freiburg wichtige Widerstandsgruppe der »Freiburger Kreise«, sondern an die seit langem bundesweit bereits vielfach geehrten Münchener Studierenden. Das Mahnmal hat diese holperige Vorgeschichte vergessen machen, wie es denn überhaupt Freiburg vom Geruch eines zwiespältigen Umgangs mit seiner Vergangenheit befreien sollte und das auch getan hat. Daß es ein überzeugendes, geschichts- und verantwortungsbewußtes Erinnerungszeichen wurde, war auch der Entschiedenheit zu verdanken, mit der der Rektor, Wolfgang Jäger, das Projekt zu seiner eigenen Sache gemacht hatte. Die Basis dafür hatten die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen an der Hochschule gelegt. Sie hatten erreicht, daß sich die Universität schrittweise dem Andenken an diejenigen öffnete, die sie einst aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen hatte und die nun, als ausgeschlossene, wenigstens benannt und erinnert werden sollten: 1984 diejenigen, denen durch die Universität die akademischen »Würden« entzogen worden waren; 1995 die aus ihren Ämtern und oft auch aus Deutschland vertriebenen jüdischen Gelehrten; nun, 2005, alle im Nationalismus verfolgten, benachteiligten oder getöteten Universitätsmitglieder. Ermöglicht wurde die Öffnung jetzt auch durch das veränderte vergangenheitspolitische Klima in der BRD um 2005. Zwei Wochen nach dem Freiburger Mahnmal war in Berlin das Holocaust-Denkmal eingeweiht worden; in den jahrelangen Debatten vorher um das Ob und Wie dieser Gedenkstätte hatten »die Deutschen« noch einmal zentrale Problemen ihrer Beziehung zu ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit öffentlich verhandelt. Mit dem Holocaust- Denkmal teilt nun auch das Freiburger Universitäts-Mahnmal die Zwiespältigkeiten dieser deutschen Situation, in der die streiterfüllte Erinnerungspolitik in einer sich etablierenden, allseits anerkannten Erinnerungskultur stillgestellt wird. Daß danach in Freiburg mit dem »Fall Eggebrecht« noch einmal heftiger Streit über die »Vergangenheit, die nicht vergeht«,110 entstehen würde, hatte wohl niemand erwartet. Die Fertigstellung des Mahnmals wurde eingerahmt von zwei Sammelbänden mit umfangreichen Forschungsarbeiten. 2003 hatte ein dreitägiges, breit angelegtes Kolloquium zur Geschichte der Freiburger Philosophischen Fakultät zwischen 1920

burg, in: Ott, »Die Weisheit hat sich ihr Haus gebaut« (Spr. 9,1). Impressionen zur Ge­ schichte der Universität Freiburg, Freiburg 2007, S. 147-159. Bedenken in ähnlicher Richtung waren schon damals im Beraterstab des Rektors geäußert worden: zu einem Zeitpunkt, an dem die Ringvorlesung die Verstrickung der Freiburger Universität in das Dritte Reich bekannt gemacht habe, wirke die Benennung »wie ein schwaches und klägliches Alibi«. Der Einwand taucht in den Akten nicht weiter auf (Schreiben an den Rektor vom 09.01.1989, Rektoratsakte wie oben Anm. 105). Zu den Ambivalenzen dieser Entwicklung in Deutschland u.a. Jureit/Schneider, Gefühlte Opfer [s.o. Anm. 3], und Harald Schmid, Von der »Vergangenheitsbewältigung« zur »Erinnerungskultur«. Zum öffentlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus seit Ende der 1970er Jahre, in: Gerhard Paul, Bernhard Schoßig: Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen 2010, S. 171-195. Die viel verwendete Formel z.B. im Titel von Reinhard Kühnl, Vergangenheit, die nicht vergeht. Die »Historiker-Debatte«. Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987, oder bei Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will, FAZ vom 06.06.1986.

105 und 1960 stattgefunden, das erklärtermaßen und in vielen Beiträgen ein besonderes Gewicht auf die Darstellung der Zeit von 1933 bis 1945 und ihre Vorgeschichte legte und hier auch mit unbequemen neuen Erkenntnisse, etwa über den Kunsthistoriker Kurt Bauch, aufwartete.111 Und 2007 erschien die fünfbändige offizielle Festschrift der Albert -Ludwigs-Universität zu ihrem 550-Jahre-Jubiläum, in der Band 3, eine Ge­ schichte der Universität von 1806 bis in die Gegenwart, die wichtigsten mit dem Nationalsozialismus zusammenhängenden Fragen der UniversitätsVergangenheit zu beantworten suchte.112 Beide Bände, jeweils dicke, anspruchsvoll aufgemachte Bücher, waren offizielle Schriften der Universität, mit Grußworten des Rektors versehen. Sie signalisierten Normalität der historischen Forschung auch für die monströse Epoche des Nationalsozialismus und reproduzierten damit zugleich, wovon sie sprachen: die Widersprüchlichkeit dieser Vergangenheit mit ihrem heillosen Ineinander von Kultur und Menschheitsverbrechen.

