Wenn das Tönende die Spur der Wahrheit ist...

Das Werk des Komponisten und Musikdramatikers Armin Schibler in seiner Bedeutung für die Gegenwart

5

Inhaltsverzeichnis

Widmung...... 11

1 Musik als Suche nach dem Geheimnis: Einleitung ...... 13

1.1 Meine Erinnerungen an Armin Schibler...... 13

1.2 Biographisches...... 15

1.3 Übersicht über das Werk...... 17

1.4 Quellen dieses Buches ...... 18

1.5 Thematische statt chronologischer Darstellung des Werkes von Schibler...... 20

2 Mir ist das Leben so wichtig wie das Kunstwerk: Selbstwerdung ...... 22

2.1 Zusammenwachsen und Zusammenklingen ...... 23

2.2 Zur Bedeutung der Begegnungszeit...... 42

3 Hervorbrechen von bisher Ungeahntem: Aneignung einer dodekaphonen Musiksprache ...... 47

3.1 Darmstadt und die Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie...... 47

3.2 Impulse der Neuen Wiener Schule für einen pluralistischen Musikstil – die Zwölftonkomplexität...... 60

3.3 Musikalische Werke der dodekaphonen Phase...... 64

4 Entdeckung der Magie des Körpers: erweiterte musikalische Ausdrucksformen 66

4.1 Tanz, Rhythmus und Schlagzeug...... 66

4.2 Konzeption einer Musiksprache für Rhythmus, Tanz und Ballett...... 70

4.3 Impulse von Blues, Jazz und Popmusik für erweiterte musikalische Ausdrucksformen71

4.4 Wichtige Werke dieser Periode ...... 74 4.4.1 Rhythmische Elemente, Volksmusik, Kinderlieder...... 74 4.4.2 Werke für die Tanzbühne/Ballette...... 75

7 4.4.3 Werke für Schlagzeug, Einbezug von Negro Spirituals, Blues, nichtklassischer Musik, Jazz, elektronischer Musik...... 76

5 Kunst kann nur aus einer grossen Seele kommen: Schiblers Identität als Komponist...... 77

5.1 Grundlagen des kompositorischen Schaffens ...... 77

5.2 Der innere Auftrag – auch gegen den Zeitgeist ...... 79

5.3 Schiblers musikalischer Personalstil...... 85

5.4 Der schöpferische Prozess im Schaffen Schiblers am Beispiel Media in Vita...... 88

6 Das Tönende durch das Wort verbindlich machen: Hörwerke ...... 97

6.1 Vom Musiktheater zum Hörwerk ...... 97 6.1.1 Die Allgegenwart des Wortes in Schiblers Werk...... 97 6.1.2 Frühe kritische Stellungnahme zum Zeitgeschehen ...... 99 6.1.3 Literarische Zeugnisse zur behaftbaren künstlerischen Aussage ...... 101

6.2 Die Konzeption des Hörwerkes ...... 106 6.2.1 Synergetisches Gleichgewicht von Musik und Sprache – Fundament des Hörwerkes...... 106 6.2.2 Gestaltungsprinzipien im Hörwerk...... 109 6.2.3 Zur Aufführungspraxis der Hörwerke ...... 112

6.3 Die zeitkritischen Hörwerke ...... 113 6.3.1 Vom urromantischen Naturgefühl zum ökologischen Engagement: Greina114 6.3.2 Gegen Machtmissbrauch und Unterdrückung: Epitaph auf einen Mächtigen123 6.3.3 Die Ambivalenz des technischen Fortschrittes: Der da geht...... 125

6.4 Das zukünftige Musiktheater – jenseits von E- und U-Musik?...... 128

7 Offenbarung des Sinnes, tönende Stille: Zum Stellenwert von Musik...... 131

7.1 Seelische Resonanz in und mit Musik ...... 131

7.2 Der Mensch zwischen kosmischer Einbettung und irdischer Existenz ...... 132 7.2.1 Geheimnis Musik: Verbindung mit dem kosmischen Sinnganzen...... 133 7.2.2 Musik: Stillung der Sehnsucht nach authentischem Ausdruck ...... 134

8 7.2.3 Musik als gemeinschaftsbildende, lebensbewältigende Kraft...... 136

7.3 Musik als Spiegel der gegenwärtigen Zeit...... 137 7.3.1 Schmale Hörerbasis der modernen E-Musik ...... 138 7.3.2 Die Spezialisierung des Hörers auf seine Lieblingsmusik ...... 141 7.3.3 Kulturtheoretische Betrachtungen zur gegenwärtigen Musikszene ...... 141

7.4 Missbrauch von Musik...... 142

8 Die Nähe des Unzerstörbaren: religiöse Tiefen in Schiblers Werk ...... 145

8.1 Existentielle Gottesnähe im Leben von Armin Schibler ...... 146

8.2 Schiblers Quellen religiöser Gewissheit...... 147 8.2.1 Gottes Gegenwart in schöpferischem Tun...... 148 8.2.2 Mystisches Erleben ursprünglicher Naturlandschaften ...... 149 8.2.3 Religiöse Erfahrungen in der Ekstase...... 150 8.2.4 Religiöse Erfahrungen in Liebe und Sexualität...... 152

8.3 Entfaltung des Gottesbild in und trotz einer leidvollen Welt ...... 153 8.3.1 Ent-Schuldung der Sexualität ...... 153 8.3.2 Gott und der Ursprung des Leidens in der Welt...... 155

8.4 Der innere Auftrag als weltliches Priestertum...... 157

8.5 Werke zu Texten und Themen der christlichen Tradition - Vision einer Religion in Freiheit 161 8.5.1 Antworten auf existentielle Grundfragen: Messe für die gegenwärtige Zeit162 8.5.2 Reflektierte Verantwortung: Vaterunser - zeitgemäss...... 166 8.5.3 Mysterium leidenschaftlicher Liebe: La Folie de Tristan ...... 167

9 Das letzte grosse Thema, das sich als roter Faden durch mein Lebenswerk zieht: Der Tod ...... 174

9.1 Das Thema Tod im Leben des jungen Schibler...... 174

9.2 Gesichter des Todes in Schiblers Werk ...... 177

9.3 Werke der Auseinandersetzung mit dem Tod...... 178 9.3.1 Übersicht...... 178 9.3.2 Überwindung des Todes: Passacaglia...... 179

9 9.3.3 Der Tod als Künder einer anderen Welt: Un Signal d'Espoir...... 180 9.3.4 Schönheit des Lebens und Transzendenz: Trauermusik...... 181 9.3.5 Dienst am künstlerischen Werk, ein Requiem: Amadeus und der graue Bote182

9.4 Genug ist genug: Armin Schiblers Sterben ...... 183

10 Armin Schibler im Spiegel der Zeit...... 186

10.1 Armin Schibler und seine Zeit ...... 186 10.1.1 Resonanz auf das Wirken Schiblers ...... 186 10.1.2 Resonanz auf das Werk Schiblers...... 188

10.2 Künstlerischer Wahrheitsanspruch und postmoderne Trends ...... 192

10.3 Ein Schlusswort ...... 196

11 – Discographie- und Literaturverzeichnis...... 197

11.1 Discographie ...... 197

11.2 Veröffentlichte Schriften Armin Schiblers ...... 198

11.3 Unveröffentlichte Schriften Armin Schiblers ...... 198

11.4 Sekundärliteratur zu Armin Schibler ...... 199

10 Widmung

In Erinnerung an meinen Vater Armin Schibler

Damals als Kind Ich schwamm als Fisch in einem Meer von Tönen Wir sangen unsere Fragen und hörten Echo im Vibrieren unserer Körper. Und der Ton im Dom des Lebens war hoch und unendlich weit. Mein Vater schien zu hören, wenn er seine Ton-Kathedralen komponierte Nein: Er hörte nicht sich selbst, er hörte ES. Indem er die Frage sang: Wo bist Du? erklang Resonanz.

Aufwachend Aufwachsend vergass ich. Klänge, Kathedralen, Resonanzen Übrig blieb: Leere, Stille, Grau und nur die immer schmerzhaftere Frage: Wo ist Gott? Die Antwort erklingt nur wenn jemand hört. Doch da war niemand. Auch ich nicht. Nur einmal betrat ich den Domes erneut und horchte. Ertrug kaum mehr die Fülle.

Erwachsenwerden So zerbrach der Klangraum! Kein Dom, nichts nur Sinnleere wir kreisen verloren im All grenzenloser Himmel über uns am Boden Scherben einer Illusion. Ich hebe sie auf verletze meine Hände

11 sie bluten. Eigenartig: Illusionen hinterlassen keine Scherben. Ich erschrecke. Weine vor Schmerz Wo bist du, schluchze ich Wo bist du - und wer? Schluchze und singe bis ich selber zur Antwort werde klinge, vergehe.

Die nächste Generation Ihr meine Töchter wachst wieder auf in der Kathedrale, im uralten Dom der nicht der meine ist von anderen erbaut und dennoch habe ich mitgebaut ihm ein weibliches Fundament gelegt noch tiefer und stärker als das frühere. Ihm Pfeiler hochgemauert elegant geschwungen, wie weibliche Körper. Ein weites Dach gespannt mit Runen der Liebe bedeckt zu einer Höhle. Wird er über euch auch zusammenstürzen? Euch unter sich begraben? Ich beschwöre euch den schöpferischen Strom fliessen zu lassen Indem ihr singt, indem ihr klingt wird der Klangraum, wird Antwort, wird die Welt.

12 1 Musik als Suche nach dem Geheimnis: Einleitung

1.1 Meine Erinnerungen an Armin Schibler

Als seine Tochter trage ich natürlich eine Fülle von Erinnerungen in mir, welche jedoch im Rahmen dieser Biografie nur am Rande zum Zuge kommen. Nicht die Erinnerungsperspek- tive eines Kindes, das für das Werk seines Vaters nur marginales Verständnis haben kann, soll zählen, sondern das Lebenswerk eines Künstlers, das auch ich in seiner ganzen Fülle erst als erwachsener Mensch im Zuge meiner Recherchen kennengelernt habe. Trotzdem will ich Rechenschaft darüber ablegen, aus welchen Interessenschwerpunkten meine jetzige intensive Beschäftigung mit Leben und Werk meines Vaters erfolgte. Zunächst will ich, gleichsam kaleidoskophaft, Erinnerungen an meinen Vater, die mir wichtig scheinen, bündeln. Oft begleiteten wir Kinder unseren Vater auf seinen unzähligen Wanderungen, die meist weit, anstrengend und oft abenteuerlich waren - das machte sie für uns Kinder attraktiv: wir empfanden es nicht als Zwang, mitzugehen. Schibler wanderte schnell, er ging und ging, oft gejagt von Klängen, Melodien, Rhythmen. 'Ich wandere, bis sie verstummen', erklärte er uns. Als Kind beeindruckte mich diese Aussage, liessen mich rätseln: Welche Klänge – offenbar bisweilen fast an den Rand der Qual - erfüllten den Kopf meines Vaters? Mein Vater schenkte mir 1972 (ich war 16-jährig) seine neu erschienene Schallplatte Werk- spur mit der Widmung: "Meiner geliebten Regina, mit der ES weitergeht." Ich wagte nicht zu fragen, worauf dieses ES beruhen möge, denn ich ahnte, was mein Vater meinte. Die Widmung machte mich stolz und verlegen. Wollte ich, dass etwas mit mir weiterging - um was auch immer es sich handelte? Als Heranwachsende erlebte ich meinen Vater öfters in Aufführungen seiner Werke, unter anderem als Musizierende oder Sängerin in der Aula des Gymnasiums Rämibühl in Zürich, denn Verstärkung seines Schülerensembles war immer willkommen. Mich beeindruckten die Proben und Vorbereitungen. Alles schien sich in musikalisches Chaos aufzulösen, doch wir waren mitten drin, gepackt vom Dämon der Schiblerschen Musik. Mein Vater dirigier- te und hatte die Sache im Griff. Ich spürte eine Magie, das Andere. Etwas lebte durch uns Aufführende. Oder war es nur mein kindlicher Wunsch, meinem Vater möge die Auffüh- rung gelingen? Fast ebenso oft erlebte ich Probenvorbereitungen mit problematischen Randerscheinungen: Meckernde, meuternde Schüler, fehlende oder falsch gestimmte Instrumente, fehlende oder faule Instrumentalisten, Überforderung durch den Schwierigkeitsgrad der Musik, Musiker ohne Notenkenntnis (beispielsweise bei jazzoiden Elementen.) Nichts lief, alles ging schief ... Manchmal verfluchte ich in solchen Momenten, durch Familienbande zum Mitspielen verpflichtet zu sein. Sonderbarerweise endete jedoch kein einziges Konzert in einem Fias- ko, irgendwann gelang der Durchbruch, wir brachten etwas zu stande.

13 Mit 16 Jahren begann ich intensiv, nach Gott, nach tieferen Dimensionen des Lebens zu suchen. Ich las Nietzsche, Wittgenstein, Sartre und weitere Philosophen, die (scheinbare) Sinnlosigkeit des Lebens und Gegenwartsprobleme wie die Zerstörung des Lebensraumes erdrückten mich fast. Auch meinem Vater stellte ich die mich bedrängende, fast quälende Frage: „Gibt es Gott? Was ist der Sinn des Lebens?“ „Höre meine Musik“ antwortete er mir. Mir passte seine Antwort nicht: „Immer Du mit Deiner Musik“ dachte ich. „Ich will nicht Deine Musik hören, ich will eine Antwort. Ich will wissen, ob es Gott gibt“. Eine lange, schmerzhafte Suche in fremden Landen nach Gott begann. Heute verstehe ich eher: Seine Antwort damals war nicht eigentlich aus Arroganz und Egozentrik geboren. Er konnte es nicht anders sagen, es war seine Antwort. Nach seinem Tod, im Zuge meiner Nachforschungen in den unveröffentlichten Manuskripten von Armin Schibler im Paul- Sacher-Archiv, begegnete ich einer Notiz (Entstehungsdatum unbekannt) meines Vaters unter dem Titel Erziehung, die mich erschütterte: "Menschen wachsen auf wie Tiere, Blumen Sie wissen was oben ist Die Kinder sahen wenn ich schwankte im Sturm wenn ich standhielt im Wind und die Fahne sich nicht drehte und wenn ich schwach war wenn ich unterlag hörten sie meine Stimme die es eingestand sie ahnten was zwischen UNS war doch wir haben davon nicht gesprochen." Ohne Zweifel ist dieser Text durch die Erziehung seiner eigenen Kinder inspiriert: In einer ersten, korrigierten Version spricht er von 'meine Kinder sahen...'. Dieser Text beeindruckt mich wohl deshalb, weil er eine tiefere Realität unserer Beziehung in Worte fasst. Als Kinder durften (und mussten) wir teilnehmen an den (künstlerischen) Erfolgen und Misserfolgen unseres Vaters. Ich erlebte ihn in der Stärke seiner musikali- schen Welt, und in der Schwachheit bei Verletzung durch boshafte Kritiken, künstlerische Angriffe, mangelnde künstlerische Resonanz oder unzulängliche Aufführungsmöglich- keiten. Ja, ich ahnte, was zwischen UNS war: Das Magische, die schöpferische Welt, das Andere. Alles unzulängliche Worte für das Geheimnis des Schöpferischen. Und wir spra- chen nicht, wohl aus Scheu, etwas könnte den magischen Klang zerstören. Andere zentrale Erinnerungsbilder: • Unvergesslich ist mir der Sommer 1978 im Tessin: Ich erlebte, wie mein Vater, am Flügel komponierend, am Werk Messe für die gegenwärtige Zeit arbeitete, tagelang von

14 denselben Rhythmen und Klängen absorbiert. Zum ersten Mal realisierte ich etwas, was mir bis jetzt selbstverständlich vorkam: Mein Vater erschien mir unglaublich beglückt, von einem Schaffensrausch erfasst, fast in eine andere Welt entrückt. Eines Morgens spielte er mir Harmonien und Rhythmen vor - ich kann sie heute noch nachsingen! – begleitet von solchen Worten wie: „Ist das nicht gut? Weisst Du, das wurde mir geschenkt“ Seine Versunkenheit ins kompositorische Schaffen, dieses Glück hinterliess in mir tiefe Spuren und weckte die Sehnsucht nach eigenem schöpferischen Ausdruck. • Manchmal verfluchten wir Kinder auch die expansive Lebensweise meines Vaters. Im Tessin verbrachten wir mehrere Jahre, ja Jahrzehnte Ferien in einer alten Mühle, wir bauten sie selber aus - bereits dies brachte genügend Arbeit mit sich. Am Ende der Ferien, kurz vor der Heimreise stellte sich jedoch des öfteren heraus, dass er bei einer Gärtnerei einige 100 Bäume bestellt hatte. Inspiriert wurde er zu dieser Aktion durch die Geschichte eines Schriftstellers aus der Provence, in der die Hauptperson im Laufe von Jahrzehnten wieder ganze Wälder angepflanzt hatte - worauf tatsächlich wieder Quellen zu sprudeln begannen. In einer hektischen Pflanzaktion mussten wir nun die bestellten Bäume noch pflanzen! • Eine letzte Erinnerung: 1986 begleitete ich meinen Vater auf einen seiner letzten schweren Gänge im Triemli-Spital Zürich. Als Krebskranker musste Bestrahlungen über sich ergehen lassen. Während ein Pfleger ihn auf seinem Bett in die untersten Keller zur Computer-Tomografie schob, sang er „I want to die easy when I die“, und ich stimmte mit ein. Tränen liefen uns über das Gesicht. „Ich will nicht sterben, ich will leben. Ich habe mich mein Leben lang mit dem Tod beschäftigt, jetzt will ich mich mit dem Leben beschäftige.“ äusserte er - entgegen zum Liedtext - mit grosser Entschlossenheit. Verbindender Kern all dieser Erinnerungen ist für mich die Intensität meines Vaters, seine Masslosigkeit und seine Lebensfreude. Mein Vater hat mich zweifelsohne in meiner Berufswahl wie in meiner Lebensgestaltung geprägt und beeinflusst. Ich studierte erst einige Semester Musik am Konservatorium. Danach wechselte ich zur Theologie: Das Interesse, ja die Hingabe an Musik und an religiöse Fragen verbindet uns. Das eigentlich Verbindende hat jedoch noch mehr mit dem Kern dieser Arbeit und aller meiner Erinne- rung zu tun: Der Schaffensdrang meines Vaters - und die eigene Suche nach dem schöpferischen Ausdruck, um selbst diesen Zustand der Erfüllung, der schöpferischen Ekstase, des 'Flow'1 kennenzulernen.

1.2 Biographisches

Armin Schibler wird am 20. November 1920 in einer kleinbürgerlichen Familie in Kreuzlingen geboren. Er hat zwei Geschwister: einen älteren Bruder Alfred und eine

1 Vgl. zu diesem Begriff Mihalyi Csikszentmihalyi, Flow: The Psychology of Optimal Experience, New York, Harper and Row 1990.

15 jüngere Schwester Erika. Seine Gymnasialzeit absolviert er in Aarau und beginnt anschliessend, am Konservatorium Zürich Musik zu studieren. Dort begegnet Schibler seiner zukünftigen Frau, der Geigerin Tatjana Berger. Ein Zusammenspiel beginnt und eine Freundschaft entsteht, welche auch künstlerisch fruchtbare Folgen zeitigt. Nach dem Kriegsende bereist Schibler zu Studienzwecken Eng- land und besucht dabei unter anderem die Komponisten und . Im Mai 1947 heiraten Tatjana Berger und Armin Schibler. Schibler wird vollamtlicher Musiklehrer am Gymnasium in Zürich. Mit Tatjana Schibler hat er drei Kinder: Thomas (1949), Christian (1952) und Regina (1956). Als Musikpädagoge ist Schibler bis kurz vor seinem Tod im Jahre 1986 tätig.

Kompositorische Anfänge Schibler komponiert verschiedenste Werke mit musikalischen Bausteinen aus barocken, spätromantischen und impressionistischen Dimensionen. Sein Lehrer ist Willy Burkhard, welcher ihn stark prägt. Während seines Englandaufenthaltes wird Benjamin Britten zu einem weiteren musikalischen Vorbild dieser Periode.

Dodekaphonie (ab 1948) Ab 1949 setzt sich Schibler anlässlich der Darmstädter Ferienkurse mit der Dodekaphonie auseinander. Er beginnt, Zwölfton-Einflüsse in seine Musik aufzunehmen und es entstehen dodekaphonische Werke. Auch nach seiner eigentlichen dodekaphonischen Phase wird er dodekaphonische Elemente in seine Musik verwenden (Kap. 3.3). Musikalische Vorbilder dieser Phase: Arnold Schönberg und Alban Berg

Tanz, Jazz, Schlagzeug (ab 1952) Nach der Auseinandersetzung mit den geistigen Ordnungsprinzipien der Dodekaphonie erfolgt das Ernstnehmen des Körpers. Ab 1952 beschäftigt sich Schibler verstärkt mit ar- chaischen Dimensionen des Rhythmus, mit dem menschlichen Körper und dem gestalteten Körpererlebnis, dem Tanz und mit nichtklassischen Musikidiomen wie Jazz. Dadurch er- folgt eine verstärkte Entfaltung des Parameters Rhythmus im eigenen Werk. Es entstehen Werke für die Tanzbühne und für Schlagzeug. Schibler experimentiert mit der Verwendung fremder Musikidiome ins eigene Schaffen. Musikalische Vorbilder: Gustav Mahler und Igor Strawinsky.

Zuwendung zum Musiktheater (Oper) - erste Hörwerke (ab 1956) Schibler öffnet sich musikalisch weiteren stilistischen Möglichkeiten. Er ringt intensiv um die Oper und das Musiktheater. Es entstehen diverse Werke für die Oper und Hörwerke in Anlehnung an die Idee des totalen musikalischen Theaters. Die Idee des Werkganzen ermöglicht musikalisch eine Öffnung ohne Angst vor Identitätsverlust.

16 Gesellschaftskritische Hörwerke (ab 1970) Aus seiner Betroffenheit über die ihn bedrängenden Zeitprobleme wie die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen (Umwelt/Schöpfung), der Ost-West-Konflikt, der Macht- missbrauch in diktatorischen Staaten oder die immer stärkere Kommerzialisierung und Vermassung des kulturellen und geistigen Lebens im Westen entstehen gesellschaftskri- tische Hörwerke.

Hörwerke mit mythischen Stoffen und Themen (1980-1986) In seiner letzten Schaffensperiode konzentriert sich Schibler auf die ‚grossen‘ Menschheitsthemen, wobei er sich wieder besonders mit jenem letzten grossen Thema, dem Tode, auseinandersetzt. Musikalisch entwickelt er eine alle Lebensbereiche umfassende maximal music: Musik, welche verschiedenste Musikidiome einsetzt, um der Vielfalt von Leben und Lebenssituationen gerecht zu werden. Nach wie vor strebt er die intensive Integration sprachlich-literarischer Elemente in seiner Musik an. Werke des totalen Hörerlebnises entstehen, welche Menschen ganzheitlich anzusprechen vermögen. Anfang Januar 1986 bricht ein schweres tödliches Krebsleiden aus, Schibler stirbt am 7. September in der Bircher-Benner-Klinik Zürich.

1.3 Übersicht über das Werk

So beschreibt er selbst treffend, worin für ihn das Wesen der Musikgründet: "Wie gut zu wissen, dass die Musik Empfindungen und Vorstellungen zum Ausdruck brin- gen kann, für welche es keine Worte gibt. Die Musik - sie zahlt heute schweren Tribut an die Veräusserlichung, ihr innerstes Anliegen in der Gemeinschaft ist bedroht. Dafür aber vermag sie dort, wo alle Rücksichten fallen, innerste Geheimnisse von Menschsein und Zeit hörbar, erlebbar zu machen. Sie offenbart das GEHEIMNIS, ohne es preiszugeben, Blumen und Tieren gleich. Die grossen Fragen des WOHER und WOHIN beantwortet sie, indem sie uns in ihr Geheimnis hineinnimmt und erlöst aus der Befangenheit von Zeit und Raum. Wo Musik resigniert und verstummt, da wüssten auch Götter nicht weiter. Ihre Resignation führt auch den Aufgeklärten in die Demut der religiösen Ahnung zurück, ihre Hoffnung verleiht auch dem Grauen und der Nacht unserer Existenz einen Schimmer kosmischen Sinnes, eine Morgenröte tellurisch-planetarer Ordnung, die uns mit einbezieht. Die Wesentlichkeit einer Musik bestimmt sich, in wieweit sie teilhat an diesem Geheimnis. Reicht sie in diese Urgründe, dann ist sie modischen Wechseln und Launen weitgehendst entrückt und vermag uns über Jahrhunderte hinweg zu ergreifen."1

1 Armin Schibler, Tagebuch April 1958.

17 Welches künstlerische Werk, welcher Mensch mit welcher Lebenserfahrung steckt hinter dieser Wertschätzung von Musik, stecken hinter den mahnenden Hinweisen auf die Gefah- ren des Missbrauchs? Welche Veranlagung, Entwicklungen und Auseinandersetzungen stehen hinter dieser Hochachtung? Armin Schibler ist der Schöpfer eines umfangreichen und vielseitigen Werkes, welches grösstenteils in Vergessenheit geraten ist und das in der Gegenwart nicht mehr zur Aufführung gelangt. Sein musikalisches Universum umfasst 227 musikalische Werke1. Hinzu kommen literarische Texte, musiktheoretische Schriften und musikpädagogische Veröffentlichungen, die den Ansatz verfolgen, Menschen zum eigenschöpferischen Tun und Musizieren zu ermuntern, ohne dass sie fähig sein müssen, ein klassisches Instrument zu spielen. Schiblers Faszination für das Phänomen Musik führt dazu, dass er Werke mit absoluter Musik schafft wie auch Werke, welche Sprache in den Raum des Musikalischen zu integrieren vermögen. Immer bleibt sich Schibler dabei der Ambivalenz und der Grösse des Phänomens Musik bewusst. Nicht zufällig führt Schiblers künstlerischer Weg zur Schaffung der Gattung der Hörwerke (S. 107), für welche er grösstenteils selber textliche Vorlagen entwirft. Schiblers Lebenswerk zeigt ein stetes Kreisen um die Phänomene Musik und Sprache mit ihren vielfältigen Bedeutungsvarianten. Immer ist er auf der Suche nach neuen musikali- schen Ausdrucksformen und Möglichkeiten. Dabei kommt die Vielfalt der Musikgattungen wie Jazz, Volksmusik, Unterhaltungsmusik, Schlager, Pop, Rock, Blues etc. zum Zuge. Schibler kennt keine Betriebsblindheit in bezug auf musikalische Gattungen: Nicht nur klassische Musik lässt er gelten, sondern die Vielfalt der Musikidiome und der musikali- schen Ausdrucksformen von Menschen rund um den Erdball. Für ihn bemisst sich der Stellenwert musikalischen Ausdrucks darin, wie weit dieser seinem Ideal von Echtheit, Ur- sprünglichkeit und Unverzwecktheit nahe kommt. Musik ist für ihn echt, wenn sie Lebens- raum der Seele ist, wenn in ihr Gefühlsintensitäten wie Freude, Trauer, Klage und Ver- zweiflung Platz finden, wenn sie besonders die Klage von Entrechteten, ja die Klage einer entrechteten Erde hörbar macht.

1.4 Quellen dieses Buches

Dieses Buch basiert auf folgenden Dokumenten:

1 Das von Armin Schibler selbst zusammengestellte und kurz seinem Tode (1985) veröffentlichte Werkver- zeichnis führt 194 Werke auf: Armin Schibler, Das Werk 1986, Selbstdarstellung - Werkliste und Werkda- ten - Dokumente zur Realisation - Werkstattexte - Biographisches, Adliswil und Lottstetten 1985. Beim Ordnen des Nachlasses stellte sich heraus, dass der Komponist neben mehreren unveröffentlichten Jugend- werken auch einige bedeutende, im Druck befindliche Stücke vergessen hatte. Jacques Lasserre ergänzte daraufhin das Schiblersche Werkverzeichnisses, das danach insgesamt 227 Werke umfasstde, nicht eingerechnet literarische und musiktheoretische Schriften. Vgl. Jacques Lasserre, Werkverzeichnis von Armin Schibler, Edition Kunzelmann, Lottstetten/Adliswil, S. 19-40.

18 • Schiblers Angaben zu Thematik, Inhalt, musikalischer Aufbau und Aufführungen der einzelnen Werke1, zusätzlich Schiblers musiktheoretische Schriften. • Biografien über Armin Schibler.2 • Das literarische Werk Armin Schiblers: Neben den veröffentlichten3 Schriften gehören dazu auch unveröffentlichte Texte aus dem Archiv4 in der Paul Sacher Stiftung in Basel. • Tagebücher und die davon zu unterscheidenden Tagebuchnotizen5 (beides unveröffent- licht): Die Tagebücher aus den Jahren 1949 – 1966 eröffnen einen einzigartigen Einblick in sein Denken, Fühlen und künstlerisches Schaffen und geben Hinweise auf sein philosophisch-künstlerisches Selbstverständnis, wie die darin angesprochenen Themen zeigen:

- Individuation, persönliche und künstlerische Selbstfindung.

- Partnerschaftsfragen, Beziehungsthemen, Liebesgedichte und Briefe etc.

- Naturbeobachtungen, Berichte von Flussfahrten, Wanderungen alleine und (später) mit der ganzen Familie. Wahrnehmungen von Naturzerstörung und gewaltsamen Ein- griffen des Menschen in die Natur.

- Auseinandersetzung mit weiteren Zeitproblemen, z.B. mit gesellschaftspolitischen Fragen.

- Begegnungen und Freundschaften mit Zeitgenossen, Künstlern und Kulturschaffen- den.

- Träume des Künstlers, Reiseeindrücke, Eindrücke im Zusammenhang mit Konzert- reisen.

- Dokumente des Ringens um künstlerische Prozesse und um die schöpferische Arbeit. Schibler notiert die vielfältigsten Werkideen und Pläne, die keinesfalls alle zur Ausführung gelangen, äussert sich zu kreativen Prozessen, zu fertigen Werken, legt über das eigene Schaffen Rechenschaft ab, setzt sich mit Kritik auseinander etc.

1 Armin Schibler, Das Werk 1986 und Jacques Lasserre, Werkverzeichnis von Armin Schibler, Edition Kunzelmann, Lottstetten/Adliswil. 2 Hans-Rudolf Metzger, Armin Schibler, 1920-1986, Leben und Persönlichkeit; 174. Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, Zürich 1991. Andres Briner, Armin Schibler, 1920-1986, Zur Musik, 175. Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, Zürich 1992. 3 Armin Schibler, Texte 1971-74 und Armin Schibler, Texte 1975-82, beide Adliswil/Lottstetten, 1975 bzw. 1982. 4 Das Armin-Schibler-Archiv wurde im Jan. 1997 von Tatjana Schibler der Paul Sacher Stiftung in Basel als Schenkung übergeben. Dort befinden sich sämtliche Originale. 5 Die Tagebücher - chronologisch geordnete, schwarze Wachshefte - führte Schibler von 1949 – 1966, während er in den Tagebuchnotizen - festgehalten auf kleinen Kalenderblättern - Zeit seines Lebens stichwortartig innere und äussere Ereignisse eines jeden Tages notierte.

19 - Reflexionen über Erlebnisse im Familien- und Berufsalltag: Geburten, Heranwachsen der Kinder, pädagogische Arbeit am Gymnasium etc.

- Angaben zu Lektüre, Besuch von kulturellen Veranstaltungen (Konzerten, Filmen, Theater etc.)

- Reflexionen zu religiös-philosophischen Fragen und zu Sinnfragen, Gebete, Meditationen etc. • Eine weitere Quelle stellen die - unveröffentlichten - Lebenserinnerungen von Ehefrau Tatjana Schibler dar: Doppelfuge, mein Leben mit dem Komponisten Armin Schibler.1 Darin heisst es: "Warum ich schreibend ein Leben in der Erinnerung nochmals durchgehe? Vielleicht bannt es die grosse Trauer des Verlustes, die Tränen, den hilflosen Schmerz, den ver- geblichen Versuch, bei jemandem Trost zu suchen. Vielleicht kann in einer würdigen Form der Dankbarkeit Ausdruck verliehen werden, an einem ausserordentlichen Leben teilgenommen zu haben. Am Leben eines Men- schen, der den Willen, aber auch die Überzeugung hatte, dass das Glück in uns liegt, hier und jetzt. (...) Zu künden von dem beispielhaften Einsatz, erst ein voller Mensch zu sein, sein Leben zu gestalten, um ein Werk von umfassender Grösse zu schaffen; zu künden von dem grossen Wunder, sich gegenseitig das persönliche Paradies auf Erden zu schaffen, dass es keine Utopie ist, die durch der Götter Neid geteilte Kugel von der ursprünglichen Einheit von Mann und Frau im Plato'schen Sinne, wieder verschmelzen zu können. Grosse Worte - ich durfte deren Realität erleben in 39 'altmodischen' Ehejahren, der schönsten Zweisamkeit, ohne Gewöhnung, immer im spannungsvollen Auf- und Umbruch zu neuen Ufern. Warum gelingt das so selten, waren wir vom Glück bevor- zugte Menschen?"2

1.5 Thematische statt chronologischer Darstellung des Werkes von Schibler

Neben einem chronologischen Ordnungsprinzip lässt sich das Werk Schiblers, dessen Denken immer von einem ihm wichtigen Thema bestimmt war, auch anhand der sich daraus ergebenden Themenschwerpunkte gliedern, die oft verschiedene künstlerische Phasen übergreifen, indem Schibler ein bestimmtes Thema in immer neuen künstlerischen Ausprägungen gestaltet. Für die folgende Darstellung des Schiblerschen Werkes habe ich die thematische Ausrichtung als Hauptleitfaden gewählt und der chronologischen Anordnung vorgezogen, wie die Überschriften der weiteren Kapitel zeigen. Denn in der thematischen Ausrichtung

1 Tatjana Schibler, Doppelfuge 1-4, unveröffentlichte Lebenserinnerungen in vier Bänden, im Besitz der Autorin, Zürich. 2 Tatjana Schibler, Doppelfuge 1, Anstelle eines Vorwortes 1.

20 lassen sich die musikalisch-künstlerischen Entwicklungen und Reifungsprozesse Armin Schiblers, um die es mir in diesem Buch vor allem geht, angemessen herausarbeiten. Ausgehend von den Tagebüchern und den Tagebuchnotizen werde ich Leben und Werk Armin Schiblers entfalten, das ich als eine Einheit begreife. Die Selbstzeugnisse Schiblers lenken den Fokus auf menschheitsgeschichtlich bestimmte, philosophische, zeitkritische und religiöse Themen, die das Hauptgewicht im Werke Schiblers bilden. Das ergibt sich auch aus der Sichtung des musikdramatischen Werkes: Der Künstler Schibler erfährt sich als Mahner, als Übermittler einer Botschaft, ja - in seiner Frühphase - als Repräsentant einer Priesterschaft, die sich jedoch signifikant von der christlich-religiösen Priesterschaft unterscheidet. Dieses Selbstverständnis ist vor allem beim jungen und privaten Schibler der Tagebücher anzutreffen, der ältere und sich öffentlich äussernde Schibler ist insbesondere in bezug auf religiöse Aussagen zurückhaltend, seine Werke jedoch widmen sich verstärkt sowohl mythisch-religiösen wie auch zeitkritischen Themen. Interesse und Veranlagung, aufscheinend bereits in den frühen Tagebucheintragungen, integrieren und verdichten sich künstlerisch zunehmend in seinem Werk ab 1966. Nur am Rande berücksichtige ich in dieser Arbeit das rein musikalische Werk Schiblers, vor allem die konzertanten Werke wie Sinfonien, Kammermusik1 und solistische Werke2 (für jedes orchestrale Instrument hat er ein Solokonzert geschrieben). Der Umfang dieses Werkbereiches ist erstaunlich, seine Bedeutung vermutlich weithin unterschätzt. Die Würdigung der konzertanten Werke muss andern Autoren, vor allem Musikwissenschaft- lern, überlassen bleiben. Kaum Berücksichtigung erfährt auch das pädagogische Werk Schiblers.3

1 Konzertante Werke und Kammermusik, Das Werk 1986, S.110. Schibler zählt in diesem Kapiteln über 60 Werke auf! 2 Das Klavierwerk; Das solistische Vokalwerk, Das Werk 1986, S.110 ff. In diesen Werkkategorien sind über 23 Werke aufgezählt. 3 Das pädagogische Werk, Das Werk 1986, S.121-131.

21 2 Mir ist das Leben so wichtig wie das Kunstwerk: Selbstwerdung

Armin erlebt eine glückliche Kindheit in Kreuzlingen. Zu seinen Interessen schreibt er: „Als Primarschüler schon schrieb ich spannende Geschichten, angeregt durch Karl May und die kleinen gelben Hefte mit Abenteuern. (...) Hätte ich auf dieser Linie weitergemacht, wäre ich zweifellos Schriftsteller geworden."1 Doch seine Interessen verlagern sich: „Auch die Eltern musizierten eifrig: mein Vater sang Dutzende von Opernarien und Operettenmelodien auswendig, während meine Mutter am Klavier begleitete. Auf diese Weise brachte mich das musikalische Familienklima immer mehr zur Musik. Bald wanderte ich jeden Mittwochnachmittag über die Grenze nach Konstanz zur Klavierstunde.“2 Den halbstündigen Weg dorthin unterbrach er jeweils, um im Hauptzollamt seinen Vater zu begrüssen, der, die grüne Dienstmütze mit Schweizerkreuz aufgesetzt (was dem Jungen besonders Eindruck machte!), als Zöllner hinter dem Schalter sass und die zollpflichtigen Passanten abfertigte. Zu seiner ersten, spontanen 'Entdeckung' des Melodramas schreibt er: "Als unser Abtei- lungsleiter für einen Gesellschaftsabend der Pfadfinderabteilung 'Sturmvogel' mich um einen Beitrag bat, kam ich auf die Idee, den Untergang der 'Titanic' als Vorwurf für ein derartiges Stegreifspiel zu wählen. Dabei steigerte ich mich so sehr in die Vorstellung der Schiffskatastrophe aus dem Jahr 1912 hinein, dass ich mein Klavierspiel mit der Erzählung jener Vorgänge begleitete. (...) Ohne es mir bewusst zu sein, war ich auf jene Verbindung von Musik und Wort gestossen, die Melodrama genannt wird, bei dem Geschichte in Prosa oder in Form einer Ballade von einem Rezitator gesprochen und von Musik begleitet wird."3 Seine Gymnasialzeit absolviert er in Aarau und logiert dabei in der sog. 'Kosthütte', einem Übernachtungsort für auswärtige Gymnasiasten. Er ist ein interessierter, begeisterter Schü- ler, erlebt sich jedoch bereits früh als Aussenseiter, wie folgende Erinnerung belegt: "Im- mer stand ich abseits, vielen Anderen ein Ärgernis; in der Schulzeit schon diese Kletterei über Gartenzäune und Mauern, um den Verfolgern zu entkommen, einsamer Pausensteher im Gymnasium, belächelt und gemieden im Militär, später der angebliche Spielverderber in den Männergruppierungen des Lehrerkollegiums der Tonkünstler und Schulmusiker. Ich war anders als die Andern, eckte an, störte. Eine Art seelischer Jude, ein Andri, ein Oppo- sitioneller aus Prinzip."4 Nach seiner Gymnasialzeit verlegen die Eltern ihren Wohnsitz nach Thalwil bei Zürich, um ihren Sohn bei seinen Studien zu unterstützen. "Noch nach der Matur ist das Zögern: sollte ich mich dem Studium der Chemie, dem Journalismus oder der Musik zuwenden? (Die

1 Armin Schibler, Ein Blick in meine Werkstatt - Der Komponist A.S. erzählt. Manuskript zur Schulfunksendung 'Aus der Werkstatt eines Komponisten' 1979 S. 1. 2 Armin Schibler, Ein Blick in meine Werkstatt 1. 3 Armin Schibler, Ein Blick in meine Werkstatt 1/2. 4 Armin Schibler, SELBSTDARSTELLUNG, unveröffentlichtes Manuskript, Paul Sacher Stiftung, Basel, undatiert.

22 Alchemie, das Wort als Mittel der Kommunikation, Musik als Suche nach dem Geheim- nis.)"1 Er entscheidet sich für ein Musikstudium am Konservatorium und an der Universität Zürich. An hervorragender Stelle steht in Schiblers Selbstwerdung und Persönlichkeitsreifung jedoch die Partnerschaft mit seiner zukünftigen Frau Tatjana Schibler, wie Tagebuchauszü- ge genauer belegen. Deshalb soll als nächstes nicht in erster Linie der berufliche Werde- gang, sondern das spannende und spannungsvolle Zusammenfinden dieser beiden genauer dokumentiert werden.

2.1 Zusammenwachsen und Zusammenklingen

Tatjana Berger und Armin Schibler begegnen sich 1942 am Zürcher Konservatorium. Zwei Menschen aus unterschiedlichen sozialen Milieus treffen aufeinander, Tatjana Schibler beschreibt diese in ihren Erinnerungen folgendermassen: "Ich entstamme einer bürgerli- chen, fünfköpfigen Familie, meine Mutter, in Russland geboren und aufgewachsen, zart, kränkelnd, eher zum Grossbürgerlichen, Künstlerischen hinweisend, sich aber nach Revo- lution, Flucht und totalem Verlust alles Materiellen bescheiden in kleines Schicksal fügend, neben einem aktiven, gesund tatkräftigen, bäuerlichen Schweizer.“2 Zu Armin Schiblers Herkunft schreibt Tatjana Schibler: "Armins elterliches Milieu ist eher bescheiden, auch er wächst mit zwei Geschwistern auf. Sein Vater, von Beruf Zöllner, ist ein grosser Bücher- wurm, schreibt in seinem Leben über hundert Tagebücher, eine kleine Zeitgeschichte: ein schrulliger, origineller Kauz mit gebogener Nase... Das Komponieren seines Sohnes nennt er 'Tönequetschen', duldet es aber... Die Mutter ist eine herzliche, gütige Frau, immer für die anderen da, nach altem Muster, oft leicht beeinflussbar. Für mich wird sie eine ideale Schwiegermutter werden. Armin ist ein ungemein sensuell begabtes Kind und erlebt seis- mographisch seine Umgebung. Ungeheuer frühreif weiss er bald, dass die Frau als Gegen- pol für ihn von zentraler Bedeutung ist. Sein Denken und Wünschen umkreisen Eros, Zeugung und Liebe."1 Gleich zu Beginn erkennt Armin Schibler die schicksalhafte Dimension seiner Beziehung zu dieser Frau, welche sein Leben und Werk bestimmen wird. Einer der ersten Tagebuch- einträge von Armin Schibler ist der Begegnung mit Tatjana Berger gewidmet: "Ich glaube zu wissen, dass das Leben eines Menschen, der vollgültige Musik schreiben und bilden kann, heute auf einer solchen realen Grundlage (dh. der Grundlage einer glücklichen Ehe, Anmerkung GS.) stehen muss. Meine Natur wehrt sich vor dem Uferlosen, das mir wieder drohen kann, indem sie mir eine tiefe Sehnsucht eingebrannt hat, ein tiefes, über das kör- perliche Bedürfnis weit hinausreichendes Verlangen nach dem Vereintsein mit einem mich liebenden Menschen. Ein Mensch, der mir beistünde, durch all die Wirrnisse der Wandlun- gen hindurch und mir stets wieder Kraft verleihen würde, weiter zu kämpfen.

1 Armin Schibler, SELBSTDARSTELLUNG. 2 Tatjana Schibler, Doppelfuge 1, 3.

23 Ich weiss, wie recht und wissend meine Natur fühlt. Erst diese Verbundenheit mit einer Frau würde mir ermöglichen, meinen Weg nicht nur zu gehen, sondern auch zu gestalten. Und dies ist doch wohl meine Aufgabe, meine Pflicht. Erst wenn mein Wesen im Urgrund der Natur verankert ist, dann ist dem Flug der Seele und des Geistes alle Freiheit und Kraft gegeben. Oberflächlichem Denken nur erscheint eine dauernde Beziehung an eine Frau (ich gebe zu, es muss ein grosser, grosser Mensch sein) als eine Einengung oder Verkümmerung - in Wirklichkeit ist es erst die naturmässige Grundlage für das Erleben und Erleiden Gottes. Ich bin deshalb weit davon entfernt, meine Sehnsucht nach der Ehe zu belächeln oder mit der Sphäre durchschnittlicher Menschlichkeit zu vergleichen. - 'Man' empfindet mich sicherlich oft als anmassend und unbescheiden. Aber ist es unbescheiden, dass oft meine Zunge die Intensität meiner Verpflichtung nicht zurückhalten kann? - Dass ich aber meinen Weg gehen kann, dazu brauche ich die Liebe, die Kameradschaft, das Geschenk einer Frauenseele. Und welches Glück: diesen Menschen für mich reifen zu wis- sen oder doch daran mit aller Sehnsucht zu glauben: Tatjana."2 Die Art und Weise des Vorausahnens wichtiger Lebensbereiche ist für Armin Schibler typisch: Er weiss um die Notwendigkeit und Wichtigkeit dieser Beziehung; dieses intuitive Wissen muss jedoch durch viele Kämpfe und innere Reifungsprozesse erprobt werden und sich konkretisieren. Schibler wird erkennen, dass dabei nicht nur eine Frauenseele auf ihn zureift, sondern dass seine eigene Reife gefordert ist! Er wird seine persönlichkeitsspezifi- sche Weise des Fühlens und Erkennens in seinem Tagebuch fünf Jahre später - am Ende der Verlobungszeit - folgendermassen beschreiben: "Heute sind wir neun Monate verlobt. (...) Etwas musste noch reif werden, was jetzt in mir vorgeht, das ist jenes, von dem ich wusste, dass es zuerst noch kommen müsste. Es scheint bei mir so, dass das Wissen, das klare Erkennen einer Sache zuerst da ist, und dann erst erfolgt die Verwirklichung ins Gefühl, die Fleischwerdung." Schibler erlebt diesen Mechanismus als Vorteil: "Das verhin- dert einen wesentlichen Irrtum in meinem Leben. Wäre es nicht so, müsste ich für alle gewagten Erfahrungen wohl zu teuer bezahlen."3 Doch mit diesem Zitat habe ich vorgegriffen. Ein fünf Jahre dauerndes, intensives, oft zähes und schmerzhaftes Werben umeinander entwickelt sich, das ich im Folgenden mit Hilfe von Tagebuchnotizen chronologisch nachvollziehen möchte, weil es die persönliche Selbstwerdung und die Themenfindung des Künstlers Schibler dokumentiert. Beide Partner ringen um ihre Eigenständigkeit wie auch um die Hingabe an den anderen. Armin Schibler ist vier Jahre älter als Tatjana Berger, und zunächst erfährt er diesen Altersvorsprung auch als Quelle grösserer Reife und Überlegenheit. Mit der Zeit jedoch entpuppen sich Teile dieser Reife als Überheblichkeit, und Armin erkennt (was für seine eigene Grösse spricht), dass auch seine Selbstwerdung auf dem Spiel steht. Denn ähnlich dem Schöpfungsrausch beim Komponieren von Musik fasst Armin seine Freundschaft mit Tatjana zunächst als sein Werk auf: "Tanja ist mein menschliches Kunstwerk und darum mein wichtigstes. Es

1 Tatjana Schibler, Doppelfuge 1, 4-5. 2 Armin Schibler, Tagebuch, Frühjahr 1944. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 1. Sept. 1946.

24 nicht leisten zu können, liesse mein ganzes Dasein leer werden..."1 Dissonanzen tauchen auf, Armin Schibler erlebt die Freundin als unfertig: "Ich muss endlich den Konflikt schaf- fen, der mir klarer den Standpunkt der Freundin aufzuzeigen vermag. Ich will endlich ein- greifen in das noch ungelockerte Wesensgefüge, endlich nicht selbstisch, aber mit klarem Willen eines der Räder in Bewegung setzen. Ich bin überzeugt vom möglichen Wachstum dieser Frau - wie könnte es mich sonst immer wieder so klar, so wohltuend zu ihr hinzie- hen?"2 Dazu Tatjana Schibler: "Wir fechten miteinander harte Kämpfe aus. 'Tanja wird!' Nein, ich bin! Ich muss meinen eigenen Weg suchen. Geh nur, geh, wenn ich dir nicht genüge, du hast deine absolute Freiheit."3 Gleichzeitig erfahren beide ebenso Momente der Verheissung und Erfüllung, meist in Verbindung mit Naturerlebnissen: "Wie wir durch die in der Sonnenglut reifenden Rebhänge empor schreiten, weit über die dunstverschleierte Thurgauerlandschaft, fühle ich so recht, wie alles reift: meine Arbeit, mein Leben, um mich wogendes Korn und Wein, an meiner Seite Tanja, meine Frau. O Gott, gib, dass alles gut werde; das Brot und der Wein, und das Heiligtum unserer Ehe, die nur Dir gewidmet sein soll. O Gott, gibt uns beiden die Kraft zu tiefer Liebe, damit wir in eines verströmen: Sie in mich und ich in Dich und Du, Gott, wieder in uns. Eigentlich dürfte ich es nicht schreiben: meine Frau. Aber dieses Wort ist stärker als meine Vernunft. So wird es wohl Gottes Wort und Wille sein."4 Wenig später fährt er im Tagebuch fort: "Tanja wird. Sie träumte letzthin von der Begegnung mit einem wilden Tier, das sie überfiel. Nachdem sie es unter Aufbietung der letzten Kräfte bezwungen hatte, liess sie das Tier auf andere Menschen los... Es ist wahr, sie wird ungeheuer leidenschaftlich sein. Sie ist es jetzt schon, nur verhalten, beherrscht, nur sublimiert."5 Nicht nur das Ringen umeinander, um persönliche Reifung und Reifung als Paar prägt die beiden, auch das Zeitgeschehen prägt und überschattet die Beziehung. Armin Schibler schreibt im Aktivdienst, den er von 1942-1944 leistet: "Ich kann meine Liebe selbst vor diesem Kriege verantworten. Denn es geht in der gesuchten Erfüllung nicht nur um mich, sondern darum, unsere höchsten Kräfte für eine kommende Welt einzusetzen. Ich will hel- fen, wir müssen helfen, wenn wir beide vor Gott bestehen wollen."6 Armin Schibler ist im Aktivdienst Trompeter. Dort sieht er sich eingebunden und einge- zwängt in eine Männergemeinschaft, in die er sich einzugliedern versucht: "Auch im Mili- tärdienst ist es mir gelungen, mich voll und ganz in die Gemeinschaft einzuordnen, ohne das Geringste an mir preiszugeben. Plötzlich entdecke ich auch, wie grundlegend ich mich

1 Armin Schibler, Tagebuch, 13. April 1944. 2 Armin Schibler, Tagebuch, Frühling 1944. 3 Tatjana Schibler, Doppelfuge 1, 15. 4 Armin Schibler, Tagebuch, August 1944. 5 Armin Schibler, Tagebuch, August 1944. 6 Armin Schibler, im Aktivdienst, Tagebuch, 15. Okt. 1944.

25 in den vergangenen Jahren gewandelt habe. Ich bin ein nüchterner Realist geworden, und dabei doch Armin Schibler geblieben."1 Auch im Militärdienst, angesichts eines an die Schweiz ,en Krieges fühlt sich Armin Schibler von Lebenskraft und Lebenslust erfüllt und erfährt den Zwiespalt dieser beiden Welten (die Brutalität des Krieges - Unversehrtheit in der Schweiz) beinahe schmerzhaft. Dazu aus seinem Tagebuch: "Wenn das hier so kostbare Jurawasser (Schibler leistet im Jura Aktivdienst, Anmerkung GS.) nach abends fünf Uhr wieder aus den Röhren strömt, dann steige ich in die Wasch- küche der Bäckerei Barth in den Waschtrog. Durch die Türfenster dämmert von den Haus- dächern und Obstgärten her das Abendlicht über meinen dampfenden Körper und nebenan glimmt unter dem Herd für das Schweinefutter die rotgelbe Glut. Endlich durchpulst das Blut unter dem Strome des kalten, glitzernden Wassers und unter dem nach Seife riechen- den Frottiertuch wieder meinen Körper bis in die letzten Verästelungen des Kreislaufs, ich könnte jauchzen vor Lebenslust. Und wie unsinnig liebe ich doch meinen schlanken, immer noch sommerbraunen Körper und seinen Geruch, nicht weniger als das seltsame, energie- geladene Flötengeschnörkel meiner Sonate, die ich am Morgen neu begann... Das Abend- geläut ist plötzlich da, wie ich dann in die Kühle hinaustrete, ein liebliches, beinahe südli- ches Bauerngeläute aus Ganztönen. Doch still - zwischenhinein rollt, deutlich vernehmbar, der Donner der Geschütze, wohl von Belfort her. Stimmt, es ist ja Krieg! O Gott, wie kann ich Dir danken für diesen braungrauen Schopf mit dem Dämmerlicht, darin ich nackt und doch behütet stehe und mich riesig über mein pulsierendes Dasein freue! O Verpflichtung ..."2 Als Musiker beschreibt Schibler die sich vertiefende Partnerschaft mit musikalischen Begriffen: "Heute kehrt Tanja aus dem Landdienst zurück. Wie sicher weiss ich, dass sie mir verfallen ist mit allem und dass sie in ihrer Liebe zu mir sie selbst werden wird und damit meine geliebte Frau... Wie bei einer Fuge weiss ich auch hier schon das Heranreifen des lösenden Schlussakkordes, obgleich ich vielleicht erst mühsam die Durchführung erta- ste. Aber alles ist ja so sicher, so logisch, wenn das Thema gut war."3 Doch trotz aller romantischen Verliebtheit intensivieren und konkretisieren sich die Kon- flikte. Schibler erlebt Zeiten der Distanz und spürt eigene Abgründe und Grenzen. ".. ich versagte mir Tanja von Freitag bis Montag.... unser Zusammensein gedieh nicht... ich suche und suche das eigene Ergriffensein. Ich liebe zu wenig - und möchte doch tief lieben, heilig lieben, weil das für mich wohl die einzig vorläufig mögliche Gottnähe ist. Ich will lieben nicht nur um meiner selbst willen. Ich bete, lieben zu dürfen; dann versengt sich im Lodern der Seele die ganze novemberliche Düsterkeit."4 Und später: "Zum zweitenmal schrieb ich eine Reihe grosser Briefe an Tatjana. Das Innerliche dieser Tage war ganz den Gedanken über ihr Werden gewidmet. Ich glaube, der Sinn meiner früheren philosophisch-

1 Armin Schibler, Tagebuch, August 1944. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 20. Oktober 1944. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 3. Nov. 1944. 4 Armin Schibler, Tagebuch, Nov. 1944.

26 dichterischen Absichten wird nun offenbar: mir meine Frau zu bereiten. Das ist das schwerste Kunstwerk: das menschlich-künstlerische, die Ehe."1 Auf diese idealistischen, doch im Grunde arroganten Versuche der Umgestaltung des Partners nach eigenen Vor- stellungen reagiert Tatjana Schibler verständlicherweise mit Abwehr. Im Rückblick weist die zwar jüngere, aber ebenfalls bereits eigenständige Frau darauf hin: "Ich lasse mich nicht bereiten, ich will selbst werden. Die vielen Schwankungen, das Auf und Ab in unserer Beziehung bereiten mir grosse Pein. Es ist für mich eine sehr schwere Zeit, für uns beide. Die gegenseitigen Ansprüche sind riesengross. Ich wehre mich für mein eigenes Ich."2 Armin gesteht Tatjana viele bis anhin verschwiegene Zweifel und seine Zurückhaltung. "Ich habe Tanja heute sehr weh getan mit dem Geständnis, dass ich immer noch zu wenig ergriffen bin. Wenn wir uns trotzdem vor ein paar Tagen die Ringe anpassen liessen, so mag es dafür zeugen, wie sehr wir beide auch an mein Menschliches glauben. Das Ergrif- fensein ist vorläufig nur in der andern Hälfte: in der Bratschenfantasie, die ich kürzlich in zwei Tagen schrieb, ist alles empfunden und ausgedrückt, was mir dafür im Menschlichen versagt ist. Aber ich sehne mich immer mehr wieder nach erlebten Wolkenhimmeln und Abendröten. Ich bete darum, Tanja bald ganz lieben, ergriffen und hingegeben lieben zu können."3 Damit erkennt Armin Schibler, dass es nicht nur die Unreife seines Gegenübers ist, welche die Beziehung verdunkelt, sondern seine eigene Begrenztheit und die Tendenz, Lebens- energien ins schöpferische Werk, aber nicht in die Liebe ausströmen zu lassen. Die Zweifel in bezug auf die Geliebte erlöschen mit dieser Fokusänderung: "Je mehr ich Tanja kennenlerne, umso klarer erkenne ich, wie sehr abgerundet, wie sehr Einheit sie ist. Wir suchen von Laden zu Laden ein Kleid für den Verlobungstag, und da kann ich es selbst miterleben, wie an Tatjana's wesentlicher Gestalt aller Flitter abfällt, und dass nur das ganz Einfache und Reine vor ihr standhält. Was ich bisher umgekehrt glaubte, muss ich einsehen: dass ihr Geschmack sicherer und wesentlicher ist als der meine, weil er ein unbewusster ist. Kann ich für mein Schaffen einen kühleren Kritiker finden als sie? Tanja ist als Mensch so wesentlich, wie ich es höchstens als Schaffender sein kann. Meine Zwei- fel, mein Unergriffen-Sein sind nur Ausdruck meiner Überheblichkeit gewesen. Ich glaube, gerade weil ich ein so schwacher Mensch bin, erstrebte ich oft eine Überhöhung: weil ich sonst vor nichts mehr bestanden hätte, am wenigsten vor ihr. So erkenne ich meinen Weg zu ihr als den einer ständigen Läuterung, und ihre Liebe wird mich zu jenem reinen und klaren Menschen läutern, der ich sein möchte."4 Am 1. Dezember 1945 verloben sich die beiden: "Während unten Mal für Mal die Glocke läutet und zwischen Lieferanten und Geschenkbringer schon die ersten Gäste anrücken, streifen wir uns die spiegelblanken Ringe gegenseitig an die Finger. Freund Merz hat sie uns gemacht, und zwar so, 'dass wir sie nie mehr abstreifen können.' (...) Nun wird unserer

1 Armin Schibler, Tagebuch, 30. Nov. 1944. 2 Tatjana Schibler, Doppelfuge 19. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 13. Nov. 1945. 4 Armin Schibler, Tagebuch, 27. Nov. 1945.

27 Liebe die äussere Bestätigung gesetzt, aber damit auch die grosse, tiefe Verantwortung bis zum Ende. Und Tanja und ich sind zu sehr selbständig, um die Tragweite dieser Änderung nicht bewegt im Herzen zu tragen, durch das ganze frohe Fest hindurch, das sich löst vom Kreis der Musik bis zur beschwingten Heiterkeit des Tanzes."1 Armin träumt in der Folge vom Fliegen in Neuland, in dem er seine geliebte Tanja wieder- findet. "Ein Traumausschnitt ist mir geblieben, der mir bis zur Gründung der Familie wohl den Weg weisen möchte. Ich ging während eines Sturmes eine Überlandstrasse dahin. Da ich nur ein Hemd anhatte, verfing sich der Sturmwind darin und begann mich in die laue Luft zu heben. Es war ein herrliches Gefühl, auf der Höhe der Baumwipfel stossartig dahinge- tragen zu werden. Von links unten glänzte die regennasse Strasse, der entlang der Wald verlief. In ein fremdes Land schien ich zu kommen und war erstaunt, als auf der Strasse ein Mensch langsam und deutlich meinen Namen sprach. Dann tat sich der Himmel weit auf, feuerrote Berge von Gewitterwolken türmten sich in der Ferne links, dunklere Wolkenberge rechts. Immer flog ich weiter, gelangte glücklich zwischen Telephondrähten hindurch und landete schliesslich auf einer Thujahecke. Auf der nahen Strasse entdeckte ich den Wegweiser. Da war ich begierig zu wissen, wo ich war (es musste irgendwo in Südfrankreich sein) und las, wie der eine Weiser nach Afrique du nord, der andere nach Paris und London zeigte. Als ich im Gasthaus nebenan einen Imbiss bestellte, war ganz selbstverständlich Tanja bei mir und wählte für mich ein belegtes Sardinenbrot."2 Wenige Wochen später besucht Armin Schibler über Neujahr Tatjana auf der Ibergeregg, wo sie mit ihrer Familie die Feiertage verbringt. Den beiden wird die Schwere und Grösse einer Liebesbeziehung, in der jeder Partner seine eigenständige innere Welt einbringt, bewusst: "Wir zogen die schweren Schuhe aus und legten uns zusammen aufs leise knar- rende Bett. Das Haus war erfüllt vom Lärm der vielen Skifahrer, und doch war es bei uns drin seltsam still. Tanja sagte auf einmal. 'Du bist mir unheimlich...' Es war mir sofort klar, was sie damit sagen wollte. Wir beide verspürten und litten, dass zwei noch so vollkommen Liebende doch zwei Welten sind, ebenso abgerundet und letzten Endes unverschmelzbar wie zwei ziehende Gestirne. Und oft ist dies so schwer zu ertragen, denn uns sind die seich- ten Gründe des Glaubens, man besitze sich ohne Grenzen, allzu sehr verschlossen. Und gerade hier oben spürte ich, wie nur eine Frau wie Tanja mich dauernd zu fesseln vermag, weil sie die Schwere dieser Erkenntnis aus Liebe zu tragen bereit ist."3 Armin schreibt rückblickend in sein Tagebuch: "In den vergangenen Tagen voller Selbstbesinnung ist mir so recht die Erkenntnis aufgegangen, welches grösste menschliche Glück mir in der Ehe mit Tatjana bevorsteht. Es wird eine Ehe sein, die immer wird vor Gott bestehen können - und das ist viel. Vorletzte Nacht träumte ich von unserer Hochzeit,

1 Armin Schibler, Tagebuch, 1. Dez. 1945. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 3. Dez. 1945. 3 Armin Schibler, Tagebuch, Jan. 1946.

28 die in einer grossen gotischen Kirche stattfand. Den ganzen folgenden Tag war ich innerlich hochgestimmt. Nun gehe ich wieder ins Tal hinunter an mein Werk. Immer deutlicher ahne ich den Umriss meines grossen Weltenoratoriums. Doch zuvor harrt Kleineres. An meine grossen Pläne werde ich gehen, wenn ich ganz mit Tanja verbunden bin - wie freu ich mich auf dieses volle Gestalten... Und schliesslich: Unten wartet sie (ich weiss es mit jeder Minute, jedem Gedanken); sie, meine Frau, mein tieferer Sinn, wartet auf mich."1 Nach diesem erfolgreichen Ringen um Eigenständigkeit und Ebenbürtigkeit geniessen beide in der Folge eine verspielte, sorgenlose und erfüllte Zeit miteinander, in der sich per- sönliche Begegnung, berufliche Erfolge und künstlerische Schaffensperioden harmonisch abwechseln. Armin Schiblers Liederkantate Ich bin din, du bist min2 mit Texten mittelalter- licher Liebeslyrik wird uraufgeführt. Nach der Aufführung schreibt Armin Schibler in sein Tagebuch: "Das Grundgesetz von Spannung und Entspannung, das in der Musik so wichtig ist, zwingt sich auch meinem Alltag auf. Seit Wochen war ich in einer asketischen Konzentrierung auf die Aufführung meiner bald vier Jahre alten Mittelalterkantate 'ich bin din, du bist min', die ich selbst im Studio Zürich leitete, ausgesetzt; gestern nachmittag löste sich diese inne- re Fessel und es begann endlich wieder gleichsam ein Stück privates Leben, als Tanja und ich vom Zürichberg aus über die aufgeweichten Wege nach Dübelstein wanderten, wo wir gegen zwei Uhr recht hungrig ankamen. In der warmen Gaststube war schon für uns gedeckt, Schneeschauer verhüllten den eintönigen Blick über das Tal. Es war für uns beide eine kleine Feier, dieses prächtige Mal in der sonst fast leeren Stube; leise hörte man einen ländlichen Chor im Lautsprecher, wo vor noch nicht zwei Stunden mein eigentliches opus eins erklungen war. Und wir hatten Zeit, Zeit, und sassen einander glücklich gegenüber im lange vermissten Gefühl, dass wir uns wirklich angehörten."3 Als nächstes Werk beginnt Armin Schibler, Texte von Jeremias Gotthelf4 zu vertonen.

1 Armin Schibler, Tagebuch, 6. Jan. 1946. 2 Ich bin din, du bist min, op. 5, Liederkantate auf mittelalterliche Liebeslyrik für gemischten Chor, Soli und Kammerorchester, Nr. 40, Das Werk 1986, S.58. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 11. Febr. 1946. Schiblers schöpferisches Werk ist zu Beginn des Jahres 1946 schon bis zu opus 15 gediehen; er arbeitet zu diesem Zeitpunkt an der Reinschrift der Bratschenfantasie, op. 15 (1945), Nr. 120, Das Werk 1986, S.102; die Wessobrunner Kantate, op. 10, für gemischten Chor a cappella (1944/45) Nr. 42, Das Werk 1986, S.59, ist beendet, drei Solosonaten für je Flöte (Nr. 76, Das Werk 1986), Violine (Konzertantes Duo, op. 19, 1949/51, Nr. 111) und Cello (Konzertante Suite für Cello allein, op. 9c. Nr. 123, Das Werk 1986, S.103), sind komponiert, Der häusliche Psalter, 12 geistliche Gesänge für Singstimme und Klavier auf Texte von Gottfried Gretler, op. 13, Nr. 154, Das Werk 1986, S.117; und Cantata domestica, op. 6, Kantate auf Texte von Morgenstern u.a., Nr. 41, Das Werk 1986, S.59; Doppelkonzert für Violine, Cello und Streicher, op. 7 (1945/46) Nr. 109, Das Werk 1986, S.96; sowie die Lyrische Musik für Oboe, Harfe und Kammerorchester, op. 12, Nr. 80, Das Werk 1986, haben Gestalt genommen. Ein bereits umfangreiches Werk für einen 25-Jährigen! Vgl. dazu Doppelfuge 32. 4 Vgl. Werk Zwei Hochzeitsgesänge, nach Texten von Jeremias Gotthelf für mittlere Stimme und Orgel (ca. 1946) Nr. 155, Das Werk 1986, S.117.

29 "Heute abend bin ich mit der 'Hochzeit' nach Gotthelfs 'Ueli der Knecht' zu Ende gekom- men - was bedeutet es für mich anderes als die Gestaltung meiner eigenen Eheschliessung, gespiegelt in einer andern, einfachern Welt, deren letzter Grund aber sich mit dem Ur- grund meines Lebens völlig deckt. So sehr, dass ich bei Vreneli fast immer an Tanja, bei Ueli sehr oft an mich denken kann. (...) Immer klarer wird indes mein eigenes inneres Bild der Welt und des Menschen. Immer deutlicher wird mir bewusst, wie sehr sich meine Kind- heitsahnung verwirklicht hat: dass die Frau die Erfüllung meines Lebens ist, dass die Liebe des Menschenpaares der einzig wahre, ureinfache Lebenskern ist, um den alles kreist und der alle andern Probleme zu lösen vermag. Dieser Kern ist mein Gott; und mir scheint, hier allein ruhe die Wurzel, von der aus unser europäisches Geistesleben neue wahrhaftige Verwirklichung finden kann. Ich kann doch nicht allein sein, der um dies Einfache, alles Ordnende weiss."1 Am 2. April 1946 in der Piz Sol-Hütte auf 2200 Metern Höhe fährt Armin Schibler in bezug auf seinen Werkplan fort: "Tief bin ich nun in Gotthelf's Werke eingetaucht, und viele Seiten seiner geistigen Persön- lichkeit sind mir gegenwärtig unglaublich nahe. Mir scheint, dass man hinter Gotthelf einen wahren Künder des allgemein Menschlichen und einen Kenner der menschlichen Existenz findet, mit der die christlich-dogmatische Einkleidung in wunderbarem Gegensatz steht (für den, der es nachfühlt.) Gotthelf weiss, dass es für menschliches Leid und Unglück keinen anderen Ausweg gibt, als sich damit bejahend abzufinden - und in seinem Christen- tum treffen sich heidnische Ursprünglichkeit und sehnsüchtige Jenseitsvorstellung. Ich wenigstens vermag hinter seinen Worten das Allgemeine zu fühlen; wie sonst selten bei christlichen Worten, fühle ich mich bei seinen Predigten seltsam gepackt und ergriffen. Vielleicht ist es auch die Realität seines Christentums, die auf genialer Menschenkenntnis beruht, die mich so packt. So habe ich mir nun einen Oratorientext zusammengestellt, der vielleicht als ein Fund bezeichnet werden kann, der das ewig Menschliche so wunderbar enthält und umfasst, dass ich diejenige weitgehende Übereinstimmung der Weltanschauung vorhanden fühle, welche Grundbedingung für meine werdenden Arbeiten ist. Gotthelf über- ragt und umfasst alles Christlich-Begrenzte so mächtig, wie meine Einstellung in ihrer Weite das Christentum weitgehendst einschliessen möchte. Leider tönen diese Worte hoch- trabend, ich gebe aber gerne zu, dass ich in meinem Denken kürzlich Abgründe fühlte, die sich trotz all meiner positiven Weltanschauung (die vielleicht nur auf meinem persönlichen Glück beruht) kaum werden ausfüllen lassen. Das fühlte ich kürzlich in einem Gespräch mit Tatjana."2

1 Armin Schibler, Tagebuch, Sonntag 3. März 1946. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 2. April 1946. Armin Schibler hat den Plan zu einem solchen Werk - zwar nicht mit Texten von Gotthelf, sondern von C. F. Meyer - in seinem Werk Media in Vita 1958 ausgeführt. Vgl. dazu S. 95. Armin Schibler wird später eine solche Weltsicht einer harten Kritik unterziehen. Vgl. Tagebuch vom 29. Dez. 1950.

30 Doch eine nächste 'grosse Krise' bricht aus, wiederum nicht verursacht durch die Unreife Tatjanas, sondern durch die Verschlossenheit Armins. Die beiden sind erneut unterwegs in der Natur, sie entdecken eine Waldschenke in der Nähe von Zürich. "Und als wir auf die Höhen des Altberg zur Waldschenke kamen, kannte unser Entzücken keine Grenzen. Unter Thuja- und Kastanienbäumen war das kleine Holzhaus von Tisch- und Bankreihen aus Holz umgeben, und darum herum nichts als blühende Bäume, sich zum Wald absenkende Wiesen und über dem Waldsaum der Blick ins immer dunkler daliegende Tal. Neben unserem Tisch, wo wir Käse und Speck (für diesmal!) assen, stand ein mäch- tiger Thujabaum, und als man uns die trauliche Petrollampe gebracht hatte, warf diese ihren Schein bis zu den ersten Zweigen über uns. Ganz oben durch die Bäume schimmerte schon im Dämmern bereits der Mond, über den Wolken still dahinglitten. Wir waren ganz allein, die letzten Sonntagsgäste, wie ich erwartet hatte. Unser Gespräch galt etwas, das uns beiden immer noch Sorgen bereitet: meiner Unberührbarkeit, die Tatjana sogar schon als Verschlossenheit empfand... Und alle Worte und Gefühle, die an diesem Abend noch folgten, brachten mir zum Bewusstsein, wie gross die Gefahr geworden ist, dass mich das Komponieren ganz absorbiert und alles Übrige an den Rand drängt. Es besteht gegen- wärtig bei mir ein grosses Missverhältnis zwischen objektiver und subjektiver Sphäre. Will ich das Menschliche nicht verlieren (und wir sprachen ernsthaft davon) muss ich mich ver- einfachen zum unkomplizierten, natürlichen Menschen. Es muss möglich sein, dass mir meine Musik auch gelingt, wenn ich mich nicht mehr so wichtig nehme. Ich sehe ein: ohne grosse Opfer meinerseits kann ich mein menschliches Glück nicht erringen. Ist es etwas anderes als höherer Egoismus, dieses Sich-Berufen auf 'das Werk'? Ich will dieses Opfer bringen, sogar dann, wenn mein 'künstlerisches' Schaffen litte, was ich nicht glauben kann. (...) Nicht dass ich meine Frau nicht liebe, aber ich liebe zu wenig ursprünglich, zu mittel- bar. Ich sehe ein, wieder einmal: dass ich ganz, ganz anders werden muss. Das Ziel ist erkannt, nun muss ich es verwirklichen. Es gilt, dass ich den um mich geschmiedeten Eisenring der Gestaltung wieder sprenge. Lieber wieder Wirrnis der Gefühle, Suchen, Bangen und damit unmittelbares Leben und Lieben, als diese erfüllte Nüchternheit, die alles wägt, rechnet und ordnet."1 Diese Erkenntnis hilft beiden: Entlastet Tatjana und schenkt Armin die Möglichkeit, seinen 'höheren Egoismus' zu erkennen und damit Überheblichkeit zu überwinden. Armin Schibler gelingt es, den 'Eisenring der Gestaltung' zu lockern. Über Ostern besucht Armin Schibler gemeinsam mit seiner Braut ihren Heimatort, das Stockental im Kanton Bern. "Ostersam- stag. Vollster Frühling im Thuner Hinterland; über Löwenzahn und Kerbelwiesen das Dreigestirn firnweisser Berneralpen. Hier überall lebt Gotthelfscher Geist noch in den Menschen und in den Tälern und Tatjana und ich sind selbst mittendrin. Von Hohlinden blickt man zu den Amsoldinger-Seen hinunter und zum traumhaften alten Kirchtum und Schloss. Vor jedem Bauernhaus sprüht die weisse Gischt, unzählige Blütenbäume aus dem satten Grün, das strichweise ins goldene Gelb der Löwenzahnwiesen hinüberreicht. Die Waldstücke sind gescheckt in hundert Stufen von Grün, alles bricht auf und aus! Und auch

1 Armin Schibler, Tagebuch, 14. April 1946.

31 ich bitte Tag für Tag, dass das lange Gestaute endlich ausbrechen möge, dass sich der selbstische Ring löse und das Unbewusste als ein herrliches Ostergeschenk einzöge."1 Die beiden kehren von ihrem Ausflug in das Heimatland Tatjanas zurück und unternehmen im aufkeimenden Frühling zwei weitere Wanderungen in der näheren Umgebung Zürichs. Bei einbrechender Dunkelheit und regnerischem Wetter steigen sie gegen das Stöcklikreuz auf zur einer ihnen unbekannten Berghütte und übernachten erstmals in ihrer Beziehung ohne die Anwesenheit von Familienmitgliedern oder Freunden: "Wir sind ganz allein im stillen Berghaus, das wir nach dunklem Aufstieg, durch lauen Frühlingsregen spät fanden. Ganz allein sind wir, erstmals, und ahnen beide die Tiefe und Abgestimmtheit unserer werdenden Gemeinschaft. Draussen ist es nach einem wilden Gewitterabend wieder klar geworden; wie ein zweiter Sternenhimmel breitet sich um den Zürichsee unter uns der Lichterkranz der menschlichen Siedlungen. Beim Petrollicht lesen wir Gotthelf und trinken geniessend eine Tasse schwar- zen Kaffee. Tatjana ist ganz wunderbar, menschgewordene Heimat. Alles, was mir abgeht, finde ich bei ihr; und kaum spürbar, vollzieht sie an mir die sichere, notwendige Korrektur meines äusseren und inneren Wesens. Diese Heimat: ist sie Vorahnung der Ewigkeit? (...) Keine Gedanken, keine Musik mehr: nur das tiefe Du füllt einem, das uns beide erst zum tiefsten Ich führt... Was ist Zeit und Vergangenheit... irgendwann leben und lebten wir: heute oder vor hundert Jahren?..."2 Vier Tage später, wiederum beim Einnachten in einer einsamen Berghütte, diesmal in der Hütte Bergquell am Pfannenstil, fährt Schibler fort: "Weitet sich endlich die Fessel? Dürfte ich endlich genesen aus dem Ich-Kreis zum reinen Gefühl, zur alles versengenden Liebe zu ihr? Seit Sonntag ist ein neues, nur in meiner stärksten früheren Liebeszeit erfahrenes Gefühl da; ich kann es nicht benennen, weiss nur, dass es der Anfang ist neuer Leiden- schaftlichkeit, neuer Sehnsucht und neuer Selbstenteignung. Und mit ihm wächst das stille Bewusstsein meines tiefen Glückes. Die Waagschale meines eigenen Wesens sinkt immer mehr, und ich sehe mich in die Hand eines Menschen gegeben, der mir stark überlegen ist und mir gleich an Leidenschaft und Gefühl. Und immer wieder denke ich zurück: Wie wir die Petrollampe ausbliesen und keines sah das andere mehr in der Dunkelheit... Wunder- bar, dieses Fühlen des ganzen andern Körpers, dieses Übereinen-Kommen der Heimat, dieses Auslöschen des Ich's. Tiefe Stille des Berghauses, nur umso fühlbarer am leise raunenden Wind."3 Hingabe an die Liebe und Hingabe an sein Werk schliessen einander nicht aus, sondern ergänzen und inspirieren im Gegenteil einander, wie Armin Schibler am eigenen Leib erfährt. Denn am nächsten Morgen entwirft er einen Gedicht-Zyklus - er wird ihn während

1 Armin Schibler, Tagebuch, Ostersamstag 1946. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 4.-8. Mai 1946. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 4.-8. Mai 1946.

32 seines Englandaufenthalts zum Werk Gefährten1 vertonen: "Und dann kam der öde Regen- tag in der Hütte, und am Nachmittag, wieder zum erstenmal seit manchen Jahren, versuch- te ich Verse".2 Diese Gedichte stellen eine künstlerische Verarbeitung und Gestaltung der Konflikte und Wachstumsschritte von Schiblers Liebesbeziehung mit Tatjana dar, doku- mentieren die persönliche Loslösung vom 'selbstischen Ringen' und beinhalten eine lyri- sche, religiös geprägte Liebesmystik. Da diese grundlegend für das Werk von Armin Schibler ist und in weiteren Werken (S. 45) erneut eine künstlerische Gestaltung erfahren wird, zitiere ich ausführlich aus diesem Gedichtzyklus: Der Wind lauert ums Haus wir sind allein. Es gibt keinen Wind, keinen Sturm mehr für uns, denn wir sind ineinander geborgen. Der Wind lauert ums Haus, der Regen klopft und der Sturm singt immer lauter und wilder. Doch wir sind geborgen, wir ruhen in uns. Wie wunderbar; ich bin bei dir. Und höre auf zu sein, bin seltsam erdverbunden. Du bist wie Raum und ich ein Stern, der in dir zeitenlos und ruhmvoll kreist. Wie wunderbar: ich bin bei dir. Wir suchen zusammen den Klang, der alles löst; ich singe für dich, du klingst durch mich. Wir finden zusammen den Sinn, der alles klärt: du kamst nur für mich, ich ward erst durch dich.

1 Gefährten. Gesangszyklus auf 12 eigene Texte für hohe Stimme und Klavier, op. 18 (1946) Nr. 156. Das Werk 1986, S.117. 2 Armin Schibler, Tagebuch 27. Juni 1946.

33 Und unser Ursprung ruht in Gott, der uns schuf; durch ihn sind wir beide für immer vereint. Zwei Elementen gleich sind wir verbunden. Eins tief ins andere gefügt, Atom dicht bei Atom, sind nie mehr, was wir waren, zu neuem Stoff geformt, sind niemals mehr zu lösen in ewigem Gesetz. Jahrtausendelang fiel ich als Regen zum Erdreich, jahrtausendelang stürzt ich durch Bäche zu Tal, jahrtausendelang strömt ich dem Meere zu, nun hast du mich aufgenommen, nun bin ich am Ziel in dir. Nirgends bin ich mehr zu Haus, seitdem ich um dich weiss. Das Frühere ist ausgelöscht, mein Leben neu begonnen. Alles in mir ruft nach dir: dich zu schauen, dich zu fühlen, dich zu ahnen ist einziges, liebliches Ziel. Als ein Baum ruh ich in dir, im festen, sichern Grund, und ihm entsteigt der Saft und kreist in mir. Was ich bin, und was ich blüh und trage, stammt aus dir. Blutrot leuchtet der Mohn im Feld

34 Er blüht und vergeht ins rauschende Korn. So auch blüht mein Blut zu dir und sehnt und verlangt Dich stillenden Grund o heiliger Strom o inniger Weg. Durch dich geh ich weiter ins nächste Geschlecht. Durch dich bin ich nicht mehr menschlich begrenzt: So bin ich endlos, so bin ich zeitlos, losgebunden vom leiblichen Tod durch dich... Wie die Ranke den Stamm umklammert, häng ich an dir. Ruhlos sucht dich mein Trieb, und bangend steig ich zu dir: Unerreichbar der Wipfel, ferne das rauschende Ziel. So wachs ich denn tief in dich hinein, und Saft mischt sich mit Saft. Traubensüss hängt dein Mund an mir; samten umrankt mich die Schwellung der Arme. Weckend und stillend zugleich durchpulst uralte Flut uns mit kühlender Brandung. Endlich dann gleitet der nächtliche Kahn in die tiefsten Gründen der Träume. Gelöscht sind die Lichter der Wirklichkeit... Aus silbern schimmernder Traumflut entsteigst du mir neu, wie am ersten Tag!

35 Einmal war noch nichts geschaffen, kein Mond, kein Stern, kein Licht. Einmal wird auch nichts mehr sein, kein Baum, kein Tier, kein Stein. Die Liebe allein hat Teil an der Ewigkeit und schwebt im unnennbaren Raum. Nach unbegreiflicher Zeit, in der wir nur kurz geblüht, sind Gott und Liebe wieder eins.1 Der selbstische Ring hat sich gelöst und einer fast ekstatischen Liebesleidenschaft Platz gemacht, die gefühlsmässige Öffnung für den geliebten Partner einen ersten Höhepunkt erreicht. Welche Bilder findet Armin Schibler für den Gefühlsdurchbruch, um den er als 'Ostergeschenk' gebeten, den er ersehnt hat und den er in der Abgelegenheit von einsamen Berghütten erstmals erfüllend erlebt? Es ist interessant, wie Schibler persönliche Erfahrun- gen zu künstlerisch-mystischem Ausdruck verdichtet. In der liebenden Hingabe werden Menschen zu einer grösseren Einheit. Musik schenkt für diesen geheimnisvollen, ungemein beglückenden Vorgang Bilder bzw. Symbole: Menschen vereinen sich zum Klang, umfassender als Einzelstimmen, sie schenken einander Sinn. Doch auch die Materie schenkt Bilder, welche diese Verwandlung zu verdeutlichen vermö- gen: Liebende verbinden sich - Atomen gleich - zu neuen Stoffen: Geheimnis des Lebens überhaupt. Zusätzlich greift Schibler zu Bildern der belebten Natur. Liebe wird darin zur überzeitli- chen, überindividuellen Kraft ('jahrtausendelang fiel ich als Regen ins Erdreich'), das Lebendige selbst (Baum, Mohn) wird zum Gleichnis der Lebenskraft. Im Geheimnis der Generativität ('durch dich geh ich weiter ins nächste Geschlecht'), gebunden an die Frau, überwinden Liebende den Tod und gewinnen Anteil an der 'Ewig- keit'. Liebe ist damit treibende Kraft des Evolutions- bzw. Schöpfungsprozesses und hat Anteil am Göttlichen. Schibler entwirft mit solchen Vorstellungen und Bildern quasi ein modernes Hohelied der Liebe, beruhend - und das zeichnet es aus - auf durchlebten Konflikten und Gefühlstiefe, und nicht auf einer romantisierenden, verklärenden Sicht der Liebe, einseitig aufbauend auf der Hingabe und Selbstaufgabe der Frau für den Mann.

1 Armin Schibler, Texte aus Gedichtzyklus Gefährten, Tagebuch, 'Bergquell' Mai 1946 und Nottingham, Sommer 1946.

36 Armin Schibler plant in der Folge - das Kriegsende macht es möglich - für den Sommer einen mehrmonatigen Aufenthalt in England mit Kontakten zu Musikern und Komponisten. Die damit verbundene räumliche und zeitliche Distanz zueinander erfahren beide als zusätzliche Erprobung der Bestimmung füreinander und als erneute Erprobung einer Beziehungsform, in der Eigenständigkeit und Hingabe an das Du gleichermassen gelebt wird. Auch auf seiner Hinreise nach England bleibt Schibler im Gespräch mit seiner Geliebten. Sein Eintrag ins Tagebuch: "Immer deutlicher ahne ich, nachdem der Zug nun zwei Nächte lang gegen Westen gefahren ist: die Weite dieses Raums ist nicht wirklich; denn ich bin Dir noch nahe, ja näher als an jenem Nachmittag des Abschieds! Kein Reisefieber, keine Ergriffenheit, nur die so lang ersehnte, nun deutlich wachsende Gewissheit: dass es nur noch Dich gibt als mein Ziel, dass Du die ganze Welt für mich sein wirst mit all der ersehnten Weite und Grenzenlosigkeit. Ich bin ja wirklich ein seltsamer Reisender: noch bevor die Reise recht begonnen ist, weiss ich schon um ihren tiefsten Sinn. Mehr als alles Frühere wird sie mir bewusst machen, dass es nur noch bei Dir ein Ziel und eine Heimat für mich gibt, und dass alles Äussere trüge- risch ist und ein stets sich wandelnder Schein. Doch weil ich weiss, dass Du meine Augen offen wissen willst, will ich trotzdem aufnehmen und erleben, was ich kann."1 Fünf Monate verbringt Armin Schibler in England. Er lernt verschiedene englische Musi- ker, Kulturschaffende, Kunstmäzene und Kunstliebhaber kennen, so z.B. Benjamin Britten und Michael Tippett, die Begegnung mit beiden hinterlässt in Schibler einen tiefen Ein- druck. Er komponiert mehrere Werke: Gefährten, die erste Sinfonie2 und das konzertante Duo. Mit dem Rad fährt er durch eindrückliche englische Landschaften, er erlebt erstmals Grossstädte und fragt sich beunruhigt, wohin die zunehmende Verstädterung und Vermas- sung noch führen wird. Immer wieder kreisen seine Gedanken jedoch um sein musikali- sches Werden wie auch sehnsüchtig um seine geliebte und ersehnte Braut. In der Zwischenzeit erwirbt Tatjana Schibler in Zürich das zukünftige Wohnhaus der Fami- lie. Das Paar hat mehrere Objekte vor der Abreise von Armin Schibler besichtigt. Zum Hauskauf schreibt Tatjana Schibler: "Unser Hauskauf erscheint für heutige Zeiten sehr spektakulär. 'Ihr mit Eurer Musik werdet nie irgendwo zu Miete leben können', überlegt mein Vater zu Recht. Mit Notizblock und Stift machen wir uns auf den Weg in die Altstadt, schreiben Namen und Adressen von Häusern auf, die für uns in Frage kämen. Mit sicherem Blick, da das ja sein Beruf ist, kann er die Häuser auf Qualität und Preis einschätzen. Es soll etwas Bescheidenes sein, mein Sparkonto ist nicht sehr gross, aber aus- und umbau- fähig. Die schöpferische Initiative regt sich in meinem Vater und mit Begeisterung sind wir auf unserer Suche. Abends schreibe ich dann nach seinem Diktat ein paar Dutzend Briefe:

1 Armin Schibler, Tagebuch, 15. Juni 1946. 2 Sinfonie Nr. 1 (quasi una fantasia), für grosses Orchester, op. 17 (1946), Nr. 22, Das Werk 1986, S.44.

37 'Haben Sie vielleicht im Sinn, Ihr Haus zu verkaufen etc...' Unter den drei in Frage kom- menden Antworten suchen wir unseren 'Wolfbach' aus. Das Haus ist baufällig, ein kleines Vorstadt-Armeleutehaus von ehedem. Mein Vater sieht aber grosse Möglichkeiten in die- sem schmalen, hohen, an andere Häuschen angebauten Gebäude. Mir ist alles recht, die Hauptsache ist, ich darf Armin Schibler heiraten."1 Armin Schibler erfährt vom Hauskauf aus der Ferne und imaginiert wiederum die Zukunft voraus: "Njuscha, meine liebe, tief mir verbundene Frau: wir haben ein Haus, Du schenkst es mir mit all dem Glück, das Du mir bist. Und meine Gedanken sind überwach; ich stelle mir alles vor, baue in Gedanken schon um und aus, gehe aus und ein, komme heim nach vielen mühsamen Stunden und Du erwartest mich, ein gedeckter Tisch erwartet mich, den Deine Hand mir liebevoll bereitet. Wie mag wohl die enge, kleine Stelle sein, wo wir schlafen, tausend Nächte, tausend Wochen hof- fentlich, uns unendliche Male angehören und gut sind... O endlich, endlich beginne ich alles nicht als ein Wissen, sondern ein Wunder zu erahnen, endlich nimmt mich die Sehn- sucht so tief in ihre glühenden Zangen, dass das Gefühl den Gedanken überkreist und ich ein Geschöpf werde, ein tiefes Unbewusstes. Dann endlich kommt die Nacht und Traum, und gegen Morgen fühle ich Dein Gesicht, Deine Augen über mir, und Dein Mund schliesst mit meinem zusammen. 'Unser E-Dur- Haus', das ist der Gedanke, mit dem ich erwache..."2 Die Tonart E-Dur hat für Armin Schibler eine besondere Bedeutung, wie er im kommentie- renden Dialog mit seiner Geliebten zu seiner 1. Sinfonie, welche er ebenfalls in London fertigstellt, darlegt: "... am Schluss aber geht auch er (der Choral) in der Ewigkeit des E- Dur Dreiklangs auf. Beide Themen, Du und ich haben aufgehört zu sein, wir sind überge- gangen in dieses Ewige, wie wir es, solange wir leben, immer wieder in liebender Vereini- gung erleben dürfen, und wie es mit uns geschehen wird, wenn dieses Leben aufhört. Es ist eine tiefe Fügung, dass ich dieses Motiv des ewigen Seins zuerst in der Totengräber- szene der 'Hochzeit' fand, wo es dann bei der Trauung den Zusammenhang zwischen Tod und Liebe dartut. Und das Gemeinsame von Liebe und Tod ist die Ewigkeit, der wir durch die Liebe zeitlich, durch den Tod für immer angehören. (...) Und was nun? Siehst du: um zwölf Uhr schloss ich das fast leere Tuschfläschchen, und am Nachmittag, als ich im Sonnenlicht am Flügel sass in Hamstead draussen, stiegen schon wieder neue Pläne auf. Aber vielleicht ist es gut, diese Zeit zu nutzen, denn ich weiss, dass mit meiner Ehe ein neuer Gestaltungskreis beginnen wird. Und Dich zu lieben, ist mir dann endgültig wichtigster Beruf..."3 Vierzehn Tage nach der Fertigstellung seines Werkes Gefährten schliesst er auch den letz- ten Satz der Violinsonate4 in E-Dur, in der Tonart der Ewigkeit, ab: "Der letzte Satz der

1 Tatjana Schibler, Doppelfuge 61. 2 Armin Schibler, Tagebuch, Samstag 10. August 1946. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 25. Juli 1946, wieder in London. 4 Konzertantes Duo für Violine und Klavier, op. 19 (überarbeitete Fassung 1949) Nr. 111, Das Werk 1986.

38 Violinsonate; es musste wieder eine Doppelfuge werden, nur die sich ineinanderfügende Vereinigung zweier Themen vermag dem Gedanken diese letzte Steigerung zu verleihen, welche alle aufgeworfenen Probleme zwingend löst. Diese Fugierung ergab sich nicht leichter, aber beinahe natürlicher als in der Sinfonie. Plötzlich entdecke ich, dass mein Stil in dieser Sonate so sinfonisch ist, dass alles leicht zu instrumentieren wäre."1 Die zitierten Tagebuchauszüge zeigen: Armin Schibler ist in seinem kompositorischen Schaffen in England ausserordentlich fruchtbar. Neben der Erkundung von Landschaften, der Komposition und der Begegnung mit englischen Musikern und Musikschaffenden erlebt Schibler in oft beglückender, manchmal quälender Sehnsucht, dass sich auch (oder gerade) in der Ferne die Beziehung zu seiner Braut Tatjana vertieft. Am 17. August, angesichts des nüchternen Bildes dieses Landes, angesichts der Vermas- sung durch Städte und Industrielandschaften, schreibt er: "Weisst du, welches seltene Glück unsere Liebe und Ehe und Familie darstellen wird in dieser Unsumme ungeistigen Lebens? Dass wir gleichsam eine Neuart von Kloster darstellen, in dem das Bewusstsein der alten Göttlichkeit wachgehalten wird... Ungeheuerliche Schicksalsfrage: wohin eilt diese Welt, in welche Form der Auflösung und Beendigung?"2 Schibler wird in englische Adelsgesellschaften eingeladen, das Ambiente beeindruckt ihn, doch die geistige Leere deprimiert ihn. Am 27. August, abends 11 Uhr, nach einem Abend- Dinner in einem alten englischen Landgut mit Diener im Frack schreibt er: "Alles Äussere war wohltuend stilvoll, die Töchter reizend in ihren weissen Kleidern, und wenn Lady Alexandra ein tiefer Mensch gewesen wäre, hätte ich den Abend wohl tief erlebt. So aber spielte ich die Schubertsonate für mich auf dem vorzüglichen Bechstein, beim langsamen Satz alles vergessend - er ist wohl das mir liebste Musikstück, dessen Tiefe sich immer wieder bewährt. Und den Diener im Frack darf ich nicht vergessen, wie er ruhig Teller und Gerichte umhertrug. Seine ruhigen Bewegungen passten besser in die hohe Dining-hall als die unmusikalische Stimme der Gastgeberin. Aber die Kerzen und das matte Schimmern des Silbers auf dem dunkeln Holz des grossen, alten Tisches... Ohne tiefen Geist ist der grosse Raum leer, mit ihm wird der kleine Raum weit und erfüllt."3 Voll tiefen Glücks und Vorfreude spürt Armin Schibler, dass er Hingabe ohne Angst vor Selbstaufgabe erleben kann: "Es wird Herbst. Im abendlichen Dunst verschwinden die kla- ren Umrisse der Strassen und Häuser, und London hat jetzt einen eigenen Zauber. Ich beginne, mich innerlich auf die Rückkehr vorzubereiten. Gott, schenke mir dieses Mal ein reines Herz und tiefes Ergriffensein. Lösche meinen Verstand aus und lass nur mein Inne-

1 Armin Schibler, Tagebuch, 14. Okt. 1946. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 17. August 1946. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 27. August 1946.

39 res sprechen, nimm alle Selbstschau von mir und lass mich ein Geschöpf sein und weinen vor Glück, wenn ich sie wiedersehe. Ich liebe, liebe. Das Ziel naht: das Ende des Ich's."1 Armin Schibler tritt die Heimreise an, der Kreis schliesst sich, und er notiert in sein Tage- buch: "Nun bringt mich jede Minute wieder einen Kilometer zurück zu dir, durch die Nacht Nordfrankreichs. Hunderte von Malen habe ich das Wiedersehen vorauserlebt. Reich an innerm und äusserm Erleben kehre ich heim. Neue Welten sind nun in meinen Kreis eingeschlossen, neue Horizonte sind aufgetaucht. (...) Einen Grundklang habe ich vor fünf Monaten gefühlt und in allem immer stärker erlebt bis zu dieser letzten Nacht: Dass du mein Leben bist. Nur du vermagst mich über mich selbst zu heben, und nur du wirst mir die heilige Offenbarung schenken können, die in der Ent- persönlichung, im Einswerden mit dem Göttlichen liegt."2 Nach seiner Rückkehr, inmitten des Taumels der Wiedersehensfreude, beschäftigt die bei- den der Umbau des Wolfbachs. Pläne werden gemacht, der Umbau selber muss überwacht werden. Im zukünftigen Musikzimmer wird ein Kachelofen eingebaut. Drei seiner Kacheln, von einer Keramiker-Freundin bemalt, zieren Symbole, die das Band zwischen den Liebenden charakterisieren: "Die drei gemalten Kacheln: VITA BREVIS, ARS LONGA, ein junges Mädchen spielt Gei- ge zwischen einem Jüngling und einem nach innen horchenden Greis. HOMO PARS ORBIS TERRARUM FAUNAE ET FLORAE. Ein weiser Mensch als Gärtner setzt eine Pflanze. Ein Salomonssiegel und eine Melodiefloskel aus der Hochzeitskantate. IN FEMINA AETERNITAS NATURAE. Eine junge Frau kniet und hält eine Öllampe, die strahlt. Unter der Ruine Rotberg ist das Bergerwappen und auf einem Wege, der gegen ein fernes Meer hingeht, sieht man ein schreitendes Menschenpaar."3 Diese Bilder spiegeln zentrale Themenbereiche des Paares: Die Kunst, die Nähe des Todes, und - dargestellt als Gärtner - der Mensch als Teil der Natur (und nicht als Herrscher und Ausbeuter von Pflanzen und Tieren). Mit der Ruine Rotberg - Ort des ersten Konfliktes und dessen Meisterung übrigens - wird auch die Beziehungsgeschichte angesprochen. Schliesslich ist auch das gemeinsame Wertesystem dargestellt: Das Familienwappen von Tatjana, Bilder aus Armins Traum (S. 28) und die Weitergabe des Lebens durch die Frau (und damit die Hochschätzung der Frau und des Mysteriums der Liebe). Doch trotz aller Betriebsamkeit und Vorbereitungen auf das grosse Fest erschüttern als 'Ausklang' alte Zweifel und Konflikte das Paar: "...stundenlang sassen wir am Rande einer Strasse und rangen miteinander weinend flehend, der Weg in die Stadt zurück drohte uns als Sinnbild des Fiaskos mitten im herrlichsten Aufbruch."4 Doch auch diese letzten Kämp-

1 Armin Schibler, Tagebuch, 19. Sept. 1946. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 27. Okt. 1946. 3 Armin Schibler, Tagebuch, Samstag 12. April 1947. 4 Armin Schibler, Tagebuch, 19. April 1947.

40 fe vor der Ehe finden zu einem guten Ende und führen erneut zur zwar schmerzhaften, doch notwendigen Einsicht: Neben aller Verschmelzung und Aufgabe des Ichs in der Liebe bleiben Liebende auch immer zwei Individuen, zwei Welten: "Ist es schon schwer, in sich allein die Einheit zu verwirklichen, so ist es noch viel schwerer, eine solche zu zweit zu erringen. Wir sind zwei Welten, zwei Gestirne, keines gibt nach, jedes wacht für das ande- re, unerbittlich."1 Die Anerkennung der Fremdheit des geliebten Gegenübers in vielen Momenten des Lebens verhilft jedoch auch zur Anerkennung der Fähigkeiten des Gegenübers. Am 4. Mai schreibt Armin Schibler: "Njuschas erstes eigentliches Konzertauftreten in der Peterskirche. Noch sind technische Fortschritte notwendig - aber ihr Spiel kündet eine überaus reife Gestal- tungskraft und ist von vollendeter Vornehmheit und Musikalität. Wie ein Geschenk wird mir erneut die wahrhaftige, im Wesentlichen ruhende Begabung meiner Frau bewusst. Und ich spüre, dass ihr Wesen alle Menschen, die ich nicht zu gewinnen vermöchte, für sie, vielleicht sogar für uns einnimmt."2 Dieser Wunsch knüpft an einen Tagebucheintrag an, den Armin Schibler am 9. Januar 1947 notierte: "Oft denke ich: du hast keinen Gönner, keinen Förderer, aber ich habe das Wichtigste, was ein Mensch haben kann, den einzig möglichen Lebenskameraden, den besten Förderer aller äussern und innern Kräfte."3 Dieses Gefühl der Einsamkeit und des Fehlens von Wegbegleitern und künstlerischen Freunden, die Anteil zu nehmen vermögen am Werk Armin Schiblers, vertieft sich in den nächsten Monaten: Das Paar besucht Schiblers ehemaligen Klavierlehrer Walter Frey, sie spielen ihm die Violinsonate vor. "Noch vor drei Jahren weilte ich als kläglicher Klavier- schüler in diesen Räumen! Nun bin ich erstmals mit Njuscha zu Besuch - Frey hört sich dann die Violinsonate an, die er eher eine Phantasie findet. Wir sprechen auch über meinen Zyklus Gefährten, und was ich erwartet hatte, ist eingetroffen: die Menschen wol- len gar nicht solche Wesentlichkeit, sie sind noch gar nicht reif dazu. Aber eines Tages werden sie es sein!"4 Die Phase der Vorbereitung, der Reifung und des Aufeinander-Wartens rundet sich ab, und der Abend vor der Hochzeit naht: "Leise Bangnis in der Brust. In der Badewanne dampft das heisse Wasser, die Mutter bringt Seife und Waschtücher. Von oben hört man die Stimme des Vaters, der mit dem Bru- der spricht. Während ich in der Wanne sitze, wäscht mir die Mutter den Kopf; Seifenschaum rinnt über Augen und Gesicht. Trauliches Gespräch, wie vor zwanzig Jahren schäme ich mich nicht, vor der Mutter nackt zu sein, denn ich fühle mich rein.

1 Armin Schibler, Tagebuch, Sonntag 20. April 1947. 2 Armin Schibler, Tagebuch, Sonntag 4. Mai 1947. 3 Armin Schibler, Tagebuch, 9. Jan. 1947. 4 Armin Schibler, Tagebuch, Samstag 10. Mai 1947.

41 Seifenschaum, Reinheit auch nach aussen, und mit vertrauten Linnen wartet das gute, lang- gekannte Bett. Eine Mücke singt an der Decke, die Kirchenuhr schlägt gegen zwölf. Dann das letzte 'Gute Nacht-Sagen' der Mutter, und ein scheuer, dankbarer Kuss. Alles erfüllt sich: alles, seit Jahren geahnt und gedacht, wird nun wunderbar erlebte Wirklichkeit. Keine Leere mehr, sondern ein leises Raunen der Vergänglichkeit in der Brust, leise schmerzlich, bald auch wieder süss. Nun ist mein Leben zur Blüte herangereift, in arbeitsamer Geduld. Nun bin ich bereit, das Du zu erleben, nun ist das Ich bald ganz überwunden. Nun stehe ich in der Mitte meines Lebens und ahne das Nahen des schöpferischen Sommers: Überfülle, Sichtung und objek- tive Gestalt. Und mein Leben wird zur Mission, zur Sendung, zum lichten Menschenvorbild. Ich weiss, dass ich an der Zukunft der Menschheit mitarbeiten darf - das ist so herrlich, zu wissen. (...) Es schlägt zwölf. Die Schwester ist im letzten Zug angekommen, nochmals gehen Schritte und Stimmen durchs Haus. Mein Hochzeitstag hat begonnen."1 Nun verstummt das Tagebuch für drei Jahre. Erst 1950, nach der Geburt des ersten Kindes, wird es Armin Schibler erneut dazu drängen, Gedanken dem Tagebuch anzuvertrauen. Ein erfüllter Alltag beginnt, die Sehnsucht nach dem Du hat sich erfüllt und trägt reiche äussere und innere (kompositorische) Frucht.

2.2 Zur Bedeutung der Begegnungszeit

Auffallend - und angesichts heutiger Beziehungsformen ungewohnt - ist der lange Span- nungsbogen der Beziehungssuche des Paares: Es will und muss aufeinander warten, beide verstehen diese Zeit als Herausforderung zur Reifung der Liebesfähigkeit. Zur tieferen, sich auch musikalisch ausprägenden Symbolhaftigkeit dieser psychischen Dynamik schreibt Tatjana Schibler: "Dieses Spannungen Aushalten, dieses Wartenkönnen hat sich im höchsten Mass auch in seinen musikalischen Arbeiten ausgedrückt: er hat wohl kaum ein Werk geschaffen ohne formale Konzeption, ohne spannungsgeladene Entwicklung. Leben und Werk wird ihm immer eine Einheit sein. Ich bin überzeugt, dass diese 'schwere' Zeit bis zu unserer Eheschliessung im Mai 1947 uns geholfen hat, unsere harmonische und glückliche Ehe führen zu dürfen, ein für alle Mal hatten wir Schwierigkeiten in unserer Beziehung durchgekämpft."2 Die Liebesbeziehung beginnt ja fast 'geschlechtstypisch' asymmetrisch: Ein tief in seiner Familie und in der Tradition verwurzeltes Mädchen verbindet sich mit einem Mann, der von einer musikalisch-künstlerischen Mission erfüllt ist und der die Formung dieses Mäd- chens als mein menschliches Kunstwerk und damit mein grösstes auffasst. Die Hingabe an

1 Armin Schibler, Tagebuch, 22./23. Mai 1947. 2 Tatjana Schibler, Doppelfuge 20.

42 die Liebe und an das Du führt jedoch auch Armin Schibler, obwohl älter, an Grenzen und zu Reifungsprozessen. Mystische Grenzerfahrungen von der Hingabe an den schöpferi- schen Prozess, von Gottesliebe und menschlicher Liebe werden möglich und für Schiblers Lebenswerk prägend. Im Prozess der Hingabe löst sich der selbstische Ring. Seine Energie umkreist nicht mehr nur sein Werk. Das Leben ist mir wichtiger als das Kunstwerk, formuliert er treffend. Diese Erkenntnis beinhaltet paradoxerweise nicht ein Aufgeben der künstlerischen 'Mission', son- dern eine Erweiterung derselben. Schibler wird fähig, vielfältige, musikfremde Themen in der von ihm entwickelten Form des Hörwerkes als Gesamtkunstwerk künstlerisch zu gestalten. Er verlässt damit den künstlerischen Elfenbeinturm, der gegen Leben und Liebe abschirmt, und setzt sich mit Haut und Haar der sinnlichen und konfliktreichen Begegnung mit einem anderen Menschen, mit Menschen überhaupt aus. Kunst geht dabei nicht unter, sondern wird im Gegenteil tiefer, wahrhaftiger, im Alltag verwurzelt. Der musikalisch-künstlerische Schaffensprozess wirkt dabei unterschiedlich: Zwar könnte er dazu missbraucht werden, Energien zu absorbieren, wodurch Kunst zu einer Flucht vor dem Leben und der Liebe degeneriert. Armin Schibler verweigert sich bewusst dieser Möglichkeit, sie ist nicht seine Option. Die künstlerischen Gestaltungsmedien eröffnen ihm in der Folge Möglichkeiten des Ausdrucks. Seine Liebe zu Gott wie auch zu konkreten Menschen formt sich aus in Sprache und Musik (Gefährten) und drängt damit erstmals zum Gesamtkunstwerk. Schibler wird zwar die Konzeption des Hörwerks erst später ent- wickeln. In seinem eigenen Selbstwerdungsprozess ist es jedoch als Notwendigkeit des schöpferischen Ausdrucks und als künstlerische Ursehnsucht bereits angelegt. Mystisch-religiöse Erfahrungen offenbaren sich gerade in Verbindung mit körperlicher, auch erotisch-sexueller Lebenskraft. Schibler entfaltet damit eine 'geerdete Mystik', in wel- che die Energie konkret gelebter, durch heftige Konflikte gereifter Liebe zwischen Mann und Frau einfliessen kann. Diese in seiner Ehe bis ans Ende seines Lebens erfahrene und gegebene Liebe wird für Leben und Werk Schiblers bestimmend. 1942 schrieb er als 22jähriger im Aktivdienst in sein Tagebuch: "Dass Gott mein einziger Lebensinhalt sein würde, das ahnte ich allerdings nie, doch wenn ich meinte: die Frauen, so war es im Grunde das Gleiche..."1 Im Laufe der Verlobungszeit konkretisiert und indivi- dualisiert sich diese Erkenntnis: Es sind nicht mehr 'Frauen', sondern die eine reale Frau, die er zu lieben sich entschlossen hat. Philosophisch-religiöse Themenkreise (Gott resp. 'das andere Geschlecht') verwandeln sich in eine konkrete Beziehungsgeschichte und in eine konkrete Liebe zu einer Frau. Armin Schibler hat sich damit 'verwurzelt', 'inkarniert', er sucht die Heiligkeit der göttlichen Liebe nicht in der Askese, in Gottesliebe oder in der künstlerischen Produktion, sondern in der Liebe zu einer konkreten Frau, die er ein Leben lang lieben und nie verraten wird und die ihm Gleichnis für eine mystische Liebe zum Göttlichen wird.

1 Armin Schibler, Tagebuch, Frühling 1944. S. 25.

43 Die Liebe zu dieser konkreten Frau gibt ihm Kraft und die Grundlage, sein schöpferisches Werk vorwärtszutreiben. Seine Frau ist für ihn Echo, Du, geliebtes Gegenüber, Mitstreite- rin, verständnisvolles Ohr, Mitbegründerin einer Familie, die für ihn Lebenszentrum wird und in der er Verantwortung den Kindern gegenüber liebevoll mitträgt. Armin wird zeitlebens auch ein sehr liebevoller Vater sein, der die Sorge für die Kinder nicht einfach elegant an seine Gattin delegiert. Beide Partner bleiben berufstätig und vertreten einander deshalb auch in den Elternpflichten: Tatjana Schibler ist Geigerin und Bratschistin im Tonhalleorchester Zürich, eine Tätigkeit, die sie vor allem abends (Konzerte) fordert. Armin Schibler wird Gymnasiallehrer für das Fach Musik mit einem vollen Pensum. Armin überwindet seine Überheblichkeit und Verschlossenheit, Tatjana entwickelt Sinn- lichkeit und überwindet asketische Züge, die sie sich angesichts des frühen Todes ihrer Schwester meinte auferlegen zu müssen. Beide reifen, beide bereiten sich füreinander zu, es reift nicht nur die Ehefrau für den (scheinbar reifen) Künstler. Im Kern überwindet damit das Künstlerpaar eine patriarchale Rollenteilung, in der die Frau sich zugunsten des künstlerisch begabten Ehemannes aufgibt, obwohl in anderen Dimen- sionen die Ehe der beiden auf einer traditionellen Rollenteilungen beruht (der Mann ist künstlerisch begabt, die Frau unterstützt Leben und Werk des Mannes, gibt eine eigene künstlerische Karriere auf, trägt den Hauptteil der Familienarbeit etc.) Da diese Rollen- teilung jedoch den Wünschen, Interessen und Fähigkeiten beider Partner entspricht, wird sie nicht zur Hemmung oder zur gegenseitigen Behinderung. Das Thema der Liebe zwischen Mann und Frau gestalten die beiden damit im eigenen Leben. Diese - selbstverständlich immer nur unvollkommen erreichte - Kongruenz von Ideal und real gelebten Liebe, der Wunsch, die Ehe als höchstes menschliches Kunstwerk, führt Schiblers Auffassung der erotisch-sexuellen Beziehung über romantische Vorstellungen hinaus und verwurzelt sie im Leben.1 Auch das kreativ-künstlerische Zusammenwirken der beiden gestaltet sich glücklich: Tatjana ist nicht Komponistin und stellt damit keine Konkurrenz auf dem eigenen Gebiet dar, sondern es ergibt sich im wahrsten Sinn des Wortes ein Zusammenspiel - Tatjana Schibler ist Interpretin vieler Violinwerke ihres Mannes, einige von ihnen bereits in der Uraufführung. Tatjana nennt ihre Lebenserinnerung bezeichnenderweise auch Doppelfuge: Beide Stimmen zählen, nicht nur diejenige des männlichen Teils, nicht zuletzt auch, weil sie die erste Hörerin seiner Werke, seine (oft gestrenge) Kritikerin, sein Echo wie auch seine Mäzenin ist. Tatjana Schibler gibt ihren beruflichen wie auch persönlichen Weg (trotz Familie) nie auf und bleibt auf diese Weise eigenständige Partnerin. Viele Werke Schiblers nehmen diese Themen auf:

1 Für Schibler sind gleichgeschlechtliche Beziehungen selbstverständlich der Mann-Frau-Beziehung gleichgestellt. Die Thematik der Mann-Frau-Beziehung liegt Schibler aus eigener Veranlagung jedoch näher.

44 Im musikdramatischen Gesellenstück des spanischen Rosenstocks op. 20 (1950/52)1 hält ein "magischer Zauber in Gestalt einer Pflanze zwei Liebende während langjähriger Trennung zusammen. Als eine Nebenbuhlerin das Symbol der Zusammengehörigkeit zum Verdorren bringt, schlägt der weggeworfene Strauch neue Wurzeln, um bei der schliesslichen Rückkehr dem bedrängten Geliebten zum rettenden Versteck auszuwach- sen."2 In Blackwood und Co. (Uraufführung 1962)3 ist es das zum Traumpaar gekürte Liebespaar Bill Kind und Fanny Sweet, dessen Liebe im Rahmen der Verkaufsförderung eines Bettmodells vermarktet werden soll. Die beiden können sich nur mit Mühe dieser Ver- marktung entziehen.4 Im Werk Die Legende von den drei Liebespfändern5 zieht ein Mann in die Fremde und erhält von seiner Geliebten drei Pfänder, welche er alle in Liebesbegegnungen auf seiner Reise verschenkt - um nach der Rückkehr zu erkennen, dass es jedes Mal seine Geliebte war, in immer anderer Verkleidung, der er verfallen war. Das sinfonische Ballett La Naissance d'Eros6 mit einem Text vom ihm selbst nimmt auf eine Vision Platons Bezug, wonach Mann und Frau einst eine derart harmonische Einheit bildeten, dass sie den Neid der Götter erregten und deshalb von ihnen getrennt wurden. Es ist Eros, der die Getrennten einander sehnsuchtsvoll suchen lässt.7 In La Folie de Tristan ist es die gereifte 'Altersliebe' von Tristan und Iseut, welche Konventionen zu sprengen vermag und Menschen die Kraft gibt, aus Zwängen des Standes und der Herkunft auszubrechen. Liebe ist in diesen Werken insgesamt eine quasi magische Kraft, welche Menschen/Paare zusammenhält über Zeiten der Trennung hinweg (Rosenstock), welche Paaren die Kraft gibt, sich Tendenzen der Vermarktung zu entziehen (Blackwood), welche Menschen mit- einander verbindet zu einer fast mystischen Einheit und Einigkeit auch in Situationen, in welchen der Partner scheinbar fremdgeht (Die Legende von den drei Liebespfändern) und welche die verlorene Urharmonie - wenigstens momenthaft - wieder herzustellen bzw. aufklingen zu lassen vermag (La Naissance d'Eros).