Resümee und Einordnung Der vorstehende Bericht über die 50jährige Erinnerungsmühen der Freiburger Universität hat mehrfach auf allgemeine bundesdeutsche Entwicklungen verwiesen, um das lokale Geschehen verstehbar zu machen. Da liegt es nahe, eine Bilanz der Freiburger Ereignisse einzubetten in den größeren Rahmen der bundesdeutschen Aufarbeitungsgeschichte.

* Anfang der 1960er Jahre, noch innerhalb des allgemeinen »Beschweigens« (Hermann Lübbe) der NS-Zeit, begann in Westdeutschland eine erste breitere Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Die Zahl und Intensität einschlägiger Veröffentlichungen nahm bald zu. Sie kreisten um die Frage: »wie konnte das geschehen?«, beschäftigten sich ideologiekritisch vor allem mit der Weltanschauung des Nationalsozialismus und suchten nach den Wurzeln von Nationalsozialismus und Antisemitismus in der kulturellen und sozialen Vergangenheit der Deutschen. - In Freiburg beteiligten sich Veranstaltungen des Studium generale zwischen 1961 und 1969 an dieser ersten größeren Aufarbeitungswelle. Andere westdeutsche Universitäten haben dabei von Amts wegen mitgewirkt, Freiburg nicht. • Gegen Ende der 1960er Jahre steigerte die allgemeine politische und kulturelle Krise des folgenden Jahrzehnts auch die Sensibilität für die Fragwürdigkeiten der bisherigen Vergangenheitspolitik. In oft schmerzhaften Konflikten wurde deutlich, wie vielfältig und wie tief die deutsche Gesellschaft und ihre Mitglieder in den Nationalsozialismus verwickelt waren. Es spricht vieles dafür, daß in den Auseinandersetzungen der 1970er Jahre der Grundstein

111 Eckhard Wirbelauer [u.a.] (Hg.), Die Freiburger Philosophische Fakultät 1820-1960. Mitglieder - Strukturen - Vernetzungen, Freiburg/München 2006 (Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte Bd.l, im Auftrag der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hrsg.). Über Kurt Bauch dort Wilhelm Schiink S. 380-386. 112 Bernd Martin, 550 Jahre, Band 3 [s.o. Anm. 4], 2007.

106 gelegt wurde für einen neuen Umgang der deutschen Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit. Allerdings dauerte es eine Weile, bis sich aus diesem Handgemenge von Vorwürfen, Rechtfertigungen und Pauschalurteilen der Wille und die Möglichkeit zu erneuter, abwägender Aufklärungsarbeit herausbildete. — In Freiburg griffen studentische Flugblätter, die Freiburger Studentenzeitung und der AStA die Universitäten wegen ihrer Vergangenheit an, während in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Studium generale eine Pause eintrat und 1969/70 der halbherzige Versuch einer offiziellen Vorlesungsreihe der Universität über den Nationalsozialismus sich im universitätspolitischen Streit verfing. • Gegen Ende der 1970er Jahre begann sich in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und in den Wissenschaften ein neuer, selbstkritischer Blick auf die Beteiligung der Deutschen und ihrer Institutionen am NS- Herrschaftssystem zu entwickeln; nun wurden die bisherigen Fragestellungen: »wie konnte es dazu kommen« und »was habt Ihr damals gemacht«, ergänzt durch die auf das Handeln der eigenen Gruppe bezogene Frage: »was haben wir getan?« — Seit 1977 haben sich auch einige Hochschulen, von ihren Studierenden und von kritischen Journalisten gedrängt, dieser Aufgabe einer offiziellen öffentlichen Selbstreflexion gestellt und mit den dafür notwendigen wissenschaftlichen Forschungen begonnen; Freiburg hat damit ein weiteres Jahrzehnt gewartet. • Anfang der 1980er Jahre wandte sich die deutsche Geschichtswissenschaft dem Schicksal des jüdischen Volkes zu. Der konkreter werdende Blick in die fragwürdige Vergangenheit hatte die Frage dringlicher gemacht, wer das war, dem »wir« das alles angetan hatten. Anfänge einer Hinwendung zum jüdischen Volk finden sich in der westdeutschen Gesellschaft vielfach schon bald nach Kriegsende, im Freiburger Studium generale seit 1964, aber es hat lange gedauert, bis westdeutsche Historiker die unlösbare Verbindung der deutschen und der jüngeren jüdischen Geschichte zu ihrem Thema machten. — 1980/81 haben engagierte Freiburger Professoren mit ihrer öffentlichen Vorlesungsreihe »Die Juden als Minderheit in der Geschichte« im Studium generale Wichtiges zu dieser Entwicklung beigetragen. In den amtlichen Reden und Schriften des Freiburger Universitätsjubiläums von 1982 kam die NS- Zeit weiterhin nicht vor. • 1983 hat in der Bundesrepublik die Erinnerung an die Machtübernahme und die Bücherverbrennung zu einem verstärkten kritischen Interesse an den Anfängen des NS-Regimes geführt, 1985 hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker mit dem Gewicht seines Amtes die Deutschen aufgefordert, sich ihrer Verantwortung für ihre eigene Geschichte zu stellen.113 — In diesem gewandelten Umfeld veränderte sich nun auch das Verhältnis der Albert-Ludwigs-Universität zu ihrer Vergangenheit. Senat und Rektorat konnten sich dem Dmck der Öffentlichkeit und ihrer eigenen, auf Aufklärung drängenden Kollegen nicht länger entziehen. Die Folgen wurden