1 Der Spanische Rosenstock, Oper in drei Akten, nach einer Novelle von W. Bergengruen. Text von Max Allenspach, Nr. 1, Das Werk 1986, S.18. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.19. 3 Blackwood und Co., Musikalische Burleske für Sänger und Tänzer. Text von Armin Schibler und Alfred Goldmann. Nr. 6, Das Werk 1986, S.23. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.24. 5 Die Legende von den drei Liebespfändern, Ballett parlé, Text von K.H.Waggerl, für Sprechstimme, Solosopran und Kammerensemble (1975/76), Nr. 20, Das Werk 1986, S.42. 6 La Naissance d'Eros, Sinfonisches Ballett für grosses Orchester, Kammerchor und Sprechstimme ad lib., Nr. 21, Das Werk 1986, S.43. 7 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.43. Vgl. dazu auch meine Anmerkungen zur musikalischen Struktur dieses Werkes auf S. 88.

45 Liebe, insbesondere die erotisch-sexuelle Liebe, steht gerade dank diesen Dimensionen auch in langdauernden Beziehungen bei Schibler nicht in Gefahr zu erkalten oder zu erstarren. Im Gegenteil: Sie intensiviert sich und bietet Menschen verstärkt einen Hort des Widerstandes gegen die Vereinnahmung durch die Kräfte des Kommerzes und der Angleichung/Vermassung. Der magischen Kraft der Liebe wohnen damit ähnliche Möglichkeiten inne wie der Musik (Kap. 7) - nicht von ungefähr greift Schibler deshalb zu musikalischen Mitteln, um die Kraft der Liebe zu beschwören und damit auch im Rahmen künstlerischer Gestaltung wirksam werden zu lassen. Diese Vision von der Kraft der Liebe hat - wie ich aufzeigte - seine Verwurzelung in der Biografie von Armin Schibler, wobei sich zeigte, dass dieser 'magische Zauber' gerade in seinem Leben nicht einfach automatisch oder ausgelöst durch rein äusserliche, optische Signale der Attraktion etc. wirkte, sondern in der Beziehungsgeschichte zu seiner Geliebten rund um die Pole Eigenständigkeit-Hingabe ans Du errungen werden musste. Diese Liebesgeschichte von Armin und Tatjana Schibler hat damit trotz ihrer vielleicht für heutige Ohren leicht pathetisch oder überhöht wirkenden Sprache eine äusserst moderne Dimension: Es ist ein mit modernen Themenstellungen wie Emanzipation, Selbstwerdung, Abgrenzung und gegenseitiger Hingabe kämpfendes Paar, das durchaus attraktive Antwor- ten findet. Insbesondere beeindruckt mich die Gefühlsintensität und Liebesfähigkeit des Mannes in dieser Partnerschaft. Er überwindet damit patriarchale Rollenvorstellungen des unnahbaren, künstlerisch ausgerichteten Helden, der zur Ergänzung sein 'Heimchen am Herd' braucht, eine Rollenverteilung, welche in diversen Partnerschaften von Künstlern nur zu oft gelebt und als einzig richtige verherrlicht wurde. Mit Ausnahme der Erfahrung des in Europa tobenden Krieges haben sämtliche Lebenser- fahrungen Schiblers (gefühlsmässiger Durchbruch, Selbstwerdung und Naturerleben) eine künstlerische Gestaltung, Verdichtung, ja Überhöhung erfahren. Auffallend ist, dass poli- tische Fragestellungen, gesellschaftspolitische Themen und Phänomene wie Faschismus, Nazionalsozialismus, Krieg und Kriegsende eine fast völlig vernachlässigte Rolle im Lebens des Komponisten spielen. Die beiden Verlobten scheinen so mit dem Ringen um die Grundlagen ihrer Ehe beschäftigt, dass andere Themen - jedenfalls gemäss den Einträ- gen ins Tagebuch - zwar nicht verdrängt werden, jedoch unwichtig sind. Diese Einseitigkeit beruht jedoch nicht auf einer grundsätzlich apolitischen Natur Schiblers, sondern wohl darauf, dass angesichts der Übermacht der politischen Kräfte (Nazionalsozialismus, Weltkrieg) jeder weitergehende Widerstand, ja sogar jedes politische Nachdenken gelähmt wurde. Dass - und in welcher Form - Schiblers politisches Gewissen und Verantwortungsbewusstsein jedoch erst geweckt werden musste, werde ich im nächsten Kapitel aufzeigen.

46 3 Hervorbrechen von bisher Ungeahntem: Aneignung einer dodekaphonen Musiksprache

3.1 Darmstadt und die Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie

Die nun folgenden Ehe- und Familiengründungsjahre sind für Armin und Tatjana Schibler von Glück und Erfüllung und reicher kompositorischer Ernte erfüllt. Armin vollendet wichtige Werke: er beendet seine erste Oper (Der spanische Rosenstock), um deren Vollendung er stark ringen muss (dazu S. 111). Weil alles erneut sich begibt, ein Gedicht von W. Bergengruen vertont er zu einer Komposition für tiefe Stimme, Viola und Klavier.1 Dieses Werk "ist das Lebensgefühl unserer ersten Ehejahre", merkt dazu Tatjana Schibler an.2 Am 5. Mai 1949 beginnt er die Arbeit an der Passacaglia.3 Es kommt zu Aufführungen, erste Erfolge stellen sich ein. Gemeinsam mit seiner Frau besucht er nach dem Krieg Deutschland, wo sie Konzerte in von Krieg und Zerstörung gekennzeichneten Konzertsälen geben. Armin möchte seiner Frau das von ihm in der Verlobungszeit alleine besuchte England zeigen, doch gerade dort angekommen erhalten sie die Nachricht vom unerwarteten Tode Armins Vater, so dass sie sofort wieder umkehren. Das erste Kind kündigt sich an. "Ich selber spüre erstmals in Njuschas Bäuchlein wie es klopft..."4 schreibt Armin Schibler in seine täglichen Tagebuchnotizen, in welche er bis zu seinem Tod notieren wird, welche (künstlerischen und/oder menschlichen) Begegnungen ein Tag mit sich brachte. Sein erster Tagebucheintrag seines Tagebuches nach drei Jahren des Stillschweigens beginnt mit Reflexionen zu künstlerischen Werken anlässlich der Geburt seines ersten Soh- nes: "Das Werk, welches ich in Gedanken am liebsten durchgehe, als den persönlichsten und zugleich überpersönlichsten Ausdruck meines urromantischen Naturgefühls, ist die Kantate 'Weil alles erneut sich begibt' nach dem unfassbar tiefen Gedicht von Bergen- gruen. Den sich zugleich überschneidenden und ablösenden Arpeggien in Chopins cis-moll Prélude op. 49 gleich, ist der Bogen meines physischen Daseins im Begriff, sich wieder zu neigen und auszuklingen, und schon wächst aus der Tiefe in leuchtender, strahlender Ur- kraft das mütterlich behütete Leben meines ersten Kindes. Dieses erleben zu dürfen, das Lauschen des Kindermundes, das himmlische Strahlen der grossen, klaren Augen, das süsse Duften des weichen und doch schon kraftvollen Körperchens, das übersteigt noch wie die beglückende Reife der Frucht den Rausch der Blüte, den Taumel der Zeugung.

1 Weil alles erneut sich begibt . Für tiefe Stimme, Bratsche und Klavier, auf einen Text von W. Bergengruen, op. 23 (1949), Nr. 158, Das Werk 1986, S.117. 2 Doppelfuge 1, 143. 3Passacaglia, op. 24 (Introduktion, Passacaglia und Epilog) für grosses Orchester (1949), Nr. 23, Das Werk 1986, S.45. Die Passacaglia kann musikalisch mit guten Gründen zu seinen Hauptwerken gerechnet werden. Sie wurde häufig aufgeführt. Das Werk 1986, S.45. 4 26. Sept. 1948. Zum Unterschied der Tagebücher und Tagebuchnotizen vgl. S. 19.

47 Wo wir aufhörten, uns selbst zu sein, wo wir uns ganz hingaben an das Göttliche, da einzig entsprang das Göttergeschenk, das alle Zweifel am Leben und am Menschen hinwegnimmt. (...) Dazwischen, wie zwischen Äckern liebevolle Einzelgewächse die Ergänzung bilden, die Neufassung der Violinsonate, die Spittelerkantate1, den Entwurf zur Radiolegende 'die Augen des Bruders'."2 Diese Tagebucheinträge sind - ähnlich wie in der Verlobungszeit - wiederum typisch für Schibler: Oft sind es die privaten Höhepunkte, welche ihn zum künstlerischen Ausdruck inspirieren, ist es sein privates Glück, das ihn trägt. Privates und Künstlerisches sind in seinem Werk weiterhin ineinander verwoben und befruchten einander. Am dritten Hochzeitstag des Paares, am 27. Mai 1950, schreibt Armin Schibler in sein Tagebuch: "Vor drei Jahren... das sagt sich so leichthin und birgt doch soviel Reichtum an erlebtem Leben und Schicksalen, soviel ruhige Fülle und Gestaltung der in intensiven Jugendjahren erfühlten Ordnung unseres Daseins."3 Armin entdeckt eine neue Leidenschaft: Flussfahrten. Dazu Tatjana Schibler: "Ein wahres Faltbootfieber ergreift ihn". Viele Fahrten unternimmt Armin allein oder gemeinsam mit seiner Frau, bis ein gefährlicher Zwischenfall den Fahrten ein Ende setzt (S. 115). In den Jahren 1949-1953 besucht Armin Schibler jeweils in den Sommermonaten die musi- kalischen Ferienkurse von Darmstadt. Die dabei empfangenen Impulse, die Begegnungen mit deutschen Komponisten und die Infragestellung und Kritik führen zu einer mehrjäh- rigen künstlerischen Auseinandersetzung, welche sein Werk entscheidend prägt. Schibler schreibt dazu rückblickend in seiner 'Selbstdarstellung' von 1972: "Was ich um 1950, zur Zeit der Orchester-Passacaglia und des Spanischen Rosenstocks aus barocken, spätro- mantischen und impressionistischen Bausteinen und Einflüssen der Musik meines Lehrers Willy Burkhard zusammentrug und als meine Anfänge präsentierte, sah sich im Darmstäd- ter Kreis der notwendigen Infragestellung ausgesetzt. In der Begegnung mit Krenek, Fort- ner und Adorno zerbrach die 'heile Welt' vor der Wirklichkeit. Ich erarbeitete die Dodeka- phonik, die meine Aussage durch die psychische Aphoristik differenzierte. (Die späte Süh- ne, 2. Streichquartett, Aphorismen)."4 Wie diese Auseinandersetzung konkret erfolgte, dokumentieren die Tagebucheinträgen jener Tage genauer. Zum ersten Kontakt mit dem Darmstädter Kreis kommt es 1949, als der Komponist und seine Frau erstmals die Ferienkurse besuchen, an denen sich über 100 Musiker und Komponisten zu geistig-künstlerischem Austausch treffen. Hier führen beide Armins Werke auf, doch seine Musik stösst auf keinen Widerhall. Schibler beschreibt die Erfahrungen in Darmstadt folgendermassen:

11 Glockenlieder-Kantate, op. 22. Für Männerchor, Solosopran und Kammerorchester (1949) auf Gedichte von Carl Spitteler. Nr. 45, Das Werk 1986, S.60. 2 Armin Schibler, Tagebuch Mai 1950. 3 Armin Schibler, Tagebuch 27. Mai 1950. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.12.

48 "Es begann letztes Jahr in Darmstadt. Ich war zu kurz dort um zu begreifen; ich fühlte nur, dass meine Musik kaum einem einzigen Menschen etwas zu bedeuten vermochte. (...) Es ist Abend, wir beide (Tatjana und Armin spielen das Konzertante Duo1, Anmerkung G.S.) haben uns eingespielt und blicken zum Fenster des kleinen Schulzimmers heraus: Ruinen, Ruinen soweit das Auge reicht, die Aula selbst ist beschädigt. Und während wir nun spie- len, vollzieht sich etwas Seltsames. Es ist, wie wenn wir einer eisigen, unerbittlichen Wand gegenüberstünden. Alles was ich für Nuance, für Verinnerlichung hielt, zerfällt, zerbröc??kelt. Ohne einen Blick zu wechseln, beschleunigen wir alle ruhigen Teile. So geht die Wirkung doppelt verloren. Höchstens beim stürmischen Impetus des zweiten Satzes glimmt da und dort eine Sympathie im Saal auf, die aber nachher bei den impressionistischen Klängen des dritten Satzes wieder erlischt. Zum Schluss, im kärglichen Anstandsapplaus, ist es mir, wie wenn ich Spiessruten laufen müsste. Ich fühle mich gedemütigt, blossgestellt als naiver Epigone, den man belächelt. Ich höre in Gedanken die Worte, die jetzt bestimmt fallen: die Schweizer haben offensichtlich noch nicht gemerkt, um was es geht... Wie harmlos und nett, aber alles dagewesen... Inzwischen beginnt ein junger Deutscher aus Köln. Es ist eine ganz schwache, völlig uner- hebliche (weil auch einfach nicht gekonnte) Aussage kühnster Kakophonie, unterbrochen von chromatischen Glissandi. Ein tosender Beifall bricht los, der mir natürlich vor allem als Demonstration gegen das Bourjeoise meines Duos erklärlich ist. Hinter den Ruinen verglimmt das letzte Abendrot. Ganz plötzlich glaube ich zu verstehen, dass meine Welt hier so versagen muss, ja ich versuche mir zu sagen, dass meine Aussage, meine idealistische Haltung, mein unbedingter Glaube an den Menschen vielleicht wirklich einer vergangenen Zeit angehört. Dass es aus der bittern Realität kühnere Resultate zu ziehen gilt, als zu versuchen, den nicht mehr möglichen status quo wiederherzustellen. Seit diesem Abend - der Misserfolg war nur das letzte auslösende Moment - bin ich aufge- rissen und unsicher. Und plötzlich werden Horizonte erkennbar, die es bisher nicht gab: Die tiefe innere Berechtigung der Zwölftonmusik als die radikale Absage an den Traditio- nalismus, der unsere wahre Lage nur verschleiert. Ein völliges Neubeginnen mit neuen Bausteinen, das heute manchen lieben Lyrismus verneinen muss, damit auf weite Sicht ein neuer echter Aufbau gewonnen wird. Zwei Monate später stehen wir beide im Bauschutt der einstigen Frankfurter Altstadt. Da ist gar nichts mehr, das sich für den Neuaufbau verwenden liesse. Geistiges Abbild der Situation meiner jungen deutschen Kollegen: Ihr Reichtum liegt völlig in der Zukunft, da sie keine Vergangenheit mehr haben, als Deutsche vielleicht nicht haben dürfen. Auf unserer kleinen Konzertreise, die uns von Freiburg über Frankfurt, Aachen, Köln, Düsseldorf bis an die Nordsee führt, ergänzen wir die äusseren Eindrücke zu den Darmstädter Begegnungen. Uns ist, als wäre die Welt riesenhaft über uns hinweggewachsen, und wir hüteten angstvoll das Einstige, bis wir samt diesem erdrückt sein würden. - Erstickt und ausgerottet, wie es

1 Konzertantes Duo für Violine und Klavier, op. 19 (1949/51), Nr. 111, Das Werk 1986, S.96.

49 so manchen Hochkulturen durch die Expansion des Christentums zugefallen ist, und rie- senhaft und apokalyptisch erfüllte sich nun an uns die Vergeltung..."1 Die Ablehnung seines kompositorischen Schaffens durch die deutschen Kollegen verhin- dert nicht, dass Armin Schibler sich ernsthaft auf die Zwölftontechnik einlässt. In einem Brief an Kurt Hirschfeld beschreibt Armin Schibler seine ersten Annäherungen an die Dodekaphonie folgendermassen: "Nur nach grösstem, jahrelangen Widerstreben, zu- nächst fast 'bildungshalber', bin ich daran gegangen. Dann aber wurde es ein solches vehementes Erlebnis, ein Hervorbrechen von bisher Ungeahntem, dass ich erst vom eigenen Schaffen aus den Komplex der Neuen Musik völlig begreifen konnte. (...) Nun stellte sich bald die Frage: muss ich von nun an nur noch jene Bereiche zur Gestaltung bringen, in denen der Gebrauch der neuen Mittel legitim ist?"2 Schibler verneint dies. Er wechselt keinesfalls völlig seinen Kompositionsstil, sondern er versucht, die neu gewonnenen Dimensionen künstlerischer Aussagemöglichkeiten in seine Musiksprache zu integrieren, denn er erkennt, dass sich nur bestimmte Lebensbereiche mit seinem bisherigen errungenen Musikstil zum Ausdruck bringen lassen. In einem Brief an Th. W. Adorno vom 3. Juni 1951 beschreibt Armin Schibler den Prozess der Integration: "... und als ich bald darauf meine ersten neuen Stücke schrieb, geschah dies nicht etwa reflektorisch und zögernd, sondern aus so starken innern Impulsen heraus, wie ich sie beim Arbeitsprozess seit meinen Anfängen nicht mehr erlebt. Mir schien, es sei an Stelle der bisher für 'künstlerisch' und 'gestaltbar' angesehenen Gefühle zum erstenmal das innerste Unbewusste frei geworden - und damit das, worauf es ja allein ankommen kann."3 Diese gefühlsmässig intensive Erfahrung Schiblers erstaunt zunächst, denn die Zwölfton- musik stellt einen rational geprägten Musikstil dar: Melodien und Harmonien, die auf dem traditionellen Hörerlebnis aufbauen, werden nun durch die Herrschaft der Reihe weitgehend ausgeschlossen. Denn jeder Ton gilt als gleichwertig und muss kompositorisch verwendet werden, bevor ein Ton zum zweiten Mal zum Einsatz kommen darf. Die anfängliche Faszination durch die neue Technik erweitert sich bald in eine differen- zierte, Möglichkeiten und Grenzen beachtende Beurteilung. Armin Schibler erlebt zusätz- lich die dodekaphonischen Arbeiten seiner Kollegen meist als zutiefst zwiespältig und musikalisch problematisch. Er schreibt: "Was hier bei meinem ersten Besuch vor zwei Jah- ren begann, letztes Jahr als innere Erschütterung mich bewegte, das klingt nun wieder ab. Mir scheint: 'Ich bin hindurch'. Ich finde wieder zu mir selbst und alle die vielen Eindrücke bestätigen mir, dass mein ursprünglicher Weg der rechte war. Dass ich das Rationale und Zeitbedingte mir nicht ersparte, wird als reichste Befruchtung meines Stiles spürbar blei- ben, wenn ich längst wieder zu den ewigen, grossen Themen des Daseins zurückgekehrt sein werde und damit zu meinem organisch gewachsenen Stil. Gerade weil das, was ich

1 Armin Schibler, Tagebuch 29. Dez. (Clavadeleralp) 1950. 2 Armin Schibler, Brief an Kurt Hirschfeld, 14. August 1952. 3 Armin Schibler, Brief an Th. W. Adorno, 3. Juni 1951.

50 sagen möchte, echt und wahr ist, muss ich mich im Gegensatz zu den heutigen Strömungen stellen."1 Diese Weigerung, sich nur mit zeitkritischen Dimensionen auseinanderzusetzen, und der Entschluss, weiterhin den 'ewigen, grossen Themen des Daseins' künstlerisch treu zu blei- ben, begründet Armin Schibler im Brief an Theodor W. Adorno mit folgenden Worten: "Noch in einem anderen Punkte sehe und fühle ich anders (...): Als Mensch bin ich nicht nur der historisch-diskursiven Gegenwart angehörig, sondern auch dem zeitlos-intuitiv- Göttlichen. Das Leid unserer Zeit, wenn ich mich ihm geöffnet habe, verlangt nicht, dass ich mich dem Kind, der Natur, dem Ausser-Menschlichen verschliesse. Ich glaube, dass gerade diese Polarität, wenn sie echt erlebt ist, die überlebten oder abgedroschenen Ur- äusserungen des Daseins mit neuem Inhalt erfüllt... Denn, wenn wir uns ganz dem Leid verschreiben, verschreiben wir uns auch dem, das es heraufbeschwor, und gerade der Künstler, den ich (im Gegensatz zum Philosophen?) nicht nur als Seismographen der Gegenwart, sondern auch der Zukunft fordere, muss der Erste sein, der das Naiv-Intuitive aufrecht erhält, da doch nur aus einer wiedergewonnenen oder geschenkten gottmenschlichen Ursprünglichkeit jener neue Geist geboren werden kann, welcher eines Tages das Leid mindern und das Chaos meistern kann. Denn nur Bindung an Über-Menschliches schafft echte Sozietät. Und da wir wohl endgültig aus den Kollektivre- ligionen herausgewachsen sind, bleibt nur die Verbindung der Monade zu ihrem Gott, zur Warte der höheren Selbstverwirklichung, und damit wäre die atomisierte Gesellschaft die Voraussetzung für eine neuentstehende Gesellschaftsform."2 Schibler gewinnt dadurch grössere Freiheit und überwindet den Zwang, oder wie er es nennt, den Kanon der Reihe. Die unterschiedliche Verwendung der Zwölftonmusik im Vergleich mit seinen deutschen Kollegen sieht Schibler auch im unterschiedlichen geschichtlichen 'Ort' begründet: "...was bei mir vielleicht allzu sehr der Fall war: Entwicklung nur noch von Innen heraus, das fehlt nun in einem bestürzenden Mass vielen meiner jungen deutschen Kollegen. Sie stürzen sich auf all das, was eigentlich für die Musik nur von sekundärer Bedeutung ist: auf das Tonmaterial, auf die gänzliche Absage an das Gewesene, auf das Zeitnahe, Aktuelle. Was mir heilig gewesen ist seit jeher, fand ich in Darmstadt abgewertet und belächelt. Wer kümmerte sich da um Verinnerlichung? Eindeutige Scharlatanerie wird mit Kunst verwechselt. Das Vakuum des kollektivistischen Interregnums klafft unverändert offen..."3 Schibler erlebt viele der der Dodekaphonie ergebenen deutschen Komponisten als einsei- tige Spezialisten, nur das Technisch-Intelektuelle betonend. Damit löst sich jedoch das Eigentliche der Musik auf, deren Auftrag es nach Schibler ist, irrational-religiös-intuitive Dimensionen zum Ausdruck bzw. zu Klang zu bringen (Kap. 7.1.)

1 Armin Schibler, Tagebuch, 7. Juli 1951, Darmstadt. 2 Armin Schibler, Brief an Th. W. Adorno, 3. Juni 1951. 3 Armin Schibler, Brief an K. A. Hartmann, 5. Juni 1951.

51 "Ich will nicht etwa als fortschrittsfeindlich gelten - im Gegenteil, wo es unser Leben zu erleichtern gilt, welcher Vernünftige wollte da das Technische nicht ausnützen? Nur dort, wo es um den inneren Menschen geht, wird der Ersatz für das Ursprüngliche gefährlich, ja tödlich. Und doch ist es so: Unsere Zeit zählt so viele Künstler, so viele Spezialisten, die Höchstes leisten - aber sie ist arm an Persönlichkeiten. Das gibt es: Anerkannte Kompo- nisten und Maler, die Rudimente von Persönlichkeiten sind - als ob eine grosse Kunst nicht nur aus einer grossen Seele kommen könnte. Am menschlichen Wesen - während man im Technischen ans Vollkommene grenzt - duldet man reaktionärste Zustände, Halb- und Zehntelspersönlichkeiten, Primitivismen, deren einseitig verlagerten Gestaltungsresultate nachher als 'dernier cris' proklamiert werden, weil sie gegenüber dem vollausgereiften Kunstwerk den Vorteil des Noch-Nicht-Dagewesenen, plakathaft marktschreierisch in die Augen springenden Neuen haben. Wir bescheidenen Menschen der Mitte müssen zusam- menhalten und eine neue Zeit vorbereiten, in welcher das Humane wieder in Ehren gesetzt werden kann.“ Schibler meint mit dieser Mitte keine Nivellierung resp. kein Mittelmass, sondern Zentrierung (5.2): „Die Arbeit an sich selbst ist die Voraussetzung für die Anteilnahme an der Gemeinschaft. Ich weiss, es tönt so abgegriffen, von Selbstverwirkli- chung und Liebe zu sprechen. Und doch werden wir nie über diese elementaren Forderun- gen des Lebens hinauskommen. - Sie sind an die Stelle des äusseren Kampfes mit den Naturkräften getreten, die heute weitgehend gebändigt sind - und wenn alle als Einzel- menschen scheitern, dann muss auch das Ganze scheitern: der Staat, die Gesellschaft, das Leben. Und mag alles scheitern: ein Beweis wird es niemals sein, dass das menschliche Leben nicht göttlich, nicht herrlich wäre..."1 Unverdrossen nimmt Armin Schibler jedoch weiterhin an den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik teil, erlebt erneut Verständnislosigkeit für seine Musik, welche er eingebettet in einen so überaus glücklichen Lebenszusammenhang komponierte: "Es fiel mir beinahe schwer, mich von zu Hause, vom Süssplätz loszusagen. (...) Im Wasch- körblein liegt Christian mit seinem ersten Lächeln. Thomas begiesst eifrig die blühenden Rosen und macht sich um die Wassertonne zu schaffen. Mit dem allem verwachsen: meine Arbeit. Das Kaleidoskop2, das vielleicht grössere Aus- masse annimmt. Und jetzt wird die Musik wieder herausgerissen aus der Lebensbeziehung, wird nackt und beziehungslos auf das Katheder gestellt. Da werde ich wieder unsicher, die Masstäbe ändern sich: Das Mass an technisch-fortschrittlichem Geist entscheidet hier, nicht der Gehalt an menschlicher Substanz."3 Armin Schibler nimmt jedoch nicht nur aus Pflichtgefühlen an den Kursen teil, er erkennt die tiefere Notwendigkeit der Erweiterung seiner Musiksprache, und so fährt er fort: "Und doch bejahe ich dies alles, so schwer es mir fällt, seelisch mitzugehen. Einfach weil es mir um die Musik geht, und weil ich bedingungslos alles akzeptieren und assimilieren

1 Armin Schibler, Brief an Herbert Barth, 27. April 1952. 2 Kaleidoskop für Bläserquintett, op. 41 (1954), Nr. 141, Das Werk 1986, S.109. 3 Armin Schibler, Tagebuch 13. Juli 1952.

52 will, was mich überzeugt. Weil hier ein Forum ist, wo die Schaffenden aller Länder ihre letzten Resultate zur Diskussion stellen. So sehr ich auch wieder an mein Schaffen glaube, so sehr sehe ich die Notwendigkeit ein, Technik und Aussage auf den gleichen Nenner zu bringen. Es ist fragwürdig, dass wir uns immer noch eines Orchesters bedienen, welches das differenzierteste Instrument des Na- turalismus war, dass wir Instrumente gebrauchen, welche sich seit zwei oder drei Jahr- hunderten nicht veränderten. Die neu strukturierte Musik hat noch nicht den ihr entspre- chenden technischen Rahmen gefunden - das macht sie oft so gewaltsam und abstrus."1 Danach entwickelt Armin Schibler die Idee einer Musik der Materie: "Mir schwebt in dieser Richtung eine Arbeit vor, zu welcher mir vorerst der Text noch fehlt. Ein Arbeiter zeigt seiner Frau seinen Arbeitsplatz, die Werkhalle einer riesigen Maschinenfabrik. Liebevoll erklärt er ihr das Getriebe und Gestänge über ihnen, sie ver- folgen den Werdegang der Arbeit vom Guss bis zur Montage. Dazu eine Zwölftonkon- struktion für lauter elektronische Klangelemente: Klirren von Stangen, Röhren von Signa- len und das gesamte Geräusch des industriellen Lebensraums. Aber im Zentrum: zwei liebende Menschen, die versuchen, ihre Gegenwart zu begreifen, wie die Maurer und Werkmeister der Kathedralen einst ihre Aufgabe, ihren Sinn durchdrangen. Ob ich selbst noch so weit komme? Nicht dass ich dies als ein fernes leuchtendes Ziel sähe, als die Zukunft um jeden Preis, nein. Aber ich bin es meiner Entwicklung schuldig, keine Möglichkeit unversucht zu lassen, keinen Weg zu missachten. Natürlich bin ich viel lieber bei meinen gedämpften Violinen, bei Harfe und Flöte. Noch, scheint mir, vermag ich alles damit zu sagen, was ich sagen möchte."2 Am 23. Juli 1952 notiert Schibler, immer noch in Darmstadt: "Es geht dem Ende zu. Ein neues Mal habe ich, einer Bestandsaufnahme gleich, Gedanken- gut und materielle Voraussetzungen unserer Zeit auf dem Gebiete der Musik in mich aufge- sogen. Zum erstenmal habe ich in diesem Forum so etwas wie einen Erfolg errungen - die 'Aphorismen' fanden sogar richtiges Interesse. Dagegen habe ich 'Polyphem3' nur Rode- mann vorgespielt, und musste seine Meinung hören, dass hier der 'andere' Schibler wieder durchgebrochen sei, der in der Wahl der Mittel noch nicht auf der Höhe der Zeit stehe... Und seltsam: abends im Konzert kam die Kantate mit Sprechchor und Solostimmen von Nono: da wurde mir klar, wie ich das Vorhaben auch noch hätte lösen können - und nachts fasste ich den Entschluss, den Zweig'schen Text nochmals zu vertonen und die neue Fas- sung der andern als gleichberechtigte gegenüberzustellen. (...) Ob aber die zweite Fassung

1 Armin Schibler, Tagebuch 13. Juli 1952. 2 Armin Schibler, Tagebuch 13. Juli 1952, Darmstadt. Auffallend bei diesem künstlerischen Projekt ist, dass die Hauptpersonen nach wie vor einander liebende Menschen sind. Das ganze Werk Schiblers beruht auf der Basis von liebenden Beziehungen zwischen Mann und Frau als Fundament - Schiblers eigene Lebenserfahrung bestimmt sympathisch mit! Den Plan einer 'Musik der Materie', bereits an anderen Orten aufgetaucht (Tagebuch Englandaufenthalt, 30. Aug. 1946), wird er jedoch nie verwirklichen. 3 Polyphem op. 34. Dramatische Kantate auf einen Text von Stefan Zweig, für gem. Chor, Tenorsolo und zwei Klaviere (1952), Nr. 46, Das Werk 1986, S.61.

53 objektiv besser werden kann, zweifle ich, weil die kühleren, härteren Mittel die starke Expressivität von vorher ausschliessen. Unsere Zeit ist (wie es alle Zeiten waren) mehr- schichtig: in den Ländern mit noch vorhandener bürgerlichen Struktur wird man sich an den expressiven Schibler halten, in Deutschland an den avantgardistischen, der sich nur noch an Fachleute wenden kann... Oder anders ausgedrückt: der dramatischen Konzeption sei die betont musikalisch-absolute gegenübergestellt. Was die jungen Deutschen produzieren, ist erschreckend. Aufs neue mischen sich Avant- garde und Scharlatanerie, wie man es so oft erlebt hat. Und gerade diese Tatsache ist es, das ist mir klar geworden, die mich so lange Jahre von der extrem neuen Musik abgehalten hat. Ich konnte nicht glauben, dass aus menschlicher Fragwürdigkeit etwas Neues erwach- sen soll. Heute denke ich da etwas objektiver: Vielleicht können nur die Köpfe in Zwischenzeiten die 'materiellen' Aspekte der Kunst erweitern und ins Unbekannte vorstossen. Das Genie ist vielleicht eher reaktionär gestimmt, weil es an die Tonalität des zu schaffenden Werkes denken muss, dem die neuen Möglichkeiten nur insoweit dienen können, als die Summe der Komponenten eine Einheit ergibt. Schönberg ist ein Genie des Geistes, Strawinsky ist Genie der Vitalität. Das volle künstlerische Genie erst wird alles einschmelzen zur neuen Ganzheit. Das völlige Aufgeben des Ich's an die Zeit ist ein typisches Zeichen einer Schwäche. Selbst in der schlimmsten Situation bleibt ein Rest von Menschlichem. Am Rande der brennenden Städte blühen die Wälder und Blumen weiter. Die Rose bleibt ein Wunder selbst in soviel Blut. Das Verhängnis ist menschenverhängt; das Göttliche ist jederzeit zu neuer Gegen- wart in uns bereit."1 Der Bezug auf den Anfang der Tagebuchnotizen in Auseinandersetzung mit 'Darmstadt' ist gegeben. Schrieb er 1949 (S. 48): „mir ist, ich hätte Blumen und Kristalle gezüchtet am Rande eines Waldes, dessen anderer Saum bereits in Brand geraten ist“, dreht sich nun die Argumentation um: Auch wenn Stadt (oder Wald) in Brand geraten sind, Blumen und Wäl- der blühen und wachsen weiter. Der menschengemachte Schrecken darf sich nicht für absolut erklären und Möglichkeiten des Seins in Frieden und Schönheit damit erneut zer- stören. Die Realität von Krieg und Zerstörung ist nicht die ganze Realität und löscht nicht alles andere aus, sonst bekäme Krieg und Zerstörung nochmals das letzte Wort. Die Kata- strophe ist menschengemacht und kein allgemeines Verhängnis, welches das Leben insge- samt für ungültig erklären darf. Dieses Beharren auf verschiedenen Wahrheitsdimensionen des Lebens (und damit auch auf dem Wahrheitsgehalt des eigenen, glücklichen Lebensentwurfes) scheint mir beim künstle- rischen Schaffen von Schibler wichtig zu sein. Schiblers musikalisch-künstlerische Ausein- andersetzung mit Zeitproblemen erfolgt auch hier auf dem Hintergrund eines erfüllten Lebens, einer ihn erfüllenden Ich-Du-Beziehung und Familie. Familie und Ehe gelten ihm nicht einfach nur als privat (und damit als unerheblich), er wertet den Stellenwert des pri- vaten Lebens, aber auch des persönlichen Glaubens und der eigenen Verantwortung auf

1 Armin Schibler, Tagebuch, 23. Juli 1952, Darmstadt.

54 und erklärt diese Lebensdimensionen als relevant auch angesichts von Welt- und Zeitpro- blemen. Als Künstler, speziell als Musiker durchdringt ihn das Anliegen, beide (mehrere) Wirklichkeiten ernst zu nehmen und keine zugunsten anderen absolut zu setzen. Hat Schib- ler es zu Beginn der Auseinandersetzung mit den Kollegen von Darmstadt als Mangel empfunden, verschont worden zu sein und in einem Umfeld von privatem Glück (beides empfand er immer als Geschenk und nicht als eigenes Verdienst) zu leben, so erfährt er dies nun vermehrt als Grundlage und Fundament, Probleme der Zeit wahrzunehmen und künstlerisch zu gestalten. Zeugnis dieser Verbindung von Konfrontation mit dem Zeitgeschehen und dem Erleben von persönlichem Glück legen die Tagebuchnotizen vom 25. Juli ab, in denen er auf der Heimreise von Darmstadt seine Ankunft in der Familie imaginativ vorwegnimmt: "Ich weiss es und habe es mir im wachsenden Heimweh nach der Geborgenheit bis ins Letzte vorgestellt: Sobald ich bei Dir bin, werden alle Probleme wie ausgelöscht sein. Immer noch nicht habe ich gefunden, dass es für den Menschen keine andere Ursubstanz gibt als die Beziehung von Mann und Frau: Alles Weitere ist sekundär, in der Aufrichtig- keit der Zeugung liegt die Zukunft der Menschheit. Diesmal bist Du mit den beiden Kleinen im Häuschen auf dem Süssplätz. Ich werde nach 13 Uhr nach Hause an den Wolfbach kommen, noch einiges für Dich besorgen, mich rasie- ren, schön machen. Dann, gegen 17 Uhr werde ich Dir ausrichten lassen, dass ich um 20 Uhr im Steinbruch auf Dich warten werde. Dann, gegen 19 Uhr fahre ich nach Witikon, wandere durch den Wald, immer nur an Dich denkend, bis zur vereinbarten Stelle. Ich werde vor Dir dort sein. Nun zittert jede Faser in mir nach Dir: jeden Augenblick kann Deine Gestalt (ich versuche mir vorzustellen, in welchem Gewand) daherkommen, und wieder werde ich es kaum fassen können, dass Du es bist, dass Du mein Weib bist, das nie einem andern angehört hat und das, solange das Schicksal gütig ist, mein Weib sein wird, mein Lebensgefährte, mein liebend-kritischer Spiegel, mein zweites Ich... Und Du wirst mich ansehn, und ich werde meinen Kopf an Dich lehnen, und beide werden wir nicht ein Wort sagen. Nur unsere Körper werden sich aneinanderstemmen wie zwei Bäume, und in dem urtiefen Schweigen werde ich den geheimsten Atem des Seins verspüren, schöpferi- scher Urgrund, der will, dass aus Leben wieder Leben werde, unaufhörlich. Die Nacht wird über uns hereinbrechen mit ihrer Kühle, und wir werden langsam den Weg zum Hause einschlagen, wo Thomas und Christian schon im tiefen Schlaf liegen. Und ich werde mich mit Dir über sie beugen, und werde versuchen, zu beten. Ein Gebet ohne For- mel, nur aus Dankbarkeitsgefühl aufsteigend, mit dem leisen Schmerz des Wissens, dass dies alle bedroht ist und keine Sicherheit besteht gegenüber dem Einbruch des Dunkeln. Und gerade deswegen ist es das Glück, das ich ahnend empfinde, indem ich seine flüchtige Dauer ausmesse. Und wir werden die Türen leise schliessen. Du wirst mir ein Abendbrot hinstellen, ich werde Dir das Wichtigste erzählen, von der durchfeierten Nacht mit all denjenigen deut- schen Menschen, die ich mir diesmal beglückend entgegenkommen spürte. Werde Dir sagen, wie sehr ich Dich entbehrte, welche Frauen mich beschäftigten, werde die kleinen

55 Geschenke für Dich und die Kinder auspacken, den kleinen Stoffaffen, das Wassertier, die kleinen Küchengeräte, den breiten Taillengürtel, mein beendetes Tagebuch. Und dann werden wir uns angehören, und aus uns wird eins werden, und um uns wird ein Dom sein aus Lust und Gefühl. Lass mich Dir danken, dass Du da bist. Da bist, für mich."1 Die eindrückliche Imaginationskraft dieses Menschen vermag sich - solche Stellen belegen es - nicht nur in sein Werk zu giessen, sondern auch in seine Ehe als 'Kunstwerk '. Diese Gestaltkraft des Künstlers, ihm bzw. dem Paar nicht einfach geschenkt, sondern durch Kämpfe errungen, vermag sicherlich mitzuhelfen , dass diese Ehe bis zum Tode glücklich sein wird. Werk und Liebesbeziehung ergänzen sich nicht nur darin, dass das eine (das Werk) auf dem anderen aufbaut (und als selbstverständliche Basis erachtet wird), sondern dass der einen Dimension (der Liebe) Wahrheitsgehalt zugetraut wird, welche auch in anderen Dimensionen ('Werk', Zeitproblematik) berücksichtigt wird. Damit ist das Private nicht nur politisch (s. Slogan der Frauenbewegung), sondern das Private ist künstlerisch, ist eine Quelle von künstlerischer Inspiration. Ganzheitlichkeit beruht in diesem Fall auf einer Verbindung und auf Synergien von privaten, künstlerischen und gesellschaftlichen Dimensionen des Lebens. Tatjana Schibler schreibt zum gerade zitierten Tagebucheintrag in ihren Erinnerungen: "Fühle ich mich nicht überfordert von diesen Ansprüchen, Erwartungen und Idealisierun- gen? Ich versuche, sehr nüchtern auf dem Boden zu bleiben, mir nichts einzubilden, dank- bar soviel Liebe entgegenzunehmen und mir bewusst zu machen, wieviel ich noch an mir zu arbeiten habe, um dieser Überfülle von Gefühlen gerecht zu sein. Der Taillengürtel ist für mich viel zu schmal, in seiner Vorstellung bin ich schlanker. Um mich ganz hübsch her- zurichten habe ich, nachdem die Kinder versorgt sind und das Haus in Ordnung gebracht, nicht so viel Zeit. Und das Kleid? Da habe ich mir nicht viel überlegt, bin nur schnell durch den Wald geeilt, um ihn nicht warten zu lassen."2 In der Folge verfestigt sich Schiblers Überzeugung von der besonderen Rolle der Musik in bezug auf die Auseinandersetzung mit der Gegenwartsproblematik: "In einem Punkt, den ich in Darmstadt heftig mit Rodemann diskutierte, bin ich mir aller- dings noch nicht im Klaren. Dass es in der dem objektiven Geist und damit der Wahrheit verpflichteten Dichtung keinen andern Weg gibt als den der völligen Desillusionierung, der Gestaltung der Verfremdung, wie sie sich heute als Folge der noch nicht gemeisterten gei- stigen und technischen Entwicklungen darbietet, ist mir bewusst. Wie steht es aber mit der Musik? Sie, die allen irrationalen Mächten der Seele, des Gefühls, des Dämonischen näher steht als dem Begrifflichen, in Worten Formulierbaren, kann sie nicht auch wie ein Reser- vat der eigentlichen Existenz von jenen Belangen künden, die in der Dichtung längst ent- wertet worden sind? Müssen wir als Musiker ebenso sehr wie die Dichter unsere private, intime Existenz, wo sich doch auch heute noch Ereignisse abspielen können, die unser Leben in all der Verfremdung überhaupt noch lebenswert machen, verleugnen und den

1 Armin Schibler, Tagebuch, 25. Juli 1952, auf der Heimreise nach Schaffhausen. 2 Tatjana Schibler, Doppelfuge 188.

56 Blick nur dorthin richten, wo das Schreckliche geschieht? Droht da nicht die Gefahr, dass bei der Ausschaltung des Innerlich-Expressiven um der Wahrheit willen dieses selbst zu verkümmern droht? (Ein Beispiel dafür: dass ich unter den sogenannt Radikalen der Jetzt- zeit so viele menschlich und seelisch verkümmerte, bisweilen sogar unterentwickelte Men- schen gefunden habe.) Müsste nicht Musiker-Sein zunächst Mensch-Sein bedeuten, was bekanntlich das allerschwerste Kunstwerk ist?"1 Das Schreckliche, Lieblose, die Entfremdung und Beziehungslosigkeit in dieser Welt ist ja zumeist menschengemacht, darf und kann nicht die einzige und letzte Wahrheit sein. Das wäre einseitig und vereinnahmend. Denn es gibt immer noch die anderen Wahrheiten, andere Erfahrungen, Erfahrungen von Sinn, Liebe, Erfüllung, welche ebenfalls nach künstlerischem Ausdruck - und insbesondere nach musikalischer Gestaltung drängen. So stellt sich deshalb für Schibler die Frage: "...muss ich von nun an nur noch jene Bereiche zur Gestaltung bringen, in denen der Gebrauch der neuen Mittel legitim ist? Das Innerliche (etwa die doch nie zum Stillstand kommende Selbstwerdung, das unerhörte Erlebnis der Geburt und das Heranwachsen meiner Kinder, der Gefühlsbezirk, der meine stets neu zu erringende Ehebeziehung kenn- zeichnet) soll es nicht mehr zur Gestaltung kommen dürfen, weil ihm von der Ungeheuer- lichkeit der Zeitsituation (Dutzende von Millionen verschleppter, zum Tode gequälter Men- schen noch heute, in dieser Stunde) keine Bedeutung mehr zukommt? Bin ich als Musiker nicht geradezu verpflichtet, das Innerliche zu allererst wichtig zu nehmen, da doch die Musik auch heute noch als direkter Ausdruck des Seelischen zu gelten hat - ja gerade mehr denn je seit Schönberg, der analog zu Kandinsky und Klee das rein Innere erst erschlossen hat. Die Entscheidung ist für mich bereits gefallen: Sowohl dem Innern wie dem Äussern, der heilen Seele wie der verfremdeten Gegenwart will ich gerecht werden, werde also das sein, was man einen Pluralisten nennen könnte. Schönberg selbst hat sich bereits den Dualismus erlaubt, selbst in fortgeschrittenster Zeit noch im 'alten Stil' komponiert. Nur so lässt sich die Gefahr der Verkümmerung durch Einseitigkeit bannen: und wie sehr mich strengste Zwölftonarbeiten, in Kammermusik beispielsweise, auch im Opernschaffen befruchtet haben, davon kann ich dankbar und beglückt erzählen. Dass mit der Zeit aus diesem Schaf- fen, das auf verschiedenen Ebenen sich vorwärtsbewegt, wieder eine Einheit auch des simultanen Stiles werden soll, das versteht sich von selbst. Übrigens kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass alle grossen Schaffenden für ihre Zeit schon eine Art von Pluralismus verwirklicht hatten: bei Beethoven findet man schön nebeneinander und im selben Jahre den Gassenhauer 'die Wut über den verlorenen Groschen' und die letzten Streichquartette, bei Mozart ebenso leichtgeschürzte Opernstoffe neben den kirchenmusi- kalischen Werken. Nur die Stileinheit jener Zeit hat bewirkt, dass die verschiedenen Gat- tungen der Musik in ihrer Werkstruktur nicht mehr auseinandergingen. In Darmstadt herrscht noch immer ein furchtbares, ans Komische grenzendes Spezialisten- tum. Über den Oktavsprung in der Zwölftontechnik können sich die Gemüter stundenlang

1 Armin Schibler, aus einem Brief an Kurt Hirschfeld, 14. Aug. 1952.

57 ereifern. Aber über politische Belange, über Fragen des Aufbaues eines neuen Deutschland hörte ich ausser bei Herr Rodemann kein Wort - es ist, wie wenn die praktische Lebens- sphäre - in der es die Theorie ja erst zu bewähren gilt - überhaupt keinen jungen Musiker interessieren würde. Dass ich mich schärfstens gegen dieses Spezialistentum wende, dass ich bei einem Künstler den ganzen Menschen fordere, das drängt mich eben zu der ange- deuteten Vielseitigkeit des schöpferischen Bereichs. Gerade wenn einer etwas zu sagen hat, wenn er eine wirkliche Persönlichkeit ist, dann wird man ihn in all seinen Gestaltungen unverwechselbar erkennen."1 Nach diesen Analysen beschreibt er seine Einsichten und Ängste über die Verwendung von Zwölftonmusik in seinem eigenen kompositorischen Schaffen: "Wie ich so schreibe, bin ich versucht zu fürchten, dass das Erlebnis unserer soziativen Problematik mein eigenes Erleben immer mehr beschatten könnte. In der Tat ist die Musik eines Schönbergs oder Strawinsky der Ausdruck des beschädigten individuellen Lebens, gerade indem sie die Schocks der Zeit aufzufangen versucht. So muss auch ich, gerade hier in der Stille, zuerst die beschädigte oder bedrohte Sphäre in der Tat 'reparieren', indem ich über das Abweichen der Kompassnadel den Pol wieder erst auffinden muss. Dann erst, nach Tagen oder Wochen, löst sich der Druck, der mir es nicht mehr erlaubt, naiv und unteilbar zu erleben. Das ist die schwere Hypothek des heute Schaf- fenden, dass er erst die Zinsen abtragen muss, immer wieder aufs Neue, welche ihm die Zeit auferlegt. Ich weiss, dass die wenigsten so stark sind, diese Belastung erst abzutragen, bevor sie vor dem eigentlichen Wesen, der zentralen Aussage und Formung ins Künstleri- sche hinein, anlangen können. Was sich bei mir auch im musikalischen Schaffen niederschlägt: sobald meine Gedanken und damit auch mein Empfinden in der Problematik der Gegenwart verstrickt sind, kann ich nicht an einem musikalischen Stück arbeiten. Es würde misslingen. Erst muss ich ein Stück schreiben (meistens ein dodekaphones, seit 1950), welches der Diskontinuität, der Verfremdung von Ich und Gesellschaft im weitesten Sinne, völlig wahr in die Augen sieht, und es in der Musik niederschlägt. Das ist zugleich - jetzt erst erkenne ich's - die tiefere Notwendigkeit der pluralistischen Arbeitsweise, wie ich sie mir seit zwei bis drei Jahren angewöhnt habe. Innen und aussen sind nicht mehr auf einen Nenner zu bringen; was anders tun, als das Äussere zu durchschauen, um durch die Bemühung zur Wahrheit zugleich das Innere rein und wahr zu erhalten."2 Nach fünf Jahren der Begegnung mit 'Darmstadt', nach diesmal erfreulichen menschlichen Kontakten und botanischen Entdeckungen – die Schibler so wichtig zu sein scheinen wie musikalische! - ("wertvolle neue Begegnungen: Eckhardt aus Dresden, Robert Suter aus Basel, einige gute Köpfe unter den Journalisten. Die Drolc's aus Berlin spielen mein 2. Streichquartett. Neue Blumenfunde: Die Hundszunge, die Ochsenzunge, die Graukresse, die purpurrote knollige Platterbse, die Karthäusernelke") gipfelt die Auseinandersetzung

1 Armin Schibler, Brief an Kurt Hirschfeld, 14. August 1952. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 10. Okt. 1952, St. Petersinsel.

58 mit den Kollegen in Darmstadt in einem allen Teilnehmenden zugesandten Rundschreiben, das er für sich selbst ‚Pamphlet gegen den Neo-Snobismus'1 nennt. Darin fordert er auf, die Einseitigkeiten der dodekaphonen Kompositionsart zu überwinden und das Intuitive beim Komponieren nicht preiszugeben. Diese Kritik bringt ihm den Ausschluss aus der künstle- rischen Gemeinschaft dieser Musikschaffenden, er wird übergangen, marginalisiert und sein Werk fortan totgeschwiegen, sein Standpunkt gilt als unmodern. Damit endet Schiblers Teilnahme an den Ferienkursen für Musik. Resigniert kommentiert er unmittelbar nach dem 'Abschied von Darmstadt', auf dem Wege nach Bayreuth: "Den Deutschen ist nicht zu helfen: ihnen fehlt die Mitte in höchstem Masse. Lächerlich kommen sie mir vor mit ihrem Bedürfnis nach Theorien und Dogmen. Sie lesen Musik statt sie zu hören, sie denken Tonprobleme statt ins Kosmische hinein zu erleben. Es kostet mich wirklich Überwindung, länger als ein paar Tage auszuhalten, und in der Nacht nach den Schönbergkonzerten verdufte ich einfach und erlebe den Sonnenaufgang in den Ruinen Nürnbergs."2 In Bayreuth besucht Schibler drei Wagner-Aufführungen. In Vorfreude auf das Wiederse- hen und während des Hörens der Tristan-Oper, dessen letzten Akt er nicht durchhält (auch hier verduftet er), notiert er in sein Tagebuch: "Es wird alles so schön, so stark sein, dass ich das, was Adorno die Beschädigung des Lebens nennt, für Tage werde vergessen können. Darf das, muss das nicht auch sein? Waren die früheren Zeiten, genau besehen, von einer andern Seite her nicht auch 'beschä- digt'. War Glück und ein sicheres Dasein nicht je und je die Chance, die sich erfüllte oder die verdarb, die Chance eines jeden Spermiums, einer jeden Frucht... Glückt die Chance, dann glückt auch das Göttliche, unsere Existenz, das Einzige, was wir dem urhaften Nichts entgegenstellen können. Und wenn es glückt, dann aber ist die gött- liche Durchdringung des Menschen so süss, dann ist die unio mystica von Gott und Natur im Augenblick der Zeugung so unaussprechlich wunderbar, dass wir dafür die Folie des Nichts ertragen und bewältigen müssen. Und was der Mensch sein kann, ist nur, weil ihm das Nichts gegenübersteht, und auch das Nichts ist nur, wo der Mensch in sich das Gött- liche aufrichtet und es ihm entgegenschleudert. Es ist das für mich Bewegende an Wagner, dass er in der Konzeption des Göttlichen durch- aus schon modern ist. Wo zwei Menschen sich wirklich lieben, da fällt die alte Gott-Kon- struktion zusammen. Doch diese wirkliche Liebe ist immer gefährdet: von Marke, von Hagens Intrige, vom Bürgerlichen. Heute sind wir freier, die Bedrohung hat für eine Zeit nachgelassen - jetzt gilt es aber, diese Liebe gegen die eigene Bequemlichkeit zu verwirk- lichen und nicht nur für eine Nacht, sondern für ein ganzes Leben. Dass dies so schwer ist, so selten möglich ist, darf mich so wenig deprimieren wie es früher hingenommen werden

1 Armin Schibler, Rundschreiben Ferienkurs 1953, Paul Sacher Stiftung, Basel, unveröffentlichtes Manuskript 1953. 2 Armin Schibler, Tagebuch 30. Juli 1953.

59 musste, dass es nur wenig wirkliche Gläubige gab. Die anderen waren Mitläufer. Heute ist es genau so: sie heiraten alle und wenig sind konsequent genug, wirklich ernst zu machen. So einfach scheint es mir manchmal: ein Mann, eine Frau, oder auch sonst zwei Menschen - und gegenseitig bis ins Letzte wahr sein - das genügte, um die ganze Welt zum sinnvollen Kosmos zu machen, wenn jeder seinen Anteil löst. Aller Kollektivjammer ist nur die Total- summe alles individuellen Versagens... Soeben ist 'Tristan' nebenan zu Ende gegangen..."1 Der Stoff des 'Tristans' mit den gerade angedeuteten Themenschwerpunkten wird Schibler Jahrzehnte später zu einer eigenen Vertonung des Tristan inspirieren (Kap. 8.5.2).

3.2 Impulse der Neuen Wiener Schule für einen pluralistischen Musikstil – die Zwölftonkomplexität

Das grundlegend Neue an der Dodekaphonie der neuen Wiener Schule (d.h. Alban Berg, Arnold Schönberg und Anton von Webern, Komponisten, welche seit ca. 1920 dodeka- phonisch komponierten) ist nach Schibler, "dass die Umkreisung eines Grundtones und seiner Gegenpole aufgegeben wird." Das bewirkt die "Aufhebung des Tonortempfindens (...) und bedeutet die Ausschaltung jener früheren Ordnungen, die in der bisherigen Musik die Bedeutung der Tonzentren und ihre Beziehungen zueinander gesichert und geregelt haben."2 Diese Preisgabe ist auf eine Änderung des Bewusstseins zurückzuführen: "In der bisheri- gen Musik (und es trifft dies auch auf die meisten aussereuropäischen Musikkulturen zu) wurde die musikalische Ordnung als ein Sinnbild jener Ordnung erlebt, in die sich der Mensch durch das kollektive Glaubenssystem oder durch seine subjektive Glaubensan- strengung hineingestellt wusste. Ich meine damit das zeitlose Bedürfnis des Menschen, die Existenz auf ein höheres Ordnungssystem bezogen zu wissen. Der Natur des Menschen war dadurch eine Norm gesetzt, die sie vom rein Kreatürlichen abgrenzte; der Gewinn der Glaubensbemühung war nicht nur eine Sinngebung und Aufwertung des Lebens, sondern auch seine Absicherung vor der Angst."3 Beim Musikhören der traditionellen Musik fühlt sich der Hörer in das Ringen zwischen Ordnung und Sicherheit und dem drohenden Nichts eingebunden. Die Auflösung des musi- kalischen Spannungsverlaufs in die prästabilisierte Harmonie bringt die Überwindung der Existenzangst durch das Wirken numinoser Kräfte zum tröstlichen Erlebnis. Das Tonort-

1 Armin Schibler, Tagebuch 30. Juli 1953, Bayreuth. 2 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen, Paul Sacher Stiftung, Basel undatiert S. 1. 3 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 1.

60 empfinden ist grundsätzlich ein psychisches Phänomen: "Die Umkreisung eines Zentraltons erweist sich als Äusserung des menschlichen Bedürfnisses nach Sicherheit."1 Indem nun Spannungen musikalisch nicht mehr aufgelöst werden, ist nicht länger ein ord- nendes Zentrum wirksam, und sie werden zum Dauerzustand, mit dem es zu leben gilt. Der Komponist ist dadurch in den Raum der grenzenlosen Vielfalt gestellt: "Die neue Musik erweist sich damit als Äusserung des 'unbehausten', sich gefährdet wissenden Men- schen, der keine diesseitigen oder jenseitigen Ordnungssysteme um Hilfe angehen kann, weil er diese Hilfe nur noch aus sich selbst zu finden hofft."2 Paradoxerweise verwandeln sich diese vielfältigen Möglichkeiten durch den Zwang der Reihe jedoch genau in ihr Gegenteil: "Da in der Reihentechnik kein Tonschritt frei gewählt werden kann, ohne dass er die ihm zugehörende Reihe zwangsweise zum Einsatz bringt, (...) bietet jene ein Sinnbild des in seiner Freiheit bedrohten oder ihrer beraubten Menschen. Der Komponist bewegt sich an den Gittern eines Systems, und indem es die gesetzte Ordnung nicht erlaubt, durch Ausnahmebestimmungen die Bedürfnisse des Ohrs zu berücksichtigen, ist diese Ordnung als musikalische Ordnung nicht hörbar - im Gegenteil, ihr klingendes Ergebnis ist der Zufall. Wie sehr diese Technik unserer heutigen Lage adäquat erscheint, braucht nicht betont zu werden; in der seriellen Technik tritt uns ein Aspekt der Wahrheit entgegen, den wir nicht mehr zu ertragen vermögen."3 Als ebenso wichtigen Impuls der neuen Wiener Schule erachtet Schibler das Bestreben zur aphoristischen Verdichtung. "Erst die Aphoristik reduziert den musikalischen Vorgang auf seine knappste, konzentrierteste Form und befreit ihn von kommunikativen Absichten und nach aussen gerichteten Wirkungen."4 Die Aphoristik führt zum Verzicht auf die sogenannte Grossform, der Komponist ist nicht mehr an der Ausformung eines ganzen Satzes oder Werkes interessiert, dafür an der äussersten Verdichtung des Details - damit werden Formkonventionen ausgemerzt. "Als Gewinn steht ein Verfahren zur Verfügung, das die Aufzeichnung geheimster seelischer Regungen und Gesten erlaubt."5 Schibler sieht diese Möglichkeiten in Parallelität zu den Erforschungen der geheimsten seelischen Strukturen durch die Tiefenpsychologien. "Wer sich einmal zum Prinzip der Aphorismus durchgerungen hat, wird sich nachher nur noch mit Zurückhaltung grössere Zerdehnungen des substantiellen Gehalts erlauben."6 Das Verdichtungsprinzip alleine kann nur auf kurze Zeit und innerhalb kleiner musikali- scher Gebilde angewendet werden. "Soll das Prinzip auf grössere Werke ausgedehnt wer- den, empfiehlt sich die Überlagerung mit Grossformprinzipien, wenn man die Grenzen der gehörsmässigen und psychischen Aufnahmefähigkeit einzuhalten wünscht, oder es kann ein

1 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 2. 2 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 2. 3 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 9. 4 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 6/7. 5 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 7. 6 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 7.

61 das Ganze zusammenklammernder Text den Sinnzusammenhang des Werkes sichern."1 Aphoristik eignet sich also bestens für Werke mit literarischem Text. Als dritter wichtiger Impuls der neuen Wiener Schule, speziell von Schönberg, sieht Schibler deshalb das melo- dramatische Verfahren, "bei dem das gesprochene Wort mit einem möglichst eigenständig durchgestalteten musikalischen Ablauf parallel geführt wird."2 (Zum genaueren Einsatz des melodramatischen Verfahrens vgl. S. 107.) Einerseits deutet Schibler die Dodekaphonie als Arbeitstechnik der Katastrophenstimmung: "Diese Musik will sich selber zurücknehmen als Folge der furchtbaren Ereignisse unserer Zeit, die die grundsätzliche Fragwürdigkeit und Unzulänglichkeit unserer Kulturauffas- sung erwiesen haben."3 Andererseits ist diese Musik - gerade durch die Aphoristik – klin- gende Stille: Das verratene Geistige nimmt sich (beispielsweise bei Webern) aus der Musik zurück, "um es in einem Refugium überleben zu lassen in Form von Gebilden, in denen das Musikalische durch das reihentechnische Kompositionsprinzip zu fast kosmisch zu erlebender Repräsentanz, zur 'klingenden Stille' erhoben wurde. Wo die Reihentechnik sich überzeugend manifestiert, steht die Musik im Zeichen der Tragik; man könnte in ihr eine musikalische Geheimsprache sehen, die solange anzuwenden wäre, bis die Musik wieder zu ihren vielschichtigen Möglichkeiten zurückkehren darf, ohne vor dem Grauen verstummen zu müssen."4 Rückblickend beschreibt Schibler den Abschluss seiner Auseinandersetzung mit den Darm- städter Ferienkursen und mit den daran teilnehmenden Nachkriegskomponisten durchge- hend ambivalent: "Ich hatte fünfmal die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik besucht und dort miterlebt, wie nach dem Interregnum der Nazizeit statt der zu erwartenden Anknüpfung an den Expressionismus Kahlschlag betrieben wurde, als es zur Uminterpretation der spätwe- bernschen konstruktiven Expressivität in die 'serielle Schule' kam, ein intellektuell und musikpolitisch gesteuerter Vorgang, bei dem der kreative Prozess wie das Hörerlebnis durch computerhaft durchgerechnete Schemata vergewaltigt wurden. Im Juli 1953 hatte ich mich mit einem Protestschreiben an die Kursteilnehmer gewendet und damit endgültig von der tonangebenden Avantgarde verabschiedet."5 In diesem Rundschreiben formuliert Schibler seine kritische Haltung zur Dodekaphonie: Kunst ist auch heute eine verpflichtende Aussage einer ethisch basierten, individualisierten Persönlichkeit. Wenn sich Dodekaphonie nicht in den Dienst einer künstlerischen Idee bzw. Aussage stellt, wird sie abstrakt und leer. Intellektualisiert vernachlässigt sie die humane, vitale Basis und wird damit für jegliche Fortschrittsideologien verführbar.

1 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 7. 2 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 7. 3 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 8. 4 Armin Schibler, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen 9. 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.63 f.

62 "Das Ausprobieren extremster künstlerischer Positionen des Denkens und Schaffens ist durchaus legitim, wenn es aus wirklichem künstlerischen Zwang geschieht, aber wir dürfen diese Randerscheinungen nicht in den Mittelpunkt stellen (...). Wahres Menschentum erzwingt sich von selbst die Technik und Form der Aussage, und alle Wege stehen offen, auch derjenige zur elektronischen Musik, wo es, im Angesicht der technischen Mächte, doppelt und dreifach Mensch (im vollsten Sinne der Seele und Geist, Vitalsphäre und Ratio) zu sein gilt, um ihnen nicht ausgeliefert zu werden und um sie schliesslich zu mei- stern."1 Schibler entwickelt in der Folge das Vorgehen der Zwölftonkomplexität, welche dodeka- phonische Stilelemente dort einsetzt, wo es durch die Aufgabe angezeigt ist.2 Atonalität und Dodekaphonik macht sich Schibler dann zu eigen, wenn sie zu Bereichen der Musik bzw. zur Idee des Werkes passen. Schibler nennt dies eine pluralistische Arbeitsweise. Schiblers Ziel ist eine neue harmonische Ordnung, und nicht die Herrschaft der Reihe: "Von der damaligen Avantgarde distanzierte ich mich, als mit der Verneinung der Intuition durch die serielle Planung die Auflösung der musikalischen Dimension hörbar wurde."3 Mit dem Mittel der Zwölftonkomplexität erringt er die Möglichkeit, die Zwiespältigkeit des Seins, das 'Nichts', die Bedrohung und Problematik der Gegenwart in eine adäquate Musiksprache zu giessen. Schibler wird sich zeitlebens bei bestimmten künstlerischen Herausforderungen der Dodekaphonie als Stilmittel bedienen. Dieses grundsätzliche Muster des künstlerischen Schaffens wird sich auch in der Zukunft als brauchbar erweisen. Schibler wird weiterhin neue Impulse, Tonsprachen und Musikstile ohne Scheu in seine Musik integrieren und ihnen je nach ihrem Potential eine entsprechen- de Position zuweisen: Jazz, Blues, Big Band, elektronische Musik, Volkslieder, Negro Spi- rituals, Rock und Pop. Dieser Verzicht auf eine 'musikalische Spezialisierung' erfolgt übri- gens nicht nur aus einer künstlerischen, sondern auch aus einer menschlich-psychologi- schen Notwendigkeit. Schibler schreibt dazu: "alle Bereiche und Schichten verlangen nach dem Nacherlebnis und nach Gestaltung. Ich schäme mich nicht, heute an einem Streich- quartett zu arbeiten, übermorgen ein Kinderlied zu erinnern. Ich weiss, dass dies heute als verdächtig gilt, aber es kümmert mich nicht. Liegt in der Welt eines Kindes nicht soviel Wahrhaftigkeit wie in der Einsamkeit eines schaffenden Mannes? Ein Blick auf die grössten schöpferischen Persönlichkeiten unserer Zeit rechtfertigt diesen Pluralismus - sie halten es nicht anders."4

1 Armin Schibler, Rundschreiben, Paul Sacher Stiftung, Basel, 1953. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.47: "Erst 1951, als ich am Klavier mit kleinsten aphoristischen Komplexen zu arbeiten begann, verwandelte sich diese mehr äussere Aneignung der Idee Schönbergs in einen regelrechten Durchbruch psychischer Kräfte, wobei ich zwischen Ordnung und Freiheit mit meiner 'Zwölftonkomplexität' einen Ausgleich fand, an dem ich bis heute festhalte, wo der Einsatz der Dodekaphonik durch die zu lösende Aufgabe gegeben ist. (z.B. in Point of Return, in La Folie de Tristan, in Sansibar." 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.12. 4 Armin Schibler, Ein paar Gedanken zur 'Inneren Biographie', unveröffentlichtes Manuskript Paul Sacher Stiftung, Basel; undatiert.

63 Sein pluralistischer Musikstil, den er in Auseinandersetzung mit der Zwölftonmusik ent- wickelt, wird sich musikalisch bewähren. Dank seines ausgeprägten musikalischen Perso- nalstils (dazu 5.3) wird seine Musik nie in der Gefahr stehen, sich musikalisch aufzulösen bzw. belanglos oder beliebig zu werden. Diese Fähigkeit Schiblers, verschiedene Formen und Arten von Musik in sein Schaffen zu integrieren, ohne die eigene 'Handschrift' aufzugeben, wird von der Musikkritik immer wieder abwertend wie auch anerkennend wahrgenommen.1 Nach diesem künstlerischen Ertrag aus seiner Auseinandersetzung mit der Dodekaphonie wendet sich Schibler anderen wichtigen, bis anhin in der klassischen Musik wenig berück- sichtigten Dimensionen der Musik zu: Rhythmus, Schlagzeug, Tanz. Er behält seinen musikalischen Personalstil bzw. entwickelt ihn bewusst und eigenständig weiter. Das wird ihn in die künstlerische Einsamkeit führen, denn auch in der Schweiz beherrschen für Jahrzehnte Anhänger der Zwölftonmusik die Szene für moderne Musik. Schibler erfährt sich nicht mehr eingebettet in einen Kreis von Komponisten-Kollegen, die meist weiterhin nach der strengen Zwölfton-Doktrin komponieren. Er verfolgt seinen Weg gegen den main stream und komponiert Werke, welche sich bewusst in kritische Distanz zum Zeitgeschehen und zum Geschehen im Bereich der modernen Musik setzen. Diese eigenwillige Entwicklung seines Schaffens werde ich anhand des Werkes Media in Vita (Kap. 5.4) wie auch im Bereich Rhythmus, Tanz und Schlagzeug eingehend behandeln (Kap. 4.1).

3.3 Musikalische Werke der dodekaphonen Phase

Schibler nennt in seinen Tagebucheinträgen bereits selber die wichtigsten Werken, welche dodekaphonische Gestaltungselemente aufweisen: Das 2. Streichquartett (1951)2 und Aphorismen für Klavier, (ein "hochexpressiver, aphoristisch-zwölftonaler Zyklus"3, 1951). Zu diesen beiden Werke schreibt Schibler: "Sie beinhalten den Durchbruch emotioneller Tiefenschichten, wie er mir durch die Beschäftigung mit der Zwölftontechnik geschenkt worden ist. Das Prinzip der 'zwölftonalen Komplexität' ist hier fertig ausgebildet: die stets wechselnden Zwölferkomplexe vereinigen Freiheit und Ordnungszwang im Kompositions-

1 Willi Reich attestiert Schibler 1965 eine 'mastery of technique' und nennt ihn einen 'composition virtuoso', "whose manner of musical utterance is determined more by his phenomenal technical ability than by sheer inner necessity". Willi Reich, Musical Quarterly, Jan. 1965, 'On Swiss Musical Composition of the Present, S. 88; aus: Andres Briner, Armin Schibler,150 Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, Zürich 1991 S. 7. Diese Beurteilung scheint mir jedoch Schiblers Suche nach dem authentischen Ausdruck und Schiblers Personalstil (S. 85) trotz oder gerade dank dem Gebrauch verschiedenster Musikidiome krass zu unterschätzen. Zu den Kritiken vgl. auch S. 186. 2 Streichquartett Nr. 2 in vier Sätzen, op. 30 Nr. 133, Das Werk 1986, S.106. 3 Aphorismen für Klavier, Uraufführung anlässlich der Darmstädter Ferienkurse 1952, Nr. 145. Das Werk 1986, S.111.

64 vorgang, indem von jeder jeweils neuen Gruppierung die Zahl der noch möglichen übrigen Halbtöne während des Ablaufs sich von 12 bis auf 1 reduziert."1 Das Werk Sinfonische Variationen erlebte seine Uraufführung 1951 bei den Darmstädter Ferienkursen. Schibler schreibt zu diesem Werk: "Es war nicht Opportunismus, sondern die Erkenntnis, dass mir die Zwölftontechnik bisher unzulängliche psychische Bereiche erschliessen würde, dass ich mich ihr 1950 zuwendete."2 Auch die Sinfonie Nr. 2 weist deutlich Spuren der Dodekaphonie auf: "das Chroma ist dif- ferenzierter geworden, die Reste neubarocker Musikantik sind verschwunden."3 Armin Schibler spielte das Werk Polyphem (1952)4 anlässlich eines Besuches Carl Orff vor, der ihm riet, die Wirkung des Werkes durch einen Schlagzeugpart zu intensivieren. Das dodekaphone, doch weiterhin expressive Werk fand keinen Gefallen in Darmstadt, der Frankfurter Kritiker Albert Rodemann bemängelte an ihm - wie der zitierte Tagebuchaus- zug zeigt (S. 53) - Schibler sei wieder in seine alte Expressivität zurückgefallen. Weitere Werk sind Die Späte Sühne/Füsse im Feuer (1953), Kaleidoskop für Bläserquin- tett, (1954) und Rhythmische Metamorphosen (1956). In der Folge greift Schibler zum dodekaphonen Einsatz da, wo er durch die zu lösende Aufgabe gegeben ist, beispielsweise in den Werken Point of Return, Enkidus Tod, La Folie de Tristan und in Sansibar5, er benutzt also fortan das von ihm entwickelte Mittel der Zwölftonkomplexität als Bereicherung und Intensivierung des künstlerischen Ausdrucks.

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.106. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.46. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.47. 4 Das Werk 1986, S.61. 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.47. Vgl. auch Sansibar oder die Rettung, Musikdramatische Szenenfolge in zwei Akten nach Alfred Andersch's Sansibar oder der letzte Grund. Textbuch vom Komponisten, 1984/86, Nr. 120, Das Werk 1986, S.34.

65 4 Entdeckung der Magie des Körpers: erweiterte musikalische Ausdrucksformen

4.1 Tanz, Rhythmus und Schlagzeug

Die neuen Impulse und neuen Dimensionen, welche nach Darmstadt in Schiblers Bewusst- sein einbrechen, fasst Schibler unter dem Begriff 'Magie des Körpers' zusammen. Anzuset- zen ist diese Periode des kompositorischen Schaffens ab ca. 1955. Die Begegnung mit dem Rhythmus, dem Jazz und mit dem Schlagzeug, wie auch die Begegnung mit dem Werk von Gustav Mahler und Igor Strawinsky fordern ihn heraus und führen zu ganz unterschiedli- chen Werken: "Der Magier Strawinsky zog mich in seinen Bann und damit der ANDERE Bereich, ohne den weder der Mensch noch seine Musik denkbar sind. Nach der Kennt- nisnahme neuer geistiger Ordnungsverfahren (im Rahmen der Dodekaphonie, Anmerkung GS.) horchte ich nun in den eigenen Körper hinein, der den musikalischen Ablauf nicht weniger bestimmen kann als das Geistige und die Psyche. Die Suche nach dem gestalteten Körpererlebnis führte mich 1955/56 zu Terpis, Kreutzberg, Perrottet-Laban. Ich beschäf- tigte mich mit dem Jazz und entdeckte das Schlagzeug, die Tanzbühne und die Choreo- graphie."1 Schibler öffnet sich vermehrt musikalisch fremden Stilen. In Weiterführung der Auseinan- dersetzung im Rahmen der zweiten Phase (Dodekaphonie) bestimmt die Werkidee die musikalischen Mittel. Dabei entstehen szenische Werke, welche sich am 'totalen musika- lischen Theater' orientieren (Hörwerke, vgl. Kap. 6.3). Diese Öffnung geschieht jedoch nicht grenzenlos: "Die Forderung Adornos nach der Kontrolle des unbewussten Tuns durch den Verstand blieb mir dabei erhalten und bewahrte mich vor der Gefahr mythisierender Vereinfachung. Adornos Einfluss stärkte mein Verantwortungsbewusstsein hinsichtlich Aussage und Wir- kung der Musik in der Gesellschaft, und verwies mich auf das melodramatische Verfahren, auf die gegenseitige Erhellung von Sprache und Musik.“2 Schibler sieht die Notwendigkeit der Aufwertung des Parameters Rhythmus und damit des Tanzes und Körpers auch für die Musik: "Das Bestreben der christlich geprägten europäi- schen Kulturvergangenheit, das Körperlich-Biologische unserer Existenz in den Bereich des Sündhaften zu verweisen, hat auch die Musik geprägt: das Element Rhythmus, ur- sprünglich die treibende Kraft musikalischer Gestaltung, wurde immer deutlicher in den Schatten von Melodie und Harmonie und damit von geistigen und gefühlshaften Bereichen verdrängt. Einem Zeitalter, das mit solchen Vorurteilen abzurechnen beginnt, muss diese Musik immer mehr als eine solche ohne 'Körper' erscheinen, in der sich der Mensch in seiner Ganzheit nicht mehr auszusprechen vermochte. Die Folge war der Durchbruch, man

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.12. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.13.

66 darf sagen die Entdeckung des reinen Elements Rhythmus für unsere Musik als von nun an gleichberechtigtes Gestaltungselement. Die Pioniere und Werke des Durchbruchs - Stra- winsky im Sacre, Bartok in Werken seiner 'barbarischen' Phase etwa - sind bekannt; dazu trat die Kenntnisnahme des Jazz und der aussereuropäischen Musikkulturen. Der Vorgang ist bereits historisch; ein volles Schlagzeuginstrumentarium, bestens ausgebildete Schlag- zeuger sind im Sinfonieorchester für jeden Komponisten inzwischen eine selbstverständli- che Voraussetzung. Man könnte sagen, nun habe sich auch unser Körper in der Musik Stimme verschafft, unsere biologische Natur, die allen geistigen und seelischen Überbau trägt und nährt."1 Schibler analysiert eine ähnliche Unterbewertung des Elementes Rhythmus auch in der eigenen künstlerischen Entwicklung: "Wenn ich an meine musikalischen Anfänge zurückdenke, stelle ich fest, wie sehr ich den rhythmischen Parameter zunächst unterentwickelt liess und dass es das spätere Schlag- spielerlebnis gewesen ist, das gewisse Zonen meiner Psyche erschlossen hat. Diese ordnen- de, disziplinierende Wirkung gerade auf die werdende Persönlichkeit bewegte mich schon in den 50er Jahren, an der Mittelschule Schlagspiel-Kurse einzuführen. Dafür bedurfte es des Beizugs von Professionellen, bis ich mir selbst die nötige Praxis erworben hatte. Was anfänglich 'Trommelkurs' hiess, entwickelte sich in zwei Jahrzehnten zur rhythmisch- kreativen Grundschulung für die gesamte Schulklasse (siehe Schulwerk)."2 In der Folge werde ich - wiederum ausgehend von den Tagebüchern, musiktheoretischen Schriften und dem Werkverzeichnis des Komponisten - ausführen, auf welche Weise sich Schiblers musikalisch-künstlerische Entwicklung weiter vollzog, und diese Entwicklung mit Hinweisen auf künstlerische Werke dieser Schaffensperiode dokumentieren.

Die Entdeckung des Tanzes Nach der Abwendung von der Dodekaphonie beginnt 1957 eine intensive künstlerische Zusammenarbeit mit dem spanischen Tänzer Juan Tena und seiner Truppe, später mit wei- teren Tanzgruppen. Schibler besucht den Tänzer und Choreographen, der mit seiner Bal- letttruppe sein Ballett Le Prisonnier3 und die Rhythmischen Etüden4 einstudiert, 1957 in seinem Studio in Barcelona. Am 13. April 1957 schreibt er: "Juan und Graziella (Juan Tenas Frau, Anmerkung GS.) haben drei meiner 'Rhythmischen Etüden' erarbeitet, und ich glaube, wenn sie alle acht tanzen werden, wird das zu einer

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.94. 2 Armin Schibler, das Werk 94. Zum Schulwerk Armin Schiblers vgl. Kapitel 'Das Pädagogische Werk', 121-130. 3 Le Prisonnier, Der Gefangene, Kammerballett für fünf Tänzer und sieben Instrumente, op. 52 (1957), Nr. 14, Das Werk 1986, S.37. 4 Rhythmische Etüden, op. 37, Nr. 147, Das Werk 1986, S.113.

67 interessanten tänzerischen Leistung von heute werden, in welcher Tradition und neue Wege zu einem neuen Stil verschmolzen sind."1 Schibler wohnt diversen Proben bei, in denen zu seiner Musik getanzt wird, und er fährt in seinem Tagebuch fort: "Merkwürdig: wie unendlich fern liegt mir die jetzt erklingende Musik! Ich flüchte davor, indem ich Tagebuch schreibe, dabei enthält sie gute Passagen. Ich bin manchmal ganz und gar etwas anderes als ein Musiker, die Töne sind mir gegeben zur Sichtbar-, Hörbarma- chung der Welten, die dahinter und darüber stehen. (Darum bin ich wohl auch am schwächsten als Kammermusiker). Musik muss für mich der Ausdruck eines totalen So- seins sein, der Aufriss der totalen Existenz in Spiel und Ernsthaftigkeit. Schlechte neue Musik tut mir entsetzlich weh, ich verstehe die Menschen, die physischen Ekel empfinden können dabei... Juan ist der erste junge Mensch meines Alters, bei dem ich die grosse Hingebung und totale Leidenschaft des Schaffenden spüre, Begabung als Notwendigkeit, als ein Müssen, naturhaft wie Hunger und Durst."2 Armin Schibler organisiert in der Folge eine Tournee in der Schweiz für die Truppe von Juan Tena mit Werken von Bartok und Schibler. Aus diversen Gründen (zu spät erteilte Visen, terminlich verschobene Tournee mit Mangel an Aufführungsmöglichkeiten) hinter- lässt diese Tournee einen grossen Schuldenberg, welche Schiblers selber begleichen müs- sen. Schibler entdeckt die Wichtigkeit von Rhythmus und Tanz am 'eigenen Leib', taucht haut- nah ins Medium ein und beginnt zu tanzen: "Nach dem Scheitern von 'Raub des Feuers' in Amsterdam hat mich eine wahre Leiden- schaft zum Ballett und zu den Fragen des modernen Tanzes ergriffen. Ich will 'dahinter' kommen, die Situation, ihre Mängel und Aktiven aufspüren, um von der Erkenntnis aus ansetzen zu können zu einer Reihe von Werken für das Tanztheater, dem ich mit 'Raub des Feuers' und der Ballettoper 'Jubiläumsbett' bereits zwei völlig verschiedene Möglichkeiten bereit halte. Ich habe mich sogar entschlossen, gewisse praktische Grundlagen zu erarbei- ten: alle 14 Tage fahre ich nach Bern, jede Woche nehme ich eine Stunde in Zürich, um bei Kreutzberg, Hilde Baumann und Susanne Perrottet die ersten Anfänge zum Ausdruckstanz zu versuchen... Immer mehr fühle ich, wie das Elementare von mir Besitz ergreift, in mir durchbricht. Ich bin noch immer mitten im Werden drin, neue Gebiete erklimmen sich, wachsen mir zu - darin liegt etwas Wunderbares angesichts des Glaubens, dass auch alle bisherigen Stufen mehr waren als Zwischenpositionen."3 Schibler erhebt dabei nicht Anspruch auf Perfektion:

1 Armin Schibler, Tagebuch 13. April 1957, Barcelona. 2 Armin Schibler, Tagebuch 13. April 1957, Barcelona. 3 Armin Schibler, Tagebuch, Mai 1956.

68 "Aber wie meine Stimme, ist auch mein Körper ein zu unvollkommenes Instrument! Ich habe etwas von allem, gewiss, aber von keiner der Möglichkeiten so viel, um sie voll und ganz zu sein. Auch hier bleibt mir gar nichts anderes übrig, als die Synthese, die vor allem ein geistiger und dann handwerklicher Akt ist. Ich musste scheitern als Pianist, als Singen- der, als Schauspielender, als Denkender, jetzt als sich Bewegender - aber das Versagte erlebe ich umso mehr von innen heraus und bewältige es mit dem einzigen Handwerk, das mir das Schicksal schenkte, mit dem Komponieren von Tönen."1 Schibler erahnt archaisch-religiöse Dimensionen des Tanzes: "Bei Kreutzberg ging mir auch sofort auf, was ich immer geahnt hatte: dass die Wurzel des echten Tanzes nur im Kultisch-Religiösen liegen kann. Diese sich bewegenden jungen Mädchen in ihren langen schwarzen Röcken sind Vestalinnen, gebannt ist alles Erotische, alle Niederungen des Sensuellen. Mir ist so klar, dass Mahler nichts mit dem Ballett zu tun haben wollte - aber für Kreutzberg würde er gearbeitet haben... Schlagartig ging mir beim ersten Zuschauen im April auf, wie unser ganzer hochgeschätzter Ballettbetrieb weithin eitel Rauch und Schaum ist, postbourgeoise Artistik, Sport auf dem Musiktheater, unver- hüllte Prostitution, getarnt vom eingeredeten Glauben, man habe teil an einem echten künstlerischen Erlebnis..."2 Schibler erfährt den Ausdruckstanz als die beseelte Alternative zum inhaltsleeren, veräus- serlichten Ballettanz der arrivierten Bühnen. Anlässlich einer Probe des Klarinettencon- certinos3 in Lausanne formuliert er: "Während die Musik nur gewinnen kann aus dem Rückzug ins Wesentliche (Schibler spricht davon, dass die Anpassung an die kühle Sachlichkeit der Zeit eine äusserste Objektivität und letzte Perfektion der darstellenden Mittel verlange, wobei sich alles im Werk verbergen müsse, hinter dessen Konturen sich jedoch ein intensiveres Leben zu stauen vermöge als in romantischer Ekstase, Anmerkung GS.), verlangt das Tänzerische die Sichtbarmachung der inneren Emotionen. Da wenig Emotionen mehr vorhanden sind, wird die Flucht ins Neoklassische kaschiert als Notwendigkeit der künstlerischen Weiterentwicklung. Der heute grassierende artistische Perfektionsmus ist hohl und leer, weil ihm die seelische Notwendigkeit abgeht. Der Tanz wird zum vollendeten Sport, der Tänzer zum Tennistrainer, das technische Können erreicht auch im Chorischen eine kaum dagewesene Höhe. Das Gastspiel des amerikanischen (New York City) Balletts rief in mir eine unerträgliche Leere hervor, ich sehnte mich nach der beseelten Welt, wie ich sie in der Kreutzberg-Baumannschule in Bern kennen gelernt habe. Während also die Musik sich in ihre Innerlichkeit verschanzen kann, offenbart der Tanz, diese sensible, vom Gesellschaftlichen fast ebenso sehr wie die Architektur abhängige Kunstform die innere Aushöhlung unserer Zeit... 'Von den letzten Zuckungen des deutschen Ausdruckstanzes', wurde verächtlich in einer Kritik gesprochen . Es müsste die Rede sein

1 Armin Schibler, Tagebuch, Mai 1956. 2 Armin Schibler, Tagebuch, Mai 1956. 3 Concertino für Klarinette und Streicher, op. 49 (1957), Nr. 83, Das Werk 1986, S.88.

69 von den letzten Ausläufern einer Zeit, in welcher der Mensch sich als gott-teilhaftiges Wesen empfand und zur Gestaltung brachte."1 Im zeitgenössischen Tanz spiegeln sich ähnliche Phänomene wie bei der Musik: Weil die Aussage verschwindet, wird der Tanz belanglos, flüchtet sich in die Vergangenheit und erstarrt in leerer technischer Perfektion.

Die Entdeckung des Schlagzeuges Neben der Entdeckung des Tanzes begeistern ihn die Möglichkeiten des Schlagzeuges. Erneut taucht er selber mit Haut und Haar ein und beginnt, Schlagzeug zu spielen: "Immer grösser wird gleichzeitig meine Vorliebe für das Schlagzeug: seit drei Jahren meh- ren sich in meinen Partituren jene Stellen, wo das Schlagzeug selbständig oder solistisch eingesetzt ist: ich glaube, bald kann ich meinen Lieblingsplan verwirklichen, ein Konzert für Schlagzeug, Klavier und Orchester zu schreiben, oder aus Stücke für Klavier und Schlagzeug allein. Meine 'rhythmische Phase' nähert sich damit dem Höhepunkt. Und wie immer greift alles tief ins Körperliche. Wie meine Leidenschaft für Schönberg und Webern Hand in Hand ging mit dem Versuch, sauber denken zu lernen, so soll jetzt meine tägliche Tanzgymnastik das körperhafte Erlebnis von Tanz und Rhythmus ins Unterbewusste vertiefen. Denn nichts lässt sich in der Kunst allein mit dem Kopf wollen - es muss ganz erlebt und geleistet werden, soweit eben die entsprechenden Fähigkeiten reichen. Die kommenden Schaffensjahre gehören dem Ballett, das weiss ich, und ich bin so vertrauensvoll, weil ich weiss, dass ich tief in diesen neuen Bereich eindringen werde."2 In der Folge entstehen verschiedenste Werke für die Tanzbühne (S. 75) wie auch das erwähnte Schlagzeugkonzert und ein Konzert nur für Klavier und Schlagzeug (S. 76).

4.2 Konzeption einer Musiksprache für Rhythmus, Tanz und Ballett

Tanz versteht Schibler grundsätzlich als symbolhafte menschliche Seinsweise in Bewe- gung. Tanzend erfährt der Mensch durch die Schwerkraft wie auch durch die Grenzen und Möglichkeiten des Körpers sowohl Begrenzung wie auch Befreiung, er entkommt tanzend Zwängen und erfährt die Magie des Körpers. Diese wirkt durchaus ambivalent: Sie schenkt ekstatische Momente der Erfüllung wie auch enthumanisierende der Verführung und Sucht. Je nach Art und Weise des dabei eingesetzten Rhythmus und Tanzes vermag Tanz archa- isch-religiöse wie auch ästhetische Dimensionen zu eröffnen. Am klassischen Ballettbetrieb der Gegenwart kritisiert Schibler - wie die Zitate zeigten - eine Aushöhlung und Erstarrung durch artistische Perfektion: er ist für ihn nur zu oft 'ent- seelter Spitzensport'. Dieser Ballettpraxis setzt Schibler eine künstlerische Konzeption des Tanzes gegenüber, die nach dem eigenen Ausdruck sucht, ihn fördert und fordert, wodurch

1 Armin Schibler, Tagebuch, 27. Mai 1956. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 13. Febr. 1957.

70 auf intensive Weise auch gefühlshaft-seelische Dimensionen des Menschen integriert wer- den und zum Ausdruck gelangen. Er verleiht dem Tanz wieder eine religiös-magische Kraft, welche in der Gegenwart vernachlässigt wird, weil Tanz und die Magie des Körpers in Gefahr stehen, kommerzialisiert zu werden: "Rhythmus, Tanz, Ekstase. - Von den erfül- lenden Selbstentäusserungen, die uns die Natur geschenkt hat, sind jene - zumeist ruinösen - verblieben, mit denen ein Geschäft zu machen ist."1 Der Parameter Rhythmus verkörpert für Schibler im Rahmen seiner Musik das Elementar- Triebhafte. In zahlreichen Partituren weist Schibler dem Schlagzeug wichtige solistische Aufgaben zu: "in den Kammerballetten Le Prisonnier und Ein Lebenslauf, im Finale der 2. Sinfonie und der sechs Orchesterstücke, im Saxophonkonzert, in Metamorphoses Ebrieta- tis."2 Die Schlaginstrumente signalisieren das Einbrechen und Überhandnehmen des Irra- tionalen. Interessanterweise offerieren sich dabei unterschiedliche musikalische Möglich- keiten: Entweder kämpft das Elementar-Triebhafte gegen das differenzierte Harmonische und Melodische und damit gegen das Gefühlhaft-Geistige, oder es ergänzt letzteres wie im Concerto 59 im Sinne eines integralen Daseinsgefühls. Musikalisch sind für ihn beide Möglichkeiten - Kampf oder Integration - eine lockende Herausforderung.

4.3 Impulse von Blues, Jazz und Popmusik für erweiterte musikalische Ausdrucks- formen

Ich werde später (S. 137) ausführen, warum für Schibler die Fixierung auf eine musikalische Stilrichtung aus der Sicht des Hörens eine Vereinseitigung ist. Da es ihm um das integrale Werk, d.h. das totale Hörerlebnis bzw. die musikalisch verstandene Ganzheit geht, beginnt auch er in seiner Kompositionstechnik mit dem Einbezug nichtklassischer musikalischer Impulse zu experimentieren. Wichtig wird für ihn in erster Linie der Blues mit seinen ganz neuen Möglichkeiten: "Mindestens so bedeutsam wie der Jazz, hinsichtlich der Auswirkungen auf beinahe alle neueren Phasen der Pop- und Rockmusik vielleicht noch bedeutsamer, ist der BLUES der Afroamerikaner, den man auch schon die folgenreichste Erfindung in der Musik der letzten 100 Jahre genannt hat."3 Denn der Blues ist für ihn ein "regelrechtes 'neues Tongeschlecht', das sich für unser Ohr als eine Art Mischung von Dur und Moll darstellt, indem in der Quinte ein labiles Neben- einander von Dur- und Mollterz besteht. Ich zögere nicht, von einer eigentlichen Blues- Tonleiter zu sprechen, die im Augenblick, da die künstlerische Musik bei uns nach der Jahrhundertwende die Dur-Moll-Zentrierung aufgab und dem Bereich der Unterhaltung überliess, sich einem Komponisten geradezu anbot, der auf der Suche nach einem unver- brauchten, vom Kommerz noch nicht erfassten und gleichzeitig popularen Melodieidiom

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 S. 97. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.94. 3 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz 19a.

71 war. Die Distanzierung der neuen Tonsprache vom ausgedienten melodisch-harmonischen ABC ist ja, wie wir gehört haben, ein Hauptanliegen neuer Musik seit Debussy gewesen; der Einbezug der Bluesleiter erlaubte mir, dem drohenden 'Sprachverlust' zu begegnen, indem Blues- und Jazzidiome inzwischen den Hörern ähnlich vertraut geworden sind wie die frühere Durmoll-Tonalität."1 Das Blues-Tongeschlecht bereichert die Schiblersche Musiksprache insofern, als es – jen- seits der totalen Auflösung jeder Tonalität durch die Dodekaphonie - eine Erweiterung der Dur-Moll-Tonalität darstellt. Dazu Schibler: "Mit dem Blues habe ich mich jahrelang und ebenso intensiv beschäftigt wie mit der Zwölf- tontechnik, zu der er den extremsten Gegensatz bildet. Wie es früher im Volkslied ein grundlegendes Melodiemodell gab, das es jedem, der das Bedürfnis nach musikalischer Abreaktion empfand, erlaubte, sein Befinden durch die spontane Vertonung einer Strophe zur tönenden Darstellung zu bringen (...) offeriert sich heute das zwölftaktige, in drei melo- dische Phasen unterteilte Blues-Schema jedem, der mit Stimme oder/und Instrument sein existentielles Befinden mitteilen will."2 Weiter weist er darauf hin, dass man einen echten Blues nicht eigentlich komponieren kann: "Wer den Blues glaubwürdig singt oder spielt, muss seine eigene Existenzerfahrung ein- bringen, was bedeutet, dass keiner den Blues auf die gleiche Weise äussert wie der andere. Das bedeutet, dass die Interpretation zum integrierten Bestandteil der Erfindung geworden ist, eine Tatsache, die über den Blues hinaus für die gesamte improvisierte Musik Geltung hat. Den einzigen Blues - im ursprünglichen Sinne - den ich kompositorisch eingesetzt habe, findet sich in meinem CONCERTO 77. Schon Jahre vorher, als sich der Werkplan in meinem Kopf einnistete, wusste ich, dass dieses Werk, in dem sich die heute getrennten Musiksphären begegnen sollten, einen Blues zum Mittelpunkt haben würde. Ich dachte mir Situationen aus, die in ihrer Existenzbedrängnis über einen Blues glaubhaft darzustellen wären. Es fand sich schliesslich als einzige Möglichkeit die weltweite ökologische Be- drängnis, die uns alle im gleichem Mass angeht."3 Also ähnlich wie bei der Dodekaphonie - wenn auch im Detail grundverschieden - bietet die Blues-Tonalität eine Erweiterung der Dur-Moll-Zentrierung. Im Unterschied zur Dodekaphonie, welche erlaubt, menschliche Verlorenheit musikalisch auszudrücken, erlaubt die Blues-Tonalität den Ausdruck einer individuellen wie auch kollektiven Existenzbedrängnis: „I've got the blues!“ Schiblers Musik gewinnt durch die gelegentliche Integration der Blues-Tonalität weiter an Ausdruckskraft. Neben dem Blues bereichert auch der Jazz Schiblers Kompositionen:

1 Armin Schibler, Zu Problematik musikalischer Resonanz 19a. 2 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz 19b. 3 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz 19b/c.

72 "Jazzplatten hörte ich schon in der Gymnasialzeit, in den 30er Jahren, als manche Erzieher den Jazz noch als jugendgefährdend erklärten und man oft nur im Verborgenen diese wilden und fremden Klänge hören durfte. Der Jungle Style von Ellington, die Trompete Armstrongs und der Swing wurden zum geheimnisumwitterten Kontrapunkt meines musikalischen Werdeganges am Klavier und in der Schule. Relativ spät ging ich von Improvisationsversuchen zur kompositorischen Integration von Jazzelementen über: die 'Esquisses de Danse' 1957 bringen als letztes Stück einen Boogie, im Ballett 'Ein Lebenslauf' charakterisieren sie die Realität, die den jungen Mann ins kollektive Muster presst. In 'Blackwood und Co' von 1960 begleiten Jazzpassagen den Manipulationsversuch des Verkaufschefs am jungen Paar und entlarven die Verlogenheit seiner Absichten. Diese jazzoiden Partien entsprangen zunächst dem musikszenischen Charakterisierungsbedürfnis."1 Jazzoide Elemente verwendet Schibler zunächst ausschliesslich entsprechend der musik- szenischen Situation, und damit eng begrenzt. Der Wunsch jedoch, weitere Hörerschichten musikalisch zu erreichen, bewegt ihn zur Preisgabe der Zurückhaltung gegenüber der Assi- milation bestimmter Tonschritte und Rhythmen: "Hätte nicht Gustav Mahler - den ich mir in mancher Hinsicht zum Vorbild nahm - den Blues in seine Sinfonik integriert, wenn er ihn damals in Böhmen hätte vorfinden können? Davon ausgehend, dass eine bestimmte Musik zu einer bestimmten Gruppe von Menschen gehört, fragte ich mich, für wen ich eigentlich komponierte - wohl die bestimmendste Frage für einen Komponisten. So wenig Mahler sich nur an das Bildungs- und Geldbürgertum wenden wollte und dementsprechend die Popularidiome seines Jugendraums in seine Ton- sprache aufnahm, so wenig konnte das Häuflein von Rundfunkabteilungsleitern, Musik- schriftstellern, Verlagsvertretern und von diesen protektionierten Interpreten, zu dem das einstige Hörpublikum neuen Tonschaffens zusammengeschmolzen war, jene Gruppe sein, vor der ich durch 'fortschrittliches' Komponieren bestehen wollte. Ich wollte nicht für den Clan schreiben, sondern jene Menschen ansprechen, die einem vertieften, auch dem Über- zeitlichen zugewandten Hörerlebnis offenstehen und die man glücklicherweise in allen Schichten und Berufen noch finden kann."2 Trotz aller Experimente hält Schibler an der Tradition und insbesondere an der Aufrecht- erhaltung eines zwingenden formalen Ablaufs fest. Was einer unmittelbaren musikalischen Wirkung dient, nimmt er - bei kritischer Selektion, um vor purem Modernismus gefeit zu sein - auf. Insgesamt wird für Schibler die Begegnung der Musikarten Jazz und Sinfonik (Schiblers Werk Concerto 77) zum Beispiel "für die Besonderheit unserer Musikge- schichte, wonach die immer wieder zur Vergeistigung und zu Spezialistentum tendierende professionelle Musik populäre Idiome aufgenommen und dadurch eine Art Vitalitätsschub erfahren hat."3

1 Armin Schibler, Aspekte einer Begegnung von Sinfonik und Jazz. Einführung zum Concerto 77, S. 4, Paul Sacher Stiftung, Basel. 2 Armin Schibler, Aspekte einer Begegnung von Sinfonik und Jazz 5. 3 Armin Schibler, Aspekte einer Begegnung von Sinfonik und Jazz 5.

73 4.4 Wichtige Werke dieser Periode

Viele wichtige Werke Schiblers sind in dieser Schaffensperiode entstanden.

4.4.1 Rhythmische Elemente, Volksmusik, Kinderlieder Mitten in der dodekaphonen Phase, zum Unverständnis und unter Kritik der deutschen Komponistenkollegen, experimentiert Schibler bereits mit rhythmischen Strukturen und übernimmt in seine Kompositionen Volksmusik, auch einfachste Kinder-und Wiegenlieder. Beispiele: • Rhythmische Etüden (1952)1, zu denen er bemerkt: "Als mein Interesse für den Tanz und das Choreographische geweckt war, begann ich mit der Erarbeitung rhythmischer Strukturen. Ähnlich wie in der dodekaphonen Erfahrung übte ich in Klavierzyklen eine Reihe von Modellen durch, um dem chthonisch-irrationalen Bereich ein Möglichstes an musikalischer Strukturierung abzugewinnen."2 In diesem Werk finden sich folgende rhythmische Problemstellungen: Impulsmetrum mit wechselnden Akzenten, Überlage- rung des Impulsmetrums durch akzentische Gebilde, rhythmische Kontrapunkte auf beide Hände verteilt innerhalb eines ungeraden Taktes, Klopftöne gegen liegende Klän- ge, Parallelführung von ostinaten Takten mit synkopischen Gebilden, gleichzeitige Rotation zweier rhythmischer Modelle von ungleicher Länge und extreme Beschleuni- gung und Retardierung von Impulsen durch Gegenakzente.3 Weitere Werke, in denen Schibler diese Möglichkeiten ausmisst, sind neben den Rhythmischen Etüden die Danses Concertantes (1953)4 und die Esquisses de danse (1957).5 • In der Kammeroper Füsse im Feuer (1953/54), während des Höhepunktes der Ausein- andersetzung mit der Dodekaphonik6, erklingt während der Folterung der Marquise ein (selbstkomponiertes) Wiegenlied. • Im Berner Marsch7 von 1957 verwendet Schibler fünf alte Schweizer Volkslieder. Er bezeichnet dieses Werk als musikalische Liebeserklärung an die Schweizer Volksmusik. Gerade durch die Überforderung der Psyche durch die Technologie erschienen folkloristische Werte in einem neuen Licht, das preisgegebene Eigene werde in seiner Ursprünglichkeit neu entdeckt.8

1 Rhythmische Etüden, op. 37, 1952, Nr. 147, Das Werk 1986, S.113. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.113. 3 Das Werk 1986, S.113. 4 Danses Concertantes, für Violine und Klavier, op. 38, 1953, Nr. 113, Das Werk 1986, S.100. 5 Esquisses de danse, op. 51, Nr. 148. "Eine Art Mini-Ballett für einen einzigen Tänzer in Form von sieben kurzen Stücken. Reicher Gebrauch wird vom (schlagspielartigen) Wechsel der Hände gemacht; im letzten Stück geht das zackige, nervöse Klima ins Jazzoide eines Pseudo-Boogie über." Armin Schibler, Das Werk 1986, S.113f. 6 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.20. 7 Berner Marsch, Das Werk 1986, S.65. 8 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.66.

74 4.4.2 Werke für die Tanzbühne/Ballette • Armin Schibler komponiert von 1957-59 für die Tanzbühne drei Kammerballette: Der Gefangene1, Ein Lebenslauf2 und Selene und Endymion3. Die Themen dieser drei Werke umkreisen auf verschiedenste Weise den Menschen in seiner Körperlichkeit: • Im Ballett Der Gefangene ist der Mensch Gefangener seiner Triebwelt, welcher vergeb- lich nach einem Ausbruch aus den gesetzten Grenzen sucht. Erst im Augenblick des Todes kommt es zur Befreiung. • Im Ballett Lebenslauf/Curriculum Vitae sieht sich der Mensch zwar in die Befreiung des Konsumzeitalters gestellt, doch erweist sich die gewonnene Freiheit als trügerisch; das Streben nach Genuss und Lust unterwirft ihn den äusseren Zwängen und manipuliert ihn in Richtung der Anpassung. Am Ende bleiben in aller Dürftigkeit die Droge und die Täuschung durch den Klang.4 • Im Ballett Selene und Endymion erweist sich die Idee des freiheitlichen autonomen Menschen, dargestellt im griechischen Mythos, als Traum. Im Bild der Neoklassizität kehrt der Tanz zum schönen Schein fern der Wirklichkeit zurück.5 Diese drei Ballette sind als als abendfüllende Kammertanztrilogie unter dem Titel Der Mensch konzipiert.6 Die Thematik dieser drei Ballette nimmt einerseits die Gebundenheit an die Materie auf - nirgends wird diese so spürbar wie im Bereich des Körpers - andererseits auch die Verführbarkeit des Körpers. Tanz ist der ersehnte, schöne Schein jenseits der Wirklichkeit, er durchdringt und veredelt diese dank künstlerischer Realisierung. • In Metamorphoses ebrietatis7 führt die Emotionskurve der Betrunkenheit vom Zustand statischer Ruhe über das Einsetzen der Wirkung einer imaginierten Droge zur allmäh- lichen Freisetzung von Gestus und Bewegung bis zum Höhepunkt der Ekstase und zum Absturz ins Taedium vitae - nach Schibler nicht nur ein Urthema unserer Psyche, sondern auch des Tanzes. Schibler nennt das Werk auch La Fête de Dionysos und erwägt eine choreographische Realisierung.8 • In zwei weiteren Werken für die Ballettbühne tauchen Themen auf, welche wir im Rah- men dieser Arbeit bereits kennengelernt haben. Im Werk Die Legende von den drei

1 Der Gefangene, Das Werk 1986, S.37. 2 Ein Lebenslauf, (Curriculum Vitae), Kammerballett für kleine Tanzgruppe und elf Instrumente, op. 60 (1958), Nr. 15, Das Werk 1986, S.37. 3 Selene und Endymion, (Musik zu einem imaginären Ballett), Ballet parlé für Sprechstimme, zwölf Solostreicher und verstärktes Cembalo, op. 62 (1959/60), Nr. 16, Das Werk 1986, S.40.f. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.39. 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.41. 6 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.41. 7 Metamorphoses ebrietatis, Sinfonische Variationen für grosses Orchester, op. 75, 1962/63, Nr. 30, Das Werk 1986, S.52. 8 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.52.

75 Liebespfändern wird die Begegnung von Frau und Mann in gegenseitiger Bezogenheit und Hingabe tänzerisch dargestellt. Im Werk La Naissance d'Eros, eines seiner letzten Werke, mit welchem Schibler den Schlusspunkt unter seine Werke für die Tanzbühne setzt, steht wie erwähnt die Platonsche Vision der Liebe von Mann und Frau im Mittel- punkt. Nach Platon bildeten Mann und Frau in mythischer Vorzeit in Form einer Kugel ein einziges Lebewesen und lebten in vollkommener Harmonie, bis sie den Neid der Götter erregten und von diesen in zwei Hälften gespalten wurden. Die beiden gespaltenen Teile suchen von da an als Liebende einander, eine vergebliche Suche, die Schibler mit seinen Spaltklängen in Musik umsetzt (S. 88.)

4.4.3 Werke für Schlagzeug, Einbezug von Negro Spirituals, Blues, nichtklassischer Musik, Jazz, elektronischer Musik • Das von Schibler schon lange geplante 1. Schlagzeugkonzert (S. 76) schreibt er 1959/60.1 • Das Konzert für 5 Schlagzeuger, Klavier und Streichorchester entsteht 1962/632. Im letz- ten Satz komponiert er Variationen über das Negro Spiritual 'I want to die easy when I die'. • Auch im Werk Nobody Knows, Kleine Suite für Kammerorchester auf Negro Spirituals3, 1962, experimentiert er mit Negro Spirituals. • Im Concerto 77 tragen seine Experimente mit Jazz und Klassik reiche Früchte. Das Werk ist komponiert für Sinfonieorchester, Bigband, Jazzrockgruppe, Stimme und Tonband (elektronische Musik). Es integriert verschiedenste Musikstile (Jazz und moderne E- Musik), enthält sechs Improvisationsabschnitte, in denen sich die Musiker der verschie- denen Musikensembles eigenständig improvisierend entfalten können, und eröffnet da- durch Spielräume zwischen Planung und Zufall, Ordnung und Freiheit, kollektiven und subjektiven Tendenzen. Zusätzlich integriert Schibler einen eigenen Text (das Werk hat damit Bezüge zu den Hörwerken) und elektronische Musik.4 Dieses Werk leistet damit ein Maximum von musikalischer Spannweite und Integrationskraft. Jedoch verwenden auch weitere Werke wie Messe für die gegenwärtige Zeit (1979/80) oder La Folie de Tristan (1980) ebenfalls eine Jazzrockgruppe.

1 Scène fantastique für Schlagzeug und grosses Orchester, (1. Schlagzeugkonzert) op. 63, Nr. 100, Das Werk 1986, S.93. 2 Concert pour la jeunesse, Konzert für fünf Schlagzeuger, Klavier und Streichorchester, op. 76, Nr. 101, Das Werk 1986, S.93. 3 Nobody Knows, Nr. 38, Das Werk 1986, S.57. 4 Zum Einsatz von elektonischer Musik Das Werk 1986, S.132.

76 5 Kunst kann nur aus einer grossen Seele kommen: Schiblers Identität als Komponist

Schibler erlebte seinen eigenen kompositorischen, künstlerischen Prozess als Geschenk, wie das Zitat in diesem Titel es nahe legt. Doch wie entwickelt sich eine künstlerische Identität, welche Bedingungen und Lebensumstände sind erforderlich? Warum wird jemand Komponist? Wie entwickelt sich eine musikalische Sprache, eine musikalische Aussage? Tragen gewisse Menschen eine eigene musikalische Welt in sich, die nach Verwirklichung drängt, und wieviel Inspiration, Kritik und Anregung von aussen ist dabei erforderlich? Das sind Fragen, die sich stellen, wenn es um das tiefere Verständnis des Werkes eines schöpferischen Menschens wie Armin Schibler geht. Ich beginne meine Untersuchung an den Lebensumständen, unter denen Schibler sein Werke schuf.

5.1 Grundlagen des kompositorischen Schaffens

Bis jetzt konzentrierte sich die Darstellung in erster Linie auf den persönlichen Lebensweg Schiblers. Für seine künstlerische Existenz ist es bedeutsam, dass er wenig auf das Urteil von aussen, auf Kritik, auf künstlerische Resonanz bauen konnte. Im Unterschied zu inter- nationalen zeitgenössischen Künstlern wie Luigi Nono, Karl Heinz Stockhausen, John Cage und Schweizer Komponisten wie , Heinz Holliger oder Rudolf Kelter- born konnte er – aus bereits dargelegten Gründen - nicht auf eine breite künstlerische Reso- nanz zählen, welche ihm Schwung, Bestätigung, Korrektur und den Glauben an das eigene Werk vermittelte, sondern er musste sich weitgehend auf sein eigenes Urteil bezüglich der künstlerischen Qualität seiner Werke verlassen - eine beträchtliche Herausforderung. Wie schafft er es, bei so viel künstlerischem Gegenwind nicht in Selbstzweifeln zu ersticken? Was hilft ihm, an seine eigene künstlerische Mission zu glauben? Diesen Fragen werde ich wiederum anhand Schiblers Selbstzeugnissen nachgehen. Bei seinem künstlerischem Werdegang lassen sich vielfältige Wechselbeziehungen zwi- schen dem sog. Eigenen und den Einflüssen/Inspirationen von aussen aufzeigen. Wie ich ausführlich schilderte, konzentrierte sich Schiblers Entwicklung zunächst in der Reifung der Ich-Du-Beziehung, dann in der sich anschliessenden Übernahme von Verantwortung in der sich bald vergrössernden Familie. Auch seinen (Brot-)Beruf - seit 1944 seine Tätigkeit als Musikpädagoge an der Kantonsschule Zürich - übt er mit Verantwortung und Engage- ment für seine Schüler aus. Über den Beginn dieser Tätigkeit schreibt er: "Im Januar 1944 holte mich Rektor Willy Hardmeier, der spätere langjährige Präsident der Zürcher Tonhallegesellschaft, sozusagen über Nacht aus dem Studium heraus an die Kantonsschule Zürich an der Rämistrasse. Noch herrschte Krieg, an Auslandsaufenthalte war nicht zu denken. So ergriff ich die Gelegenheit, für den erkrankten Carl Aeschbacher - der Vater der drei Aeschbacher-Musiker Adrian, Niklaus und Rudolf - einzuspringen und ahnte nicht, dass sich aus den wenigen, am Rand des Stundenplans gerade noch geduldeten

77 'Singstunden' eine Lebenstellung würde ausbauen lassen, in der ich bis zu meiner Pensio- nierung Beruf und Berufung in idealer Weise verbinden konnte."1 Die bald vollamtliche Stelle als Musikpädagoge gewährt ihm Freiraum für seine künstlerischen Aktivitäten und sichert ihm materielle Unabhängigkeit zu: "Ich bin der Schule und der sie tragenden Allgemeinheit dankbar für die Grosszügigkeit, mit der sie mich meinen künstlerischen Neigungen nachgehen liess, wozu auch die Urlaubserteilung für die Weiterbildung und die Präsenz bei den Proben und Aufführungen im In- und Ausland gehörte...... Ohne die sichere Grundlage eines Hauptlehrers für Musik hätte ich nicht den kompromissarmen künstlerischen Weg gehen können, der mich über die Höhen der Anerkennung und durch die Täler der Isolierung und des Infragegestelltseins bis dorthin geführt hat, wo ich heute stehe."2 Von seinem glücklichen Verhältnis zu seinem Brotberuf zeugt weiter eine Tagebuchnotiz vom 24.10.1956, als er im Postchequeamt für seine monatliche Lohnauszahlung ansteht: "Da steh ich jeden Monat und warte auf meine Nummer, nehme dann meinen Lohn in Empfang, den ich mit gutem Gewissen, im Dienst an der Gemeinschaft, verdient habe. Keine Unsicherheit, keine Liebesdienerei gegen irgendjemand. Soweit man es überhaupt heute sein kann bin ich frei und unabhängig, ich brauche nur meine Pflicht zu tun. In dieser Beziehung hat es mein Schicksal gut, äusserst gut mit mir gemeint!"3 Sein Beruf erfüllt ihn, lässt ihm - erstaunlicherweise, denn seine Lehrverpflichtungen sind umfangreich - Freiraum zum Komponieren und schenkt ihm durch den Kontakt mit jungen Menschen Anregungen und Infragestellungen. Schiblers künstlerischer Weg jedoch erweist sich immer intensiver - wie bereits angedeutet - als ein Alleingang. Schiblers Werke erfah- ren zunehmend weniger Aufführungsmöglichkeiten und künstlerische Resonanz, und er fühlt sich immer mehr zwischen allen Stühlen und in Opposition zu Zeitströmungen und herrschenden Trends. In diesen inneren und äusseren Stürmen erweisen sich Familie und Beruf als unverrückbares Fundament, um die künstlerischen Anfechtungen zu bestehen. Im Folgenden werde ich aufzeigen, wie Schibler trotz oder gerade durch Anfechtungen und Selbstzweifel zu einer eigenen künstlerischen Position, ja zu einer eigenständigen neuen Werkgattung gelangt, welche ihm erlaubt, seine Vorstellung des totalen Kunstwerkes Gestalt werden zu lassen. Er bleibt nicht in künstlerischer Depression, Vereinzelung und dem Gefühl des Verkanntwerdens stecken, obwohl er zeitlebens unter solchen Gefühlen leidet und sich brennend Erfolg und Resonanz wünscht, sondern er bewältigt solche Situa- tionen mit künstlerischen Mitteln. Stichworte dazu sind: Dienst an der Sache trotz Misser- folgen, Relativierung des eigenen Ichs, kritische Distanz zu Trends und Modeströmungen der Gegenwart, Entwickeln eines eigenen Personalstil und Mut zum eigenen Weg. Das sind die Stichworte der folgenden Abschnitte dieses Kapitel.