113 Rede am 8. Mai 1985 zum Jahrestag der deutschen Kapitulation.

107 oben im Einzelnen dargestellt: 1984 der selbstkritische Bericht über die Aberkennung akademischer Grade nach 1933, 1986 die Auseinandersetzung mit dem Rektorat Heidegger — beides offizielle Veröffentlichungen der Universität in den Freiburger Universitätsblättem mit überregionaler Bedeutung. 1988/89 beendete die Vorlesungsreihe »Die Freiburger Universität in der Zeit des Nationalsozialismus« endgültig die Zeit des Beschweigens. • Bis in die Mitte der 1990er Jahre waren die einzelnen Schritte der bundesdeutschen Aufarbeitungsgeschichte durchweg Ergebnis oft heftiger öffentlicher Auseinandersetzungen gewesen — mit erheblichen Widerständen in Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse. Um die Mitte dieses Jahrzehnts begann eine neue, bis heute anhaltende Entwicklung in Richtung einer »kommunikativen Verständigung« (Helmut König) der Gesellschaft — oder doch ihrer Öffentlichkeit — über den richtigen Umgang mit der Vergangenheit. Die Leitfrage lautete nun: »Wie erinnern wir uns angemessen an diese Vergangenheit, an die deutschen Taten und an das Leiden der anderen?«. Anfang 2000 wurde der »Holocaust« (nun unter diesem, durchaus umstrittenen Titel) explizit in neue Formen einer allgemeiner Erinnerungskultur einbezogen — mit allen Zwiespältigkeiten dieser Entwicklung und bei gleichzeitiger Zunahme rechtsradikaler, den Nationalsozialismus blind verherrlichender Gruppen und Szenen in Ost- und Westdeutschland. — ln den Zusammenhang dieser Erinnerungskultur gehört das Freiburger Mahnmal von 2005. Ab 2003 begann die Universität auch mit einer nunmehr einvernehmlichen — wenn auch nicht von allen gleichermaßen mitgetragenen — umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitungen der eigenen Geschichte auch im Nationalsozialismus.

So läßt sich der lange und mühsame Weg der Freiburger Universität einordnen in den Ablauf der allgemeinen bundesrepublikanischen Aufarbeitungsgeschichte. Dabei müssen zwei Freiburger Besonderheiten festgehalten werden. Seit 1961 ist die Geschichtspolitik an der Freiburger Hochschule Jahrzehnte lang vom Nebeneinander zweier unterschiedlich orientierter Kräftegruppierungen bestimmt worden: engagierte Professoren, Assistenten und Studierende betrieben in den Veranstaltungen des Studium generale eine intensive und zeitgemäße öffentliche Aufarbeitungspraxis mit kompetenten Gästen aus der einschlägigen deutschen und internationalen Forschungsszene, während starke Kräfte innerhalb der Ordinarienschaft dafür sorgten, daß Senat und Rektor wie schon 1957 in beinernem Schweigen über die NS-Vergangenheit der Hochschule verharrten. Damit hinkte die Freiburger Universität in ihrer offiziellen Vergangenheitspolitik bis 1984 anderen Hochschulen wie Tübingen, München, Berlin oder Gießen hinterher. Und: bis 2002 hat die Freiburger Universität nur dann Anstalten gemacht, sich mit ihrer eigenen Rolle im Nationalismus zu befassen, wenn sie »von außen«, von Kräften aus der Gesellschaft, aus der universitären Peripherie und von ihren Studierenden dazu gedrängt wurde. Druck aus der Publizistik und aus der Studentenschaft haben alle Universitäten gebraucht, um in den Prozeß der Selbstkritik einzutreten, aber an anderen Orten wurden diese Anstöße von der akademischen Verwaltung früher und 108 entschiedener als relevant erkannt und in eigene öffentliche Aktivitäten umgesetzt. — Bei dem hohen Rang, den die Albert-Ludwigs-Universität in ihrer Selbstdarstellung für sich in Anspruch nimmt und der ihr in der Außenwahmehmung zugestanden wird, fallen diese Defizite ihrer Nachkriegsgeschichte durchaus ins Gewicht.