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.121. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.121. 3 Armin Schibler, Tagebuch 24. Okt. 1956.

78 5.2 Der innere Auftrag – auch gegen den Zeitgeist

Der junge Schibler erlebt sich als intuitiven, reich beschenkten Musiker, der aus sprudeln- den Quellen schöpfen kann. Selbstverständlich sieht er sich auch in eine Zeit mit Vorbil- dern gestellt: "spätromantische und impressionistische Bausteine und Einflüsse der Musik meines Lehrers Willy Burkhard" prägen seine Frühphase.1 Als 24jähriger notiert er in sein Tagebuch: "In mir selbst ist Ernte, ich darf sagen reiche Ernte. Endlich sind meine innern Felder ganz reif, sind nicht nur grünende Versprechung. Die Pläne lösen sich aus dem ihnen selbst innewohnenden Gesetz bis zum letzten Akkorde. Ich glaube, dass ich schon nicht mehr suchen muss, es gilt höchstens zu warten, bis mir die Arbeiten gelockert gelingen, beinahe schon wie ein überpersönliches Geschenk. Die Eingebungen scheinen sozusagen aus der Urnatur der Musik zu kommen, oftmals spreche ich zu mir selber von Sternenmusik, die ich schreiben möchte und die mir mehr und mehr geschenkt wird. Oft ist es auch ein harmon- ischer Ausgleich zwischen Naturkraft niederer und höherer Welt: wie sich alles Körperli- che, nur Triebhafte nach der Durchdringung vom Göttlichen sehnt!"2 Schibler fühlt sich als Beauftragter. Einige Monate später spricht er sogar von einem Leben als einer Priesterschaft und schreibt in einer Art Wachtraum ein Gedicht Prophetwerdung. Diese Sicherheit jedoch zerbricht, muss selbstverständlich zerbrechen. Schibler beginnt um seine künstlerische Identität, um seinen Auftrag zu ringen und kämpft mit Selbstzweifeln. Der äussere Grund bildet die Resonanzlosigkeit auf sein Schaffen. Wichtige Werke werden zwar uraufgeführt, Schibler erlebt jedoch selten Menschen, die auf seine Musik spontan mit Begeisterung reagieren. Der wichtigere Grund liegt in der Konfrontation mit den Verheerungen des zweiten Weltkriegs, welche er anlässlich seiner Reisen durch Deutsch- land und Frankreich zu Gesicht bekommt, und in den Auseinandersetzungen mit der Zeitproblematik, musikalisch symbolisiert durch die Begegnung mit der Zwölftonmusik (Kap. 3.1). Schibler muss zur Kenntnis nehmen, dass seine Musik, als spätromantisch und unerheblich empfunden, abgewertet oder totgeschwiegen wird. Schibler wird sich im Laufe dieser Auseinandersetzung bewusst, dass sich speziell die Musik mit ihren Möglichkeiten nicht nur einseitig auf die Problematik der Gegenwart konzentrieren darf, sondern dass ihr andere Dimensionen anvertraut sind. Er entdeckt das künstlerische Potential und den Auftrag von Musik - im Unterschied zur Dichtkunst oder auch zum Tanz - und ebenso seinen eigenen künstlerischen Auftrag. Er sieht sich immer mehr als Menschen der Mitte, dessen Aufgabe das integrale Werk ist, dem die künstleri- schen Mittel und Medien zu dienen haben. Er versteht darunter nicht eine "Mitte der Biederkeit, des Ausweichens vor den entsetzlichen Extremen der Natur und des Lebens, eine neu auflebende Bourgeoisie. Nein, im Gegenteil: gerade um dem ganzen Leben

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.11. 2 Armin Schibler, Tagebuch August 1944.

79 gerecht zu werden, dem schrecklichen wie dem herrlichen nach allen Seiten, bewahren wir uns die göttliche Mitte, wie Gott eben auch Teufel ist, ohne den nicht denkbar."1 Mitte meint hier nicht Mittelmass (und damit Vermeidung und Verdrängung), sondern Integration und künstlerische Gestaltung und Bewältigung der Extreme. Einseitigkeiten, Spezialisierungen als reiner dernier cris befremden Schibler. Er, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen mit seiner zukünftigen Frau den Satz Das Leben ist mir so wichtig als das Kunstwerk in sein Tagebuch schrieb, will auch hier keine Flucht in die Kunst zulassen, jedenfalls nicht in seinem eigenen Leben. Schibler ist glücklich darüber, dass er selber seine künstlerische Identität nicht auf Kosten der seelisch-geistigen Substanz erreicht. Fast stolz notiert er 1954: "Nichts ist versäumt, Mein Rückstand auf dem Gebiet der Kammermusik ist dank der Dodekaphonik aufgeholt, meine sinfonische Aussage reicht ins Gebiet der heute echten Avantgarde. (...) Und all diese Summe habe ich mit keinem Versäumnis am Leben erreicht: ich liebe Tatjana mehr denn je als den ruhigen Pol meiner Existenz, ich singe Kinderlieder mit Thomas, erlebe täglich das Geschenk von Christian. Ich lebe täglich zwischen Bangnis der Zeit und Beglückung der zeitlosen Möglichkeit des Menschseins in der Mitte, trinke Wein, habe meinen Freund, bin ein rechter Lehrer, Vorbild meinen Schülern, habe meine kleinen offenen und geheimen Laster, bin bald ganz klein und verschämt und bald wieder ehrlich und mutig bis ins Letzte."2 Immer klarer schält sich heraus, was für ihn ein Mensch und Künstler der Mitte ist: Zwar braucht es Künstler, die extreme Wege einschlagen. Da sein Auftrag jedoch in der Synthese und im integralen Werk liegt, ist es notwendig, dass er als Komponist verschiedene Musikidiome aufzunehmen versteht: „Noch nie so deutlich ist mir bewusst geworden, dass bei allem Ausmessen der Extreme, also von Schulmusik bis zum kühnen Experiment, meine Aufgabe einzig und allein in der Synthese sein kann - in den einzelnen Positionen weiss ich mich überall überboten und in den zweiten Rang geworfen, und das ist gut so. Aber im Zentralen, im integralen Werk, da fühle ich mich sicherer denn je, da glaube ich zu bestehen nicht nur vor allen Zeitgenossen, sondern auch vor der echten Tradition."3 Doch die Sicherheit, die aus diesen Zeilen spricht, ist hart erkauft und nicht unumstösslich. Schibler leidet daran, seinen Weg allein gehen zu müssen, und keinen künstlerischen För- der- bzw. Freundeskreis zu haben. Er erlebt bedrängend eine zunehmende Sinnentleerung und seelische Verarmung der Gegenwart, der sich auch die Musik nicht entziehen kann, welche sich jedoch gerade bei der Musik als ungemein problematisch erweist, da das Seelisch-Intuitive ja eine musikalische Urdomäne bildet. Schibler versteht sich als naive Musikerintelligenz, welche dennoch die nüchterne Schau zu integrieren versucht: "Intuitives musikalisches Gefühl steht gegen nüchterne Schau und

1 Armin Schibler, Brief an Herbert Barth, Tagebuch 27. April 1952. 2 Armin Schibler, Tagebuch 28. Febr. 1954. 3 Armin Schibler, Tagebuch 24. Mai 1956.

80 Einsicht, und es ist natürlich klar, dass ich nie mehr dem naiven Musiker in mir Folge leisten kann, wenn es sich um diese Entscheidung handelt."1 Er wagt wieder - trotz der Ablehnung durch die Zwölftöner - seiner kompositorisch-musikalischen Begabung und seinem bisherigen Werk Tiefe und Kraft zuzubilligen, auch wenn es nicht auf Resonanz stösst: "Ich habe auch eingesehen, dass ich bisher in meiner Musik viel tiefere Schichten aufgeschlossen habe, als dies gedanklich, vom Wort her je anzudeuten war."2 Schibler entwickelt langsam und aus eigener Erfahrung eine Vision des Auftrags von Musik, welche ihr eine spezielle, religiöse Funktion zuweist (7.2, besonders 7.2.1). Er wagt immer selbstbewusster und entgegen dem Trend der Avantgarde-Musik, hörbare und der Tradition verbundene Musik zu schreiben. Er komponiert nicht intellektualistische Musik als serielle Produktion, sondern lässt – wie der Entstehungsprozess von Media in Vita ein- drücklich zeigt (Kap. 5.4) - Musik aus dem Unbewussten wachsen, die dadurch das Unbe- wusste des Menschen anspricht. Als Ideal einer schöpferischen Person erscheint ihm nicht in erster Linie die Treue zu einem eingeschlagenen Trend bzw. die Spezialisierung in einem neu erschlossenen, oft marginalen Bereich, sondern die Wandlungsfähigkeit eines Menschen: "Tritt uns (bei grossen Menschen wie Picasso, Strawinsky, Bartok, Schönberg) da nicht geradezu als ein schöpferisches Ideal unserer Zeit die Verwandlungsfähigkeit, die künst- lerische Metamorphose entgegen - gerade bei führenden Schaffenden als die einzige 'Kon- stante' ihres Schaffens?"3 Auf diese Weise bildet sich langsam und organisch Schiblers Personalstil heraus, der sich sowohl durch Wandlungsfähigkeit wie auch Konstanz kennzeichnet und der sich organisch unterschiedlicher Musikidiome zu bedienen vermag, ohne dass die Musik in verschiedene Teile zerfällt. Voraussetzung dazu ist eine starke künstlerische Persönlichkeit, die die Gegensätze zu vereinen vermag: "Das sture, fast idiotisch wirkende Wiederholen eines Tones oder einer Tongruppe wäre einzusetzen als Gestaltung triebhafter Vitalität (etwa im 'Sacre'). In einem Streichquartett kann ein Stil erforderlich sein, in welchem jede Tonwiederholung sich ausschliesst, zur Erreichung einer äusserst differenzierter Sensibilität. Warum soll beides und all die andern hundert möglichen Brechungen nicht souverän zum Einsatz gelangen in der Hand des glei- chen Künstlers? Droht heute nicht geradezu ein zu ausgeprägter, über Jahrzehnte beibe- haltener Personalstil (wie etwa bei Hindemith) zum Anzeichen einer beschränkten Emo- tionsweite zu werden? (...) Und wie eine starke Persönlichkeit im Leben alle Gegensätze harmonisch zu vereinen weiss (vom sicheren, überlegenen Gebrauch aller technischen Errungenschaften bis zum Hochhalten individualistischer Intimität) so verwandelt der Schmelztiegel des

1 Armin Schibler, Tagebuch 23. Jan. 1958. 2 Armin Schibler, Tagebuch, Sechseläutentag 1958, Rapperswil. 3 Armin Schibler, Tagebuch, Entwürfe für Avantgarde, (auf der Rückreise von Wuppertal), 20. Okt. 1956.

81 künstlerischen Arbeitsprozesses alle Regungen, woher sie auch kommen, um, in den eigenen umfassenden Ausdruck."1 Schibler weiss, dass diese Vision nicht dem gegenwärtigen Trend entspricht, welcher auf Spezialisierung, das Ausserordentliche, das noch nie Dagewesene aus ist und der sich an technischer Perfektion, nicht am Ausdruck der Seele und des Werkes orientiert. Sich trotz- dem treu zu bleiben erfordert Mut: "Ganz auf mich zurückgeworfen. Nur die innere Notwendigkeit, die bleibt. O ich weiss, es ist leicht zu arbeiten, getragen vom Erfolg! Aber schwer ist es, dann sich treu zu bleiben. (...) Stille ertragen lernen, reifen in einer harmonischen Geduld; trotz allem sich zu ver- wirklichen, dass eines Tages das Geschaffene dasteht, als sei es im Lichte gestanden von der ersten Stunde an - das gilt es zu verwirklichen."2 Nach der Vollendung wichtiger Werke wie Media in Vita (5.4), welche seinem inneren Auftrag entsprechen, zieht Schibler in bezug auf seinen Werdegang 1963 Bilanz: "Gewiss: immer noch Armin Schibler, aber so anders als der frühere, die Szenerie ist weg- gerückt, geblieben ist ein kleiner, aber intensiver Mensch, der genau weiss, wie eng die Grenzen eines Wirkens gesteckt sind. (...) Die einzige Chance ist die Demut vor der Sache, ihr zu dienen und daraus ein weiter nicht bestimmbares Mass an Erheblichkeit zu gewin- nen."3 Einige Jahre später, während seiner Israel-Reise, zieht er bezüglich Wesen und Auftrag seiner Musik Bilanz in seinem Tagebuch: "Gestern sollte ich einem Kritiker hier auf englisch klar machen, was das Besondere an meiner Musik sei. Plötzlich fallen mir wie Schuppen von den Augen, warum so vielen meine Musik ein Rätsel oder ein Ärgernis ist: sie ist, mit ihren Gegensätzen, verschiedensten Bereichen, mit ihrem Bedürfnis nach Einbeziehung der totalen Erfahrung, der Versuch einer Selbstrealisation. Immer war das Schaffen grosser Künstler auch von diesem Standpunkt aus zu betrachten - man denke an die Gegensätze von Jugend- und Alterswerk bei Beethoven, Brahms, an die Gegensätze bei Mozart, die vom Schlagerchen bis zur Kirchenmusik, von der Unterhaltung bis zu den letzten Opern reicht. Die Einheitlichkeit und stilistische Geschlossenheit der früheren Epochen haben bewirkt, das wir diese Gegensätze kaum mehr sehen, immer in allem einfach Mozart erkennen. Heute in der spezialisierten Welt, wo jedes Wesen gezwungen scheint, sich für einen ein- seitigen Bereich zu entscheiden, ist - über die Spaltung der Musik in ernste Musik und Unterhaltung hinaus - die Gegensätzlichkeit eine totale geworden. Wie begreiflich, dass niemand mehr Jazz und Dodekaphonie, Folklore und Intellektualität, Theater, Tanz, Film, Ballett, Kammermusik unter EINEM Blickwinkel sehen will, nämlich unter jenem, dass sie,

1 Armin Schibler, Tagebuch, 20. Okt. 1956. 2 Armin Schibler, Tagebuch 1. Dez. 56. 3 Armin Schibler, Tagebuch 28. Juni 1963 (Ascona).

82 alle zusammen, die totale Aufführung menschlicher Erlebnis- und Gestaltungsform im Bereich der Musik bilden. Jetzt endlich! - wage ich mit gleicher Sympathie all meiner Erfahrungen zu gedenken, denen ich mich oft genug mit schlechtem Gewissen hingab. Jetzt weiss ich, wenn ich hier BLUES für Gitarre schreibe, dass mein Bedürfnis, in einfachste, ja verständlichste Berei- che herabzusteigen, bis hart an die Grenze des 'Erlaubten' (d.h. nicht mehr Individuierba- ren) absolut legitim, ja notwendig ist, als Gegengewicht gegen die esoterischen Gebilde exklusiven, kaum je realisierbaren Theaterarbeiten. Ich glaube, man wird gerade mein Schaffen von der Seite der Jung'schen Psychologie her eines Tages als ein besonders dankbares Objekt dafür entdecken, dass auch die Arten und Bereiche der Musik Archetypen sind, musikgewordene Träume, in denen die gleiche Tendenz zur Kompensation, zum Gleichgewicht in der Ganzheit findbar sein muss wie in der Einwirkung der Träume auf uns."1 Diese Zeilen bilden den Schlussstrich unter einen langen Weg zu sich selber und zur eige- nen musikalischen Identität. Damit setzt er sich in kritische Distanz zu vielen Trends seiner Zeit, vermutlich sogar in Gegensatz zum musikalisch-künstlerischen Klima:

- Eine kritische Distanz entwickelt Schibler insgesamt zum Kunstbetrieb und zur Kultur der Gegenwart.

- Kritisch setzt er sich auch mit der sich beschleunigenden Umweltzerstörung und dem damit einhergehendem Verlust des Seelischen auseinander. In dieser Zeit findet seine künstlerische Arbeit immer wieder neue Ausdrucksmöglichkeiten und Ausweitungen. Konstant in diesem Prozess ist die Gegenwart der die kritische Vernunft in seiner Musik, aber auch das Kindlich-Verspielte, die sich in seiner Kinderoper Urs und Flurina2 (S. 164) zeigt. Immer mehr interessiert er sich für eine Musik, die er A-Musik nennt, und zu der Musikstile wie Folklore, Blues, Jazz, Rock, Negro Spirituals und elektronischer Musik gehören: "Nicht zuletzt meinen musikerzieherischen Erfahrungen verdanke ich den Anstoss, mich im fortgeschrittenen Alter intensiv mit dem zweiten Musikstrom auseinanderzusetzen (ich spreche von A-Musik, die zwischen U- und E-Musik von anderen Wertvorstellungen aus- geht.)" Hilfe leistet ihm bei diesen musikalischen Experimenten sein eigener, musikalisch unver- wechselbarer Personalstil: Seine Musik fällt, auch wenn sie sich neuer Musikidiome bedient, nie auseinander, sondern ist immer gehalten von der eigenen musikalischen Spra- che, musikalischen Archetypen gleich, wie er es in der Tagebuchnotiz nennt. Auch im Bereich des künstlerischen Mediums greift Schibler weiter aus und bleibt nicht bei seinem Leisten: Immer mehr experimentiert er mit Sprache und deren Einbezug in

1 Armin Schibler, Tagebuch 21./23. März 1966, Tel Aviv-Ber-Sheba-Eilat. 2 Urs und Flurina, Jugendoper nach 'Schellenursli' und 'Flurina' von Selina Könz und Alois Carigiet in einem Vorspiel und drei Teilen. Text vom Komponisten (2955/56), Nr. 5, Das Werk 1986, S.22.

83 Musik und entwickelt - nach dem Bemühen um die Oper und dem klassischen Opernbetrieb, welcher ihm jedoch immer weniger Aufführungsmöglichkeiten bietet und ihm zunehmend fragwürdig erscheint - die Gattung des Hörwerkes. Aus Mangel an geeigneten textlichen Vorlagen schreibt er eigene Texte, er wird Textautor (Kap. 6).1 Ab 1966 hat seine künstlerische Arbeit mit ihren krassen Kontrasten und scheinbaren Kehrtwendungen die theoretischen und künstlerischen Fundamente gefunden. Die persön- liche Sicherheit über seinen ureigensten künstlerischen Auftrag hat sich eingestellt. Er ist sich der Vielgestaltigkeit seines Werkes bewusst, wenn er vier Jahre später schreibt: "Blicke ich heute als gut Fünfzigjähriger auf die zweieinhalb Jahrzehnte meiner Arbeit mit ihren krassen Kontrasten und scheinbaren Kehrtwendungen zurück, so rechtfertige ich sie aus der Bemühung, durch die verschiedensten Erfahrungsmöglichkeiten der Existenz, wie die Neue Musik sie bietet, hindurchzugehen."2 Er weiss und erfährt es in Form von negativen Kritiken hautnah, dass sein künstlerischer Werdegang auf Unverständnis stösst: "Man kann mir vorhalten, dass ich Unvereinbares zur Synthese zu bringen scheine." Seine Argumente gegen diese Kritik: "Mir scheint, dass der Schaffende das von seiner Zeit für unmöglich oder untunlich Gehaltene immer von neuem versuchen muss. In diesem Sinn sehe ich die Zukunft der Musik dort, wo sie den GANZEN Menschen in sich aufgenommen haben wird."3 Seine musikalisch-künstlerische Auffassung von Ganzheitlichkeit, dass die verschiedenen Musikstile unterschiedlichen Bereichen des Menschseins zuzuordnen sind und in ihrer Gesamtheit den ganzen Menschen repräsentieren, widerspricht dem Trend zu Spezialisie- rung und Segmentierung seiner musikalischen Umwelt: "Es mag den Anschein haben, als habe ich mich in wachsendem Masse zum jeweils vor- herrschenden Trend quergelegt und mich dessen angenommen, was des allgemeinen Konsensus entbehrte. Im medialen Klima, das gerade den erfolgreichen Kunstschaffenden übermächtig vereinnahmt, ist diese Haltung jene, die ihm erlaubt, unbeirrt seinen Weg zu gehen. Einerseits strengsten künstlerischen Masstäben nachzukommen suchend, habe ich auf der anderen Seite stets für jene komponiert, denen die Musik nach wie vor als eine Gegenkraft zur Verdinglichung des Menschen bedeutsam ist. Meinen scheinbar sprunghaft gegensätzlichen Entwicklungsweg sehe ich als eine natürliche Spirale inneren Reifens, die sich abwechselnd bald den Realitäten der Existenz, bald den inneren Horizonten zugewen- det hat."4 Die experimentierfreudige Vielfalt seines Werkes bringt ihm einerseits einen gewissen Erfolg, macht ihn jedoch auch umstritten, wie die Diskussionen um seinen Stilpluralismus in 10.1.2 (ab S.188) zeigen, wo Schibler weitere Argumente für eine integrierte Vielfalt von Musikstilen in einem Werk anführt. Mit dieser ambivalenten Resonanz wird er in der

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 und 75-82. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.11. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.13. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.15f.

84 Folge zu leben haben. Über seine künstlerisch-geistige Entwicklung bemerkt er im gleichen Tagebucheintrag seiner Israelreise: "Ich hätte nicht durchgehalten ohne die Verwurzelung im Körperlichen; dieses war die Quelle meiner Arbeit, meiner mir verbliebenen Jugendfrische (niemand, besonders hier, will mir meine 45 Jahre glauben!). Der Ring schliesst sich - natürlich war ich zutiefst meiner immer sicher, es waren Dinge, die nicht mit Willen geschahen - aber jetzt darf ich auch die letzten Reste von Unsicherheit ablegen, darf zu mir stehen und sagen, dass ich etwas repräsentiere, was über Erfolg und Zeitgenossenschaft hinausgeht." Und nach einigem Nachdenken (angedeutet durch Sterne) fügt er an: "Also schreibe ich doch wieder von mir selber; nein, es war noch schnell die Niederschrift eines Gedankens, der mir beim Erwachen gekommen war, und den ich noch schnell festhalten wollte, bevor es nun nach Süden geht. Eben hat der Chauffeur der Egged-Dan- Tours nach Sedom und Eilat den Motor angelassen, es geht in GILGAMESCH-Gegenden, durch Wüsten, ans Tote Meer, ans Rote Meer, wo ewiger Sommer herrscht."1 Mit diesen Sätzen endet das Tagebuch. Allzu fundamentale Selbstzweifel haben ein Ende gefunden. Schibler wird sich zwar zeitlebens weiter in Frage stellen, und negative Kritiken und mangelnde Aufführungsmöglichkeiten werden ihn weiterhin kränken und bisweilen sogar lähmen, denn Musik braucht Realisationsmöglichkeiten, um gehört zu werden. Doch die fundamentalsten Zweifel sind ausgestanden, der Künstler hat seine Identität gefunden. Schiblers Musik zeichnet sich dadurch aus, dass sie dem Bedürfnis ihres Schöpfers Aus- druck verleiht, die Vielfalt und Gegensätzlichkeit des Lebens musikalisch-künstlerisch dar- zustellen. Musik, die die Vielfalt des Lebens und die damit verbundenen menschlichen Gefühlslagen ausdrücken will, muss damit die Ganzheit der Gestaltung pflegen. Unter diesem Anspruch entwickelt er seinen musikalischen Personalstil, das nächste Thema.

5.3 Schiblers musikalischer Personalstil

Schibler sieht seinen Personalstils im Spannungsfeld von strukturellen Neuerungen und Tradition: "Mein Schaffen ist seit Anfang geprägt durch den polaren Dualismus zwischen einem die Tradition weiterführenden 'Personalstil' einerseits und dem Eingehen auf jene strukturellen Neuerungen, die unerbittlich das Ende des Subjektivismus und das Überhandnehmen kol- lektiver Trends und Zwänge im technologischen Zeitalter widerspiegeln."2 Schibler hat seine Musiksprache, seinen musikalischen Personalstil auch als archetypisch aufgefasst, als musikgewordene Träume, denen eine Tendenz zur Kompensation, zum Gleichgewicht in der Ganzheit innewohnt, und damit als etwas intuitiv Erfasstes, ihm

1 Armin Schibler, Tagebuch 21./23. März 1966, Tel Aviv-Ber-Sheba-Eilat. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.96.

85 Zugeflogenes und nicht künstlich-rational Gemachtes oder Errechnetes. Immer wieder äussert er sich beglückt über musikalische Funde, die ihm zufallen, ja zureifen (S. 87). Welche musikalische Tendenzen diesen musikgewordenen Träumen innewohnt und was genau diesen musikalischen Personalstil von Schibler unverwechselbar bestimmt und prägt, so dass trotz der Integration von vielfältigen Musikidiomen und Musikstilen Schiblers Musiksprache immer als solche erkennbar bzw. hörbar ist, möchte ich anhand zweier Werke aus unterschiedlichen Schaffensperioden, dem Concerto 59 und La Naissance d'Eros (1985), genauer aufzeigen. Ein wesentliches Element seines Personalstiles ist die chromatische Rückung, mit der bereits in der Passacaglia (neben der Bogenform) experimentierte: "Wo dieses ursprünglich hochromantische Prinzip (der Halbtonrückung, GS.) an Quart und Quint angewendet wird, gewinnt es einen antisubjektiven, ins Harmonikal-Kosmische zielenden Ausdrucksgehalt."1 Im Kommentar zum Concerto 59 nimmt er musikalisch auf die Passacaglia bezug. "Die gegenläufige Halbtonrückung (...) hat sich in der Passacaglia zunächst der reinen Inter- valle bemächtigt und damit eine Rücknahme von Subjektivität (im Gegensatz zur Romantik, Anmerkung GS.) bewirkt."2 Inzwischen habe jedoch das Prinzip auch andere Intervalle, z.B. die Nonen erfasst. Damit verwandle sich "die Ausdrucksspannung der ersten Dissonanz in die zweite, ohne eine Verminderung zu erfahren. Melodische Strebung wie Zusammenklang: beides ist semitonal für das Ohr wohl die äusserste Zumutung, die sich mit einfachen Intervalbeziehungen erzielen lässt."3 Für Schibler ist dieses musikalische Prinzip eine "tönende Formel für die extreme subjek- tive Bedrängnis, aus der kein Ausweg zu finden ist. Wenn über einen weiteren dazwischen- tretenden Halbtonschritt Quarte und Quinte einbezogen werden, dann scheint die Bedräng- nis sozusagen übers Menschliche hinauszuweisen, Natur und Kosmos miteinzubeziehen."4 Diesem musikgewordenen Exempel subjektiver, ja kosmischer Bedrängnis bleibt jedoch nicht unwidersprochen: "Wenn jedoch weitere Töne dazutreten, ergeben sich für diese im Leeren hängenden Wechseldissonanzen plötzlich Bezugspunkte, mildernde Umstände, die sie für das Ohr erträglich machen. Aus den Komplexen vermag es, wenn auch verhüllt und überlagert, die Bezüge zu den einstigen Dreiklängen herauszuhören, ohne die unsere euro- päische Musik offenbar zum akustischen Phänomen verkümmern muss."5 Das Ohr assoziiert also zu den Klängen unweigerlich Dur- oder Mollakkorde: "Jedem der obenstehenden Akkorde vermag das Ohr einen 'vertrauten', von der Dreiklangsharmonik herkommenden Klang zu entnehmen." Die neuen 'Schiblerschen' Akkorde erweisen sich als "Abkömmlinge der bisherigen Terzschichtung; sie sind deshalb von der Hörerfahrung her

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.45. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.49. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.49. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.49. 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.49.

86 aushörbar und 'verständlich' im Sinne gesicherter Sprach- und Mitteilungsfähigkeit". Damit erschafft sich das Ohr eine eigene Hörwelt: "Für den Hörprozess bedeutet dies, dass die 'unlösbare Spannung' unseres Daseinsgefühls, unsere existentielle Verlorenheit nicht letzte Instanz ist. Wer hören will, kann sich hier immer noch 'aufgehoben' spüren, er ist noch in Kontakt mit dem Ordnungssystem, das unsere bisherige europäische Musik ermöglicht hat."1 Nach Schibler bedeutet dies, dass wir (seine) Musik als eine nichtsemantische Sprachmit- teilung, als Botschaft einer nicht-materiellen Existenzsicht nur dann zu hören vermögen, wenn die Beziehung zur (musikalischen) Vergangenheit noch vorhanden ist. Die Musik der Dodekaphonie habe genau das entgegengesetzte Ziel: die Beziehung zur Vergangenheit durch die serielle Reihentechnik zu kappen. Sie sei damit die "Musik existentieller Verlo- renheit in ihrer Absage an das bisherige Hören in der technisch umgewandelten Welt."2 Er selbst hält jedoch am Weiterbestehen und immerwährenden Scheitern der Sehnsucht nach Harmonie und Sinn der Existenz fest, was sich auch im sog. Spaltklang, im gespaltenen Septakkord spiegelt. Schiblers musikalischer Personalstil ist geprägt durch eine Reihe solcher einfacher harmo- nischer und melodischer Komplexe. Manchmal ist es der "Halbtonschritt und seine Kom- plementärformen, grosse Septime und kleine None, über Quarten und Quinten gelagert, welche den früher ungebrochenen 'Wohllaut' überschatten, oder ihn in neuer Form kurz aufscheinen und sofort wieder verschwinden lassen.3“ In Schiblers Musik ist damit die existentielle Verlorenheit hörbar, aber auch die Sehnsucht (und Erfüllung) einer einstigen (zukünftigen) Harmonie. Sie ist Musik der Gegenwart, indem sie sich einem unreflektierten Zugriff auf die Harmonie verweigert. Die musikali- sche Auflösung der Disharmonie erfolgt nur momenthaft und andeutungsweise, immer jedoch ist der Bezug zu Vergangenheit klanglich gegeben und - hoffentlich - mithörbar. Er bemerkt dazu: "Diese handwerklichen Funde haben sich gewiss nicht durch Reflexion ergeben. Sie begeg- nen einem selten genug (alle paar Jahre ergibt sich eine neue solche 'Formel') und ich habe sie stets als ein persönliches Geschenk zur Weiterentwicklung des objektiven musika- lischen Materials - und natürlich meines persönlichen Stils empfunden. In einer Zeit, wo das Attribut 'Personalstil' in gewissen Kreisen beinahe zur Disqualifika- tion gediehen ist, halte ich den behutsamen Umgang mit den Halbtonschritten nach wie vor für wünschenswert - er bedeutet nichts anderes als der gemässe Umgang mit dem Ohr und damit mit unserer Sensibilität."4 Schiblers musikalische Entwicklung wird durch die Integration und Befruchtung durch weitere Musikidiome und Gattungen beeinflusst und bestimmt (Kap. 6): Jazz, Blues,

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.50. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.50. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.51. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.51.

87 Entwicklung des rhythmischen Elementes, elektronische Musik etc. Sein musikalischer Personalstil jedoch bleibt von Dauer, es gibt nichts zu verwerfen. Noch das Werk La Naissance d'Eros (1985, ein Jahr vor seinem Tod) ist musikalisch vom Spaltklang geprägt: "Das Spaltungsmotiv ist für den strukturellen Ablauf der Partitur in beiden Richtungen bestimmend, indem das getrennte menschliche Paar stets die verlorene Urharmonie zu suchen gezwungen ist: vergeblich suchen sich die 'Spaltklänge' zum 'Unisono' zurück zu entwickeln."1

5.4 Der schöpferische Prozess im Schaffen Schiblers am Beispiel Media in Vita

Um eine konkrete Vorstellung zu erhalten, aus welchem kompositorischem Selbstverständ- nis Schibler seine Werke schuf, soll hier der Entstehungsprozess von Media in Vita und die Quellen der Inspiration dieses wichtigen Werkes dokumentiert werden. Er zeigt eindrück- lich, wie Schibler trotz dodekaphonischer Impulse darauf verzichtet, rationalistisch zu komponieren, sondern weiterhin darauf baut, Musik aus dem Unbewussten, aus intuitiv ertastbaren schöpferischen Urgründen wachsen zu lassen - ein schöpferischer Prozess, der seiner Musik gerade im rationalistisch geprägten (und teilweise verbildeten?) Jahrhundert einen besonderen Stellenwert verleiht. Erste Vorstellungen eines Requiems und eines Oratorium finden isch bereits 1944 beim 24jährigen Schibler, als er seine ersten Werkpläne skizziert: "Deshalb zeichnen sich am Horizont meiner Lebenspläne drei grosse Ideen ab: ein Orato- rium 'Orpheus'. In diesem ersten Werk ist das Menschliche der Inhalt, nochmals die Liebe, und erst im Verlust der Gattin erwacht in Orpheus das Ahnen um das Unvermögen des Menschen vor Gott. Der zweite Plan ist das Schöpfungsoratorium, in welchem endlich meine Liebe zur Natur und ihre Einordnung ins Göttliche (also wäre dies der Sinn meines Aarauer Herbariums, meines geologischen Fimmels, und vor allem der bis in die Kindheit zurückreichenden Liebe zur Chemie) gestaltet werden könnte. Hier soll der Mensch einge- ordnet werden und nicht mehr Herr der Schöpfung sein, sondern bescheiden Kreatur auf einem von unzählbaren Himmelskörpern. Dann dachte ich seit jeher an ein Requiem, das ich vielleicht schon vorher beginnen werde. Es wird mir die noch ersparte Auseinanderset- zung mit dem Tode bringen, dessen letzter Sinn wohl die Brücke bildet zwischen der Mate- rie und dem Geist. (Er gehört damit immanent zur Zeugung.)"2 Mit Orpheus - Die Unwiederbringlichkeit des Verlorenen (Texte von A. Goldmann)3 vollendet er 1967/68 den ersten Plan. Den zweiten und dritten Plan realisiert er in einem

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.43. 2 Armin Schibler, Tagebuch 19. Oktober 1944. 3 Orpheus - Die Unwiederbringlichkeit des Verlorenen Für 2 Sprechstimmen, Sopransolo, Frauenchor und Orchester, op. 87, Nr. 65, Das Werk 1986, S.77.

88 einzigen Werk, Media in Vita1, das sowohl Requiem als auch Schöpfungsoratorium in einem ist. Bereits 1946 hält er fest, worum es ihm in diesem Werk geht: "Ich besinge das Ewige nur, weil es wohl das einzig Dauernde ist (für unser Begreifen dau- ernd: Erde, Gebirge, Meer, Gestirne, Welten) das besungen werden kann. Das Dauernde richtet zugleich all unser menschlich Tun. Und nur was wir in Erfüllung ewiger Gesetze tun und erleben, (Liebe und Sinnsuche) kann vor diesem hohen Gerichte bestehen. In solcher Perspektive sehe ich mein kommendes Oratorium: 'Das Leben des Menschen' - Einordnung des Menschen ins All, ins ewige Weben und Streben. Und nun beginne ich - eine kleine Ameise schreibt ein Blättchen voll und wähnt sich dabei allzuwichtig. Wesentlich daran ist nur, dass sich das Ewige in diesem Tun ein wenig spie- gelt... O was ist alles!"2 Die Beschäftigung mit diesem Werkplan nimmt er nach dem Abschied von Darmstadt (S. 59) und der sich nun abzeichnenden künstlerischen Aussenseiterrolle (S. 64) wieder auf. In der Zeit der nun folgenden künstlerischen Einsamkeit entdeckt Schibler (neben der bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnten Inspiration durch Werke von Strawinsky und Bartok) das Werk von Gustav Mahler. Bereits in seiner Kindheit hatte er Mahlers Lied von der Erde gehört, ein Erlebnis, welches biographisch bedeutsam wurde: "Mein frühestes Erlebnis eines beispielhaften Vokalwerkes, des LIEDS VON DER ERDE von Gustav Mahler, das ich noch im Schulalter am Radio hörte, dürfte die spätere Ent- scheidung, meinen weiteren Weg nicht zum Schriftsteller, sondern zum Komponisten zu verfolgen, mitbestimmt haben. Wo das Wort am Ende ist, beim Unsagbaren, tritt die Musik in ihre ureigenste Domäne; wo diese wiederum verschwommen bleiben muss, gibt sie die Klärung der Situation der Sprache zurück. Dieses Werk Mahlers hat mich unbewusst geleitet in der lebenslangen Suche nach einem erneuerten Gleichgewicht von Musik und Sprache, das mir in seiner Vielschichtigkeit eine Annäherung an das Geheimnis unserer Existenz versprach, wie ich sie nirgends sonst zu finden glaubte. Mahler hat das irrationale und eigentlich nur noch musikalisch begreifbare Wort EWIG am Ende des Werkes selbst hinzugefügt!"3 Pfingsten 1954 kommt es zur Wiederentdeckung von Gustav Mahler, die er – nun beruflich etabliert und erwachsen – so beschreibt: "Am letzten Dienstag wurde in der Zürcher Tonhalle die 6. Sinfonie von Gustav Mahler zum erstenmal aufgeführt unter Rosbaud, der damit eine ganz grosse Interpretenleistung vollbrachte. Ich sass weit weg vom Orchester, im kleinen Saal, so dass ich die Dimensionen des Werkes in räumlicher Stimmigkeit erleben konnte: es wurde zu einem der grössten Musikerlebnisse meines Lebens, diesmal im Sinne einer innersten Bestätigung meines eigenen Wesens. Ich

1 Media in Vita, op. 48, Sinfonisches Oratorium auf 18 Gedichte von C.F. Meyer für 4 Gesangssolisten, gemischten Chor, Männerchor und Sinfonieorchester (1958/59), Nr. 48, Das Werk 1986, S.61. 2 Armin Schibler, Tagebuch 2. April 1946 (Piz Sol-Hütte, 22oo m). 3 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz 17.

89 erlebte meine eigene Natur - vor fünfzig, ja vor sechzig Jahren hat da einer gelebt, der als Musiker damals schon das gleiche Ziel hatte: Zusammenschluss von Natur und Geist zur Wesenseinheit. Das war alles echte Konstruktion, trotz achtzig Minuten Dauer nie ermü- dend, weil herausgewachsen aus den Tiefen einer nach Selbstverwirklichung ringenden Psyche. Was ich noch nie an einem komplexen grossen Werk gefühlt hatte: immer wusste ich, wo ich stand, mit allen Bezügen des Formalen nach vorwärts und rückwärts. Hier war auch das Letzte gewollt, nach menschlichem Mass auch erreicht - aber zerschlagen vom Hammer des Schicksals, dreimal und zum dritten Mal für immer. Das Fallen des Hammers, das ich mit Auge und Ohr angstvoll erwartete, wurde mir zum Sinnbild über das Subjektive hinaus ins kollektive Schicksal unserer Kultur, die dem dritten vernichtenden Schlag entge- genwächst, dem endgültig vernichtenden. Dem gegenüber die reine Innenwelt, das ursprüngliche Dasein, verbunden mit Erde und naturlogisch (wie der Hammerschlag) versinnbildlicht durch die hinter der Bühne erklin- genden Herdenglocken. Ich schauderte vor Ergriffenheit, kämpfte vergebens gegen die Tränen. Wenn es diese Musik gibt, - dann darf ich mich (bei allen Unterschieden) gestärkt und bestätigt fühlen. Musik des ganzen SEINS und SINNS, letztes Abbild der menschlichen Existenz mit allen Bezügen nach oben und unten. Köstlich wie die Spiesser kläffen. Dieselbe Ratlosigkeit wie gegenüber meiner 2. Sinfonie - das hätte mich, wenn nötig, nachträglich noch getröstet. Es war eine richtige Entdeckung. Wie Kinder zogen wir nach dem Konzert, zu Hause, unser Mahlerbuch aus dem Regal und lasen bis tief in die Nacht hinein. Wie war auch in diesem Menschen alles auf den kleinen, aber glühenden Kreis der innersten Existenz bezogen. Das war ein MENSCH, - und kann man mehr erreichen? Vor dem Urkern der inneren Existenz verblasst alles Modische, Zeitbedingte, alle Ent- wicklung von Wirtschaft und Technik. Und Gustav Mahler lebt. Es war als wäre er in den letzten Tagen bei uns zu Gast gewesen, immer dachten wir wieder an ihn."1 Er lässt aus Amerika Langspielplatten mit allen erhältlichen Aufnahmen von Mahlers Musik kommen. Mit seiner Ehefrau Tatjana besucht er das Grab Gustav Mahlers in Wien, um dem grossen Komponisten Reverenz zu erweisen: "Im milden Licht eines verklärten Herbstnachmittages brachten wir heute Blumen an Gustav Mahlers Grab auf dem Grintzinger Friedhof. Auf dem schlichten, hohen Grabstein steht nur in grossen Lettern sein Name - nicht einmal sein Todesjahr. Fern jeder Senti- mentalität hörte ich in mir die 'Auferstehungsmusik' aus der zweiten Sinfonie, und klar sah ich dieses Menschen wunderbares Antlitz vor mir, und in Gedanken wurde für einen Augenblick mein Gesicht identisch mit dem seinen, von innen heraus geführt, auch mit Brille, hagerem Hals und scharf ausgeprägten Zügen. Das Ewige, immer Neue in der Kunst: Du trittst an seine Stelle, seine Kämpfe erneuern sich in dir. Das müsste Mut machen, wenn notwendig - Entlastung des persönlichen Miss- geschicks oder der fehlenden Resonanz durch den Dienst an der Sache...

1 Armin Schibler, Tagebuch Pfingsten 1954.

90 Und schon schweift der Gedanke in die Zukunft: ob eines Tages auch einmal ein Junger wie ich an meine Grabstätte treten wird, in seinem Herzen meine Musik?"1 Schibler spürt mit Gustav Mahler viele Gemeinsamkeiten, ja eine Selenverwandschaft: "Das (d.h. die Vereinigung der Gegensätzlichkeiten des 'Elfenbeinturms' - Hinabsteigen in die Wirklichkeit, Anmerkung GS.) ist, fällt mir eben ein, das Gustav Mahlersche in mir. Die beiden Extreme hiessen bei ihm Volksmusik und hohe sinfonische Verarbeitungstechnik. Die Sinfonie hatte damals eine soziale Geltung, die heute nur noch die Oper besitzt. So verlagert sich notgedrungen die Mahlersche Problematik in die Oper. So echt und rein die Extreme bei Mahler waren und die Synthese durch den weltanschaulichen Grund vollzogen wurde, so muss es mir gelingen, in beiden Extremen etwas Echtes und Zwingendes zu sagen."2 Auch im Erfolg der Uraufführung seiner Kammeroper Die späte Sühne im Frühling 1955 begleitet ihn der grosse Gustav Mahler: "...wie ich bei allem eines sicher wusste, dass ich auf dem rechten Weg war, und dass mich nichts mehr, auch der Erfolg nicht, beirren könnte. Nachts zwei Uhr bei uns, als unser liebevoll geplanter 'Mitternachtsimbiss' von den Theaterleuten verzehrt war, hörten wir noch den ersten Satz der Zweiten von Mahler. Das letzte Wort - er sollte es haben und die absolute Musik."3 Die Begegnung mit der Musik Mahlers ermutigt Schibler, zu sich und seinen musikali- schen Stärken zu stehen. Denn - angeregt durch die musikalische Klangfülle Mahlerscher Werke - schreibt er das Werk Media in Vita, dessen Musik erneut von einer grossen klanglichen Expressivität ist, harmonikal füllig und reich, wie er wohl ohne die Inspiration durch Mahler nicht zu komponieren gewagt hätte. Der Titel des Werkes Media in Vita entspricht zudem der eigenen persönlichen Situation: Erstmals hat er mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu tun, als er an einer schwerer Lungenentzündung erkrankt. Nach der Genesung, die einige Zeit der Erholung in Arosa braucht, schreibt er wieder in voller Kraft: "Gefühl von 'Mitte des Lebens'! Überfülle, Gesundheit, völlige Erfüllung aller wichtigen Wesenselemente. Sind mir meine Grenzen sichtbar: eigentlich nicht. Denn ich verwandle mich ständig, und Räume hinter mir entschwinden, neue tun sich auf. Immer wieder vor einem Einschlafen falte ich die Hände und bete wie ein Kind und danke für soviel Glück, das es mich nicht verleite zur Unwesentlichkeit und zum Schein."4 Diese Fülle von Kraft und Glück steht in besonderem Kontrast zu seiner zunehmenden künstlerischen Einsamkeit, denn das Echo von aussen bleibt aus und er fühlt sich immer unverstandener:

1 Armin Schibler, Tagebuch 16. Oktober 1954. 2 Armin Schibler, Tagebuch 28. Oktober 1954. 3 Armin Schibler, Tagebuch 29. April 1955. 4 Armin Schibler, Tagebuch 14. Dez. 1955, Arosa.

91 "Habe ich einen einzigen Menschen, dem mein Schaffen so etwas bedeutet wie tägliches Brot zum Leben, so wie das etwa für mich mit Aernis Malerei der Fall ist (Aerni ist ein Malerfreund Schiblers, Anmerkung GS.)? Dabei strecke ich überwach meine Fühler aus, um einen solchen Menschen zu finden, ergreife die leisesten Chancen zur Zusammenarbeit und bin bereit, meine Arbeit in den Dienst eines sozialen Sinnes zu stellen. Ein Beispiel: Vorgestern deutete mir der Zürcher Musiker Gohl an, er suche ein Werk für sein 'offenes Singen' im Juni, bei welchem der Gemeinschaftschor mitbeteiligt wäre - ich realisierte blitzschnell die Lösung im Sinne einer Chorpassacaglia und vollendete heute morgen den 'Chor der Toten' für zwei Chöre, Orchester und Orgel, der wohl eine völlig neue musikali- sche Form aus neuer Art des Musizierens heraus darstellt. Dafür triumphieren überall (wie seit je) die Mächte, hinter welche sich die Phalanx der Mittelmässigkeit verschanzt hat. Ich unterdrücke alle Regungen des Verkanntseins in mir, aber manchmal wäre es doch unendlich schön, zu wissen, dass man in den Augen von zwei, drei Menschen objektiv gesehen und erlebt würde... (...) Das Schicksal muss Grosses mit mir vorhaben, dass es mir nichts, aber auch gar nichts leicht macht - ausser dem Schaffen und den familiär-existentiellen Problemen. Aber dafür schaffe ich in absoluter Freiheit, was ich schaffen muss. Ein Blick aus dem Fenster: Blutrot senkt sich die Wintersonne hinter das Dach eines Bauernhauses, vergittert von kahlen Zweigen. Tiefer, kalter Winter, die Seen gefroren, eine klirrende Starre der Natur. Diese Sonne, die sich senkt, richtet alles, auch diese Gedan- ken.... Die kleine Depression ist vorüber, die Fragen verstummen, und ich ruhe wieder in mir. Alles ist gut so. Die Sonne stellt alles ins Mass. Vor ihr bin ich Kreatur und wachse, wie ich eben wachsen kann zwischen den Möglichkeiten des Seins und des Nichts. Ich lebe - das muss erneut genügen; gegen alle menschliche Unzulänglichkeit hilft immer wieder nur die Demut."1 Hier deutet sich schon an, wie Schibler die ersehnte, doch ausbleibende Resonanz seines Werkes bewältigt: im Komponieren. Eine vage Anregung durch einen Musikerkollegen wird zum äusseren Anlass eines ersten kompositorischen Anlaufs. Ihm gelingt es, sich vor Gefühlen des Haderns und der Bitterkeit zu schützen, jedoch nicht ganz ohne Preis: Er ver- fällt nach seinen Worten in eine 'kleine Depression'. Aber auch dagegen weiss er sich zu helfen: Das Wahrnehmen der Grösse der Schöpfung angesichts einer untergehenden Sonne in einer Winterlandschaft hilft ihm aus der Depression: Sie relativiert Sorgen und Bitterkeit und lässt ihn wieder in Einklang mit den Rhythmen der Natur und des Ganzen gelangen. Diese Art der Bewältigung wird in Schiblers Leben noch öfters zum Zuge kommen. Die fehlende Resonanz, die mangelnde künstlerische Anerkennung und das Verkanntwerden bleiben und intensivieren sich sogar als bittere Erfahrung, Zeitlebens wird er vergeblich auf breitere Anerkennung hoffen. Da ist es immer wieder der Blick auf das eigene private Glück der Familie und des Berufes und die Relativierung der eigenen Existenz durch die

1 Armin Schibler, Tagebuch 20. Februar 1956, Buchenegg.

92 Erfahrung der Grösse und Grossartigkeit des Universums und des 'Trostes' der Natur, was ihn aus einem Tief künstlerischer Einsamkeit zu reissen vermag. Media in Vita als gesamtes Werk unternimmt Ähnliches, nur in grösserem Umfang. Ange- sichts des Fortschritteifers der westlichen Welt besinnt sich dieses Werk auf die kreatür- liche Dimension und das Todesereignis, auf die Rückbindung des Menschen in seine Gren- zen und sein Mass – und das inmitten des Gefühls unendlich schäumender Lebensfreude. Der Mensch fühlt sich in der Mitte, also der Fülle seines Lebens nach wie vor grenzenlos in seiner Schaffenskraft und ist dennoch erfüllt vom Bewusstsein der Begrenztheit des Lebens. Die kreatürliche Dimension des Lebens - im Tagebuch die tellurisch untergehende Sonne – bewirkt, sich auf Wesentliches zu besinnen, angesichts dessen relativiert sich alles Irdische, die Gegenwart mit ihren Zeitströmungen und Modetrends. Lehrmeisterin ist vor allem Schiblers eigene Lebenssituation: Da werden Impulse von aus- sen wie im Beispiel durch den Musiker Gohl dankbar aufgenommen; der Komponist fühlt sich in seiner eigentlichen Musiksprache durch die Begegnung mit der Musik Mahlers be- stärkt, die mögliche Hoffnung auf eine Realisierung eines Werkes spornt an, denn wie gesagt drängt Musik zur Aufführung, um gehört werden. Die erwähnte ‚kleine Depression‘ und ihre Überwindung durch Erleben von Natur sind der Boden, in dem ein solches Werk keimt. Hizu kommt am 21.3.1956 noch ein aufwühlendes privates Ereignis: "Kann ein Glück vollkommener sein, kann mich das Schicksal noch höher heben als ins dreifache Vaterglück? Heute früh nach 4 Uhr wurde uns Regina geschenkt. Kaum hatte der Wasserbruch Njuscha aus dem Schlaf geschreckt, begannen stossweise die Wehen, es war kein Zweifel mehr. In aller Hast wurde das kleine Köfferchen gepackt, das Taxi bestellt, das Schwesternheim vom Roten Kreuz benachrichtigt. Kaum oben angelangt, bevor die Hebamme wach ist, bevor die Instrumente im Kessel kochen, liegt Njuscha schon auf dem gleichen Bett, wo Thomas und Christian geboren wurden, und hat Presswehen. Der schwarze Haarschopf quillt schon hervor, die Schwester stellt mit dem Hörrohr die Herz- töne des kommenden Wesens fest. Kaum hat der Professor die Jacke angezogen und die Gummihandschuhe übergestreift, taucht der Kopf hervor, und mit einem Handgriff platscht das rotblaue Geschöpf in die Linnen: ein Mädchen!!! (ich denke merkwürdigerweise an Mahlers Tochter Alma Maria.) (...) Über Mittag ein Telephon aus München, dass in zwei Wochen Fritz Rieger meine Passacaglia am Rundfunk macht. Auch hier: ein Hoffnungs- streifen für mein innerlichstes, geliebtestes Werk, das kurz nach Thomas Geburt ent- stand..." Und am Sonntag, den 24. März fährt er fort: "Die ersten drei Teile zu einem C.F. Meyer-Requiem sind entstanden: 'Chor der Toten', 'Schnitterlied', 'Säerspruch'. Ich fühle mich wieder in meinem ureigensten Bereich. (...) Einige zweiflerische, mutlose Wochen sind überwunden, im Erlebnis der Geburt Reginas rückten die Erfolgssehnsüchte weit in den Hintergrund. Meine innerste Lebensburg ist aus

93 granitenen Quadern errichtet und gewährt mir Schutz und Geborgenheit vor der launi- schen Unbeständigkeit der Welt."1 Schibler ist zwar mitten in anderen künstlerischen Projekten, doch er unterbricht diese aus innerer Notwendigkeit, um an Media in Vita zu arbeiten. "Mitten in der Arbeit am 'Jubiläumsbett' unterbrach ich - ein letzter, ganz grober Verstoss von Aerni gegen unser seit langem labiles Verhältnis gab mir so zu denken und zu 'verwinden', dass ich das Bedürfnis empfand, mich in mein Eigenstes zurückzuziehen. Schon im Februar war (von einer äusseren Anregung ausgehend) der 'Chor der Toten' ent- standen. Seither war kaum ein Tag vergangen, dass ich mich nicht immer tiefer in die Welt C.F. Meyers versenkte. Zunächst sah ich das Werk als 'Requiem', mit einer glühenden An- tithese von Leben und Tod. Dann entstand Schlag auf Schlag die Folge der ersten zehn Gedichte, die erste Hälfte des Oratoriums, ein Hohelied auf die Fülle des Lebens, hinter welcher schon die Gewitter der Vergänglichkeit und des Todes zittern. Ein wunderbares Schaffen, höchste Glücksfülle, die ich erneut erfahren durfte, ein beweg- ter Dank auf die Geburt meiner Tochter wie es die 'Passacaglia' nach den Mondnächten auf Capri und Thomas Geburt gewesen war. Media in vita sum..."2 Die Arbeit an Media gedeiht. Auf einer Reise nach Wuppertal notiert er: "Zu Beginn dieses Monats beendete ich das Particell zum zweiten Teil des C.F. Meyer- Oratoriums. Oh - ich weiss Grösse und Grenze und Bereich dieses Werkes ganz genau. Es ist ein verzweifelter Versuch für Bedingungen, wie sie nur noch als letzte Inseln da und dort, vor allem in der Schweiz, vorhanden sind. Goldmann war beeindruckt von 'Dämmerung', meine Frau nicht weniger. Ich gleiche einem Brennstoffhändler, der über riesige Brennholzvorräte (feines getrocknetes, lange brennendes Hartholz!) verfügt. Aber leider feuern nur wenige Haushaltungen mit Holz .... Aber mir selber ist warm dabei."3 Ein Werk ist am Entstehen, bei dem er sich in seinem ureigensten Element fühlt, von dem er jedoch ahnt, dass es zu seinen Lebzeiten kein Publikum finden wird. Er ist dennoch von der Grösse und Bedeutung des Werkes überzeugt und fest entschlossen, es trotz Resonanzlosigkeit und Gegenläufigkeit zum Zeittrend zu schreiben. Am Neujahrsmorgen 1957 wird der Entwurf des Oratoriums in einer markanter Schlussphase abgeschlossen, wobei ein turbulentes äusseres Umfeld Geburtshelferdienste leistet: "Tiefverschneite, hartgefrorene Weihnachts- und Neujahrstage liegen hinter uns. Am 21. 12. stiess ich einen Kinderwagen voller Weihnachtspakete von Waltikon her durch die neb- lige Nacht auf den Süssplätz. Kaum war die Temperatur des Hauses über 10 Grad gestie- gen, sass ich schon am kühltastigen Klavier und hatte eine erste Idee für 'Nähe des Todes', dem letzten Teil meines C.F. Meyer-Oratoriums. Am andern Morgen brachte Heinz Schan-

1 Armin Schibler, Tagebuch 21. und 24. März 1956. 2 Armin Schibler, Tagebuch 24. Mai 1956, Darmstadt. 3 Armin Schibler, Tagebuch 18. Okt. 1956, im Zug nach Wuppertal.

94 zenbach, mein zukünftiger Schwager, die Familie, samt Familie und Gerda, unsere neue Hilfe aus Hannover, und einer Unmenge Bagage. Trotz einer zweistündigen Wanderung über die Kapf wollte die Arbeitsstimmung nicht kommen (und interessant, als am Neujahr alles fertig war, zeigte sich, dass der ganze Teil nicht mit 'Ende des Festes' anfangen kann). Nachts zehn Uhr, bei einem Blick in die Nacht hinaus, war schon alles weiss, und es schneite. Am 23. kam 'Schillers Bestattung', und nun vermochte nichts mehr zu bremsen, nicht einmal die Tatsache, dass mir aus lauter Gastfreundschaft Miss Shorts Zimmer mit dem zweiten Klavier versagt blieb. Die Schwiegereltern samt Miss Short kamen am 23. bei Schneefall an, und nun war das Haus am Waldrand voll geistigen und kulinarischen Lebens, und die Kaffeemaschine brodelte oft. Aduli hatte für die Buben eine Robinsonhütte aufstellen lassen, die nun ständig im Betrieb war und von mir später als Saunahütte aus- probiert wurde. 'Weihgeschenk', nicht eines der besten Gedichte, aber notwendig um des oratorischen Rahmens und des Gehaltes wegen, machte erneut Schwierigkeiten. Denn ich bin gewohnt, dass das Reifgewordene direkt aus dem Unbewussten auf Papier kommt, ohne Zögern, ohne Suchen... Das dritte Orchesterzwischenspiel wuchs am Silvestertag, an dessen Spätnachmittag Tan- juscha und ich über Aesch nach Maur wanderten. Beim Einnachten begrüssten wir kurz Paul Müller1 im 'Stephansbürgli'. Am Neujahrsmorgen gegen zwölf war mein Oratorium beendet, und wenige Stunden später entwarf ich schon neue 'Tanzstudien' am Klavier. Es ist ein herrliches Geschenk, wenn es so strömt und es nur hie und da einer Tasse Kaffee bedarf, um alles in Schwingung zu bringen!"2 Diese Notizen zeigen: Media in Vita ist in einem schöpferischen Guss entstanden und aus reicher Fülle geschöpft. Der zweite Hauptteil wurde innerhalb einer Woche komponiert. Ein Hohelied auf die Fülle des Lebens, hat Schibler dieses Werk genannt. Hans Erismann, der Dirigent der Uraufführung und der ersten Schallplatteneinspielung, schreibt zur Einfüh- rung: "Dem Stoff entsprechend, dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind, benützt Schib- ler oft die strengen Formen. Das Werk beginnt mit einer Passacaglia auf ein 16taktiges Thema mit acht Variationen... Das ganze Werk gliedert sich in den INTROITUS und die drei Teile FÜLLE DES LEBENS - VISION - NÄHE DES TODES. Im INTROITUS auf das Gedicht 'Chor der Toten' stehen sich die Lebenden (gemischter Chor) und die Toten (Männerchor) gegenüber. Der Männerchor trägt das starre, unerbittliche Thema siebenmal vor, während sich der gemischte Chor darüber in lebensvollen Variationen ergeht."3 In der Musik selber ereignet sich damit ein Kampf zwischen Tod und Leben, das unerbitt- liche Grundmotiv des Basses steht dem variantenreichen Leben gegenüber und holt es zum

1 Zürcher Komponist 2 Armin Schibler, Tagebuch 10. Jan. 57, Schweikhof bei Sihlbrugg. 3 Hans Erismann, Einführung zu Media in Vita, Schallplatte PAN 130 066, Zürich 1982.

95 Schluss schicksalsschwer wieder ein. Schibler benutzt damit ähnliche musikalische Stilmittel wie bei seiner Passacaglia (S. 179.) Schibler schreibt Jahrzehnte später zu seinem Werk: "Mir ist kürzlich das Klavierpartizell in die Hand gekommen, das die Jahreszahl 58/59 trägt. Ich muss mir der 'Gegenaktualität' der Textvorlage und damit meiner Vertonung bewusst gewesen sein - schrieb ich doch über den noch provisorischen Werktitel Media vita in morte sumus den Leitgedanken: 'Die untergehenden Welten werden am innigsten besungen.' ... Was mochte mich damals bewegen - der grosse Boom begann eben die westliche Welt dem Fortschrittsfieber zu überantworten - Texte von C.F. Meyer zu einem sinfonisch-oratorischen Ganzen zu fügen, eine Gedichtsfolge, die den Menschen als behutsamen Partner von Tier und Pflanze im Naturzyklus zeigt, als Sämann, als Erntenden, als in der Fülle seiner physischen Kraft Stehenden, der zuletzt an sich selbst den Herbst des Lebens erfährt, sein nahendes Ende als natürliche Heimkehr in den Ursprung!"1 Media in Vita stellt zwar eine sich immer deutlicher abzeichnende Fortschrittsgläubigkeit in Frage, jedoch kann nicht von Fortschrittsfeindlichkeit die Rede sein. Auch aus musika- lischer Sicht "kann Media in Vita nicht als reaktionäres, das Gestrige verklärendes Oratorienwerk angesehen werden. Es brauchte Eigenständigkeit, wenn nicht Mut, sich durch Jahrzehnte dem herrschenden Modernismus zu entziehen."2 Media in Vita fasst in Musik, worin der Mensch und Künstler Armin Schibler den Flucht- punkt all seiner Auseinandersetzungen mit dem Leben erblickte: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Im rechten Licht besehen, befreit uns das von der Angst vor dem Tode. Unser tägliches Daseins erfährt so eine heilsame Relativierung, aus der heraus wir – so paradox es klingen mag – unser Leben intensiver leben können. Media in Vita stellt nicht den ersten künstlerischen Niederschlag Schiblers Auseinander- setzung mit dem Tod dar, es steht ‚mitten‘ in einer Reihe verschiedener Werke. Nicht erst in der 'Mitte des Lebens', bereits als junger Mensch zeigt sich in Schibler eine ausserge- wöhnliche Affinität zum Thema Tod - Anlass, ihr ein ganzes Kapitel (Kap. 9) zu widmen.

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.64. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.64.

96 6 Das Tönende durch das Wort verbindlich machen: Hörwerke

"Meine Arbeit von 1970 bis 1980 ist von meinen 'Hörwerken' geprägt. Diese sind das Resultat der jahrzehntelangen Suche nach dem Gleichgewicht zwischen Gefühls- und Denkbereich, zwischen Musik und Sprache. Der Verzicht auf grössere Bühnenprojekte, der mich für fast 20 Jahre dem Musiktheater fernhielt, schuf die Voraussetzung für das 'Hör- werk' als dem geeigneten Gefäss, mit dem ich das musikdramatische Bedürfnis stillen und zudem meine literarische Komponente in Form eigener Texte in mein Schaffen integrieren konnte. Dabei ergab sich für die stilistische, ans Pluralistische grenzende Vielfalt meiner früheren Werkphasen die überhöhende Synthese."1 Die 20 'langen' Jahren, in denen Schibler an der Konzeption des Hörwerkes arbeitet, deuten an, wie wichtig ihm diese Arbeit war. Nicht von ungefähr betrachtet er seine Hörwerke, welche grösstenteils zwischen 1970 und 1980 entstehen, als einen seiner wichtigsten Bei- träge zur Musikgeschichte: "Auch wenn sich das Dutzend meiner Hörwerke in der Praxis den erhofften Platz bis heute nicht erobern konnte, sehe ich darin meinen eigenständigsten Beitrag an die Musikszene."2 Bevor ich mich der Konzeption des Hörwerkes zuwende, werde ich zunächst auf die Entstehung und besonders das Anliegen eingehen, das Schibler mit dieser Werkgattung verfolgte.

6.1 Vom Musiktheater zum Hörwerk

Zwei Hauptmotive lassen sich ausmachen, die Schibler zur Entwicklung des Hörwerkes drängen: Sein Bedürfnis, Wort und Musik eine gemeinsame künstlerische Form zu geben, und die Suche nach einer persönlich-künstlerischen Antwort auf die Probleme des Zeitge- schehens.

6.1.1 Die Allgegenwart des Wortes in Schiblers Werk Für den Musiker und Komponisten Schibler ist am Anfang immer das Wort als Rhythmus, als Klang und Bedeutungsträger. Diese Nähe zum Wort zeigt sich früh als ein ausgespro- chener Drang zu eigener schriftstellerischen Aktivität. Als Knabe träumt er vom Leben eines Schriftstellers und versucht sich als Sekundarschüler an einem Roman.3 Seine schriftstellerisch-poetische Begabung drängt immer wieder hervor, wenn er in besonderen Momenten seines Lebens seine Empfindungen und Gedanken seinem Tagebuch anvertraut, oft in poetischer Dichte, wie die vielen in diesem Buch zitierten Auszüge zeigen. Bei Schiblers Begabung für das Wort erstaunt es nicht, dass er bereits früh Werke für das Musiktheater schreibt. Mit Der spanische Rosenstock nach einer Novelle von Werner

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.13. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.13. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.132.

97 Bergengruen gelingt ihm auch ein erfolgreicher Einstieg in die Oper. Nach dessen Urauf- führung im Jahre 1950 schreibt Schibler enthusiastisch in sein Tagebuch: "Vor sieben Wochen ward in Bern der 'Rosenstock' zu szenischer Wirklichkeit gebracht, ein vor allem in meine künstlerische Zukunft weisendes praktisches Ereignis, das mir endgültig die Überzeugung gab, dass ich für die Oper zutiefst bestimmt bin."1 Diese Bestimmung für die Oper gründet für Schibler auf seinem starken Drang und seiner Begabung zur Gestaltung integraler, ganzheitlicher Werke, wie auch die folgenden Opern Der Teufel im Winterpalais2 (1950/52, ebenfalls nach einer Novelle von Werner Bergen- gruen) und Die späte Sühne (Die Füsse im Feuer3, 1953/ 54) zeigen. Die Gewissheit seiner Bestimmung wird jedoch bald durch aufflammende Zweifel radikal in Frage gestellt. Bereits wenige Monate nach der ersten Begegnung mit der Neuen Musik in den Darmstädter Ferienkursen (Kap. 3.1) schreibt er : "Wie in romantische Jugendferne versinkt der 'Rosenstock'. Ich sehe ein; so geht es wirk- lich nicht, das ist nichts als Ausflucht, Scheinerfüllung, Aberglaube statt wahrer Zeitschau, traditioneller Aufriss statt kühne Gestaltung der eigenen Zeit. Noch ist kein Jahr seit Bern vergangen, und ich versuche dankbar zu sein, dass keine andere Bühne mein Werk angenommen hat."4 Doch bald packt ihn wieder die Vision des integralen Werkes, des totalen Theaters in Gestalt der Oper, die er als Gesamtkunstwerk gestalten will, indem verschiedene künst- lerische Medien in den Dienst einer Werkidee, eines Stoffes treten. Ein solches Gesamt- kunstwerk vermag ein sichtbares Zeichen zu setzen, dass "eine Gemeinschaft sich einen Mittelpunkt, einen Sinn zu geben vermag. Damit gewinnt es eine rituelle, wenn nicht sogar eine religiöse Dimension. Im Gesamtkunstwerk erfüllt sich ein alter Traum der Mensch- heit, nämlich der Wunsch, ein Fest zu feiern."5 Als experimentierfreudiger Künstler strebt Schibler eine Synthese möglichst vieler Medien an: Musik, Sprache, besonders in der Form des Theaters, Bild (sowohl Bühnenbild als auch Film) und Tanz (Ballett). Die Beschränkung auf die reine Musik – trotz ihres hohen Stellenwertes als Botschafterin und Vermittlerin des Geheimnisses und des Göttlichen (S. 17) – stellt für seine Kunstauffassung nur eine spezifische Möglichkeit neben vielen weiteren Möglichkeiten der Verbindung und Ergänzung der künstlerischen Medien dar. Für die Verwirklichung des integralen Werkes ist er immer auf der Suche nach geeigneten Textvorlagen. So vertont er Gedichte und Texte von Dichtern der Vergangenheit und Gegenwart. Im Laufe seines Lebens sind das - in alphabetischer Reihenfolge - die Dichter

1 Armin Schibler, Tagebuch, 27. Mai 1950. 2 Der Teufel im Winterpalais, Oper in drei Akten (8 Bildern) nach der Novelle von Werner Bergengruen. Text von Gustav Specht und Julius Kapp, Nr. 2, Das Werk 1986, S.19. 3 Die Späte Sühne (Die Füsse im Feuer), Kammeroper in einem Akt nach der Ballade von C.F. Meyer. Textbuch vom Komponisten, Nr. 3, Das Werk 1986, S.20. 4 Armin Schibler, Tagebuch Dez. 1950. 5 Thomas Schacher, Armin Schibler und das Musiktheater, Sacher Archiv Basel, undatiert.

98 Alfred Andersch, Hans Christian Andersen, Hans Arp, Werner Bergengruen, Erika Burk- hart, Ernesto Cardenal, Jeremias Gotthelf, Martin Gregor-Dellin, Gottfried Gretler, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, Ramon Jimenez, Conrad Ferdinand Meyer, Christian Morgenstern, Angelus Silesius, Carl Spitteler, Paul Valery, Karl Heinz Waggerl, Thornton Wilder, Stefan Zweig und Albin Zollinger. Als hellwacher Teilnehmer am Geschehen seiner Zeit kann ihn dies allein nicht befriedi- gen, da er damit nicht zu Zeitproblemen in künstlerischer Form Stellung beziehen kann. Er sucht deshalb die Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Schriftstellern. Er gewinnt dafür den leider früh verstorbenen Alfons Rosenberg; Max Allenspach verfasst das Textbuch zum Rosenstock nach einer Novelle von Werner Bergengruen; Gustav Specht und Julius Kapp sind die Coautoren des Textes der Oper Der Teufel im Winterpalais. Besonders in der Zusammenarbeit mit Alfred Goldmann entstehen eine Vielzahl von Opern und Werken der Hörwerkphase: Blackwood und Co., Orpheus, Enkidus Tod, Antworten bitte und Musica Conjugalis. Bereits in frühen Werken wie Gefährten, vermehrt jedoch ab 1970 verwendet er eigene Texte, Gedichte und Kurzgeschichten als Vorlagen für seine Hörwerke. Dennoch legt er Wert darauf, nicht als Schriftsteller verstanden zu werden: "Ich möchte meine nach 1970 wieder aufgenommene Textarbeit einzig im Zusammenhang mit meiner musikdramatischen Komponente betrachtet wissen."1

6.1.2 Frühe kritische Stellungnahme zum Zeitgeschehen Gesellschaftspolitische Themen und Zeitfragen drängen sich wie gesagt bereits früh mit Macht in Schiblers Denken und künstlerisches Werk und verlangen nach Gestaltung. Damit entstehen jedoch eine Fülle von neuen künstlerischen Fragen und Herausforderungen. In einem Brief an seinen Bruder Alfred schreibt er 1951: "...ein Grundthema unserer Zeit: wie noch leben dürfen, wie die Freude und eigenstes Glück empfinden angesichts des Bewusstseins, dass zur gleichen Stunde Millionen von Menschen aufs Schrecklichste gequält und als Arbeitsvieh zu Tode genutzt werden? Und da erstaunt man, wenn im Künstler als Seismographen seiner Zeit das Entsetzen und Grauen, selbst wenn es hinter hundert Gebirgen entfernt sich ereignet, in seinem Werk die stärksten Ausschläge verursacht, so dass neben diesen Weltbeben des Menschheitsverbrechens die Lokalbeben des persönlichen Erlebens völlig in den Hintergrund treten? Gerade die Kunst, sofern sie eine wahre und ehrliche sein will, muss danach trachten, stets des gequälten Bruders eingedenk zu sein, zu mahnen und zu wehren..."2 Schiblers Mitfühlen mit dem Leiden Millionen von Strafgefangener in den Lagern des Gulags in Russland wird zu einem inständigen Bedürfnis, dieses Leiden künstlerisch zu Klang, zur Sprache zu bringen:

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.132. 2 Armin Schibler, Tagebuch 15. Okt. 1951.

99 "Immer wieder beschäftigt es mich, aus einer nicht zu beschwichtigenden Verantwortung heraus, dass heute etwas getan werden muss, um uns vor einem der schrecklichsten Ereig- nisse unserer Zeit, das sich seit Jahren täglich und stündlich hundertfach begibt, aufzurüt- teln zu brüderlicher Tat! Immer wieder sage ich mir, dass die echte Kunst selbst das Zeit- bedingte zu assimilieren vermöge: Fidelio war zeitbedingt und ist trotzdem zeitlos".1 Vom Ansatz her ist das Musiktheater für Schibler das Medium, um auf die Erfordernisse der Zeit zu reagieren und nicht im Schein und in Ausflucht zu verharren. Doch es hat nicht die Form, mit der sich seine künstlerischen Vorstellungen adäquat gestalten lassen, denn der Text spielt eine untergeordnete Rolle und ist zumeist als gesungene Sprache nicht verständlich. Sein Ziel erreicht er erst mit seiner Konzeption der Hörwerke. Bis es so weit sein wird, werden wie erwähnt noch Jahre vergehen. Ein erster Ausgangspunkt ist der Werkplan für eine Oper zweigeteilte Welt. Während der Arbeit daran erkennt er, dass die Wirklichkeit mit ihrer Problematik inhärent ambivalent ist und dass diese Ambivalenz im Werk selber einen künstlerischen Ausdruck finden muss: "Bei der Niederschrift dieser Gedanken wird mir plötzlich klar, weshalb der Plan zu mei- ner Schauspieloper 'zweigeteilte Welt' nicht stimmig ist. Dort gehe ich nämlich von der Annahme aus, dass die Welt in eine schreckliche und in eine dem Idealen zugewendete Hälfte zerfallen sei. Wäre es nur so!"2 Angesichts der überwältigenden Zeitprobleme stellt Schibler zeitweise nicht nur die über- kommenen Kunstformen in Frage, sondern die Möglichkeiten von Kunst überhaupt: "Vielleicht ist bei diesem Plan die Situation der Zeit so sehr ins Material niedergeschlagen, dass überhaupt nicht mehr von einem Kunstwerk gesprochen werden könnte. Vielleicht ist dies die einzige völlige Erfassung der Wahrheit: zuzugeben, dass es nichts mehr Gestaltba- res, (als Idee) Hinzustellendes mehr gibt - dass uns damit auch die Kunst abgestorben ist und wir längst aufgehört haben, ein Kulturvolk zu sein. Dass wir in die Niederungen der Geschichte zurückgetreten sind, in welchen nur noch Gesetze der Natur sich erfüllen, dass wir nicht mehr homines sapientes, sondern homines cupidine acti sind, Kreaturen, dem blinden Zufall, nicht dem Göttlichen zugetan."3 Doch diese Zweifel sind nur vorübergehender Natur, denn er setzt seine Arbeit an der Gat- tung Hörwerk fort.

1 Armin Schibler, Tagebuch 10. Okt. 1952. 2 Armin Schibler, Tagebuch 10. Okt. 1952. 3 Armin Schibler, Tagebuch Febr. 1953.

100 6.1.3 Literarische Zeugnisse zur behaftbaren künstlerischen Aussage Zur Entstehungsgeschichte der Hörwerke gehören auch zahlreiche literarische Zeugnisse, die die Intensität zeigen, mit der er um den behaftbaren künstlerischen Ausdruck ringt, die ständig begleitende Frage im Verlaufe der Entwicklung der Hörwerkform. Schibler geht diese Frage grundlegend an, indem er sich mit der Wirkmächtigkeit und besonders mit dem Missbrauch von Musik befasst. Das Grundschema dieser literarischen Arbeiten lässt sich so fassen: Im Mittelpunkt steht ein Einzelgänger, der die Einseitigkeiten seines Faches durchbrechen will und der aus Not an der Not zu anderen Ausdrucksmitteln als den ihm zugebilligten greift, um in dem wahrgenommen zu werden, was er wirklich mitteilen will und muss. Es geht dem Protago- nisten um die Suche nach einer künstlerischen Form der Aussage, welche es ihm ermöglicht, behaftbar zu werden. Dieses Szenario imaginiert er zunächst in Tagebuchform: "Man stelle sich vor, dass mitten in einen Abend mit Kammermusik, in das unverbindliche Träumen der Zuhörer hinein, das präzis ortende Wort hereinbräche! Ob nun der junge Pianist selber die Lippen bewegt und zu sprechen beginnt (was ein Glücksfall wäre), oder ob der neben ihm Sitzende, den man zunächst für einen Seitenwender halten mochte, auf- steht und sich als Sprecher erweist - es ist ein neues Klima geschaffen. Die Klangfolgen aus dem Klavier erweisen plötzlich wieder ihre stellvertretende Präsenz für das, was dem Menschen widerfährt. Dieses Konzert - es würde zum Tribunal, das unerbittlich den Kom- pass des Gewissens zu Rate ziehend, unser Abweichen vom Weg bestimmen könnte. (Schönbergs zentrales Anliegen, das seither so gründlich verraten wurde.)"1 In der Kurzgeschichte Der Mime nimmt sich ein Mime vor, aus der Sprachlosigkeit auszubrechen. Das Grundszenarium wird so ausgestaltet: "Schon lange wollte er reden, er weiss, was endlich einmal gesagt sein müsste. Vor jeder Vorstellung, wenn er vom Saal her das erwartungsvolle Stimmengewirr vernimmt, spürt er den Stich auf der Brust, der ihn daran erinnert, dass er nicht länger schweigen darf. Doch ihm ist im Rampenlicht alles erlaubt ausser zu sprechen; da er sich den Spielregeln einigermassen fügen gelernt hat, ist er zu Ruhm gelangt. Solange er bei seinen Spässen bleibt, die in Wahrheit eine einzige erbitterte Anklage sind, wird seine Kunst auch von jenen toleriert, die ein Interesse daran haben, dass von niemand ausgesprochen wird, was alle im Innersten wissen, aber nicht wahrhaben wollen. Wo immer sein Name und sein trauriges Gesicht von den Affichen herab werben, strömen die Leute zusammen, um ange- sichts der Zuckungen seines Mimenspiels ihre starren Gesichter zu lockern und ihn stell- vertretend weinen zu sehen."2 Der Mime schafft jedoch den Sprung in ein anderes, behaftbares künstlerisches Medium nicht. Er riskiert zwar die Worte "Wenn atemlose Stille sich im Saal verbreitet und selbst

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.116, Anmerkungen zum Werk Möglichkeiten einer Fahrt, op. 89 für Sprechstimme und Klavier auf Texte von Martin Gregor-Delin (1967/68). 2 Armin Schibler, Texte 1971-74 24.

101 die Kindern nicht mehr kichern, weiss der Agent, dass der Mime sich wieder einmal zum letzten entschlossen hat." Doch die wenigen ausgesprochenen Sätze "Wir sind verloren, hören sie ihn sagen. - Dieser Verrat, ungeheuerlich, sagt er. - Wollt ihr euch denn alle"), geraten ihm zum professionell gespielten Gag: "Die Zuschauer sind jetzt unsicher, ob die Worte und sein Verstummen nicht doch zur Programmnummer gehören. Sie beobachten, wie der Schweiss auf die Stirn des Mimen tritt, der am ganzen Körper zittert, sich mit der flachen Hand gegen den Mund schlägt und dann seitlich zu Boden stürzt. Kaum vernimmt man noch sein Stöhnen und den Fistelton seiner hilflosen Schluchzer, denn schon bricht tosender Beifall ein und will nicht enden, obgleich den Künstler, auf den Wink des Bühnenmeisters, ein plötzliches Black-out den lüsternen Blicken entzieht."1 Der Versuch des Mimen missglückt, weil die Zuhörer in allem, was er produziert, die Nummer, die gekonnte Unterhaltung sehen. In der Geschichte Jenseits der Grenze2 wagt die Hauptperson der Erzählung einen Spazier- gang, in dessen Verlauf sie den Weg verliert. Der Mann gerät in ein nebliges Niemandsland zur Grenze, "wo der Machtbereich seiner Welt endet." Er glaubt, Stimmen zu hören, bleibt stehen und horcht: "Es sind Laute anderer Art: ihm ist, als streife ihn keuchender Atem, ein Geseufze, das über ihn hinweggleitet. Es entfernt sich, kommt als vielstimmiges Pfeifen zurück; hohe Töne sind es, zirpend und schrill. Die Töne setzen sich gegeneinander ab, bilden Gruppen akustischer Zeichen, kurze und gedehntere in raschem Wechsel, wie Signale, die irgendwo jemand aussendet, pausenlos, für wen bestimmt? Stille dann. Später glaubt er die Laute ganz nahe und ihm zur Seite." Der Mann betritt nach längerem Suchen ein Gebäude, in dem Männer, Frauen und Kinder kauernd an der Arbeit sind: "Ihm aber ist, als stehe er mitten im Gesang. Wohin er blickt, von einem Gesicht zum andern, bewegt sich kein Mund, die Lippen sind aufeinander gepresst, was den Gesichts- zügen den Ausdruck abgekämpfter Gleichgültigkeit verleiht. Und doch singt es aus ihnen, die er um sich ihrer Verrichtung hingegeben sieht, wie mit Urgewalt, als seien sie den Klängen willenlos ausgeliefert und ihrer nicht bewusst. Jetzt schwellen sie an, immer dich- ter das Geflecht der Stimmen, kaum unterscheidet er sie noch nach ihrer Höhe oder Tiefe, die eine tönend bewegte Fläche bilden, aus der bald die einen, bald andere hervortreten. Sie verschmelzen zu einem Flukturieren zwischen Wohllaut und Klage, Klänge von über- wältigender Schönheit dringen auf ihn ein, als sei die Erlösung greifbar nahe, um dann wieder, wie eine getäuschte Hoffnung, sich einzutrüben in den Ausdruck grenzenloser, Erde und Kosmos umfassender Verzweiflung."3 Den Mann erfasst selber abgrundtiefe Trauer, er erkennt, dass er Nutzniesser des Missbrauchs dieser Menschen über Grenzen hinweg ist und realisiert, dass er sich schämen

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 25-26. 2 Armin Schibler, Texte 1971-74 89-97. 3 Armin Schibler, Texte 1971-74 93.

102 müsste. Er sucht die Nähe zu den Menschen, findet jedoch das passende Wort nicht, bleibt stumm. Schlussendlich wird er weggewiesen und findet wieder zurück in seine Welt. Bemerkenswert in dieser Geschichte ist die Funktion der Stimme und damit der Musik überhaupt. Es singt aus den Missbrauchten als Urgewalt, als Klage, ja als grenzenlose, Erde und Kosmos umfassende Verzweiflung, aber auch - erstaunlicherweise - als Wohllaut und in Klängen überwältigender Schönheit. Diese Klänge sind nicht komponiert, sondern kollektiver Ausdruck von Leid und Sehnsucht, welcher - welches Geheimnis - nicht Kako- phonie ergibt, sondern wohlgeordnete, fast tellurische Schönheit. Diese Schönheit - und das ist die zweite Funktion dieser Musik - vermag auch den Mann zu berühren „als habe das Tönende einen Riss durch sein Inneres blossgelegt..“. Eigentümlich dabei ist: Der stimmliche Ausdruck der Menschen (Schmerz, Klage, Trauer etc.) ergibt gleichsam von selbst Musik, nichts ist somit dem Ausdruck der Seele näher als der stimmlich- musikalische Ausdruck. Dieser musikgewordenen Klage der Welt jedoch gelingt es in der Geschichte nicht, von irgend jemandem sonst als den Klagenden und ihren Aufsehern gehört zu werden, damit verklingt sie nutzlos und bleibt (wenigstens) Trost für die Entrechteten. Ähnliche Motive finden sich in einer Geschichte Wohnung zu vermieten. Ein junges Paar bezieht eine auffallend preiswerte Wohnung, deren perverses Geheimnis sich mit der Zeit offenbart: Sonderbare Geräusche dringen nachts hinüber, Schläge, qualvolles Stöhnen, Schreie. "Da wird gefoltert," realisiert das Paar. Es beginnt zu musizieren, der Lärm wird leiser, verstummt fast. "Dieses Spiel wiederholt sich Abend für Abend. Wir erkaufen unsere Nachtstille, indem wir die Ärmsten in den Schlaf spielen; etwas anderes können wir nicht tun, weil wir sonst die Wohnung sofort wieder verlieren würden und Gefahr liefen, selber dort hinüber verbracht zu werden, wo verhört und gefoltert wird. Wenn unser Gesang sich hören lässt, scheint sich in den Folterknechten ein Rest Menschlichkeit zu regen; die Kraft ihrer Peitschenhiebe erlahmt, vielleicht zünden sie sich eine Zigarre an, um uns zuzuhören und dabei an ihre Frauen und Kinder zu denken. Wenn wir müde sind, vor Anstrengung der Schweiss auf unserer Stirne steht, brauchen wir uns nur vorzustellen, wie auf der andern Seite die Ver- zweifelten ihr Ohr an die Mauer pressen, um uns besser zu hören, und wir verdoppeln unseren Fleiss, erfinden neue, noch kühnere Modulationen."1 Das Paar entdeckt, dass sich hinter ihrem Wohnhaus, welches das Geburtshaus des sich an der Macht befindenden Grossen ist, ein Gefängnis befindet. Der Hall der Luftschächte und die Mauereisen verstärken in beide Richtungen Geräusche und Töne. Trotz dieser grausigen Entdeckung entschliessen sich die beiden zu bleiben: "Wir verdienen sozusagen unsere Zärtlichkeiten ab, Nacht für Nacht, mit unseren tröstlichen, bald traurigen Melodien, die durch die Mauer zu den Hoffnungslosen dringen." Auch in dieser Geschichte vermittelt Musik Trost in einer ausweglosen Situation und Nähe zu Menschen, weil sie über geheimnisvolle Wege Eingang in die dunkelsten und

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 21.

103 verborgensten Gefängnisse findet. Auch hier ist jedoch die Macht der Musik begrenzt: Sie vermag zwar zu trösten, jedoch nicht zu ändern, sie vermag zu lindern, jedoch nicht zu erlösen. Näher zur Möglichkeit, tiefergreifende Änderungen durch Musik herbeizuführen, führt die Erzählung "Die Stunde des Gerichts". Ein Organist plant nach Jahren pflichtgemässer Erfüllung seiner Organisten-Pflichten sein musikalisches Attentat: "Auf den Jahrestag der Machtergreifung, da der General mit seinem Gefolge zum Gottesdienst zu erscheinen pflegt, bereitet er sein Attentat vor. Nicht länger wird er die Schmach erdulden, den Machthabern willfährig zu sein und mit seiner Kunst ihren offenkundigen Verrat zu verherrlichen."1 Alles ist vorbereitet. Der Musiker weiss, wie er mit Hilfe seines Instruments die gerechte Apokalypse herbeiführen kann: "Vor Jericho haben Geschrei und Trompetenstösse die Mauern umgelegt; der gewitzte Musiker kennt die Möglichkeiten seiner Orgel..." Er wird die Orgel in ein tönendes Gerichtsmittel verwandeln: "Die Gesangbücher hat er bereits aus dem Kirchenschiff heraufgeschleppt, sie liegen bereit, er wird sie auf Manuale und Pedale schichten, bis die letzte Taste vom Gewicht niedergedrückt ist, dann zieht er bei vollem Gebläse Register auf Register, türmt Klang auf Klang. Er glaubt zu spüren, wie unten die erlauchte Versammlung, wie von Schlägen getroffen, die Hände auf die schmerzenden Ohren presst und entsetzt zu den Ausgängen flieht. Er schenkt kein Erbarmen, die Mixturen sind an der Reihe, vom Schallblitz zerber- sten die Scheiben. Noch hat er die sechzehnfüssigen Basspfeifen, die bis zur Decke ragen, nicht eingesetzt; als er den letzten Knauf zieht, erzittert von ihren Schwingungen der Bau. Der erste Stein bröckelt aus dem Kapitell der Säule, sie wankt, knickt ein, das ungeheure Brausen der Orgel vermischt sich mit dem Krachen des Gebälks und dem Donnern des einstürzenden Gewölbes, das Schicksal ereilt die Schuldigen." Damit gelangen Möglichkeiten des Widerstandes durch Musik in den Blick: Der Musiker könnte sich dem Missbrauch seiner Kunst verweigern. Doch schlussendlich tut er es nicht: Die Untergangsszenerie erweist sich als Allmachtsphantasie des Organisten, der weiterhin gehorsam nach salbungsvoller Rede kunstvolle kontrapunktische Gewebe und Fugen into- niert. Der Organist musste scheitern, weil Musik aus sich allein heraus, sich nur der Spra- che der Töne bedienend, keinerlei Möglichkeiten hat, diesem Teufelskreis zu entkommen. Hier hilft nur der Wechsel in die Sprache. Der Gedanke, die Kraft der Musik durch den Einbezug von Sprache zu potenzieren, wird ebenfalls in mehreren Kurzgeschichten ausgestaltet. In Lagebericht aus dem Sektor Musik2 geht es zunächst um die Möglichkeiten und Grenzen des (ausübenden) Musikers: "Täusche dich nicht: die Bewunderung, die man dir bis anhin zollte, galt dem Fingersport, dem Tanz auf dem hohen Seil, mit dem du den Machthabern den Nachtisch würztest. Das

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 8. 2 Armin Schibler, Texte 1971-74 114 - 116.

104 deine Töne nährt, dein Mitleid, hatte niemals Kurswert, noch immer bist du der Miss- brauchte und Verratene." Musiker leben in einer paradoxen Wirklichkeit: Es ist ihr musikalisch formulierter Gefühls- reichtum, der ihre Kunst bedeutsam werden lässt, doch nicht diesen bewundert der Kunst- verstand bzw. der Zuhörer, sondern allein den Fingersport, die technische Brillianz bzw. Effekthascherei: "Schreie, gestikuliere, wälze dich am Boden, du bemühter Musikant, nähe dich in einen Sack ein, zertrümmere deine Geige auf dem Kopf einer Blondine - es hilft nichts, es hört nur deinesgleichen auf deine allerletzten Tricks. Die andern sind hinter ihren Geschäften und Genüssen und wollen durch deine Misstöne nicht gestört werden, mit denen du sie zu beunruhigen suchst." Folgende Anweisung ergeht in der Geschichte an den Musikanten, einen Geiger: "Nimm deine Geige, spiele, wie sie es von dir erwarten, und wenn du zum Höhepunkt ansetzest, alle auf deine über das Griffbrett huschenden Hände starren, gespannt in der Erwartung jener erlösenden Wendung, die ihnen den Beweis für die Güte und Gerechtigkeit der bestehenden Verhältnisse liefert; dann brich ab und lass die Arme sinken." Der Tabubruch erfolgt deshalb schockartig, weil der Geiger eine jahrhundertealte Erwar- tung an sein künstlerisches Metier enttäuscht und die erlösende Wendung verweigert. "Ins atemlose Schweigen hinein, das nur von Herzschlägen wie von fernen Pauken durch- pocht sein wird, sprich leise, Silbe für Silbe, die Namen der Orte aus, wo die Wahrheit über uns sich offenbarte: Hiroshima, Nagasaki, Verdun, Dünkirchen, Stalingrad, Auschwitz, Dachau, Theresienstadt, Bergen-Belsen, Majdanek, Babij Jar, Darniza, Zarizyn, Guernica, Bangla Desh, Tibet, Leros: rede deutlich und beschleunige die Folge dieser Namen, damit du durchkommst, bevor das Festival zuende geht. Sie werden nicht wagen, den Saal zu verlassen, werden stehen und schweigen: deine Hörer. Vertraue darauf, dass jenem, der etwas zu sagen hat, das richtige Wort heranreift. Vielleicht sind die Töne der Sprache etwas rauher, doch reichen sie weiter, ins Wirkliche."1 Mit diesem subversiven künstlerischen Akt, mit diesem Tabubruch erführe der vom Orga- nisten nur fantasierte Akt des Widerstandes seine Erfüllung: Durch das Mittel der Macht- ausübung durch das Wort weist der Musiker auf Leidensstätten und Stätten des Grauens hin. Damit wird der Missbrauch von Musik verunmöglicht. Doch auch der Geiger schafft den Ausstieg aus der eigenen künstlerischen Begrenzung durch sein Metier nicht. Schibler wählt in Lagebericht bezeichnenderweise den Imperativ und nicht die Erzählform als literarische Form. Es bleibt Anstoss und Auftrag, den Tabu- bruch zu begehen und zu versuchen, die rauhe Sprache der Wirklichkeit in die Töne der Musik zu integrieren. Denn in einer Situation von "Wes Brot ich ess, des Lied ich sing hat der Pakt des Kunstbetriebs mit der gesellschaftlichen Realität viele von uns zu Mitläufern

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 115.

105 und Mitverantwortlichen gemacht; die Kunst droht sich dabei ihres erst vor Generationen übernommenen Anliegens zu begeben, für den malträtierten Menschen einzustehen."1 Erst wenn der Pakt mit der gesellschaftlichen Realität aufgekündigt wird, werden tiefste Mög- lichkeiten von Musik und Kunst hör- und sichtbar.

6.2 Die Konzeption des Hörwerkes

Bei der Entwicklung des Hörwerkes geht Schibler von einem Verhältnis von Musik und Sprache aus, das schon den Schöpfern der antiken klassischen Tragödien vertraut war: Die Möglichkeit, die sinnliche Erfahrung des Klangs mit der Verdeutlichung durch das Wort zu durchdringen: "In der Einheit der altgriechischen Musikè trug das Wort den Rhythmus, möglicherweise sogar den Ton der gesanglichen Rezitation. Sprachliches und Musikalisches wirkten als Einheit auf den hörenden Menschen ein, und wir wissen um die erzielte Erschütterung der miterlebenden Gemeinschaft durch die Katharsis der Tragödie."2 Dieses machtvolle Zusammenspiels von Klang und Wort sucht auch Schibler künstlerisch zu verwirklichen.

6.2.1 Synergetisches Gleichgewicht von Musik und Sprache – Fundament des Hörwerkes "Auf einer Flöte, hörst du - ? die fernen Töne. Dumpfe Schläge auf der Trommel - ein anderer Raum tut sich auf, der Alltag verblasst. Du hörst auf zu denken. Es reisst dich ins Kreatürliche; dir ist, als rede im Tönenden der Urgrund zu dir, in der Sprache, die vor den Sprachen war und vor dem Menschen schon redete. Dir ist mit einemmal leicht, du bewegst dich wie schwebend, fühlst dich heimgerufen und wieder aufgenommen dort, wo du früher einmal warst."3 Musik und Sprache – gemeinsam ist ihnen Rhythmus (Symbol Trommel) und Klang (Flöte) - sind 'schwesterliche' Äusserungsformen der Wahrheit: Sie übermitteln dem Menschen die Botschaft einer transzendenten Welt, jenseits unserer vorläufigen Geschäftigkeit. Indem sich Musik der Sprache bedient, greift sie zurück auf eine Alltagserfahrung: "Das Erlebnis der Wirklichkeit als pausenloser Wechsel zwischen Gedanke und Empfin- dung. Das Gefühlhafte ständig durchblitzt von Reflexionen, die jenes aufs rascheste zer- setzt und verändert." Schibler überträgt diese Erfahrung auf das Hören: Der Mensch ist fähig, sowohl einem musikalischen Ablauf zu folgen, als auch - zwar nicht gleichzeitig, so doch im raschen

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 107. 2 Armin Schibler, Grundsätzliches zur Suche nach einer neuen Sinngebung der Musik 5. 3 Armin Schibler, Musik und Sprache, Manuskript zur Radioproduktion ‚Grenzgang zwischen Musik und Sprache‘, Radio DRS 2. Programm, 18. Sept. 1973, Paul Sacher Stiftung, Basel.

106 Wechsel - den Sinn eines Textes aufzunehmen. Dank dieses Oszillierens zwischen unter- schiedlichen psychischen Funktionen (vom Gefühlsbereich zur Ratio und umgekehrt) ver- flacht bei kunstgemässer Anwendung die Hörerfahrung nicht, sondern verdichtet und inten- siviert sich. Musik hilft der Sprache, unter die Haut zu gehen, Sprache bewahrt die Musik vor Unverbindlichkeit: "Wo nicht das Tönende durch ein Wort verbindlich gemacht wird, droht dieses als Plät- schern hingenommen zu werden, bleibt geistiges Vergnügen, dient der privaten delectatio animae. Wem das genügt, der fordere nicht mehr von den Tönen. Doch zusammen mit dem Wort vermag die Musik zur bewegenden Kraft zu werden, die ins Wirkliche eingreift, mahnt, anklagt, dein Gewissen wachruft, Veränderung fordert: muss daran erinnert wer- den, wie sehr jetzt wieder die Machthaber weltweit die Lieder der Freiheit fürchten?"1 Diese Praxis der Gleichzeitigkeit von Musik und Sprache wird Melodrama genannt. Sie beinhaltet Chancen und Gefahren: Das melodramatische Verfahren erweist sich nach Schibler als ein "möglicher Ausweg aus jener Sackgasse hochspezialisierter Isolierung, in welche die anspruchsvolle Musik unserer Zeit geraten ist und dies in einer Weise - das muss betont werden - in der am musikalischen Ethos kein Verrat geübt wird."2 Die Gefahren liegen im illustrativen Missbrauch der Musik: "Insofern das Melodrama der Musik ein aussermusikalisches Anderes beifügt, weist es eine ähnliche Achillesferse künst- lerischen Misslingens auf wie einst die Programm-Musik: wo nicht strenge Kontrolle am Werk ist, droht das Musikalische zur Illustration abzusinken"3 Mit Aphoristik lässt sich diese Gefahr vermeiden: "Der kurzatmige aphoristische Stil eignet sich deshalb für die melodramatische Technik, weil das Eingehen auf den Text nicht weiter zu gehen braucht, als ihm Zäsuren und Nahtstellen einzuräumen, er wird nicht 'vertont', sondern er tritt unter Wahrung seiner Autonomie der Musik gegenüber; es sei denn, zur Gewinnung eines besonderen, meist beschwörenden Klimas, werde er rhyth- misiert, zerdehnt oder mehrstimmig polyphon geschichtet, was insbesondere die Sprechchortechnik aus Gründen präziser Koinzidenz im Chorischen verlangt."4 Schibler besteht auf einer künstlerischen Gleichwertigkeit von Wort und Musik, damit das sprachliche Kunstwerk nicht 'vom Gewoge des Orchesters überrollt wird'. Musik beweist ihre Eigenständigkeit in einem künstlerischem Stück, wenn sie auch ohne Kenntnis der literarischen Absicht künstlerisch bestehen kann. Erreicht wird das durch ein "klares Nacheinander von Sprechszene und Gesangsstück, wie einst im Singspiel, eine immer noch mögliche saubere Lösung, während das Verfahren, den originalen Text ganzer

1 Armin Schibler, Musik und Sprache 4. 2 Armin Schibler, Musik und Sprache 7. 3 Armin Schibler, Musik und Sprache 9. 4 Armin Schibler, Musik und Sprache 9.

107 Schauspiele in Opern zu verwandeln, scheitern muss, wenn der Komponist das gedankliche Wort verunklart, ohne anderswo Gewinne für seine Musik herauszuschlagen."1 Indem Schibler ein Handlungsgeschehen - eine dramatische Komponente - in ein musikali- sches Werk mittels Sprache integriert, ergibt sich im eigentlichen Sinn des Wortes ein Hör- Werk: "Die Bezeichnung 'Hörwerk' meint in der ersten Silbe das Musikalische, im 'Werk' das Dramatische, das sich in direkter Rede oder in erzählender Form einsetzen lässt. Dass dazu die reichen bisherigen Vertonungspraktiken treten und in offen gelassenen Feldern die reine Musik zum Zug kommt, versteht sich."2 Eine solche Verbindung von Musik und Sprache stösst - dessen ist sich Schibler bewusst - wiederum auf die Kritik von Spezialisten, diesmal solcher, welche an der Reinheit von Musik oder Sprache festhalten. Ihren kritischen Einwände hält er entgegen: "Wer die Erheblichkeit eines solchen Werkes wie bisher einzig von der musikalischen Qualität her gelten lassen will, nimmt eine wesentliche Bewusstseinserweiterung im Bereich des Hörens nicht zur Kenntnis und setzt sich dem Vorwurf jenes beschränkten Fachhorizontes aus, mit dem Wagner schon zu kämpfen hatte, als man ihm Grenzüber- schreitung und Zerstörung der musikalischen Autonomie vorwarf, ohne von der Einheit einer umfassenderen Aussage seines Werks Kenntnis nehmen zu wollen, zu dessen Gunsten sie vorgenommen waren."3 Der Trend zur Spezialisierung auch in den Künsten hat die Bereiche bis zum extremen Gegensatz auseinanderentwickelt; das ist jedoch aus der Sicht der künstlerischen Aussage ein Verlust, kein Gewinn: "allergisch weist heutige Sprache den Rückfall ins Musikalische zurück, um nüchtern Kritik an den Verhältnissen zu üben. Im Zeitalter des Spezialisierten entkleiden die Musiker das Wort seiner literarischen Eigenschaft; es dient ihnen als Bau- material für die musikalische Konstruktion. Texte zu vertonen ist für viele bedenklich geworden, sie empfinden, es werde der Musik Fremdes aufgesetzt. Man bedient sich (allen- falls, GS.) des Worts, um es in seine phonetischen Bestandteile zu zerlegen, es wird mit Konsonanten und Vokalen, ja mit dem Atemgeräusch komponiert. Der Stimmapparat ist zum Klanggenerator geworden, das Wort zum Phonem."4 Auf Bedeutung, Aussage und Sinn wird jedoch dadurch verzichtet. Solche akustischen Möglichkeiten des Umgangs mit Sprache interessieren Schibler nur am Rande bzw. nur da, wo sie im Dienst einer Aussage stehen. Ein Musikjounalist beschreibt Schiblers Anliegen in Abgrenzung zu anderen Intentionen folgendermassen: "Nicht der Schrei, das Lallen, das Zersetzen oder Zerstören der her- kömmlichen Sprache ist das, was er sucht und musikalisch verwendet, sondern das klar

1 Armin Schibler, Musik und Sprache 13. 2 Armin Schibler, Musik und Sprache 19. 3 Armin Schibler, Musik und Sprache 19. 4 Armin Schibler, Musik und Sprache 2.

108 verständliche Wort, der zusammenhängende Satz, die klare Aussage."1 Und er ergänzt, dass für Schibler die Wirkung der Sprache nicht nur auf einer klaren Aussage beruht, sondern auch auf ihren Klängen und Tönen: "Was er anstrebt - er nennt es 'Hörwerk' -, ist eine Synthese von Sprache (sie soll kritisches Denken, ohne Gesangszwang und befreit vom Pathos des Melodramas, vermitteln), Musik (für den Ausdruck gefühlsorientierter Inner- lichkeit) und Assoziation (keine Theaterkulisse, sondern die weit überlegene Bildphantasie des Hörers soll angeregt werden)."2

6.2.2 Gestaltungsprinzipien im Hörwerk Schibler hat das Werk zweigeteilte Welt nicht zur Aufführungsreife gebracht, doch das im Werkplan entwickelte Konzept einer besonderen Verbindung von Musik und Sprache übernimmt er als wesentliches Gestaltungsprinzipien der Gattung Hörwerke. Insgesamt las- sen sich sechs Prinzipien oder Elemente herausarbeiten: Verbindung von Musik und Sprache: Beibehaltung der Eigenständigkeit beider Medien unter gegenseitiger Bezogenheit Wirklichkeit und die fundamentale Bedeutung des Scheins: Bei seiner Arbeit an der Oper Der Teufel im Winterpalais kommt er nicht darum herum, sich intensiv mit dem Faktum Schein auseinanderzusetzen, bis er die Wirklichkeit und die fundamentale Bedeu- tung des Scheins akzeptiert: "Mindestens zum zehnten Mal baue ich meinen 'Teufel' wieder um. (...) Manchmal entgehe ich den Selbstvorwürfen nicht, dass ich inmitten eines ehrlichen und unerbittlichen Den- kens hier einfach am Schein festhalte.... Aber - Schein wird es immer geben, jedes Sein verwirklicht sich auch im Schein."3 Kontradiktorische künstlerische Gestaltung: Für Schibler wird es zwingend, dass die Probleme unserer Zeit, mit denen sich noch viele seiner Werke beschäftigen werden, wie die Zerstörung der Umwelt, der Machtmissbrauch4, die zunehmende Kommerzialisierung aller Lebensbereiche (auch der Musik), die Verelendung grosser Menschenmassen, nur in kontradiktorisch künstlerischer Gestaltung ihren Ausdruck finden können. Das Besondere dieser Probleme ist, dass auch Menschen – unter ihnen der Künstler – die keinen direkt verursachenden Anteil daran haben, mit ihren Bedürfnissen, Ansprüchen und Wünschen nach Komfort und Lebenserleichterung mitverantwortlich bzw. mitschuldig werden, auch wenn sie nur allzu gerne ihre Mitschuld verdrängen. Dass es darüber hinaus in vielen

1 Armin Schibler - Komponist zwischen Musik und Sprache, Radio DRS, 2. Programm 18. Sept. 1973, Rezension NZZ, aus: Das Werk 1986, S.75. 2 Armin Schibler - Komponist zwischen Musik und Sprache, Das Werk 1986, S.75. 3 Armin Schibler, Tagebuch 28. Febr. 1953 (auf der Heimfahrt aus dem Engadin, zwischen Bergün und Chur). 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.82f.

109 Fällen besonders Verantwortliche gibt, wird er auch in seinen Werken hervorheben, z.B. im Hörwerk Epitaph auf einen Mächtigen1. Zweiteilung von Handlung und Musik, von gesprochenem Text und Gesang: Zur Dar- stellung dieser Problematik der zweigeteilten Schuld genügt für Schibler das kontradiktori- sche Prinzip nicht. Er sucht nach weiteren künstlerischen Gestaltungselementen und ent- deckt, dass sich dafür eine Zweiteilung von Handlung und Musik, von gesprochenem Text und Gesang besonders eignet. So kann er anlässlich der Aufführung des Parzifal in Bay- reuth, wo er mehreren Inszenierungen von Wagner-Opern in Bayreuth beiwohnt, notieren: "'Parzifal': Wie herrlich liesse sich diese jugendliche Erscheinung 'spalten' in einen Sänger und einen Tänzer, schon gleich zu Beginn, wenn der Schwan erlegt wird."2 Ähnliche Ideen kommen ihm bei der Darbietung des Tristans. Die Inszenierungen hinter- lassen in ihm einen zwiespältigen Eindruck, und er beschäftigt sich intensiv mit alternati- ven Aufführungsmöglichkeiten sowohl für Wagner wie auch für eigene Werke. Das Kon- zept der Aufteilung der handelnden Figuren in einen Sänger (der die Musik vertritt) und einen Sprecher/Schauspieler (der für das künstlerische Medium der Sprache steht) wird er in späteren Werken wie Enkidus Tod, La Folie de Tristan u.a. verwirklichen. Die Auflö- sung der innigen Verbindung von Musik und Sprache im gesungenen Wort, die Trennung von Musik und Handlung hat nach Schibler den weiteren Vorteil, dass die Handlung dadurch verständlicher wird: "Daraus (wiederum in bezug auf den Werkplan 'zweigeteilte Welt', Anmerkung GS.) ziehe ich die Konsequenz, dass auf der Bühne gar nicht gesungen werden kann: es soll eine Oper für Schauspieler sein, Handlung und Musik laufen völlig getrennt nebeneinander, so wie heute Existenz und Musik keine Bezüge mehr haben (früher ging man noch mit Gebeten und mit Gesängen in die Schlacht.) Dafür werden dem kleinen Instrumentarium im Orche- sterraum einige Sänger zugeteilt, zwei oder drei. Sozusagen verschüttet, von auf der Bühne gesprochenen realen Worten überlagert, würde hier zum Wiedersehen eine wehmütige- schlichte Weise gesungen, die umso fühlbarer machen würde, dass heute sogar die Ursituation des Wiedersehens in Frage gestellt ist."3 Reduktion der geistigen Problematik und Kompensation derselben durch eine neue Synthese von Wort, Musik und Tanz: Die vorangehend entwickelten Elemente genügen noch nicht seinen Vorstellungen des integralen Werk. So notiert er: "Ich will meine diver- gierenden Energien zusammenballen auf ein Ziel: die Oper."4 Auf dem Weg zu seinem erstrebten Gesamtkunstwerk erkennt er, dass er die geistige Problematik reduzieren muss,

1 Epitaph auf einen Mächtigen, für 16stimmigen Chor und zwei Klaviere. Text vom Komponisten, 1974/75) Das Werk 1986, S.82f. 2 Armin Schibler, Tagebuch 3. Sept. 1957. 3 Armin Schibler, Tagebuch Febr. 1953. 4 Armin Schibler, Tagebuch 28. Febr. 1953 (auf der Heimfahrt aus dem Engadin, zwischen Bergün und Chur).

110 damit sie gestaltbar bleibt. Doch Reduktion darf nicht Simplifizierung bedeuten.1 Als Lösung findet er: "Reduktion der geistigen Problematik und Kompensation derselben durch eine neue Synthese von Wort, Musik und Tanz."2 Das bedeutet: Wenn die geistige Problematik in Wort und Handlung reduziert wird, muss die sich auftuende Lücke durch die künstlerische Synthese von Wort, Musik und Tanz gefüllt werden. Im Zusammenhang mit dieser Reduktion erlangt das Einfache einen neuen Stellenwert: Die besondere Funktion des Einfachen im Zusammenwirken mit der Reduktion: "Und doch scheint mir heute, bedarf es zur Rechtfertigung der Existenz eines Theaters mit Musik noch eines weiteren Elementes, das den Bruch mit der Realität vollzieht und eine zweite Ebene, sei es eine des Traumes oder eine der Vergangenheit, der Zukunft, aufrichtet. Hier läge die Möglichkeit, aufs Neue zum Einfachen vorzudringen, das jenseits der echten modernen Brechung läge. Also: die totale grundsätzliche psychologisch durchdachte Kom- pliziertheit wäre nur die Voraussetzung, aus welcher eine neue direkte spontane Einfach- heit kommen müsste."3 Die Notwendigkeit des Einfachen wird so zur Herausforderung für die künstlerische Ge- staltung, das Einfache selbst erweist sich als eigene wichtige Domäne der künstlerischen Aussage. Schibler erkennt im Ringen um den integralen Ausdruck immer deutlicher die besonderen Möglichkeiten von Musik, im einfachen Ausdruck Hochdifferenziertes zum Ausdruck zu bringen. Das Einfache dürfte für Schibler wohl ein Ausdruck dafür sein, welch differenzierte Möglichkeiten der Musik im Unterschied zur Sprache zur Verfügung stehen, die keinesfalls 'einfach' im Sinne von simpel oder banal sind. Im Gegenteil, er findet Worte für das, was er zunächst das Einfache nennt: Geheimnis. Musik vermag "dort, wo alle Rücksichten fallen, innerste Geheimnisse von Menschsein und Zeit hörbar, erlebbar zu machen. Sie offenbart das GEHEIMNIS, ohne es preis zu geben, Blumen und Tieren gleich. Die grossen Fragen des WOHER und WOHIN beantwortet sie, indem sie uns in ihr Geheimnis hinein nimmt und erlöst aus der Befangenheit von Zeit und Raum."4 Schibler wird in den nun folgenden Jahren in der konkreten Arbeit an einzelnen Werken diese Konzeptionen erweitern und vertiefen. Er wird nicht nur Hörwerke zu Zeitproblemen schreiben, sondern auch Hörwerke komponieren, welche mythisch-religiöse Stoffe darstel- len (die erwähnten La Folie de Tristan und Enkidus Tod.) Die Gattung Hörwerk, ursprüng- lich entwickelt, um zeitbedingte Probleme zu gestalten, erweist sich auch als das geeignete Gefäss für die Gestaltung von zeitlos-mythischen Stoffen.

1 Im Rahmen eines literarischen Werkes kann eine zeitgenössische Problematik ausführlich in vielfältigen Differenzierungen und in grosser Komplexität zum Zuge gekommen. Im Rahmen einer Oper jedoch ist nur eine knappe Textvorlage möglich, welche sing- und spielbar sein muss. 2 Armin Schibler, Tagebuch 23. Febr. 1954 anlässlich der Arbeit an der Kammeroper Bettstatt. 3 Armin Schibler, Tagebuch 19. Jan. 1958. 4 Armin Schibler, Tagebuch April 1958. Diesen Text habe ich bereits in der Einleitung zitiert.