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Es hat sich gezeigt, daß der zähe Widerstand der Universität kein Relikt »brauner« Vergangenheit war, sondern Bestandteil traditioneller akademischer Identitäts- und Machtpolitik. Was immer die privaten politischen Anschauungen der Beteiligten gewesen sein mögen, — beim kollektiven Handeln von Rektorat, Senat und Ordinarienschaft ging es nicht mehr darum, den Nationalsozialismus zu stützen oder alte Nazis zu decken, sondern es ging um die »Ehre«, die »Würde« und das »Ansehen« »unserer« Universität und um deren imgebrochenen Anschluß an die — verklärten — Traditionen akademischer Hochleistungen im 19. Jahrhundert. Es ging um das Selbstbild einer traditionsverbundenen, international anerkannten und mit sich selbst identischen Hochschule. Um dieses Bild aufrecht erhalten zu können, mußten alle Erinnerungen an die beschämende Zeit im »Dritten Reich« ausgeschlossen bleiben. Das war mehr, als was landläufig »akademischer Korpsgeist« genannt wird. Es war eine bewußte Identitätspolitik. Sie wurde im Universitätsjubiläum von 1957 mit politischer Wirkungsabsicht strategisch überlegt in Szene gesetzt. Und die nächste Ordinariengeneration, deren konservativer Teil in Freiburg weiterhin die Gremien dominierte, hat diese Politik am Leben erhalten, teils aktiv an ihr weiterstrickend, teils mehr oder weniger zufrieden in ihrem Schutze lebend. Der »weltweite Ruf«, die »Ehre« oder der besondere »Geist« der Freiburger Universität waren auch weiterhin vielfach benutzte Leitmotive. Es scheint mir angebracht, diesem Aspekt noch einige Überlegungen zu widmen. Denn die anspruchsvolle Konstruktion universitärer Identität, um die es hier geht, war eine vieldimensionale Angelegenheit mit komplexen Funktionen. Nach außen hatte sie den Zweck, der Hochschule, ihren Fächern und ihrem Personal internationales und nationales Ansehen, angemessenen politischen Einfluß und hinreichende finanzielle Mittel zu sichern. Nach innen gab sie ihren Mitgliedern das Bewußtsein, einer trotz vieler Unvollkommenheiten vorbildhaften Institution anzugehören, mit der die Einzelnen sich identifizieren konnten und deren Rang und Geltung ihnen einen anspruchsvollen und angesehenen sozialen Ort verschaffte. Und in der zwischenmenschlichen Kommunikation förderte — und brauchte — sie ein dichtes, hierarchisch geordnetes Netz persönlicher Beziehungen, gesicherter Loyalitäten und gepflegter Umgangsformen, das die internen Konflikte und Machtkämpfe kompensieren konnte. — Das alles sind legitime Funktionsbestimmungen für eine solche Institution, aber die Geschichte der Universität hat gezeigt, zu welch fragwürdigen Handlungen und katastrophalen Folgen es führen kann, wenn die Aufrechterhaltung der Institution zum obersten Prinzip wird, wenn ihr Zusammenhalt ideologische Züge annimmt und wenn das äußere Auftreten wie das innere Leben der Universität nicht, oder nicht in genügendem Maß, an moralischen und humanitären Kategorien ausgerichtet werden.

109 Dem heutigen historischen Blick zeigt sich das lange Festhalten der Freiburger Universität an ihrem hohen Selbstbild als der Versuch, über die historischen Brüche von 1918 und 1945 hinweg die Elitenpolitik zu restituieren, mit der sich im 19. Jahrhundert das Bildungsbürgertum als gesellschaftliche Macht ideell, sozial und materiell abgesichert und durch die es seine Mitglieder in eine akademische Institution eingebunden hatte, die ihnen in den Individualisierungsschüben der modernen Gesellschaft eine gesicherte soziale Zugehörigkeit, intellektuelle Herausforderungen, psychische Stabilität und berufliche Wirkungsmöglichkeiten garantieren sollte. Wie bekannt, hatte dieses auf Zusammenhalt und Abgrenzung orientierte Universitätskonzept bei seiner Entstehung auf Organisationsformen und Selbstinterpretationen eines alteuropäischen »Gelehrtenstandes« zurückgreifen können, hatte sich im 19. Jahrhundert mit den Gemeinschaftskonstruktionen des deutschen Nationalismus verbündet und war nach 1918 in vielfache Affinitäten zum Nationalsozialismus geraten. Was wir an der Freiburger Aufarbeitungsgeschichte sehen können, ist die Langlebigkeit dieser universitären Identitätskonstruktion, ist die gewollte Fortdauer ihres Geltungs- und Machtanspruchs und ist ihr Scheitern an den gesellschaftlichen Realitäten des 20. Jahrhunderts.114 In den 1960er Jahren war das Selbstbild auch der Freiburger Universität als einer elitären, mächtigen und vorbildhaften Institution zunehmend unglaubwürdig geworden. Das begann mit den als Demütigungen erfahrenen Veränderungen der westdeutschen Hochschulen durch Massenstudium, Studentenbewegung und ministerielle Hochschulreformen. Und es setzte sich quälend fort mit den wachsend öffentlich verhandelten Details über die NS-Beziehungen der Universitäten, auch der in Freiburg. So konnte beim Freiburger Jubiläum von 1982 die bisherige Konstruktion einer durch ihre Vergangenheit legitimierten Hochschule nur noch mit argumentativen Verrenkungen aufrecht erhalten werden. Als dann 1982/83 Kollegen aus der Nachkriegsgeneration ihre Kritik an solcher Verstocktheit gegen die Universität richteten und dabei mit gut recherchierten Fakten argumentierten, brach das Bild einer elitär den schlimmen Zeitläuften enthobenen, unangefochtenen Hochschule schnell in sich zusammen. Dabei erwies sich — wie die unterschiedlichen Beispiele Carl Pietzckers und Hugo Otts gezeigt haben —, daß es den kritischen Aufklärern keineswegs um die ihnen oft unterstellte Zerstörung der In­ stitution und ihres Ansehens ging, sondern um deren Veränderung, — um eine Veränderung auf der Basis größerer Ehrlichkeit und mit Einbeziehung von eigenem Versagen und Schuld in die Selbstdeutung der Institution, — um die Wiederentdeckung von Kritik und Selbstkritik als zentraler Aufgaben von Wissenschaft und um die