111 Die Arbeit an der Konzeption des integralen Werkes ist von seelischen Höhen und Tiefen begleitet. So fühlt er sich manchmal weit weg vom Ziel seiner theoretischen Überlegungen, als es um die kompositorische Umsetzung anhand seiner Kinderoper Urs und Flurina geht.1 Resigniert schreibt er: "Manchmal bin ich nahe daran, den Kampf aufzugeben und zu sagen: 'Oper, das ist nun einmal ein Bereich, der sich nur für ganz beschränkte Arten von Aussage eignet.' Gut - aber in dieser beschränkten Art doch das Ganze, das alle angeht, aufgehen zu lassen, bleibt mein Ziel. Eine naiv-verbissene Gläubigkeit lässt es mir nicht zu, dass die Oper der Vergangenheit angehören soll. Und dabei hasse, hasse ich diesen Opernbetrieb von heute manchmal so sehr, dass ich in Gedanken schon Steine durch die Scheiben des Zürcher Opernhauses warf...."2 Doch zu anderen Zeiten, die die Oberhand behalten sollten, 'strotzt' er nur so von Plänen - trotz künstlerischer Misserfolge: "Aber trotz aller Schwierigkeiten werde ich niemals nachlassen. Zehn Opern und zehn Ballette werde ich schreiben, wenn mir Alter und Gesundheit vergönnt sind; und mein Denken muss helfen, dass mein Werk eines Tages genau so realisiert und geglückt dastehen wird, als wäre es unter dem Sterne ständiger Begünstigung durch Resonanz und Verbreitung gestanden.----- O wie herrlich, Pläne, meine Pläne! Ihr ausgesandten Vögel der Selbstverwirklichung, ihr Brieftauben auf dem Weg zum unbekannten Hörer und Mitmenschen der Zukunft. Ich bade mich in euren noch nicht ermessenen Tiefen wie in der Kristallflut eines Gebirgsbachs."3 In seinem Streben nach Aufwertung der Sprache in Verbindung mit Musik – er kann sich nicht damit abfinden, dass Sprache nur als Dienerin der Musik fungiert – indem er ihre Aussagekraft und Botschaft künstlerisch beachtet und einsetzt, hat Schibler eine bemer- kenswerte Entdeckung gemacht: Die der Sprache und der Musik zugewiesene Eigenstän- digkeit bei gleichzeitiger wechselseitiger Bezogenheit im Rahmen eines Werkes verstärkt die Ausdruckskraft beider künstlerischer Ausdrucksmedien, da Sprache und Musik als Partner sich nicht gegenseitig schwächen, sondern, sich gegenseitig Raum gebend, synergetisch die Wirkung des anderen Partners verstärken.

6.2.3 Zur Aufführungspraxis der Hörwerke "Mit 'Hörwerk' habe ich die musikalische Einkreisung eines aktuellen Themas auf Grund einer Textfolge bezeichnet, die lyrische, epische wie dramatische Partien vereinigt. Im Gegensatz zum 'Werk' des Musiktheaters ist die 'Szene' jedoch in die Fantasie des Zuhörers verlegt. Dies erlaubt eine Realisierung, die an keinen bestimmten Ort gebunden ist und

1 Urs und Flurina, Das Werk 1986, S.22. 2 Armin Schibler, Tagebuch 25. Jan 1958, Ybergeregg. 3 Armin Schibler, Tagebuch 20. Okt. 1956.

112 sich sowohl radiophon wie telegen oder auch als Schallplatte oder Tonband darstellen kann."1 Schibler verbindet damit die Hoffnung, dass der Musik eher der dringend erforderliche Ausbruch aus der Vereinnahmung durch den Kommerz und des Missbrauchs als 'tönende Droge', dem sie sonst hilflos ausgeliefert ist, gelingt, und sie damit fähig wird, auch Gegen- wartsprobleme künstlerisch zu gestalten. Schibler sieht Aufführungsmöglichkeiten für diese Werke an verschiedensten Orten: Einer- seits durchaus im Rahmen des Musiktheaters, der Oper, andererseits auch im Konzertsaal, wie auch am Radio und - leider selten verwirklicht - am Fernsehen. Hörwerken bietet sich damit ein erweiterter Aufführungsrahmen als den Opern. Diese Erweiterung der Auffüh- rungsmöglichkeiten dank der Verlegung der Szene in die Fantasie des Zuhörers beinhaltet nicht nur eine technische Seite. Das Zeitalter des Fernsehens und der optischen Reizüberflutung verlangt "nach der Aktivierung eines anderen und zugleich zentralsten Forums, das das uranfängliche gewesen ist: die imaginäre Szene unserer Fantasie."2 Schibler gelingt es mittels des Hörwerkes nun auch leichter, gesellschafts- und kulturkritische Themen künstlerisch zu gestalten.

6.3 Die zeitkritischen Hörwerke

Die vielen brennenden Probleme der Gegenwart beunruhigen und beschäftigen Schibler ausserordentlich, sie lassen sich in drei Schwerpunkte gliedern: Die sich im Laufe der Jahrzehnte verschärfende Umweltproblematik, welche immer mehr Tieren und Pflanzen, aber auch den zukünftigen Bewohnern dieser Erde die Lebensgrund- lage entzieht. Schibler komponiert Hörwerke zur Mitwelt- und Naturproblematik. "Es bedurfte in meinem Schaffen nicht des Paukenschlags, mit dem der Club of Rome um 1970 mit seinen düsteren Hypothesen für unsere Zukunft den Bewusstwerdungsprozess der ökologischen Frage in Gang setzte."3 Machtmissbrauch durch Individuen und Staaten, Unrechtssituationen weltweit, das Leid des 'gequälten Bruders'. Die Bedrohung durch das Wettrüsten der beiden Supermächten und den atomaren Overkill. Kulturkritische Ansätze zu Phänomenen wie zunehmende Kommerzialisierung weiter Lebensbereiche, so auch der Musik; Fortschrittswahn bzw. naive Fortschrittsgläubigkeit, Konsumismus bzw. Ästhetisierung des Lebens. Herausragende Beispiele für die Konfrontation mit diesen drei Problemkreisen sind die Hörwerke Greina (Umweltproblematik, 1975), Epitaph auf einen Mächtigen (Machtmiss-

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.75. 2 Friedrich Klausmeier, Laudatio zur Überreichung des Zürcher Kunstpreises, S. 6, Paul Sacher Stiftung, Basel. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.79.

113 brauch, 1974/75)1 und Der da geht.... Der Weg des Menschen (Fortschrittsgläubigkeit, 1974)2. Sie werden in diesem Abschnitt eingehend behandelt. Die Musik in diesen Hör- werken ist dank der besonderen Verbindung mit dem Wort ein hervorragendes Mittel, der Gefahr der Kommerzialisierung und einem bloss dem ästhetischen Genuss dienenden Konsum entgegenzuwirken. Mit genuin künstlerischen Mitteln der Kommunikation stellt Schibler dabei die alle Menschen betreffenden, ethischen Fragen dar, um Mitgefühl und ihre Mitverantwortung zu erwecken. Dass die so entstandenen Werke den Hörer erreichen, dass ihr hörbar gemachter Schrei der Welt den Hörer trifft und ihn an die Gefahr erinnert, selber in Bequemlichkeit oder Hartherzigkeit zu erstarren, zeigen Kritiken, welche die Hörwerke als unangenehm moralisierend bezeichnen. Der moralisierende Aufruf ist eine durchaus beabsichtigte (Neben-)Wirkung der Schiblerschen Hörwerke.

6.3.1 Vom urromantischen Naturgefühl zum ökologischen Engagement: Greina Schiblers ursprünglich intensive persönliche Naturbeziehung wandelte sich nach eigenen Worten im Verlauf dreier Jahrzehnte zu einer kämpferischen und gesellschaftskritischen Aktivität, die in den Hörwerken Später als du denkst... von 1973 und Greina 1975 ihren Höhepunkt findet. Wie diese Entwicklung im einzelnen verlief und wie Schibler seine schöpfungsspirituellen und umweltpolitischen Anliegen in die Werke der Jahre 1971 - 1985 einarbeitete, ist Thema dieses Abschnitts.

6.3.1.1 Vielfältige Naturerlebnisse, vielfältige Naturbeziehungen Der junge Schibler fühlt sich intensiv zu unberührten Landschaften, zu Pflanzen, Steinen und Tieren hingezogen. In ganz besonderem Masse haben es ihm Flüsse, Moore und wilde, unberührte Bergregionen angetan, wie aus vielen Tagebucheinträgen ersichtlich wird. Mit seiner Verlobten zieht es ihn während des 2. Weltkrieges unzählige Male mit dem Rad oder zu Fuss ins Freie. Diese Ausflüge erlebt er als symbolhafte Höhepunkte einer frucht- baren Verhältnisbestimmung von Kultur und Natur, wovon zwei Tagebuchnotizen zeugen, die erste nach dem Besuch des Pfäffiker Moores: "Wie wir vorhin im weichen Schlammgrund versanken und uns dabei so wohl fühlten, da kam mir der Gedanke, dass dies wohl den grössten Gegensatz zu einer Bachfuge darstelle. In der wahren Musik schwebt der Mensch schon zwischen den Sternen und berührt kaum mehr den Boden, und wir vorhin waren bis zu den Schenkeln von der weichen Moorerde umschlossen, erfüllt von der Triebhaftigkeit, näher als je der Erde, dem Symbol alles naturhaften Geschehens. - Siehst du, wie reich das Leben ist, wenn man beiden Gründen angehört - erst das ist volles menschliches Leben. Auch Bach ist vielleicht der

1 Epitaph auf einen Mächtigen für 16stimmigen Chor und zwei Klaviere. Text vom Komponisten Nr. 72, Das Werk 1986, S.82. 2 "Der da geht..." (Der Weg des Menschen) Hörwerk für Sprechstimmen und Instrumentalensemble auf einen Text des Komponisten, Nr. 74, Das Werk 1986, S.84.

114 Naturhafteste aller Musiker gewesen, was auch viele Momente seines Lebens zu bestätigen scheinen. Aber das war allerhöchste Naturhaftigkeit, weil auch des Geistes..."1 "Ich fand zum ersten Mal den rundblättrigen Sonnentau und die niedliche Zwiebelorchis. Wie es mich immer wieder in Sumpf- und Moorlandschaften zieht, in die meiner Seele verwandten Gefielde! Brutstätte der Welt, Schlinglandschaften zwischen See und Festland, voller Vogelruf und Fischgeruch. Auch du bist nahe: Albin Zollinger. Pangefühl im Unter- leib, dürres Moos saugt Myriaden von Samen auf. Gegenpol der geistigen Welt - Dumpfes, Tastendes, Unsicherheit schwankenden Grundes."2 Natur ist für Schibler der notwendige Gegenpol zum Geistigen, jedoch diesem absolut gleichwertig. Während der Verlobungszeit streift das Paar - ähnlich dem Paar des Hohelie- des der Bibel (S. 32) - durch die Natur und findet in ihr Heimat und Rahmen für seine Liebe. Im Laufe der Wanderungen zu Berghütten in der Nähe von Zürich - weitere Wande- rungen sind wegen der Zeitumstände (2. Weltkrieg) und aus finanziellen Gründen nicht möglich - wächst die Liebe der beiden zueinander, wird gefördert und mitgeformt von der Natur und findet Ausdruck in verschiedenen musikalischen Werken. Seine Liebeslieder (S. 33) knüpfen auf vielfältige Weise an sinnlich-konkreten Symbolen der Natur an und fassen die Intensität der Liebe des Paares in Naturbilder (S. 36.) In Schiblers Naturmystik ist der Mensch und damit auch er mit seiner Geliebten Teil der Erde und Teil einer konkreten, innig geliebten Heimat, welche Verwurzelung schenkt. Während seines England- Aufenthaltes (S. 37) schreibt er: "Oft sitze ich mit ein paar jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland hier im Hotel zusam- men. Sie sind nur einmal in der Schweiz gewesen, tragen aber jene Wochen stets in sich gegenwärtig als die schönste Zeit ihres Lebens. (...) Ich denke dann: ich werde dies alles immer haben; das Stöcklikreuz, der Zürichsee, die Alpenwiesen sind wirklich unser. O wie wollen wir doch all dieses dankbar geniessen, dass unsere Liebe auch noch einen so wun- derbaren Rahmen hat, der vielleicht bald in der ganzen Welt der Vergangenheit angehören wird. Wir müssen Hüter all dieser Güter sein: der unberührten Landschaft, aber auch der seelischen Landschaft und deren Krone: der Ehe."3 Nach dem Krieg packt Schibler eine neue Leidenschaft: Faltbootfahren, und gemeinsam mit seiner Frau unternimmt er - das Kind bleibt bei der Grossmutter - eine Fahrt auf der Ardèche: "Erneut erleben wir den tieferen Sinn alles Reisens: Dass die Objektivität zu sich und zu seinen Lebensumständen gewachsen ist, wenn wir nach Hause kommen."4 Die Faltbootfahrt ist anstrengend, und sie sind vielen widrigen Umständen ausgesetzt wie naskaltes Aprilwetter oder unzureichendem technischem Material:

1 Armin Schibler, Tagebuch, Sommer 1944. 2 Armin Schibler, Tagebuch 25. Juni 1954. Schibler liebt zeitlebens diesen Autor und vertont Texte von Albin Zollinger in Stille des Herbstes, Das Werk 1986, S.118. 3 Armin Schibler, Tagebuch 29. Juli 1946. 4 Armin Schibler, Tagebuch 19. April 1948 (Saintes Maries de la Mer).

115 "In diesem Sinne bedeutet Reisen keinen Genuss, kein Vergnügen mehr. Es gab auf unserer Provencefahrt Augenblicke, da wir uns nach Hause wünschten wie ein Kind in den Schoss der Mutter - da wir an unsere Lebensumstände dachten wie an ein kleines Paradies, an unser Kind wie an ein kaum mehr geglaubtes Wunder... Und diese Stunden waren für uns wohl die wertvolleren als jene des Sich-Wohlfühlens im Erlebnis der fremden Welt oder der neuen Natur."1 Die beiden übernachten unter einer Zeltplane im Freien und treffen auf dieser Reise die Verheerungen des Krieges und Zeugen des nackten Überlebenskampfes an. Diese Konfron- tation erschüttert Schibler, lässt ihn die Frage nach der Relevanz seines Schaffens ange- sichts menschlicher Not stellen: "...die Akkorde nur für mich allein erlauscht, verklingend in einem All, das uns hoffnungs- los richtet? Keine Abendröte, kein Morgendämmern mehr, keinen Mittagsglanz mehr, in den wir Erhofftes und Ersehntes projizieren dürften, kein Stern, der um unser Leiden weiss? ...... Ich habe keine Antwort. Ich habe nur eines: mein kreisendes Gefühl, solan- ge ich nicht hungere, meine Sehnsucht, meine Bereitschaft zur Bejahung. Vielleicht nannte man das früher: Beten. Die Gnade ist nicht in unserer Hand. Aber die Bereitschaft dazu, die Demut."2 Das Faltbootfahren endet jäh nach tödlicher Gefährdung Tatjanas: Das Boot gerät in eine aus Nachlässigkeit unverschlossene Fabrikschleuse, Armin Schibler kann im letzten Augenblick noch aus dem Boot springen. Wie durch ein Wunder überlebt Tatjana. Mit Rücksicht auf ihr Kind beschliessen sie, die gefährlichen Flüsse in Zukunft zu meiden und mit ihrem Faltboot nur noch auf Seen zu paddeln. Eine andere Leidenschaft erfasst das Paar: das Bergwandern. Die Wanderungen starten meist ungeplant 'ins Blaue' und eröffnen dadurch landschaftliche Freiräume, darunter auch hohe Gebirgspässe. Eine Tagebuchnotiz zu einer solchen Wanderung, die die Schiblers in den Sommerferien 1957 mit den beiden grösseren Buben unternehmen (die Grossmutter hütet unterdessen die einjährige Regina): "Fast gewaltsam musste ich mich aus heftiger Arbeit und den intensiven Wassererlebnissen am Greifensee losreissen. Fast völlig improvisierend fahren wir los, selbst in Chur weiss ich noch nicht sicher, wo wir aussteigen werden. Irgendeine Station der Rhätischen Bahn, Räzüns, ist es, Abendsonne steht über dem Domleschg. Wir steigen in einen Nachtwald hinauf, gegen neun Uhr geht der Mond auf, der Weg zieht sich lange am Heinzenberg hin. Und dann, gegen zehn Uhr, erreichen wir die Nähe des Dorfes Präz. Schattendunkle, sin- gende Italiener kehren an uns vorbei in ihre Baracken heim, die irgendwo am Berg oben liegen. Schwarze Dächer werden erkennbar, kein Licht, kein Laut nachts, als sei kein Licht und schlafe alles. Endlich entdecken wir ein erhelltes Fenster, finden eine Wirtschaft, wo

1 Armin Schibler, Tagebuch 19. April 1948 (Saintes Maries de la Mer). 2 Armin Schibler, Tagebuch 19. April 1948 (Saintes Maries de la Mer).

116 Arbeiter Bier trinken. Die Brunnen rauschen heftig zwischen den Gassen: für diesen Abend habe ich das ANDERE, das UNTERGEHENDE gefunden und tief erlebt. Meyersche Bergzeilen kreisen im Gehirn; eine jähe Freude durchzuckt mich, dass es diese ANDERE Welt noch gebe, nicht nur in meinem Werk, das ich hüte wie ein Geheimnis: MEDIA IN VITA, beendigt seit einem guten halben Jahr."1 Die Wanderung mit den kleinen Kindern ist damit noch nicht zu Ende. Vier Tage später werden sie mit Zerstörung und Industrialisierung konfrontiert, zwischen denen sie noch Zeugnisse von Naturschönheit antreffen: "Man rät uns ab, zu Fuss ins Avers zu wandern. So besteigen wir am dritten Tag wieder das Postauto. Es wird zum Erlebnis einer modernen Hölle... Hunderte, Tausende von Arbeitern wühlen mit gigantischen Kranen und Hebern die neue Strasse ins Tal, welche das Netz der Hinterrheinischen Wasserkraftwerke vorbereitet. Sprengungen donnern vor uns auf, Blöcke stürzen in die Tiefe, nackt geschälte Baumriesen liegen wie Zündhölzer über den Felsen, Barackendörfer ragen hellbraun gebeizt in den blauen Himmel. Wohl an zwanzig, dreissig Stellen wird gleichzeitig vorgetrieben, nur noch an einigen wenigen Stel- len ist die alte Talstrasse unberührt, mit den durchlochten Wehrsteinen eingesäumt. O dieses alte Stück Strasse, das ich vor zwanzig Jahren noch beging, macht mein Herz klop- fen - wunderbar die Einheit von Natur und Menschenhandwerk gewahrt, dass man jubeln möchte... und unten tost grünblau und weiss gischtend der RHEIN furchtbar unnütz seine ungebändigte Kraft gegen die Granitschlünde, NOCH zwei oder drei Jahre, am Ende einer Menschheitsepoche, und dann werden die Schluchten still sein und das Wasser geht die vom Menschen künstlich geschaffenen Tunnels und Kanäle, STROMLINIE säumt es ein von Stufe zu Stufe, von Kraftwerk zu Kraftwerk. Mein Herz blutet, so jedenfalls möchte ich andeuten, was ich fühle. Und dabei steht mein Denken anderswo, ich weiss, dass ich MITSCHULDIG bin, dass ich mein täglich heisses Bad und den Gesundheitskomfort und die frische Wäsche ohne die alten graufeuchten Waschküchentröge eben diesem betrauerten Untergang verdanke - so ist auch hier das Gespaltensein von Gefühl und Vernunft in mir selber drin, ich begreife und verstehe, dass es unabänderlich ist, ich denke an die Langspielplatte, die ich mitsamt dem technischen Stand der heutigen Musik nicht missen möchte und nicht preis gäbe gegen ein wiederer- wecktes häusliches Musizieren... Im unabänderlichen technischen Fortschreiten den wah- ren Fortschritt herauszuarbeiten, das wird die grosse Aufgabe der kommenden Jahrzehnte sein. Entgegen meinem blutenden Herzen halte ich es für möglich, dass der gewaltige Umbruch, der die alten Ordnungen zerstört, neue Ordnungen und Bezüge schaffen kann, wenn nur die erste Phase der völligen Ratlosigkeit überwunden sein wird. Ich halte es für möglich, aber glauben... kann ich es zutiefst doch nicht."2 Auf seinen Wanderungen und anderen Ausflügen wird Schibler mit der unübersehbaren Naturzerstörung und der nach dem Krieg intensiv einsetzenden Industrialisierung konfron- tiert. Leidenschaftlich trauert er um verlorene Paradiese, um den Verlust des Wilden, z.B.

1 Armin Schibler, Tagebuch 7. August 1957. 2 Armin Schibler, Tagebuch 7. August 1957.

117 des wilden Wassers, um den Verlust des Unverzweckten, und bereits früh befürchtet er mögliche globale Klimaveränderungen mit weitreichenden Auswirkungen, auf die 1952 ihn der Moorforscher Paul Müller in Schiltwald bei einem Besuch (einer von vielen im Ver- laufe von 16 Jahren) hinweist: "Und nun entwickelte er, wie alles darauf hindeute, dass wir heute vor einem solchen radi- kalen Umschwung (im Klima, GS.) stünden. Zudem würde vom Menschen alles getan, um die zunehmende Versteppung des europäischen Kontinents zu fördern. (...) Vielleicht wird dies unsere Chance sein, wieder unseren Begrenzungen gegenüber zu stehen. Die Vorse- hung kann auch einen ganz anderen Weg wählen - sicher scheint mir nur das eine zu sein, dass unsere Überheblichkeit bald ein Ende finden wird."1 Schibler hofft, dass eine globale Klimaveränderung dem Menschen auf schmerzhafte Weise seine Grenzen wieder aufzuzeigen möge, damit der moderne Mensch erkenne, was sein energiehungriger und Ressourcen konsumierender Lebensstil anrichtet: die Zerstörung der Naturreichtümer. Nach einer Velotour entlang der Glatt und dem Rhein notiert er: "Der Rhein: verlorener Lach. Überall ist Verlust. Verlorene Romantik, Öde des geistlosen Kraftwerkes. Vielleicht darf ich durch das Erlebnis des Leidens um all diese Verluste wieder romantisch fühlen lernen? Feldweg über den Buchberg: ein Igel. Wieder trage ich das Tier von der Strasse ans Wie- senbord, wo es ins Dunkle wegkollert. Ein Trost: es gibt noch Igel. Wir küssen uns innig vor Freude. (...) 'Verlorene Romantik' - zwei Worte, die mir täglich durch den Sinn gehen."2 Man vergesse nicht: Schiblers Fahrten fallen in die Zeit der sich fast rasant beschleunigen- den Veränderung und Zersiedelung seines Zürichseeraumes und der Natur insgesamt, weltweit. Voller Schmerz und Mitgefühl wird Schibler bis zum Ende seines Lebens die Veränderung des Lebensraumes Erde verfolgen. Bei all dieser zutiefst mitempfundenen Ambivalenz des technischen Fortschrittes - der ja eben auch Erleichterung und Kultur mit sich bringt - sehnt sich Schibler nach der Wieder- entdeckung des Masses als Zielgrösse menschlichen Handelns. Er hofft darauf, dass dem menschlichen Fortschrittswahn von aussen her – z.B. durch die absehbare globale Klima- veränderung - eine Grenze gesetzt werden könnte. Hinter dieser Hoffnung verbirgt sich nicht Fortschrittsfeindlichkeit, sondern sie drückt seine Befürchtung aus, dass der Verlust des Masses eine gefährliche Hypertrophie des menschlichen Selbstwertes mit sich bringe, welche dazu verführt, natürliche Grenzen zu vernachlässigen (S. 125). All diese Erfahrungen und Gedanken inspirieren Schibler zu einem dann doch nicht ausgeführten Opernprojekt mit dem Arbeitstitel Das versunkene Tal: Ein Gebirgstal soll für einen Stausee unter Wasser gesetzt werden. Die Talbewohner selber entscheiden sich - aus

1 Armin Schibler, Tagebuch 11 Okt. 52. 2 Armin Schibler, Tagebuch 6./7. und 14. April 1944.

118 finanziellen Gründen - für das Projekt. Nur die Protagonisten des Stückes, das Liebespaar Egon und Magda harren widerständig aus und setzen ihr Leben aufs Spiel: "Romeo und Julia des 20. Jahrhunderts - wenn man will. Wie gerne wäre ich Dramatiker, mächtig des Wortes und der dramatischen Konstellation, um zu beweisen, dass die geisti- gen Hintergründe dieses Stoffes nicht heimatstil-artig, sondern von der letzten und tiefsten Problematik unserer Zeit erfüllt sind. Ein Filmstoff noch mehr - doch am allerschwersten vereinbar mit der Welt der Oper. Vor ein paar Tagen stiegen wir von Alp Flix nach Marmorera hinunter, um den wachsenden, riesenhaften Staudamm, der den Stausee der Julia bilden wird, uns anzusehen. Vielleicht müssen mir diese zeitbedingten Problemstellungen im Kopf herumspucken, um die zeitlosen Probleme der wirklichen Opernstoffe mit wärmerem Blut zu erfüllen? Jedenfalls, bin ich so klug einzusehen, dass auf tausend kaum einer die Vergewaltigung der Gebirgsgewässer bedauert - ja ich muss zugeben, dass die öde Talsohle von Marmorera gewinnen wird."1 Natur ist für Schibler mehr als nur oft besuchte Idylle. Sie ist Zufluchtsort nach künstleri- schen Misserfolgen und negativen Kritiken. Hier gewinnt er befreiende Distanz zum Über- lebenskampf im Alltag, wenn er sich unverstanden, verkannt fühlt durch Zeitgenossen. So z.B in der Zeit der Auseinandersetzungen mit der Dodekaphonik, als er einmal spätabends nach dem Schulunterricht auf den der Stadt Zürich nahen Berg Etzel wandert und während des Aufstieges um Fassung und Selbstwertgefühl ringt: "Endlich, fast schon auf der Höhe, setzte ich mich ins taufrische Gras, und im Anschauen des weit unter mir sich ausbreitenden Lichtermeers, dessen Ränder sich im schwarzen Dunst verloren, kam ich wieder zu mir selber. Unermesslich über mir der bestirnte Himmel, hinter mir der dunkel aufragende Waldsaum von Tannen, und unter mir die Lichter. Wieder spürte ich den Hauch der Menschenewig- keit, über der die uns nicht mehr fassbare letzte Ewigkeit sich auftut."1 Das Hadern um das Verkanntwerden legt sich, sein Denken kreist um die - erst im Tod ganz erfüllte - Nähe des Menschen zur Natur wie auch zu Gott. Das menschliche Dasein relativiert sich angesichts der Grösse und Ganzheit des Lebens - und des Todes. Das Wandern in der Natur schenkt ihm auch oftmals die wohltuende Distanz zu inneren Klängen und Melodien, die ihn nach intensiver kompositorischer Arbeit manchmal fast quälend weiterverfolgen, so dass er nicht abschalten, nicht regenerieren kann. In der unberührten Natur erlebt und erfährt er den Wert der Stille, die er als so wichtig für die Musik wie für die gegenwärtige Zeit erachtet. Wie solche Einsicht aus dem Kontakt mit intakter Natur geboren werden, zeigt ein Tagebucheintrag am 10. Oktober 1952, als er - anlässlich eines Treffen mit dem Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt - auf der St. Petersinsel im Neuenburgersee übernachtet:

1 Armin Schibler, Tagebuch 16. Febr., 1953.

119 "In der Dämmerung, unter regendrohendem Himmel, umging ich die Insel, durch manns- hohes Schilf, durch sumpfige Wiesen, entlang dem Strande, wo die Feuerstellen der Zeltler nun verlassen sind. In dieser Ruhe, von keinem Automobil, von keinem Motor erschreckt, begriff ich erstmals, wie sehr wir heutigen Menschen vom materialistischen Geist der Technik, bis in die letzte Einzelheit des Alltages beherrscht sind. Deutlicher gesagt: Wir lassen uns von den Men- schen, welche die technischen Errungenschaften missbrauchen, der Stille und der Harmo- nie unseres persönlichen Daseins berauben. Mir schien, ich hätte schon seit Jahren nicht mehr die Geräusche des Einnachtens gehört: vor dem Nachtessen im Bette ausruhend, lauschte ich der Stille, und es wurde still in mir. Der Lärm unserer Zeit übertönt die innere Stimme, welche die Flucht vor dem Göttlichen registriert. (...) Nur der in Gott ruhende Mensch bleibt ungefährdet - doch wie viele sind es, die noch im Urgrund verwurzelt sind?"2 Natur schenkt ihm nicht nur die notwendige Distanz zum Alltagsgeschäft, zum Mensch- lich-Allzumenschlichen. In der ursprünglichen wie auch in der kultivierten, aber nicht zerstörten Natur erahnt er das Unzerstörbare, das Andere, den wichtigen Gegenpol zum Geistigen. In der körperlichen Arbeit im Blumen- und Gemüsegarten, beim Pflanzen von Bäumen und Büschen erfährt Schibler den notwendigen Ausgleich zur geistigen Arbeit, erfährt am eigenen Leib die Verwurzelung im Kreatürlichen, Sinnlichen, im Geruch der Dinge, wie er es nennt.

6.3.1.2 Werke des Engagements für eine unvereinnahmte Natur Seine besondere vielfältige Beziehung zur Natur bleibt - es ist ja nicht anders vorstellbar – für Schibler nicht privates Hobby mit Erholungswert. Sie muss ihren Niederschlag in seinem künstlerischen Werk finden. In verschiedenen Kompositionen stellt er die Wichtigkeit der Natur und deren Bedrohung durch die moderne Zivilisation in den Mittelpunkt: • Das Frühwerk Grosser Psalm3 (eine Vertonung des Psalms 24, 1945/46) ist ein Protest gegen ein frühes Beispiel von Naturzerstörung: "Textlich fiel die Wahl auf Psalm 24 ('Die Erde ist Gottes und all ihrer Güter'), weil ich mit diesem Werk gegen die Absen- kung der Nussbaumerseen zu protestieren gedachte, einem besonders frühen Beispiel der Naturzerstörung durch Trockenlegung eines einmaligen Eiszeitrelikts."4

1 Armin Schibler, Tagebuch 25. August abends 11 Uhr (Etzel Kulm) 1953. 2 Armin Schibler, Tagebuch 10. Okt. 1952, St. Petersinsel. 3 Grosser Psalm, op. 11, für gemischten Chor, 4 Gesangssolisten und grosses Orchester, Nr. 44, Das Werk 1986, S.60. 4 Stille des Herbstes, Nr. 161 Das Werk 1986, S.60.

120 • Weil alles erneut sich begibt (S. 47) spricht von der Grösse und Regenerationskraft der Natur, welche Werden und Vergehen umfasst. • Stille des Herbstes ist ein Zyklus von zwölf Gesängen nach Texten von Albin Zollinger, für tiefe Stimme und Klavier, op. 39. 1953.1 • The Point of Return ist ein Hörwerk für 2 Sprechstimmen, Sopran, Sing- und Sprech- chor und Instrumentalensemble mit einem Text vom Komponisten. (1971/72).2 • ... später als du denkst ist ein Hörwerk für 2 Sprechstimmen, Solosopran und Elektro- ensemble. Text vom Komponisten (1973), in dem Schibler Umweltzerstörung und Übervölkerung thematisiert. • Greina ist ein kontradiktorisches Hörwerk für Sprechstimmen, 7stimmigen Chor und Instrumentalensemble, komponiert 1975/76.3 • In Iter Montanum (Die Bergreise, 1983/84, für tiefe Stimme, Klavier und Streichorchester komponiert) nimmt Schibler das Motiv der Bergwanderung durch unterschiedlichste Gegenden auf.4 "Ergänzt durch Klavierzwischenspiele ergibt Iter Montanum - ähnlich wie im Hörwerk Greina - den Steigerungs-(=Steigungs-)bogen einer Alpenwanderung in den Süden, wobei diese Traversierung zum Sinnbild eines Lebenslaufes wird."5 • Im Werk L'homme et la Creation (Der Mensch und die Schöpfung)6, eines seiner letzten Werke (1985) steht der (ambivalente) Forscherdrang des Menschen im Mittelpunkt, der - koste es was es wolle - die Geheimnisse der Natur zu enträtseln versucht. Von diesen Werken des Einstehens für die natürliche Umwelt soll nun Greina eingehend besprochen werden.

6.3.1.3 Greina - kontradiktorisches Hörwerk mit einem Text des Komponisten Das Hörwerk Greina behandelt das ambivalente Verhältnis der meisten Zeitgenossen zur Zerstörung von Natur. Einerseits begrüssen fast alle Menschen die Segnungen der Zivili- sation, andererseits werden die Veränderung und Zerstörung des Wilden, Unberührten schmerzlich empfunden und beklagt. Text und Musik stehen sich in diesem Werk gleich- wertig gegenüber, sie verweisen aufeinander und verweben sich ineinander. Die Greina ist eine von der Überflutung durch Pumpspeicherwerke bedrohte Sumpflandschaft auf rund 2000 Meter Höhe in den Alpen, ein für Schweizer Verhältnisse grosses Gebiet unberührter

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.118. 2 The Point of Return, Nr. 66 Das Werk 1986, S.78f. 3 Greina, Nr. 69 Das Werk 1986, S.81. 4 Iter Montanum, Zwölfteiliger Zyklus auf Gedichte von C.F. Meyer, Nr. 165 Das Werk 1986, S.119. 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.119f. 6 L'homme et la Creation, (Der Mensch und die Schöpfung), Hörwerk für Sprechstimme, Bariton, Kammerchor und Orchester. Text vom Komponisten. Nr. 194 Das Werk 1986, S.74

121 Natur. Mäandrierende Flüsse und Steinwüste, bislang unnutzbar weil unfruchtbar, oberhalb der Waldgrenze und deshalb auch für die Alpwirtschaft uninteressant, stehen für Schibler für die Ehrfurcht vor einer Schöpfung, die mehr ist als nur verzweckbare, nutz- und aus- beutbare Materie. Greina symbolisiert Kontinuität jenseits von (menschengemachter) Ver- änderung - und damit Verwurzelung in der menschlicher Tradition wie auch in der Erdge- schichte: "Du gehst ins Zeitlose. Gehst den alten Säumerpfad wie einst zu Fuss, den Gefährten zur Seite, übers Geröll die Kinderhand stützend umfasst. Ahnst und staunst: so war das damals. Ist heute noch. Suche nach einer anderen Sicht auf das Dasein. Hoffnung, dem Geheimnis ein paar Schritte näher zu kommen. Zurück zu Pflanze und Tier, zum Geruch der Dinge, zum Mass. Im Wanderschritt die Erprobung, wie weit die Kräfte reichen, die vergessenen Distanzen und Grenzen. Im Wandern erfährst du das Ganze, dem wir angehören. Das Aussermenschliche lockt, Erdgeschichte, die keine Hand verändert."1 Diese Landschaft, die sich mangels Verkehrsmittel nur zu Fuss erfahren lässt, schenkt Distanz zum Alltag, eine Ahnung des Geheimnisses, Nähe zur Sinnlichkeit, zur Erfahrung der eigenen Kräfte und eines grösseren Ganzen. "Greina, Urlandschaft. Dort weicht die Beklemmung, die Verstrickung ins Vordergründige löst sich. Du vergisst den Verrat, ahnst wieder das Un-zer-stör-ba-re." Kontradiktorische Stimmen weisen jedoch auf die Kehrseite der Medaille hin mit der Quintessenz "Diese Aufregung um eine Steinwüste", denn das Kraftwerk bringe doch Arbeitsplätze und Verdienst für eine verarmte, von Abwanderung bedrohte Bergbevölke- rung. Wer mag es ihr verübeln, wenn sie aus dieser Steinwüste Kapital zu schlagen ver- sucht? Die Stimmen und Positionen beginnen, miteinander zu argumentieren. Position A weist auf die Wichtigkeit der Existenz 'ungenutzter Räume' hin: "Wo unsere Entscheidungen ausschliesslich vom Nutzen bestimmt werden, mindert der Mensch sich zur Ware, das Leben zum Geschäft. Ohne ungenutzten Raum verkümmert die schöpferische Fantasie." Sie spricht von der tieferen Wichtigkeit der Stille: "In der Stille die Paukenschläge der Vergänglichkeit: indem du dein Herz pochen hörst, findest du zurück zum Mass. (...) Die Greina, eine der letzten Oasen des Unzerstörbaren. Wer daran rührt, nimmt ungeheure Verantwortung auf sich. Wer könnte sie tragen?" Position B verweist auf die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Nutzung von Ressourcen und versucht, die gefühlsmässige Besetzung von Landschaften zu entrümpeln: "Heimat? Du nimmst das Wort besser nicht in den Mund." Position A jedoch kontert:

1 Armin Schibler, Texte 1975-82 132f.

122 "Heimat gründet auf dem Unzerstörbaren. (...) Was bleibt, wenn alles Unzerstörbare ver- kauft, verschandelt, verbaut und zerstört sein wird? Ich weiss einen Ort, wo du zu dir kommst. GREINA. Ein Ort der Stille. Du wanderst tagelang, siehst weder Menschen noch Haus. Zwischen den Füssen, die sickernden Quellen, ahnst du das ZEITLOSE. Im Namen Gottes die Schöpfung." Dazwischen, in diesen Text eingebettet, die Gegenstimme: "Wer soll das bezahlen? Die Idylle hat ihren Preis. Es wird dafür gesorgt, dass zugegriffen wird! Du wirst bald Strassen sehen. Baracken, die Mauer. Wirst fremde Sprachen hören. Leben ist Gegenwart. Im Namen des Menschen die TAT."1 Das Werk endet ohne eindeutigen Sieg einer der beiden Parteien. Es bleibt offen, wie sich die Menschen entscheiden werden. Die Bedrohtheit der Natur findet ihren musikalisch-kompositorischen Niederschlag darin, dass Schibler Naturstimmungen und Glockengeläut2 in die Musik des Hörwerkes einbaut. Künstlerisches Vorbild ist dabei Gustav Mahler. "Insbesondere sein (Mahlers, Anmerkung GS.) 'Naturton' ermutigte mich zu einem temporären 'Zurück zur Einfachheit', zu einem Durchbruch des Naturerlebens, wie es seit Jahrzehnten in der Neuen Musik verpönt gewesen war. So ist es verständlich, dass sich Spuren von Mahlers emphatischer Seelengestik, aber auch von Naturstimmungen in einigen meiner Partituren aufzeigen las- sen..."3 Die Wandlung von einer romantischen Naturbeziehung zu einer kämpferisch- gesellschaftkritischen Aktivität zeigt sich auch im musikalischen Handwerk, indem er nach und nach gegensätzliche Idiome neuer Musik seinem Personalstil einverleibt.

6.3.2 Gegen Machtmissbrauch und Unterdrückung: Epitaph auf einen Mächtigen Weltgeschichtlicher Ausgangspunkt dieses Werkes ist der Tod Chruschtschows im Jahre 1971 und die von westlichen Journalisten veröffentlichten ausführlichen Beschreibungen der Bestattungsfeierlichkeiten, welche in denkwürdigem Gegensatz zur einstigen Bedeu- tung dieses Mannes auf der Weltszene stand. Das Werk verlässt jedoch die Bindung an ein konkretes politisches Ereignis und rückt den Missbrauch jeder Form von Macht über ande- re in der Hand einzelner in den Mittelpunkt, und die Erkenntnis, dass wir in der heutigen Realität unweigerlich selber in derartige Geschehen verstrickt sind, so sehr wir das verbal auch abstreiten mögen. Auch dieses Hörwerk ist kontradiktorisch aufgebaut. Schibler thematisiert als Konterpart die eigene Verflechtung in Verantwortung und Schuld:

1 Armin Schibler, Texte 1975-82 131-145. 2 Zur tieferen Bedeutung des Glockengeläutes in Schiblers Leben vgl. S. Fehler! Textmarke nicht definiert.. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.48. Schibler denkt dabei an Werke wie Media in Vita und Fantasia noturna (Sinfonie Nr. 3) für mittleres Orchester, op. 44, Nr. 27 Das Werk 1986, S.48, doch auch Werke wie Greina weisen solch musikalischen Elemente auf.

123 " - und wir? Was treiben wir, lassen zu, dass getrieben wird? (...) Senken wir nicht den Kopf, schauen weg, wo geschieht, was nicht geschehen dürfte? Pak- tieren wir nicht, bleiben im Geschäft mit den Sendlingen der Macht, solange sie uns aus- spart? - du willst ja leben!"1 Doch nicht nur Überlebensangst und Überlebenskunst verführt zum Pakt bzw. Geschäft mit der Macht, sondern auch Bequemlichkeit: "Im unisono erschallt unser Bekenntnis zu einer gerechten Welt. Wie schnell verflüchtigt sich das Mitleid mit den Verdammten beim Griff in die Hausbar..." Die Gegenstimme wendet ein: "Das genügt. Hör endlich auf. Der Mensch ist nun einmal so, wer kann dafür? Zur Sache, das nächste Traktandum bitte." Die erste Stimme bleibt jedoch beharrlich: "- du glaubst davonzukommen? - erstickst du an der Fäulnis." Das Werk schliesst mit einem lateinischen Text, gesungen vom einrahmenden Chor: "requiem aeternam atque eis, qui culpa eius summo cruciatu periti sunt. memento tantorum, qui hodie in carcere vitam miserrimam trahunt" – mit dem bewusst lateinisch abgefassten Text für die rahmenden Chorteile will Schibler die Sprachbarriere in Gestalt des Verbreitungsgebiet der gewählten Sprache verkleinern - und mit einem mahnenden Aufruf an den Zuhörer: "Schau nicht weg, das geht dich an. Stelle dich, zerreisse das weltweite Gespinst, hab acht vor den Blüten der Fäulnis. ne horror reveniat."2 Symbolisch für das Psychogramm der vielen Täter in der Welt: die Spaltung des Mächtigen in einen gesellschaftlich machtvollen, Menschen skrupellos vernichtenden Politiker und in einen privat fürsorglichen, ja künstlerisch interessierten Menschen: "Der Gefürchtete privat: fürsorglicher Gatte und Vater. Familiäres Idyll nach Mass. Fami- lienfotos, Postkartengrüsse im Spiegelrahmen. Sein Sentiment beglaubigt: er summte die alten Lieder. Home to Virginia, die Wolgaschlepper, My Kentucky Ranch. DIE ALTEN LIEDER. (...) Seine Hand, vom Unterschreiben der zu vollstreckenden Urteile müde, strei- chelte die Katze, mitunter das Knie der First Lady. Künstler förderte er jovial; die Betroffenen bezeugen seine Rührseligkeit beim Anhören von Musik. Beethoven, natürlich Tschaikowsky, Gershwin.(...) Der schlagende Beweis für seine Menschlichkeit: er konnte Blut nicht sehen. Er schaute weg, spielte mit Karten, wenn die Köpfe rollten."3 Musikalisch begleitet das Werk die literarischen Texte auf vielfältige Weise: Sprechchöre skandieren die Sprache, lösen sie in Vokale und Konsonanten auf. Wiederum integriert Schibler Volkslieder in sein Werk ('er summte die alten Lieder...'). Die Musik wird be- schwingt und fast heiter, verführt dazu, zu überhören, welch schreckliche Spaltung dank ihrer Hilfe erfolgt: Private Sentimentalität, buchstäblich kunstvoll gepflegt, versus poli-

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 149. 2 Armin Schibler, Texte 1971-74, 147-151. 3 Armin Schibler, Texte 1971-74, 147.

124 tisch-menschlicher Bestialität. Schibler verführt den Zuhörer jedoch nur zeitweilig. Machtvoll holt ihn das Hämmern der Klaviere ein, zischen die Stimmen des Sprechchors in sein Gewissen. Der Schluss, der in reiner Sprache vielleicht pathetisch klingt, lässt in der Vertonung durch Klänge und Geräusche das Leiden und die Verzweiflung der Entrechteten plötzlich gegenwärtig werden: Rüttelt auf, klagt, klagt an. Stellvertretend typisch für die Echos auf viele Hörwerke Schiblers: Kritiker werfen diesem Werk Moralismus vor. Diesen Vorwurf lässt sich Schibler gefallen, bezieht er doch in diesem Werk pointiert moralisch Stellung, denn es ist gerade das moralisch-ethische Dilemma der Mitschuld des Einzelnen an Menschheitsdramen, das ihn zur Ausarbeitung dieses Werkes treibt. Er vertritt den Standpunkt: Kunst soll nicht nur den schönen Schein beschwören, Kunst mit ihrer unter die Haut gehenden Mitteln der Vergegenwärtigung und der damit verbundenen gefühlsmässigen Steigerung hat sich auch oder gerade der Themen des leidenden Mitmenschen und unserer Mitschuld durch Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit anzunehmen. Selbstverständlich kann man sich einer solchen Einstellung verschliessen und Kunst aus- schliesslich als Gestaltung des schönen Scheins und Seins verstehen. Wer jedoch diese Einschränkung nicht nachvollziehen will, kann in der künstlerischen Gestaltung der von Schibler gewählten Themen die ethische Dimension in Gestalt des literarisch-religiösen Appells, des Mahn- und Weherufes wohl nicht missbilligen. "Vielleicht sind die Töne der Sprache etwas rauher, doch reichen sie weiter, ins Wirkli- che", dieses Zitat aus dem Text des 5. Streichquartetts ist wohl - angesichts dieses Werkes - durchaus doppeldeutig zu verstehen. Schibler verwendet die Sprache in Epitaph auf einen Mächtigen nicht nur als Medium der Mitteilung, sondern als Medium der Beschwörung, des fast religiös-prophetischen Anrufes. Damit verwandelt sich auch das Wirkliche: Es wird tiefer, bleibt nicht bei den Tatsachen und Ereignissen stehen, sondern lässt eine Welt der zutiefst mitempfindenden, mitfühlenden Verbundenheit mit Mensch und Tier entstehen. Seine empatische Schau (Vision) einer anderen Welt ist eine künstlerische Schau, in der Ästhetik nicht auf der Erfüllung von - von wem auch immer festgelegten - Normen beruht, sondern auf der Schönheit des mitfühlenden, mitschwingenden Lebendigen. Das hat nichts mit Weltverbesserung tun, die oft der Tendenz erliegt, Komplexität auszublenden und ihre (Schein-)Lösungen als Allheilmittel anzupreisen. Es ist ein Ausnützen der künstlerischen Möglichkeiten der Synergie von Musik und Sprache.

6.3.3 Die Ambivalenz des technischen Fortschrittes: Der da geht Bei allem Engagement Schiblers gegen die Naturzerstörung ist er kein Fortschrittsgegner, dazu schätzt er die Möglichkeiten des Fortschrittes zu sehr. Was ihn aufs tiefste beunru- higt, ist die lebensfeindliche Nutzung des Fortschrittes, die sich als Fortschrittswahn und – gläubigkeit manifestiert, verdichtet in der Formel Fortschritt um jeden Preis. Das Hauptproblem ist nach Schibler ein nicht nachhaltig gewährleisteter, nicht zukunftsfähiger (und damit auch zukünftigen Generationen zur Verfügung stehender) Fortschritt. Schibler hat diese Gedanken bereits früh, lange vor den von Fachleuten geprägten Begriffen Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit entwickelt. So fordert er 1979 in dem Artikel 'Neues

125 Bewusstsein – Voraussetzungen einer neuen Kultur' ein vernetztes Denken und Handeln, und ein Bewusstsein dafür, dass jede Tätigkeit eines Menschen, jeder Konsum und jede Institution auf ihre Zusammenhänge im Ganzen zu hinterfragen und zu qualifizieren sei: "Wenn erst einmal die Maxime, dass jedes Tun eine Folge hat, die - mag sie noch so nebensächlich scheinen - in ihrer Summierung ins weltweite Ganze eingreift, sich durchsetzen wird, dann ist dem Einzelnen wieder eine echte Mitverantwortung und Mitbestimmung in die Hand gegeben. Ein umfassendes CREDO IN HOMINEM ist gefunden. Lebensqualität und Wohlbefinden sind wieder massgebend; Schuld und Sühne als regulierender Kodex für Verstösse gegen das Überlebensprinzip übernehmen ihre Funktion wie das Rotlicht im Stadtverkehr. Vernetztes Denken und Handeln fordern keine Revolution, sondern ermöglichen die Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse aufgrund der Einsicht in das Not-Wendige."1 Die (scheinbar) grenzenlosen Möglichkeiten des heutigen Menschen - in Wirklichkeit auf der längerfristigen Zerstörung der Lebensgrundlagen beruhend - überfordern ihn psychisch, da im persönlichen und gesellschaftlichen Handeln kein dringend benötigtes Korrektiv eingebaut ist: ein Korrektiv, welches dem Menschen die eigene Verantwortung erfahren liesse. Oekologie und Kybernetik vermitteln zwar die Einsicht, dass jedes Tun - des Einzelnen wie auch der Menschheit insgesamt - Gewicht und Einfluss auf das Oekosystem hat. Doch das Gefühl für Mitverantwortung und Mitbestimmung und damit von menschlicher Würde hat der moderne Menschen zu wenig entwickelt, statt dessen herrscht überbordender Konsum. Für Schibler zeigt sich dies auch am Gebrauch der Musik als Genussmittel, als Palliativ, als reines ästhetisches Vergnügen. Das Problem der damit einhergehenden Entwertung der Musik behandelt das nächste Kapitel, besonders der Abschnitt 7.4 über den Missbrauch von Musik. Hier nur so viel dazu: "Noch immer nämlich beruht die Tatsache, dass das Musikhören der Anlass zu einem Geschäft werden kann, darauf, dass die Musik zur Erzeugung von Lustgefühlen benutzt werden kann. Das ist auch der Grund, weshalb das rein Ästhetische unverbindlich gewor- den ist: immer wieder wird es als ein Sinnliches, Kulinarisches 'genossen' und damit seines einstigen tieferen Gehalts beraubt. Wo aber hinter der musikalischen Darbietung der Wahrheitsgehalt hörbar wird, die Klänge wieder auf die tragischen Hintergründe der Exi- stenz weisen, da erzwingen sie im Hörer die Besinnung auf sein Verflochtensein mit den heutigen Problemen."2 Kurz vor seinem Tode (1986) äussert Schibler sogar, dass sich der Fortschrittswahn bereits entlarvt habe: "Der Glauben an den unbegrenzten Fortschritt, der uns inzwischen gründlich abhanden gekommen ist, hat Wirklichkeit und Kunst der vergangenen Jahrzehnte noch geprägt. Wer sich der Täuschung nicht hingab und der Hybris des Modernismus mit seiner Tendenz zur

1 Neues Bewusstsein - Voraussetzung einer neuen Kultur. Schlussvotum anlässlich des Symposiums auf Schloss Lenzburg Sept. 79 der Stiftung Pro Helvetia und Pro Argovia, aus: Texte 1975-82 169. 2 Armin Schibler, Grundsätzliches zur Suche nach einer neuen Sinngebung der Musik, Rede zur Eröffnung der Aula Rämibühl, Frühjahr 1971, S. 4.

126 Überbetonung spezialisierter Materialresultate einige Skepsis entgegenstellte, hatte es schwer, einer ernsthaften Bemühung glaubwürdig befunden zu werden."1 Das kontradiktorische Hörwerk Der da geht... Auch Der da geht ist ein kontradiktorisches Hörwerk, das ideale künstlerische Gefäss für eine differenzierte Darstellung der Ambivalenz des Fortschrittes. Darin weist Schibler auf Chancen und Gefahren der gegenwärtigen Entwicklung hin, deren Problematik in der Unfähigkeit der Menschen begründet ist, den Fortschritt lebensfreundlich zu nutzen. Das Werk lässt sich in vier Teile aufteilen und beruht auf einer Synthese von Text und Musik, welche – wie theoretisch dargelegt – Erschütterung zu bewirken versucht und damit trotz der Thematisierung von gesellschaftlichen Problemfeldern eine Reduzierung auf die Ethik (und damit moralische Überforderung) zu vermeiden versucht. Das Werk beginnt literarisch mit der Schilderung des (listenreichen) Fortschrittstriebes des Menschen. Es gipfelt in der Aussage: Der Mensch „kommt davon und immer weiter...“ Musikalisch begleitet wird der Text von sich triebhaft wiederholender, gehetzter Musik. Schibler verwendet alliatorische Elemente, an Sinnlosigkeit erinnernde Einschübe (Stakkato) und endet mit dem hohen A im Klavier. Dann jedoch formuliert eine Frauenstimme den Gegenpol: „Halte Rast, höre auf die Stimme. Spricht sie dir nicht vom Drang des schöpfungsbesesse- nen Gottes, der endlich Ruhe finden will? Lass ihn teilhaben an unserem kreatürlichen Glück, damit er seinen Zwiespalt vergesse im beseligenden Sich-Finden der Liebenden...“2 Die Musik wird ruhig und getragen, Bläser spielen eine weiche, fast lyrische Melodieflos- kel, Streicher- und Flötenklänge erklingen. Im dritten Teil erfolgt die Wiederaufnahme der Bedrängnis durch die Männerstimme. „Unübersehbar viele sind es, gekommen um teilzuhaben am Fest, dem ein Ende zu nehmen bestimmt ist, bevor es für die meisten begonnen hat...“3 Das Klavier türmt – im Verbund mit schabenden Geigen – bedrohliche Klänge auf. Die Flöte flattert; gehetztes, gehauchtes Glissando der Geigen. Eine Schreckensvision wird laut: Die Wiederkehr der Not. „Jeder rafft, was er findet. Aufs neue herrscht Gewalt. Einer gegen den andern, tobt der Kampf um die versiegenden Quellen. An den Tümpeln, zwischen Sterbenden, hocken Tiere und die Kinder, mit fragenden Augen. Niemand kennt sie. Die Gesichter der Toten starren wie Masken, klebrig und schwarz.“4 Die Musik türmt Cluster auf, Tremolo der Geigen, das Fagott intoniert kaum wahrnehmba- re Veränderungen in Halbton-Schritten, sie umkreisen endlos einen Ton. Repetitives Getö- se des Klaviers, Melodie der Verlorenheit vom Saxophon. Der Text:

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.11. 2 Armin Schibler, Texte 1971-74, 153. 3 Armin Schibler, Texte 1971-74, 156. 4 Armin Schibler, Texte 1971-74, 156.

127 „Zuletzt: die Kälte. Die Vorräte aufgezehrt, die Wälder kahl geschlagen. Am Horizont über leblosem Gelände, als hätte sie ihre Wärme anderen Gestirnen zugewendet, die bleiche, gleichgültige Sonne.“1 Kommt der Mensch nicht mehr voran, nur noch davon? Der vierte Teil beinhaltet den Anflug eines Ausgleichs zur Schreckensvision. Musikalisch nehmen die Bläser das Eingangsmotiv auf, ebenso der Text Motive des 2. Teils: „Der Mensch, was bleibt ihm? Das kleine Geheimnis in ihm selber. Einer dem andern Wegweiser erfüllter Gegenwart.“2 Erst im Kontrast mit den Bedrohungen der Gegenwart erfährt diese Möglichkeit des Seins seine tiefere Bedeutung. Die Geigen intonieren sphärische Klänge. Die Spaltklänge, Sym- bole existentieller Verlorenheit, holen die gelebte Gegenwart jedoch wieder ein und das Werk endet textlich mit der Frage: „Kommt er immer wieder auch diesmal gerade noch – davon?“ Doch vorher weist der Sprecher nochmals auf unsere Verantwortung hin: "Was wird die spätere Geschichte, sofern noch zu berichten sein wird, von uns sagen? Vielleicht dies: dass damals - es werden die eben vergangenen Jahrzehnte gemeint sein - eine Chance bestand, die Welt für eine gemessene Zahl von Bewohnern einzurichten. Dass die Verantwortlichen - gemeint sind wir, die heute im Wohlstand leben - diese Chance nicht zu nutzen wussten; indem sie sich leichtsinnig der Euphorie jener Epoche hingaben und die Grundlagen zukünftigen Lebens zerstörten, erwiesen sie sich der Schöpfung nicht gewachsen. Könnte es sein, dass man sagen wird: das beinahe unbegrenzte listenreiche Wissen, über das der Mensch verfügte, habe schliesslich gerade ausgereicht, dass er ein weiteresmal davonkam?"3 Für mich moralisiert dieses Werk nicht wirlklich– gerade angesichts der Ambivalenz des technischen Fortschritts, sondern vergegenwärtigt (wenn auch mögliche düstere Zukunftszenarien) und stellt mit künstlerischen Mitteln dar. Damit gewinnt es Ausdruckskraft und bewirkt beim Zuhörer Erschütterung, beides Voraussetzung zu Werte- und Verhaltenswandel.