114 Nicht mit dem Begriff der Identität, wohl aber mit der Sache wird auch in der Sekundärliteratur argumentiert, etwa von Norbert Frei (Selbsterhalt einer akademischen Elite), Axel Schildt (Intaktbleiben des »korporativen Personenverbandes vor allem der Ordinarien«) oder (unter verschiedenen Perspektiven) von den Autoren im Sammelband Bernd Weisbrods: Norbert Frei, Vergangenheitspolitik [s.o. Anm. 5], passim; Axel Schildt: Im Kern gesund? Die deutschen Hochschulen 1945, in: Helmut König [u.a.], (Hg.): Vertuschte Vergangenheit [s.o. Anm. 93], S. 223-240, hier S. 227; Bernd Weisbrod (Hg.): Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002. Gegenüber der personenbezogenen Argumentation dieser Unter­ suchungen liegt in meiner Analyse das Gewicht auf dem institutioneilen Aspekt.

110 Öffnung der Universität gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft — also um eine andere, eine weniger hochgespannte und eine offenere Form universitärer Identität. Die schmerzhaften Konflikte haben ein wichtiges Stück Befreiung gebracht. Mit der Einsicht in eigenes Versagen und eigene Schuld konnte endlich offen über die Realitäten der Jahre vor 1945 gesprochen werden. Und damit konnte sich die Universität seit Anfang der 1980er Jahre schrittweise nun auch denen gegenüber öffnen, denen ihr Handeln im NS-System Unrecht getan und Leid zugefügt hatte. 1980 hatte die Studium-generale-Reihe über die Juden ausführlich das Schicksal desjenigen Volkes ins Bewußtsein gerückt, dem bereits lange vor 1933 die Mißachtung durch einen weit verbreiteten akademischen Antisemitismus gegolten hatte; 1984 erinnerte sich die Universität offiziell und öffentlich an die, denen im »Dritten Reich« ihre akademischen Leistungen aberkannt worden waren, 1995 an die ausgestoßenen und in die Emigration getriebenen Kollegen und Kolleginnen, 2005 an alle vom Unrechtsregime betroffenen Universitätsmitglieder. Einst, 1948, hatte der jüdische Emigrant Fritz Pringsheim die Universität aufgefordert, über den eigenen Problemen »das Leid, das man zugefügt hat« nicht zu vergessen. Sechs Jahrzehnte später hat die Universität seine Worte ernst genommen.

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Identitätskonstruktionen wie die hier für die Universität skizzierten, sind nicht auf den akademischen Bereich beschränkt. Sie dürften auch bei den Widerständen mitgewirkt haben, die andere Institutionen, Ämter und Firmen einer Aufklärung ihrer Tätigkeiten in der NS-Zeit entgegengesetzt haben. Auch bei vielen ehemaligen deutschen Soldaten verstellten sie den Blick für die Verbrechen, die während des zweiten Weltkrieges von der Deutschen Wehrmacht begangen worden waren. Und offensichtlich waren sie mitbeteiligt, direkt oder indirekt, an den psychischen Identifikationsmechanismen, deren Beobachtung am Anfang dieses Textes standen. Das ließe sich jeweils im Einzelnen zeigen. Doch für die Freiburger Universitätsgeschichte sind noch zwei andere Aspekte wichtig. Wie in der allgemeinen, so ist auch in der Freiburger Aufarbeitungsgeschichte eine sich wiederholende Ablauffigur wahrzunehmen. Mehrfach war nach 1945 bei einem Großteil der Beteiligten der Eindruck entstanden, nunmehr mit der Vergangenheit ins Reine gekommen zu sein. Dann wurde diese Gewißheit gestört durch eine Konfrontation mit neuen Fakten über den Nationalsozialismus, was eine Revision bisheriger Vorstellungen und Verhaltensweisen erzwang, worauf wieder eine Phase der Beruhigung folgte, die ihrerseits nicht lange hielt ... und so fort. Der so spät bekannt gewordene Fall des Musikwissenschaftlers Eggebrecht bedeutete nur eine weitere Drehung dieser Spirale. Noch weiß niemand, ob die Bewegung damit an ihr Ende gelangt ist. Dabei hat bisher jede Etappe die Einsicht in das Ausmaß der eigenen Beteiligung am Nationalsozialismus erweitert. War es bis 1982 in Freiburg darum gegangen, der Universität ein Verständnis dafür abzuringen, daß sie überhaupt in das nationalsozialistische Herrschaftssystems verwickelt gewesen war, so wurde danach sukzessive sichtbar, wie tief diese Verwicklung in die ideologische Vergangenheit der

111 Universität zurückreichte, wie umfassend sie gewesen war, wie weit der Nationalsozialismus ihren Alltag durchdrungen hatte, wie groß das Unrecht gewesen war, das ihre Organe und ihre Mitglieder anderen angetan hatten, und wie gering und ohnmächtig, aufs Ganze gesehen, der Widerstand dagegen. Und wer von uns hätte gedacht, daß ausgerechnet die Vergangenheit von Hans Heinrich Eggebrecht uns noch einmal die Massenmorde durch deutsche Feldgendarmen vor die Augen rücken würde? Das führt zu dem zweiten Aspekt. Die Zeitgeschichtsforschung hat in den letzten fünfzehn Jahren den mühsamen Weg untersucht, auf dem die deutsche Gesellschaft sich ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit gestellt hat. Sie geht inzwischen davon aus, daß sich bei diesem Prozeß neuerdings die Akzente verschoben haben, von der Aufarbeitung eigener deutscher Beteiligung und Schuld zum Blick auf die Anderen und das ihnen zugefügte Leid und weiter zur Konfrontation mit den nicht auszulotenden Dimensionen des Schreckens im »Holocaust«. Alle neueren Überlegungen zu dieser Entwicklung, von Richard v. Weizsäckers Rede 1985 bis zu Aleida Assmanns oben genanntem Buch, kreisen um die These, daß es für unsere Gesellschaft von erheblicher Bedeutung sei, das Faktum und die Dimensionen des Holocaust aktiv im kulturellen Gedächtnisses zu bewahren. Es gehöre zur Reife und zur inneren Selbstsicherheit einer Kultur, die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit auch in deren schlimmen und beängstigenden Aspekten »auszuhalten«. Und die Erinnerung daran, wozu unsere moderne Gesellschaft an Furchtbarem imstande gewesen ist, könne helfen, unseren Anspmch auf ein von zivilisatorischen Maßstäben und von der Achtung für die Rechte der Anderen bestimmtes Zusammenleben für die Zukunft zu wahren. Unter diesem Aspekt ist es bemerkenswert, daß seit 1989 mediale, wissenschaftliche und künstlerische Beschäftigungen mit dem Holocaust nicht, wie vielfach vorausgesagt, weniger geworden sind, sondern an Ausdehnung und Intensität zugenommen haben. Inzwischen ist ein eigenes Schrifttum entstanden um die Frage, welche Gefahren des Abstraktwerdens und der Gewöhnung mit dieser Entwicklung verbunden sind. Und in diesen allgemeinen Kontext gehört m.E. auch das begrenzte Ereignis der Freiburger Eggebrecht-Geschichte, das der Gegenstand dieses Heftes ist. Wieder einmal war die Erinnerung an den Holocaust als Schock in eine erinnerungspolitische Ruhezeit und in den universitären und städtischen Alltag eingebrochen. Und wieder einmal hatte sich gezeigt, welche Schwierigkeiten es hat, wenn wir versuchen, uns zu dieser »Vergangenheit, die nicht vergeht«, in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Für die Universität aber bestätigt das, wovon ich hier berichtet habe, eine Einsicht in den immer auch politischen Charakter unserer Wissenschaften, wie sie Ludwig Huber, damals Rektor der Hamburger Universität, 1991 so formuliert hat:

Die hehren Prinzipien der Selbstbehauptung der akademischen Gemeinschaft - der wissenschaftliche Standard, die Autonomie von Forschung und Lehre, die Kollegialität — verdienen keinen Schutz an und für sich, solange nicht jeweils geklärt ist, welchem Zweck die qualitätsvolle Arbeit dient, was im Spielraum der Autonomie

112 getrieben -wird, wer durch Kollegialität geschützt wird. Keine originellen Erkenntnisse, aber...

115 Schlußpassage von Hubers »Einleitung« zum Rechenschaftsbericht der Hamburger Universität über ihre NS-Zeit in Krause, Hochschulalltag [s.o. Anm. 59], Teil 1, S. LXV.

113 Hans Peter Herrmann

Nachtrag

zum Aufsatz »Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit. Der >Fall Eggebrecht<, die Universität Freiburg und die Etappen deutscher Vergangenheitspolitik 1957-2005« ("Freiburger Universitätsblättet Heft 195,1. Heft 2012, März). Hermann Josef Dörpinghaus hat mich dankenswerter Weise darauf hingewiesen, daß bei den dort von mir genannten Arbeiten zur Geschichte der Freiburger Universität im »Dritten Reich« eine wichtige Arbeit fehlt: Ingo Toussaint: Die Universitätsbibliothek Freiburg im Dritten Reich. 2., verbesserte und erweiterte Ausgabe. München - New York - London - Paris: K.G.Saur 1984. [Als Bd. 5. der »Schriften der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau« auch in den Online-Ressourcen der UB zugänglich]. Das Buch ist mir entgangen; es wird, soweit ich sehe, auch nicht in dem Sammelband zur Geschichte der Freiburger Universität genannt, der 2007 zum 550sten Jubiläum erschienen ist.1 Das ist ein Versäumnis. Toussaints aus den Akten gearbeite­ te, unerschrockene Darstellung zeigt sich als die früheste Untersuchung über ein Frei­ burger Universitätsinstitut im »Dritten Reich«. Gründlich und ohne falsche Rücksich­ ten geschrieben, informiert sie, am Beispiel der UB, über die kleinen Widersetzlichkei­ ten und die große Willfährigkeit gegenüber den Nationalsozialisten, wie sie auch sonst an der Freiburger Universität zu finden waren. Die erste Fassung des Buchs, eine Zu­ lassungsarbeit zur Laufbahnprüfung für den höheren Bibliotheksdienst in Köln, er­ schien im gleichen Jahr 1982, in dem auch in Freiburg die selbstkritische Auseinander­ setzung mit der Rolle der eigenen Universität im Nationalsozialismus begann.2 Beide öffentlichen Akte gehörten zum Umfeld der zahlreichen bundesrepublikanischen Ver­ anstaltungen, mit denen 1983 an den 50. Jahrestag der »Machtergreifung« und der Bü­ cherverbrennung erinnert wurde und die gerade im akademischen Raum eine wichtige Zäsur in der westdeutschen »Aufarbeitungsgeschichte« markieren. So schrieb auch Dörpinghaus an mich von »großer Aufmerksamkeit«, die Toussaints Arbeit in biblio­ thekarischen Fachkreisen erregt habe und von zahlreichen Arbeiten, die sie in den fol­ genden Jahren anregte. Das sind genug Gründe, um hiermit Toussaints Buch wieder in den wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang einzubringen, aus dem es zu Unrecht verschwunden war.

550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Festschrift. Hier Bd. 3. Von der Badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts. Hg. Bernd Martin,Freiburg /Mün­ chen 2007. Dazu a.a.O, FUB 195,1. Heft 2012, S. 88.

85 Ein umstrittener Lebensweg Muß der Freiburger Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht neu beurteilt werden?

Stichworte zum Heft

Wie ein Paukenschlag hallte es wider, als der Musikwissenschaftler Boris von Haken einen mittlerweile verstorbenen Fachkollegen in einem Vortrag in Tübingen als Mör­ der anprangerte. Seine Anklage baute darauf auf, daß der 22jährige Eggebrecht zu der Feldgendarmerieeinheit gehörte, die im Dezember 1941 auf der Krim ein Massaker an Wehrlosen verübte. Haken läßt offen, ob der Kollege, um den es ihm und uns geht, zu den Todesschützen gehörte oder die Aktion durch Spalierstehen am Straßenrand mit abschirmte. Die Presse hat diesen Vorwurf, sensationshungrig wie sie nun einmal ist, begierig aufgegriffen. Der Streit schwappte in die Vereinigen Staaten über, wo es seit langem ein lebhaftes Interesse an den Untaten der Wehrmacht gibt. Ja, hier meldete sich Christopher R. Browning als Gutachter, dem wir über die deutsche Feldgendar­ merie ein bestürzendes Buch verdanken. Aus der Vertrautheit mit vielen parallelen Fällen relativiert er das Gewicht der Stimmen, die jetzt für Eggebrecht eintraten, weil nun einmal die Beteiligten daran interessiert waren, ihren jeweiligen Fall herunterzu­ spielen. Wichtig für ihn war, daß Eggebrecht seit Mai 1941 an der Beaufsichtigung der gerade in Masse anfallenden Kriegsgefangenen beteiligt war. Aus den Briefen seiner Mutter, die von der Familie bereitwillig zur Verfügung gestellt wurden, ergibt sich, daß er in Kertsch nicht zu einer Säuberungsaktion eingesetzt wurde: es sei schon damals in Simferopol schrecklich gewesen. Ist das aber ein Beweis, daß er an der vorausgegan­ genen Untat persönlichen Anteil hatte? Dagegen sind in minutiösen Untersuchungen zwei Varianten der Entlastung vorgetra­ gen worden.1 Entweder war Eggebrecht zur Zeit der Simferopol-Morde gar nicht bei seiner Einheit, sondern bei einem Unteroffizierslehrgang. Oder aber: Er wurde nicht zur Abschirmung oder zur Hinrichtung von Todgeweihten gebraucht, wozu keine be­ sondere Qualifikation nötig war, sondern versah ohne Unterbrechung den ihm aufge­ tragenen Dienst auf einem Motorrad, den ständigen Kontakt seiner Einheit mit ihren Außenposten zu unterhalten. Was ihm vorgeworfen wird, ist also nicht nur unbewie­ sen, sondern denkbar unwahrscheinlich.

1 Diese sind zugänglich: Claudia Maurer Zenck: Eggebrechts Militärzeit auf der Krim. Onli- ne-Publikation, Hamburg 2010. http:/Avww.uni-hamburg.de/Musikwissenschaft/buch /zenck eggebrecht.pdf und Friedrich Geiger: Quellenkritische Anmerkungen zum »Fall Eggebrecht«, Online-Publikation, Hamburg 2010. http://www.uni-hamburg.de/ Musikwis- senschaft/buch /geiger eggebrecht.pdf

7 Der angebliche Fall Eggebrecht wurde in Harvard durch einen angesehenen Musik- wissenschafder deutscher Herkunft weitergesponnen, der in dem wissenschaftlichen Lebenswerk Eggebrechts reaktionäre Züge erkennt, die — genauer wird das nicht aus­ geführt — offenbar in einem inneren Zusammenhang mit seiner NS-Vergangenheit stehen. Die »Freiburger Universitätsblätter« fühlen sich aufgerufen, ihre Leserschaft über den Stand der Einsicht über jemanden zu informieren, der einmal zu unserer Universität gehört und von dort aus große Wirkung auf die Entwicklung der deutschen Musikwis­ senschaft ausgeübt hat. Die Redaktion der FUB schließt diesmal an ein früheres Heft an, das sie dem Fall Heidegger widmete, nachdem neue, belastende Dokumenten über die politischen Verirrungen dieses Philosophen ans Tageslicht getreten waren. Unsere Art, ohne Scheu, aber auch ohne Gehässigkeit ein Stück Freiburger Vergangenheit aufzuarbeiten, ist damals, wie mehrere Nachdrucke zeigen, von allen Seiten anerken­ nend aufgenommen worden. Uns haben viele bestätigt, daß die Universitätsblätter ei­ nen Beitrag zu einer sachlich orientierten Rekonstruktion der Vergangenheit leisten.2 Einer der Herausgeber des vorliegenden Heftes, Günter Schnitzler, Literatur- und Musikwissenschaftler, war mit Eggebrecht eng verbunden, der zu seinen Lehrern, An­ regern und ständigen Gesprächspartnern gehörte. Der andere, Gottfried Schramm, kannte Eggebrecht gut als seinen Fakultätskollegen in bewegten Zeiten der Universi­ tät. Er ist zwar Historiker, aber beansprucht für die Krim von 1941 keine besondere Fachkompetenz, zu der eine spezielle Einübung gehört, über die er nicht verfügt. Beide glauben nicht, daß sich Eggebrecht 1941 schuldiger gemacht hat als jeder ande­ re, der auf deutscher Seite an einem verbrecherischen Krieg teilnahm. Aber sie beher­ zigen auch, was Eggebrecht selber in Gesprächen nach dem Kriege anklingen ließ: daß Befehle nun einmal ausgeführt werden mußten. Das soll wohl heißen, er sei froh ge­ wesen, daß der Ernstfall für ihn damals gar nicht eintrat. Wie hätte er sich verhalten, wenn ihm die Teilnahme an dem Massaker befohlen worden wäre? Die Antwort da­ rauf kann niemand geben. Wer könnte von sich behaupten, er hätte ohne Zögern den Gehorsam verweigert? Sehr viel leichter kann man es sich mit dem Vorwurf machen, Eggebrecht sei bei Lichte besehen als Musikwissenschaftler reaktionär gewesen. Wer das Werk von Eggebrecht kennt, der ja Grundlegendes für ältere Etappen der Musik­ geschichte geleistet hat und als erster Ordinarius in Deutschland sich umfassend mit und der Zweiten Wiener Schule beschäftigt hat, kann darin wohl kaum Handhaben für die Vorwürfe erkennen, die in Harvard erhoben wurden.

Gottfried Schramm

2 Zu dieser Gesamtproblematik, das vorliegende Heft kontextualisierend, der umfassende Beitrag von Hans Peter Herrmann (S. 75-113).

8 Inhalt

Die »Freiburger Universitätsblätter« werden 5 50 Jahre alt

Ein umstrittener Lebensweg Muß der Freiburger Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht neu beurteilt werden?

Gottfried Schramm Stichworte zum Heft 7

Christian Berger Hans Heinrich Eggebrecht 9

Albrecht von Massow Gehversuche musikwissenschaftlicher 13 V ergangenheitsbewältigung

Christopher R. Browning Musikwissenschaft und Biografie: Der Fall 51 Hans Heinrich Eggebrecht — Aus der Perspektive eines amerikanischen Historikers

Christoph Wolff Beredtes Schweigen und ein Klavier als 61 »smoking gun«

Gespräch Der Hochschullehrer Eggebrecht 67

Matteo Nanni Erinnerungen an Gespräche mit 73 Hans Heinrich Eggebrecht

Hans Peter Herrmann Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit. 7 5 Der »Fall Eggebrecht«, die Universität Freiburg und die Etappen deutscher Erinnerungspolitik 1957-2005 U niversitätsnachrichten 115

In memoriam 117

Geburtstage 121

Rezensionen 123