6.4 Das zukünftige Musiktheater – jenseits von E- und U-Musik?

Auch nach der Schaffung seiner wichtigsten Hörwerke ist Schiblers Interesse an der Oper weiterhin ungemindert, wie seine Schrift zum Musiktheater aus dem Jahre 19844 zeigt, in

1 Armin Schibler, Texte 1971-74, 156. 2 Armin Schibler, Texte 1971-74, 157-158. 3 Armin Schibler, Texte 1971-74, 157. 4 Möglichkeiten des Musiktheaters. Zur theoretischen Schrift 'Hat das Musiktheater eine Zukunft', erschienen in: '150 Jahre Theater in Zürich', Orell Füssli-Verlag Zürich 1984, aus: Das Werk 1986, S.134- 141.

128 der er seine Einschätzung der Möglichkeiten und Problematik der Oper umfassend wieder- gibt. Sie ergänzt in vielfältiger Weise die Darstellung dieses Kapitels. Die Oper ist nach Schibler das zentrale Gesamtkunstwerk des aristokratischen und bürger- lichen Zeitalters. Sie ist "als epochegeprägte Ausformung des magisch-rituellen Theaters zu begreifen, das sich mittels musikalischer Einstimmung mit Ursprung, Geheimnis und Sinnfrage des Menschen beschäftigt." Dieses Ritual hat nach Schibler den Menschen "von den Beschwörungsriten der Vorzeit über die antike Tragödie, das mittelalterliche Myste- rienspiel, das barock-klassische Operngesamtwerk bis zu den offenen Formen des Musik- und Tanztheaters unserer Zeit begleitet."1 Die Oper hat also einen religiös-rituellen Ursprung. Opern stellen "Bauwerke dar, wichtige Stationen der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins." Die Zukunft des Musikthea- ters zu bejahen beinhaltet eine Verbindung zur Tradition, welche angesichts grosser Verän- derungen Schibler als besonders wichtig erscheint. "Nur wer an den grundlegenden Fragen des 'Woher? Wozu? Wohin?' des Menschen nicht mehr interessiert ist und sich mit dessen blossen Funktionieren begnügen will, wird der schöpferischen Wandlung und Erneuerung des Musiktheaters die entsprechende kulturelle Bedeutung absprechen wollen."2 Das Theater ist nach wie vor das einzige öffentliche Forum, auf dem das Anliegen des Menschen, "sein Ringen um eine Existenz in Würde und zuträglicher Freiheit zur Darstel- lung gelangen kann." Schibler fragt sich sogar, "ob nicht gerade die Musikbühne, wo der singende und tanzende, 'Leid und Freud' der Existenz elementar zur Darstellung bringende Mensch uns dem immer problematischer werdenden Alltag entreissen kann, einer der wenigen Orte sei, wo es noch 'menschlich zugeht'..."3 Das Geheimnis der Popularität der Oper sieht Schibler in der Abstützung des Operngesangs auf der jeweiligen Popularbasis. "Sie erlaubte die Durchbrechung der ständischen oder bildungsmässigen Schranken und machte es breiten Schichten möglich, am anspruchsvollen Werk miterlebend teilzunehmen."4 Die Oper integrierte Popularmusik, z.B. durch die Verwendung von leicht hör- und singbaren Arien und Musikstücken, mit denen das Publikum mitfiebern, mitsingen konnte. Schibler sieht das Hören der zeitgenössischen Generation jedoch vermehrt reduziert auf das Klangliche, genauer gesagt auf Klangverführung durch Musik als Realitätsflucht-Palliativ, "so dass schliesslich die süchtig gewordenen Ohren auf die differenzierten Mittel der an- spruchsvollen Musik nicht mehr ansprechen."5 Was kann ein Komponist einer anspruchs- vollen Musiksprache in dieser Situation tun? Schiblers Antwort:

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.134. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.134. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.135. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.136 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.139

129 "In seiner momentanen Glashaussituation wird er bisweilen beinahe neidisch auf die Lebensnähe des heutigen Umgangs mit den Tönen blicken, auf die Lebenshilfe, welche die musikalische Unterhaltung vielen Menschen angesichts der Öde ihrer Arbeits- und Lebens- bedingungen zu geben vermag. Er wird sich aber in seiner Verpflichtung bestärkt fühlen, wenn er des engagierten und wirkungsvollen Beitrags gewisser Gruppen – Politmusiker, Chansonniers und Liedermacher - an die Vermenschlichung des Klimas gewahr wird, indem diese den uralten Auftrag wahrnehmen, mit den Mitteln der Töne für die Benachtei- ligten und Unterdrückten einzustehen. Statt sich in die Isolation zurückzuziehen, wird er unvoreingenommen prüfen, wie er zugunsten seiner Schöpfung von diesen positiven Seiten des zweiten Musikstroms lernen kann, damit seine elitäre Arbeit nicht an hochgezüchteter Wirklichkeitsferne kränkelt."1 In der Situation von künstlerischer Vereinfachung und Kommerzialisierung der Musik ist also für Schibler nur ein Weg gangbar: Kein Rückzug auf ein sogenannt Eigentliches, wel- ches sich selber als problematisch erweist - elitäre Arbeit, an hochgezüchteter Wirklich- keitsferne kränkelnd, sondern Offenheit für die positive, heilende Kraft der Musik, wo im- mer diese aufscheinen und aus welcher musikalischen Richtung sie auch stammen. Damit hebt Schibler die Spezialisierung/Polarisierung in E- und U-Musik als unbrauchbar auf, obwohl sie inzwischen ein problematisches Faktum geworden ist: "Es gilt sich damit abzufinden, dass inzwischen die Spezialisierung und Polarisierung die Musikbereiche derart auseinandergerissen haben, dass an eine Synthese der Gegensätze, wie sie vor einigen Jahrzehnten noch möglich war, nicht mehr zu denken ist."2 Schiblers musikalische und künstlerische Entwicklung ab 1960 wird zeigen, dass er sich selber nicht mit der Spezialisierung abfindet wird, sondern die Integration verschiedener Musikrichtungen wie auch künstlerischer Medien wagt, damit unterschiedliche Aspekte von Musik und von Menschsein zur Darstellung kommen.

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.140. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.140.

130 7 Offenbarung des Sinnes, tönende Stille: Zum Stellenwert von Musik

In seinem Ringen um den treffenden musikalischen Ausdruck, zu dem ihn sein innerer kompositorischer Auftrag verpflichtet (5.2), muss sich Schibler immer wieder der Frage stellen, welche Funktion und Bedeutung Musik für die Seele des Menschen hat. Erste Ant- worten darauf findet er in seiner intensiven Beschäftigung mit unterschiedlichen Musikstilen und Musikgattungen, wovon Kap. 5 berichtet. Weitere Antworten sind in musiktheoretischen Schriften und Tagebuchnotizen festgehalten, welche ich im Folgenden zusammenfassen werde.

7.1 Seelische Resonanz in und mit Musik

Bei seinen Beobachtung der zeitgenössischen Musikszene kann Schibler nicht entgehen, dass die Zeitgenossen ganz unterschiedliche Präferenzen für Musikstile entwickeln. Auf der Suche nach einer Erklärung für dieses Phänomen analysiert er musikalische Werke ver- schiedener abendländischer Musikepochen, vor allem Werke von Beethoven über Debussy bis zu Strawinsky. Dabei gelangte er zu folgender Einsicht: Während des Musikhörens ereignet sich im Hörer eine Resonanz, welche die musikalisch-künstlerische Aussage eines Werkes gefühlshaft nachvollzieht. Dank dieser seelischen Resonanz taucht der Hörer in die psychische Grundhaltung ein, aus der heraus das gerade gehörte Werke komponiert wurde. Ein Mensch, der offen ist für alle musikalischen Phänomene, Musikstile und Richtungen, kann beim Hören einer solchen musikalischen Vielfalt eine besondere Ganzheit erfahren. Auf der Grundlage eines reichen, ausdifferenzierten Gefühlslebens öffnet daher sich die Seele für die vielfältigsten Gefühlsbereiche, von der Trauer bis zur Glückseligkeit, von der Ekstase bis zur Verzweiflung, vom Archaischen/Anarchischem bis zur geistigen Struktu- rierung: "Die im Musikalischen versuchte Synthese der gegensätzlichen Idiome im Zeichen des übergeordneten Anliegens darf als musikalischer Vollzug einer neubestimmten GANZHEIT gesehen werden, indem bisher unterdrückte oder vernachlässigte Teile der Persönlichkeit aktiviert und zu einem Gleichgewicht gebracht sind, bei dem das bisherige Übergewicht des einseitig Geistigen aufgehoben ist."1 Angesichts der Erkenntnis dieser Zusammenhänge ahnt man, warum für Schibler die Achtung vor einer möglichst breiten Palette von musikalischen Phänomenen so ungemein wichtig ist: "Die mir ideal scheinende Antwort wäre: 'Ich halte mein Ohr für alles offen und höre, was immer als tönender Ausdruck menschlicher Existenz mich anspricht.' Eine solche Antwort scheint mir auf der Höhe unserer Zeit zu sein, die uns - zumindest im geistigen Klima - von so vielen Beschränkungen und Tabus befreit hat. Leider findet man diese Offenheit gegen- über dem Klanglichen nicht einmal - oder gerade nicht? - bei den Komponisten. Natürlich

1 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz 23.

131 ist jeder, je nach Begabung und Persönlichkeit, zur Fixierung seiner schöpferischen Absichten durch sein Kulturklima, durch gesellschaftliche oder berufliche Zugehörigkeit gezwungen. Als Professioneller des Hörens fühle ich mich aber von allem berührt, was unverfälschte Äusserung von Leid und Leidenschaft, aber auch von Daseinslust und rauschhafter Glückserfahrung darstellt. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass ich Volkslieder singe, in denen das Befinden ganzer Bevölkerungsgruppen sich niedergeschlagen hat."1 Schibler erzählt in der Folge von einer Begegnung mit mazedonischen Komponisten: "Unvergesslich ist mir, wie sie mich vor einigen Jahren in Skopje nach einem Konzert neuester Musik in ihr Foyer holten, um mir dort - Volkslieder zu singen, eines aufregender als das andere, die Strophen auswendig präsent, in reicher Harmonisierung und mit Gegenstimmen durchsetzt gesungen! Ich erlebte die Bestätigung meiner Ansicht, dass die Musik in einer echten Kultur nicht Sache einzelner bleiben darf, sondern das Anliegen der ganzen Gemeinschaft sein muss. Es lässt sich sogar die Frage stellen, ob unsere gesell- schaftlich gepflegte Hörpraxis, bei der wir ohne äussere Bewegung dasitzen und die Akti- vität im Sinne des abstrakten Hörens ganz nach innen verlegen, nicht eine seltsame west- liche Besonderheit darstellt, die von der jüngsten Generation - was Konzentration und Verinnerlichung betrifft - kaum mehr geleistet werden kann."2 Das Besondere an diesem Erlebnis: Es sind moderne E-Musik-Komponisten, die sich trotz aller Modernität ihre Freude an ‚ihren‘ Volksliedern als Traditionsschatz und Ausdruck der Seele nicht nehmen lassen!

7.2 Der Mensch zwischen kosmischer Einbettung und irdischer Existenz

Im Hören von Musik erlebt der Mensch seine Bipolarität, seine Zugehörigkeit zu zwei Welten, zum Irdischen und zum Kosmischen: Je nach der künstlerischen Verwendung der Medien Musik und Sprache oszilliert das Bewusstsein zwischen beiden Polen: "Wo immer Musik zu hören ist, erweist sich das akustische Phänomen als umfassende Chiffre für unser bipolares Wesen: in der physikalisch-harmonikalen Struktur des Klangs erfahren wir die Einbettung unseres Daseins ins Kosmische; als sprachähnliche Mitteilung gewährt das Klangliche vermittelst Stimme und Instrument der Wirklichkeitserfahrung gefühlshaften Ausdruck. Dieses als ein identisches sich äusserndes Zusammengehen des überzeitlichen klanglichen Symbols mit der spontanen Gefühlsabreaktion erklärt die als realen Trost erlebte Minde- rung des Existenzdruckes, die das 'tönende Zahlenspiel' gewährt. In dieser dem Vorder- gründigen zugewendeten Epoche steht die Musik mehr denn je für einen rational nicht begründbaren Sinngehalt des Lebens und nährt damit das Bedürfnis der Psyche mit der Hoffnung auf eine mögliche Versöhnung der Existenzwidersprüche.

1 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz 16/17. 2 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz 16/17.

132 Dem heutigen kritischen Bewusstsein verbleibt die Musik eine jedem zugängliche sinnliche Erfahrung des existentiellen Geheimnisses."1

7.2.1 Geheimnis Musik: Verbindung mit dem kosmischen Sinnganzen Das Phänomen Musik hat nach Schibler einen besonderen Stellenwert im Rahmen mensch- licher Kultur und Religion: "...das Geheimnis Musik versagt sich jedem Versuch, durch Regeln oder Dogmen seiner habhaft zu werden. Äusserst empfindsam gegen die Routine des professionellen Standards, droht es in den Zwängen der Institutionen sich zu verflüchtigen und stirbt im handfesten Zugriff durch das Geschäft."2 Musik wohnt eine Kraft inne, die Schibler als Geheimnis erfährt: "Selbst in der Trivialmusik (wie auch in der Volksmusik und der klassischen Musik) bewirken Rhythmus, Melodie, Harmonie und Klang, dass der existentiellen Bedrängnis entflohen werden kann, um neue Kraft für die Lebensbewältigung zu schöpfen. Noch in ihrer ursprünglichsten Form, als Spiel mit der Zeit, versetzen Schlagrhythmen unseren Körper in kreisende Schwingung; selbst das geschädigte Kind vermag deren sinnvolle Gruppierung, die auf Zahlenverhältnissen beruht, zu erleben und vom blossen Geräusch zu unterscheiden. Musik ist sozusagen überall, als auslösendes Moment, beteiligt, wo die übersinnliche Erfahrungszone aufgesucht wird, deren wir bedürfen, um Mensch zu werden und zu bleiben."3 Musik vermag die unterschiedlichsten Dimensionen des Lebens zum Ausdruck zu bringen: "Zwischen diesem überzeitlichen Aspekt des Tönenden und seiner Zeit- und Umweltbe- dingtheit besteht eine fruchtbare Wechselwirkung. Ob ein Einzelner seine Leiderfahrung zum Ausdruck bringt oder die Deklassierten ihre soziale und menschliche Demütigung in Wort und Gesang formulieren und dabei teilweise abreagieren - immer ist Musik auch Lebenshilfe, tröstende Verkörperung des Urwiderspruchs, der uns als suchende 'Fremd- linge zwischen Tier und Gott', halb Natur, halb dem reinen Geist zugehörig als vorläufigen Endpunkt der Schöpfung auf diesem Planeten ausgesetzt hat. In diesem Sinn begreife ich Musik als das sinnlich erfahrbare, sozusagen stellvertretende Geheimnis: im Hören erfah- ren wir eine Versöhnung zwischen den Wirrnissen der vordergründigen Existenz und dem Bedürfnis nach Sinnbestätigung. Mehr ist von Musik nicht zu erwarten, ohne dass sie überfordert und ihrem eigentlichen Wesen entfremdet wird."4 Musik - Ausdruck des Menschseins überhaupt - eröffnet dem Menschen eine sinnliche Erfahrung des existentiellen Geheimnisses! Musik gehört zu ihm wie das Atmen, Tanzen, Bewegen und sich Mitteilen.

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.7. 2 Armin Schibler, Musik - Medium zwischen Zeit und Zeitlosigkeit. Eine autobiographische Skizze. Aus: Werkspur 1949 - 1980, ELSC 06 S. 1. 3 Armin Schibler, Musik - Medium zwischen Zeit und Zeitlosigkeit 1. 4 Armin Schibler, Musik - Medium zwischen Zeit und Zeitlosigkeit 1.

133 In der Verbindung zum kosmischen Sinnganzen ist Musik Träger einer Botschaft der (schmerzhaften) Wahrheit und einer Botschaft der glückhaften Erfüllung. Mit höchster Prägnanz drückt das eines seiner Gedicht aus: "Wenn das Tönende die Spur der Wahrheit ist unberedbare Sprache unberedbare Botschaft dann bist du am Ort lausche sei gefasst bis an die Ränder des Schmerzes...... wo es aus Schmerzen singt nur dort stimme ein in die Versöhnung Unstillbar: die Sehnsucht dieses Heim-Weh nach dem Kern der Dinge unerwartet bisweilen streift dich ein Hauch du ahnst die Nähe des Unzerstörbaren unter der Schale das pochende Welt-Herz."1

7.2.2 Musik: Stillung der Sehnsucht nach authentischem Ausdruck In der Musik findet die Seele den Raum, um sich und damit das Menschliche überhaupt auszudrücken. Damit der Musik dieses Aus-drücken gelingen kann, bedarf der Mensch der Bindung an seelisch-gefühlshafte Kräfte:

1 Armin Schibler, Texte 1971-74, Wenn das Tönende die Spur der Wahrheit ist, (Text zum Streichquartett Nr. 5) S. 159 - 164.

134 "Wo (...) Menschen in den Tönen den Ausdruck ihres Befindens erkennen, wo Körper und Geist von der seelischen Dimension her durch den Klang genährt werden, erneuert es sich und schenkt den Hörenden die Erfahrung ihrer Verbundenheit mit dem kosmischen Sinn- ganzen. Das Wunder Musik fragt nicht nach Bildungsstand und gesellschaftlichem Rang, wo es sich ereignet: auf seinen harmonikalen überzeitlichen Gegebenheiten basiert die kunstvolle Ausprägung durch die Spezialisten nicht weniger als die anonyme Volksmusik in aller Welt."1 Für Schibler ist das Bedürfnis des Menschen nach Ausdruck seiner Seele in seinem Wesen verankert. Moderne Musik auch bester Art vermag dieses Bedürfnis allein meist nicht zu stillen, wie Schibler am eigenen Körper erfuhr: "Ein aufregendes Konzert in der Tonhalle: Rosbaud dirigierte Schönbergs Variationen, op. 31, das Ebony-Concerto von Strawinsky, das Konzert für Jazz- und Sinfonieorchester von Liebermann und 'Sacre du printemps'. Eines der denkbar idealsten Programme unserer Zeit, wobei sich die fehlende Mitte als Interpretation der Extreme ergibt - man muss sie nach dem Konzert in sich selber vollziehen. Merkwürdig: von allen Werken in irgendeinen Bereich hingerissen und gepackt, verliess ich die Tonhalle mit einem Gefühl seelischer Leere, die ich aber zunächst als Hungergefühl in der Magengegend 'diagnostizierte'. Ich ass also Würstchen mit Senf und trank kühles Bier dazu, Njuscha tat dasselbe - um nachher festzustellen, dass sich das Gefühl von Leere noch verstärkt hatte (denn wirklichen Genuss bereitet mir das Essen nur nach tiefer seeli- scher oder körperlicher Strapaze...) Und plötzlich empfand ich Sehnsucht nach einem Satz von Gustav Mahler und wusste, was ich vermisst hatte in soviel Können, Konstruktion, Vitalität und Archaik: den Menschen. Den Ausdruck des Menschlichen in der Höhenlage, wie sie der Stand der Erkenntnis erfordert, wie sie das alleinige Ziel jeder künstlerischen Aussage in ihrer Zeit sein kann. Musik also, mit der man dem Tod gegenübertreten könnte. Raum der Seele. Offenbarung des Sinnes, tönende Stille. Wo mir dieses Menschliche im Kunstbetrieb nicht begegnet, befällt mich immer mehr ein Ekel, eine Scham für die Entwürdigung innerster Gehalte. Erst dann keimt die Lust, selbst Musiker zu sein: wenn das Leben unerträglich wird."2 Schibler schildert ein anderes überwältigendes Ereignis, wo sich der Drang der Seele nach authentischem Ausdruck überraschend Bahn bricht. Schibler besucht 1979 anlässlich einer Weiterbildung in Ungarn eine musikalische Vortragsübung, eine Schau kollektivistischer Musikerziehung, in der es vor allem um Technik, Drill und Fingersport geht (Musikerzie- hung als Drill trifft Schibler leider auch in der westlichen Kultur gar nicht so selten an): "Plötzlich, nachdem die Übung schon gegen eine Stunde gedauert hat, mit all dem Unkind- lichen, Gekünstelten, das auch hier der mit kollektivistischer Stosskraft betriebenen Musik- erziehung anhaftet, beginnt ein Mädchen zu seinem Klavierspiel zu singen! Es ist völlig still im Quartiersaal; das Erscheinen des Ungedrillten bewirkt eine Erlösung. - Wie lange

1 Armin Schibler, Musik - Medium zwischen Zeit und Zeitlosigkeit 1. 2 Tagebuch Armin Schibler, 30. Juni 1955

135 wird es noch dauern, bis die Erkenntnis durchbricht, dass die Musikübung auf einen der zwei möglichen Pole auszurichten wäre: auf die Erziehung zur Mitverantwortung durch das Denken (für was stehen die musikalischen Chiffren ein?) oder, wie soeben unerwartet sich ereignend, auf das Heraufholen und Freilegen des Unverstellten, Ursprünglichen im Menschen, sei es im Schlag auf klingende Körper, in Bewegung, Tanz, Gesang - , in all jenem, das uns zu Instrumenten unseres Unbewussten werden lässt, das uns ebenfalls einen möglichen Weg auf eine Rettung hin weist?"1 Musik vermag das Ungekünstelte in Menschen freizulegen bzw. auszudrücken. Musik steht für Schibler folgerichtig auch für den Einbruch des Anderen und bietet einen Freiraum für Ursprüngliches. Die Klänge der Musik vermögen einen Hort der Menschlichkeit zu gewährleisten, in welchem sich der Mensch in seinem Innersten ansprechen lässt. Darum geht es Schibler letztendlich: Musik als Raum der Seele und der tönenden Stille zu schaffen, mit der man dem Tod gegenübertreten kann. Das gerade zitierten Gedicht (S.134, Wenn das Tönende die Spur der Wahrheit ist) bezeichnet die Sehnsucht nach authentischem Ausdruck als 'Heim-Weh nach dem Kern der Dinge'. Das Tönende umfasst momenthaft unseren Kern, unsern Körper, unser Herz, im Moment des beteiligten, empatischen Hörens sind wir mitten drin, 'zu Hause', wie ein Fötus in seiner Mutter beispielsweise. Nicht immer mögen die Klänge für den Hörer angenehm sein (manchmal führen sie bis zu den Rändern des Schmerzes) - sie sind es ja übrigens vermutlich auch für den Fötus nicht immer.

7.2.3 Musik als gemeinschaftsbildende, lebensbewältigende Kraft Für Schibler wohnt der Musik die Kraft inne, "der Gemeinschaft durch Klänge die Mög- lichkeiten und Grenzen des Menschseins im rituellen Rahmen zu vermitteln."2 Menschen erfahren Musik als "Gegenkraft zur Verdinglichung des Menschen."3 Musik vermag Gemeinschaft zu stiften jenseits von Verrat oder Vereinnahmung. Jeder Mensch 'kompo- niert' einerseits seine eigene Lebensmelodie, es ergeben sich jedoch auch gemeinschaftliche Melodien, jenseits von verordneten, kollektivistischen Marschchorälen. In einem literarischen Text schreibt er: "In Zeiten, wo die Menschheit ums Überleben ringt, zieht sich das Tönende in die Herzen zurück; es singt die rettende Tat. Opfere dich. Gib dich hin an das Allgemeine, so bleibst du dir unverloren; wo du am möglichen Ort das Notwendige getan, ein Schlimmes verhütet hast, darfst du dein Augenmerk vom düstersten Horizont abziehen und wieder auf deine

1 Tagebuch Armin Schibler, Budapest, Oktober 1979, sowie Das Werk 1986, S.116. Dieses Zitat stellt eine Tagebuchnotiz dar, obwohl Schibler nach 1966 kein Tagebuch mehr geschrieben hat. Es findet sich im Werkverzeichnis, und es entzieht sich meiner Kenntnis, in welchem Zusammenhang es notiert wurde. Ein Reisetagebuch, oder ein Auszug aus einem Brief? 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.13. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.16.

136 kleine unzerstörte Welt richten. Mit jedem Lächeln eines Verzweifelten, das du weckst, blüht jene Melodie auf, die uns vielleicht alle eines Tages zueinander finden lässt."1 Musik bietet also nicht nur Unterhaltung oder Trost: das Tönende singt die rettende Tat, es umfasst Handeln, Widerstand, Engagement. Insbesondere zeigt sich dies an den Protest- und Widerstandsliedern, die jeden gesellschaftlichen Umbruch begleiten, ja sogar meist mit Kraft und Seele inspirieren. Deshalb weist Schibler dem Protestsong, der Folklore, dem Volks- und Kinderlied eine spezielle Kraft zu.2 Zu seiner Vorliebe für folkloristische Motive: "Die Überforderung unserer Psyche durch die Technologie hat die folkloristischen Werte in ein neues Licht gerückt. Angesichts des Trends zur kosmopolitischen Nivellierung ent- decken wir aufs neue das preisgegebene Eigene in seiner Ursprünglichkeit. Eine neue Generation, die sich für die verödete Welt nicht schuldig zu fühlen braucht, versucht den Faden der folkloristischen Tradition wieder aufzunehmen und ahnt dabei die einstige Fülle eines bescheidenen, jedoch sinnerfüllten Lebensrahmens."3 Schibler nimmt an unterschiedlichen Orten, in unterschiedlichen Musikströmungen die Kraft von Musik zur Gemeinschaftsbildung und zur Lebensbewältigung wahr:

- Musik für Benachteiligte und Entrechtete bei Liedermachern und Protestsängern;

- Musik als Ausdruck der gequälten Seele, als Hoffnung auf Befreiung, z.B. in der schwarzen Folklore der Sklavenzeit, in Spirituals, im Blues, Jazz;

- Musik als Überlebenshilfe und als Hilfe zur Gemeinschaftsfindung, z.B. in der Folklore, aber auch im Gebrauch der Musik durch junge Menschen;

7.3 Musik als Spiegel der gegenwärtigen Zeit

Was spiegelt sich in der Musik unserer Zeit? Schibler findet eine Antwort, indem er von zwei auffallenden Phänomenen der gegenwärtigen Musikwelt ausgeht: Die zeitgenösssische Musikproduktion spaltet sich in E- und U-Musik, wobei die E-Musik nur eine äusserst schmale Hörerbasis gewinnen konnte, während die U-Musik sich bis zur 'Sturzflut akustischer Raumberieselung' (Schibler) verbreitet hat und von vielen jugendlichen Zuhörern oft bis zum Exzess konsumiert wird. Die grosse Mehrzahl heutiger Musikhörer hat sich auf eine 'Lieblingsmusik' spezialisiert. Schibler erklärt diese Phänomene mit dem in 7.1 vorgestellten Phänomen der seelischen Resonanz. Seine Erklärung erläutert gleichzeitig die These dieses Abschnittes von Musik als Spiegel der gegenwärtigen Zeit.

1 Armin Schibler, Texte 1971-74, 116. 2 S. z.B. Berner Marsch, op. 50b, fünf alte Schweizer Volkslieder für gem. Chor oder Vokalensemble, (1957), Nr. 14 Das Werk 1986, S.65; aber auch Negro spirituals, das erste Schlagzeugkonzert etc. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.66.

137 7.3.1 Schmale Hörerbasis der modernen E-Musik Kennzeichnend für die E-Musik ist eine "Harmonik, die wir als hart empfinden, weil sie nicht mehr wie früher dem Gesetz von Spannung und Entspannung in Form von Dissonanz und Auflösungsakkord folgt, so dass sich ein Spannungszustand ergibt, der an das Ohr neue, ungewohnte Anforderungen stellt."1 Mit dieser Harmonik drückt die moderne E-Musik eine moderne Lebenswirklichkeit aus: "Wer wundert sich, dass in einem Zeitalter der Metalle und Maschinen auch das seelische Leben sich verhärtet? An die Stelle überzarter Empfindsamkeit von Biedermeier und Romantik ist schliesslich das Leben mit der Gefahr unseres Jahrhunderts getreten, und man geht nicht fehl, wenn man den Spannungszustand der neuen Musik als Ausdruck der latenten Bedrohung versteht, die über unserer Zeit steht."2 In der E-Musik spiegelt sich weiter eine Spaltung zwischen Umwelt und Gefühl. Sie "macht ablesbar, dass wir für die Erleichterung des Lebens, für die Sicherung des geho- benen Standards, der durch den Pakt mit der Technik möglich geworden ist, einen Preis zu zahlen haben, einen Preis, den unser Innenleben mit Gefühlsverarmung, Unsicherheit und Angst zu entrichten hat. Wie wir diese Tatsache zu verdrängen suchen, wollen wir auch die Musik nicht hören, die ehrlicherweise diese Notlage wiedergibt - dies erklärt zur Genüge, warum die Neue Musik unbequem ist."3 In diesem grundlegendem Lebensgefühl greift der moderne Mensch aus mehreren Gründen zu Musik. Musik wird vom kleinen Mann vor allem zur Entspannung gehört: "Je monotoner Arbeits- und Lebensumstände des Städters werden, desto mehr das Bedürf- nis nach einer Kompensation. Dieses Kompensationsbedürfnis ist als Voraussetzung zu betrachten, die den gigantischen technischen Entwicklungsprozess auf dem Gebiet der Musik möglich macht, so dass heute der Alltag von akustischen Vorgängen pausenlos begleitet wird: vom musikalischen Frühturnen, 'Music while you work' am Arbeitsplatz, um die Produktivität zu steigern, über das Nachmittagskonzert im Lautsprecher oder im Warenhaus, dort zur Erzeugung eines erwünschten Kaufklimas, bis zur abendlichen Schla- gerplatte. Überall, wo sich die Masse zu Sport und Vergnügen zusammen findet, setzt diese Musik jene Regungen frei, die dem Einzelnen Wohlgefühl, Narkotisierung und damit einen Ersatz für die wachsende innere und äussere Leere vermitteln sollen. Mit Musik kann man die innere Stimme übertönen, die registrieren könnte, dass der Einzelne nur noch eine funktionelle Nummer im Betrieb darstellt. Sie ist ein Mittel zur Flucht vor der Stille geworden und damit zum Gegenteil ihres einstigen Sinnes, in die Stille zu führen."4 Mit dem Gebrauch von Musik schafft sich der Mensch eine musikalische Gegenwelt, eine Erscheinung, die besonders bei Jugendlichen ausgeprägt ist. Musik eröffnet (jungen)

1 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 3a. 2 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 3a. 3 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 10. 4 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 5.

138 Menschen den Zugang zum ekstatischen Erlebnis. Ein Schüler drückt das gegenüber seinem Musiklehrer Schibler so aus: "Sie müssen wissen: Pop ist nicht Musik, sondern ein Zustand, den ich einfach brauche." Der junge Mensch braucht also "den Zustand von Emotionalität, in den ihn diese Musik versetzt, als Alternative zum Alltag mit seinen dürftigen zwischenmenschlichen Beziehungen, seiner Naturferne und Durchorganisiertheit, um sich selbst nicht zu verlieren. Für ihn ist diese Musik das letzte Stück seelischen Urwalds, das ihm bleibt."1 Kern dieser Suche ist nach Schibler "das Ekstatische, das in unserer kirchlich geprägten Kulturvergangenheit tabuisiert und weitgehend verdrängt worden ist. Das Aufsuchen eines Zustandes, bei dem die Individualität mit ihren Nöten an eine dem Verstand nicht mehr zugängliche Zone gesteigerter Gefühls- und Sinneserfahrung preisgegeben wird, in deren Mittelpunkt die Ekstase, der Zustand totalen Ausser-sich-Seins steht, bedient sich bei den Völkern ungezählter Praktiken und Rituale; halten wir hier nur fest, dass die Musik seit je ein bevorzugtes (und ungefährliches!) Mittel zum Einstieg in diese Erfahrung gewesen ist."2 Jugendliche finden über das Klingende den Kontakt mit den sie tragenden Urkräften, was sie befähigt, sich der Verdinglichung, die sie zur Massennummer, zum Glied im Räderwerk eines unverstandenen Betriebs machen will, zu entziehen und zu sich selbst zu finden. Schibler deutet dabei das Ekstatische in Jazz und Pop als den längst fälligen Widerstand des Menschen gegen die übermächtigen entpersönlichenden Trends im Massenzeitalter. Wie bei der Sexualität - die eine naturgemäss noch zentralere Erfahrung der Ekstatik in sich birgt - die Interessen von Industrie und Geschäft eine gründliche Verfälschung des neuen Ideals zustande brachten, hat sich der Kommerz auch der Popmusik bemächtigt und ist dafür besorgt, dass dieses Bedürfnis auf möglichst tiefer Stufe gestillt wird. Das hindert uns nicht, die grundsätzliche Bedeutung der Entlastung der jugendlichen Psyche durch ekstatische Musik einzusehen und zu bejahen.3 In einer Situation der psychischen Überforderung greift der moderne Mensch zu Musik: "Der innere Mensch wird von den Anforderungen des Verkehrs, durch den Lärm, das Tempo, durch den Umgang mit Maschinen, durch die Spezialisierung und der oft damit verbundenen Entmenschlichung der Arbeit, durch die Gewöhnung an ein künstliches Ersatzleben im Stadtbereich bei gleichzeitigem Verlust an Kontakten mit dem ursprüng- lichen Leben und der Natur, ganz einfach überfordert. Er reagiert darauf, indem er aus- zuweichen, zu fliehen versucht, und für diese Flucht aus der Zeit - in eine harmonische Einheit und Geborgenheit einerseits, in die Trugwelt einer seelischen dolce vita anderer- seits - bietet sich ihm scheinbar die klassische Musik der vergangenen Jahrhunderte oder unsere Unterhaltungsmusik an. Der Musik der grossen Meister kommt damit geradezu die

1 Armin Schibler, Vom Körper zum Schlagzeug - rhythmisch-kreative Grundschulung in der Schulklasse mit dem Körperschlagspiel, S. 8. 2 Armin Schibler, Vom Körper zum Schlagzeug - rhythmisch-kreative Grundschulung in der Schulklasse mit dem Körperschlagspiel 8. 3 Armin Schibler, Vom Körper zum Schlagzeug - rhythmisch-kreative Grundschulung in der Schulklasse mit dem Körperschlagspiel 8.

139 Bedeutung eines 'Naturschutzparkes' unseres Innenlebens zu, ähnlich wie wir heute der von totaler Nutzung und Überbauung bedrohten Landschaft die Naturreservate gegenüber stellen, damit spätere Generationen noch einen Begriff davon haben können, was Natur einst gewesen ist."1 Deshalb ist es verständlich, dass gerade die moderne E-Musik keine Resonanz findet. "Ist es nicht begreiflich, dass eine Musik der Bedrohung und Angst keine zuhörende Gemeinschaft mehr findet, mag sie noch so sehr Ausdruck dieser Zeit sein? Es scheint, dass sich der Mensch beim Musikhören nach anderem sehnt als nach der Enthüllung der tieferen Strömungen seiner Zeit, er sehnt sich geradezu nach dem GEGENBILD dieser Zeit, nach einer geschlossenen Welt von Ordnung und Harmonie, die er denn auch in der grossen Musik der Vergangenheit findet."2 Im gegenwärtigen Musikleben herrscht deshalb die Flucht: "die Flucht des heutigen Konzertpublikums in die Musik der Vergangenheit, die einseitig intellektuelle, jeder Spontanität entbehrende Hochzüchtung der musikalischen Avantgarde, schliesslich die Flucht der Masse in die Musik als Vergnügen, als Narkotikum, als Rausch - alles deutet auf ein zentrales, identisches Moment hin, das meiner Meinung nach einen Schlüssel für das Verständnis der Gefühlslage des heutigen Menschen in die Hand gibt: dass wir alle mehr oder weniger zwei Leben zu führen gezwungen sind, ein äusseres der Anpassung an eine neue Umwelt, ein inneres, zeitloses und unveränderbares unserer schlichten Gefühlswelt, die mit der äusseren Entwicklung nicht Schritt zu halten vermag."3 "Diese Erscheinung ist so eindeutig, dass sich daraus das eigentliche seelische Dilemma des Gegenwartsmenschen ablesen lässt, der - ich nehme es voraus - in den praktischen Lebensbelangen überschnell in die Zukunft hineingestossen worden ist, in der er sich aber nicht heimisch fühlen kann, weil seine Gefühlswelt noch fast vollständig der Vergangenheit verhaftet ist."4 Für alle diese Menschen ist die moderne E-Musik "als Ausdruck der Zeitprobleme keine Musik mehr, weil sie empfinden, es sei nicht Aufgabe der Musik, das Tatsächliche wieder- zuspiegeln, sondern diesem jenen anderen Bereich gegenüberzustellen, der in starkem Masse bedroht ist: das Ursprüngliche, Numinose, Harmonische."5 Und, Fazit ziehend, urteilt Schibler: "Während neue Literatur, neue Malerei und Architektur sich längst durchgesetzt haben und eigentlich selbstverständlich geworden sind, ist die echte neue Musik im Zustand der Isolierung, ja der Ächtung verblieben. Sie wird ganz einfach übersehen und bleibt auf einen kleinen Fachkreis beschränkt..."6

1 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 9. 2 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 3b. 3 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 8. 4 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 7. 5 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 9. 6 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 9, Paul Sacher Stiftung, Basel, undatiert.

140 7.3.2 Die Spezialisierung des Hörers auf seine Lieblingsmusik "Ich glaube, die meisten Menschen haben sich auf eine bestimmte Gattung, etwa klassisch, Jazz, Pop, Volksmusik, Blues konzentriert. Bedeutet eine solche Vereinseitigung nicht, dass man sich nur noch auf eine mögliche Art der Resonanz eingestellt hat und die andern ver- kümmern lässt?"1 Die Nachteile für die seelische Entwicklung und das seelische Empfinden für den Men- schen liegen nach dem, was in 7.1 über die Resonanz gesagt wurde, auf der Hand: Das einseitige spezialisierte Hören von Musik führt nach Schibler zu einer Verkümmerung seelischen Empfindens.

7.3.3 Kulturtheoretische Betrachtungen zur gegenwärtigen Musikszene Neben aller Kritik kann Schibler dieser Entwicklung viel Positives abgewinnen: Ursprüng- lich exklusive Musikwerke seien durch die modernen Reproduktionstechniken "in die stillste Kammer des Individuums gelangt, und wer will bestreiten, dass die Popularisierung der Musik ihre erfreulichsten Seiten zeigt, wenn eine zwar unabsehbare, aber in Ein- zelwesen aufgelöste Masse, jeder für sich, im intimen Lebensraum, eine Begegnung mit Meisterwerken der Vergangenheit findet, die in vielen Fällen echter und tiefer sein dürfte als jene vom Gesellschaftlichen drapierte im Sinfoniekonzert?"2 Zudem warnt er vor einem falschen Kulturpessimismus: "Wir neigen dazu, die Zusam- menhänge von Kultur und Leben zu geschönt zu sehen. Wir bewundern zwar die Kathe- dralen, vergessen aber, dass diese Bauwerke die projizierte reine Lichtseite des Menschen verkörpern, während seine elementaren Bereiche verkümmern mussten. Als Mozart seine herrliche Musik schrieb, darbten grosse Teile Europas unter den Missständen der vor der Abdankung stehenden Aristokratie. Wenn wir optimistisch sein wollen, können wir die Überforderung des inneren Menschen als eine vielleicht notwendige Übergangserscheinung ansehen, bis wir uns in der neuen Welt eingerichtet haben, in einer Welt, die erstmals, zumindest potentiell, der gesamten Erdbevölkerung ein menschenwürdiges Dasein garantieren könnte, in der die jahrtausendalten Geiseln von Hunger, Seuche und Krieg ihre Schrecken verlieren."3 Und zuversichtlich wagt er einen Blick in die Zukunft: "Wir bauen heute keine Kathedralen mehr, wir haben den Sinn ins Diesseits verlegt. Kultur der Menschlichkeit, das wäre noch über eine Kulturauffassung zu stellen, welche die Kunst ganz oder teilweise der Verantwortlichkeit entheben und als Leckerbissen für geistige Feinschmecker kultivieren will. Auch die Musik wird in der neuen Zeit eine andere Stellung einnehmen als früher. Aber eins wird bleiben, wenn sie noch den Namen Musik führen will: Wertmasstab des inneren

1 Armin Schibler, Zur Problematik musikalischer Resonanz. Aus: Mein Beitrag zu RESONANZEN, Radio Zürich 1980 S. 16/17. 2 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 6. 3 Armin Schibler, Die Gegenwart im Spiegel der Musik 11.

141 Menschen, klingendes Abbild des seelischen Erlebens, das immer wieder an die Grundfra- gen des Lebens und damit an den religiösen Bereich heranführt. Musik sei Ausdruck der Menschlichkeit!"1

7.4 Missbrauch von Musik

Als aufmerksamer Zeitgenosse beobachtet Schibler an vielen Orten eine Vereinnahmung der Musik, zu der die Kraft des Geheimnisses Musik verführen kann und auch verführt, im Westen durch Lärm, durch Kommerzialisierung, welche sich in einer musikalischen Berieselung und Überflutung durch Klänge äussert, im ehemaligen Ostblock durch eine kommunistische Ideologie, die den Menschen durch kollektivistischen, sich der Musik bedienenden Drill zu vereinnahmen suchte: "Und ganz besonders musste ich davor erschrecken, mit welcher Folgerichtigkeit dieser Menschheit die Musik, dieser zarteste, empfindsamste Spiegel der Seele, abstirbt... Der Lärm unserer Zeit übertönt die innere Stimme, welche die Flucht vor dem Göttlichen regi- striert. Bereits sind alle Forderungen erfüllt, welche den Menschen nicht mehr zu sich selber kommen lassen. So wird der technische Fortschritt zum Schrittmacher der ungeheu- ren Regression, in der wir heute drin stehen - ob wir wollen oder nicht, hämmert es Tag und Nacht auf uns ein, um uns zum kollektivistischen Serienprodukt der nahen Zukunft zu machen."2 In den in 6.1.3 vorgestellten Kurzgeschichten deutet Schibler bereits auf den Mechanismus hin, wie Diktaturen und somit auch die kommunistischen Regimes Musik zur Festigung ihrer Herrschaft missbrauchen. Anlässlich der Auseinandersetzung mit den Gefahren der Atombombe schreibt er zum Missbrauch der Musik im ehemaligen Ostblock: "Setzen wir aber nun den durchaus möglichen Fall, dass die Wolke nicht platzt und eines Tages diese fürchterlichen Ausgeburten satanischer Verirrungen des menschlichen Geistes im stillen Ozean feierlich versenkt würden. Herrliche Aussicht, zu denken, dass die knap- pen zwanzig Jahre der Hochkonjunktur sich zu einem ganzen Jahrhundert ausweiteten, dass die ganze Welt zu einem einzigen gigantischen Geschäft wird, in dem der Faktor 'Mensch' gerade so weit mitmachen darf, dass er das Räderwerk nicht bremst. Denken wir sogar, der russische Gigant bleibe hinter seiner eisernen Grenze versponnen und führe sein Experiment weiter bis zur ersten Jahrhundertfeier, an welcher zwanzig Dutzend Millionen kollektiver Marionetten Roboterschemen ohne Seele wie am Drahte gezogen ihre Massenchöre in einer (neuen) rudimentären Stenogrammsprache zum Himmel schrien - wer wollte in der Tat um des Menschen willen hoffen, das Fürchterliche möchte nicht geschehen, der gegenwärtigen Entwicklung nicht Einhalt geboten werden?"3

1 Armin Schibler, Gegenwart im Spiegel der Musik 11. 2 Tagebuch Armin Schibler, 10. Oktober 1952. 3 Tagebuch Armin Schibler, 11. Oktober 1952.

142 Die ideologische Vereinnahmung des Menschen im ehemaligen Ostblock - bis zur Entseelung - auch mit Hilfe der Musik hat glücklicher Weise dank des Zusammenbruchs dieses Marionetten-Reiches ein jähes Ende gefunden. Doch auch in 'unserem Westen' besteht die Gefahr einer ideologischen Vereinnahmung: "Ich halte es für gefährlich, wenn aus ethischer Verpflichtung heraus auf die Eigengesetz- lichkeit der künstlerischen Materie und damit auf das Ästhetische verzichtet wird. Wer den Musiker zum politischen Agitator machen will, dem ist zu raten, dass er seinen Beruf wechsle und sich in Politik oder Sozialwesen dem Dienst an der Gemeinschaft widme. Wenn die Musik als sinnliche Erfahrung des Metaphysischen keine Lebensberechtigung mehr haben soll, wäre die Welt nur noch öder gemacht, als sie es bereits ist."1 Die wunderbare Kraft der Musik, Herzen zu berühren, wird genutzt zur tönenden Verein- nahmung der Gefühle der Menschen, damit die Herrschaft sich in die Seelen verankert. Pointierter: Kein Machtmissbrauch kommt ohne den Einsatz von Musik aus. Wenn Musik jedoch vereinnahmt, kann sich die Seele nicht mehr in einem grösseren Sinn- ganzen verwurzeln, authentische Musik als Regung der Seele stirbt ab. Das bedeutet nicht, dass keine Musik mehr ertönt, sondern dass im Gegenteil eine seelenlose Musik pausenlos erklingt. Schiblers Analyse zur Vermarktung des Menschen in der westlichen Kultur hat nichts an ihrer Gültigkeit eingebüsst. Doch die kommerzielle Vermarktung der Musik als tönende Droge hat nach dieser Analyse auch eine subversive Seite: "Die tönende Droge: sie hat eine Revolte in Gang gebracht, vor der die Hüter der Ordnung machtlos sind; der sanfte Protest gegen den Leerlauf, der langerwartete Auszug aus der Öde. Doch wohin? - die Sonnenplätze in der freien Natur sind vergeben, das Handwerk vergessen, wie den ausgelaugten Äckern eine Ernte abzugewinnen ist, und bitter schmecken die Wildfrüchte den vom Konsum verdorbenen Gaumen. Es bleibt ihnen der Dschungel des Tönenden mit seinen Lianen, Orchideen und phallischen Pilzen, wo sich die Ahnung einstiger ritueller Erfüllung bewahrt hat. Unwohnliche Bleibe, gedüngt vom technischen Fortschritt, empfängt der Urwald die verlorenen Spätgeborenen mit dem Gedröhn der Lautsprecher, schenkt das ersehnte Vergessen den vielen, die ahnen, aber nicht wissen wollen, wie ausweglos sie verraten sind."2 Musik vermag beides zu leisten: Sie schenkt Trost in einer Situation des Verrates, der schon nicht mehr gespürt werden darf, des Verrates am Ursprünglichen, Wilden, und sie schenkt Surrogat, Ersatz, der vielleicht sogar zu mehr wird als nur zu Ersatz, sondern erneut Urwald bietet, Dschungel des Tönenden, in dem sich die Ahnung einer Erfüllung bewahrt. Dann ist und wird für Schibler das Tönende erneut Spur der Wahrheit, wortlose Botschaft, singt von der Ganzheit, fasst den Schmerz in Klage, lässt Wohlklang ertönen:

1 Armin Schibler, Grundsätzliches zur Suche nach einer neuen Sinngebung der Musik 4. 2 Armin Schibler, Texte 1971-74 116.

143 "Du tauchst tiefer tastest dich vor in fündige Schichten sinkst und vergisst bis du ihn hörst aus der Tiefe dringend der orphischen Stimme uranfänglichen Wohllaut."1 So wenig, so viel vermag das Tönende!

1 Texte 1971-74 164.

144 8 Die Nähe des Unzerstörbaren: religiöse Tiefen in Schiblers Werk

Die vorangehenden Kapitel streiften bereits eine Vielzahl von Themen und Motiven im Werk Armin Schiblers, welche auf eine religiöse Dimension seines Schaffens hinweisen:

- Ekstatische Dimensionen dank/durch Musik, Tanz und Rhythmus

- Musik als hörbare Chiffrierung des Geheimnisses

- Musik als Botschaft des kosmischen Sinnganzen (7.2.1)

- Musik als Sehnsucht nach authentischem Ausdruck (7.2.2). Welche religiöse Prägungen jedoch erfuhr Schibler im eigenen Leben, und wie bilden sie sich im künstlerischen Werk ab? Die Auswahl der vorgestellten Werke erfolgt in diesem Kapitel aufgrund eines explizit christlichen Bezugs der von Schibler gewählten Stoffe und Themen. Interessant ist seine Vorstellung einer zeit- und menschengemässen Religion in Freiheit, die er in Tagebuchnotizen skizziert und die er dann in Werken wie Messe für die gegenwärtige Zeit oder Vaterunser zeitgemäss künstlerisch gestaltet. Es dürfte ein Merkmal seiner Religiosität, seiner Ehrfurcht vor dem Geheimnis sein, dass er im Umgang mit anderen – wie Tatjana Schibler sich erinnert - eine Scheu im Gebrauch des Wortes Gott zeigt. Ähnliches gilt auch für seine Werke, in denen er - darüber hinaus – direkte religiöse Aussagen so gut wie nie wagt, ausgenommen die genannten religiös motivierten Spätwerke. Seine 'offizielle‘ Zurückhaltung in religiösen Dingen steht in scharfem Kontrast zu seinen Tagebüchern, in denen er unbefangen von und mit Gott spricht oder – religiös gesprochen – betet. Für die Zurückhaltung im Werk gibt es auch einen künstlerischen Grund: Das Religiöse soll im Werk nicht programmatisch, sondern indirekt, dafür umso kraftvoller zum Ausdruck kommen. Sein Anliegen, in Abwandlung des bekannten Wittgenstein‘ schen Aphorismus, lässt sich so formulieren: Worüber man nicht reden kann, darüber soll man singen, musizieren, lallen, psalmodieren, klagen, seufzen, trommeln, stampfen, schreien, jubeln, weinen und jauchzen... - also gerade nicht schweigen. Denn Schweigen allein lässt die Seele erstarren, verwehrt ihr den Ausdruck und führt letztlich zu Verarmung. Zur inhaltlichen Ausrichtung von Schiblers Religiosität lässt sich an dieser Stelle bereits festhalten: Sie entwickelt sich eigenständig in kritischer Distanz zur christlichen Tradition, mit der er sich in seinem Schaffen auseinandersetzt, wie die gerade angeführten Werktitel nahelegen. An der Tradition des Christentums fesselt ihn übrigens als Musiker intensiv ein musikalisches Phänomen: Glockengeläut. So schreibt er am 14. 2. 1953 in sein Tagebuch: "Als Tatjana und ich heute im späten Nachmittag zur Passhöhe aufstiegen, war es auf den weiten Schneefeldern bereits still und einsam geworden. Kaum war der unvermeidliche Skilift verstummt, war kein Mensch mehr hier oben - als hätte sie ein Massentrieb hinunter nach Davos geschwemmt, in die warmen Hotels und Bars, zum Vergnügen und Tanz, zu Spiel, Essen und Trinken, möglichst weit weg von der Gefahr, die tödliche Einsamkeit der Berge zu erahnen.---

145 Die letzte Sonne lag auf dem uns gegenüberliegenden Kranz von Bergen; das Tal lag bereits in graublauem Dunkel mit seinen steilen Hängen voller dunkler Tannen und Lär- chen. Von der Silvrettagruppe hinter Klosters bis zum Piz Michel begannen die Gebirgs- ketten zu glühen, und über dem Engadin verfärbte sich ein Wolkenschleier zu rauchig- schmutzigen Farben, die unvermittelt an den grün-blauen Abendhimmel grenzten. Und plötzlich, wie wir innehielten, vernahmen wir aus der Tiefe das Gewoge der Glocken von Davos. Wievielen Schicksalen haben sie schon geklungen: 'Zauberberg'-Ahnungen ver- mischten sich mit meinem Erlebnis der Neujahrsnacht auf Clavadeleralp vor zwei Jahren, wo mir die gleichen Glocken tief ins menschliche Gott-Erahnen hineingeläutet hatten. Es klang aus der Tiefe wie Heimat, Versicherung von Geborgenheit in Harmonie und Ver- trauen. Und das Rot der Berge dauerte an und glomm und glomm! So weit fühlten wir beide, als wäre uns wieder ein Zeichen, eine Regenbogenverheissung zuteil geworden, dass die Welt für immerdar im Zeichen des Göttlichen stünde, auch heute noch, wo die Bedro- hung gewachsen ist, und gerade darum die rettende Kraft so nah und so sicher."1 Hier klingen vielfältige religiöse Motive an: das grossartige Schauspiel der Natur, Trost, Heimat, Verheissung eines neuen Bundes und Ahnung von Vergänglichkeit und Tod, aber auch Glocken als Symbol menschlicher Kultur. Glockengeläut ist ihm im Er-Horchen der Klangwelt Symbol für die Gegenwärtigkeit der jenseitigen Welt und so klangliches Symbol par excellence für eine religiöse Existenz. Glockengeläut – welche hautnahe Symbolkraft für das Leben Schiblers – begleitet auch seinen letzten Atemzug (S.185).

8.1 Existentielle Gottesnähe im Leben von Armin Schibler

Schibler hat sich nie, auch nicht in seinen Anfängen, als explizit christlichen Menschen verstanden. Seine Eltern erzogen ihn überkonfessionell, auch wenn er als getaufter Pro- testant den Konfirmandenunterricht besuchte. Später, noch während seiner Jugendzeit , pflegte er ein freundschaftliches Verhältnis zum Pfarrer seiner Wohnortgemeinde, das sogar musikalisch Früchte trug: "Die Freundschaft mit Pfarrer Willi Keller und Organist Rudolf Sidler war der Anlass zu einer Reihe im weitesten Sinn religiös motivierten Arbeiten, so zu der Orgeltokkata op. 8 und zum Liederzyklus Der häusliche Psalter, op. 13."2 In den Anfängen seines Tagebuches setzt Schibler seinen Glauben an Gott mit einem Glau- ben an die 'Vorsehung' gleich. Zerbricht das Gefühl einer fraglosen existentiellen Einbettung und die Erfahrung von Führung, zerbricht der Glaube an die Vorsehung, wie Schibler es in den Anfängen seines Tagebuchs fast naiv nennt; zerbricht zumindest sein Glaube an einen persönlichen Gott? Selbstverständlich wandelt sich das Gottesbild, doch für einen Bruch gibt es keine Hinweise. Noch 1982 ist es für ihn klar, dass man von Gott

1 Armin Schibler, Tagebuch 14. Febr. 1953. 2 Armin Schibler, Das Werk 58, Ausführungen zu Werk op. 1, Kleiner Psalm.

146 weiss. So heisst es in der Messe für die gegenwärtige Zeit – es ist das religiöse Werk der Spätphase (1982) - unbekümmert: "Wie Gott ist, weiss ich: ewig, unveränderlich und immerfort wird er Geheimnis bleiben."1 Der Grund für Schiblers (beneidenswerte?) Gottesgewissheit liegt wohl in der nicht weiter hinterfragbaren Allgegenwart Gottes im Sein. Daraus entwickelt sich ein weit gefasstes Bild Gottes, den er als Urgrund einer Natur- und Liebesmystik und als inspirierende Quelle in seinem schöpferischen Komponieren erlebt. Gott ist für Schibler zeitlebends kein ferner, unerreichbarer Gott, um den er zu ringen hat, Gott ist anwesend, nah, erfahrbar, in Liebe und Sexualität, in Ekstase und Glück, in der Natur, er bleibt erfahrbar trotz Leid und Unrecht in dieser Welt. Diese Themen werde ich im Folgenden erläutern.

8.2 Schiblers Quellen religiöser Gewissheit

Schibler erfährt in seiner Kindheit und Jugend wie erwähnt keine besondere religiöse Sozialisation, sein Elternhaus pflegt eine bereits damals gesellschaftlich weit verbreitete Indifferenz gegenüber der (reformierten) Kirche. Dennoch ist er bereits in frühester Kind- heit von einem Gefühl der fraglosen existentiellen Einbettung und von widerfahrener Führung durchdrungen. Er nimmt die Welt, sein Sein im tiefsten Sinne aus der Perspektive des religiösen Men- schen wahr, und das bestimmt seine Interessen, wie er als junger Erwachsener erkennt. Während des Aktivdienstes, als in Europa der 2. Weltkrieg wütet, schreibt er: "Ich muss immer wieder erkennen, wie mich nur zwei Inhalte zu interessieren vermögen: das Göttliche und die Zeugung. Hierin liegt auch meine relative Einseitigkeit begründet, denn alles Gegenständliche des Lebens hat für mich nur insofern Interesse, als es Bezie- hung zum absoluten Wert hat. Alles Biologische ist darum so wichtig, weil erst auf seiner Grundlage das objektive Erkennen Gottes möglich ist. Wirklich einseitig kann ich mich deshalb auch wieder nicht nennen, wenn auch die Pflan- zen mich mehr zu bewegen vermögen als das menschliche Recht, Geologie und Kosmo- gonie mich tiefer ergreifen, als das menschliche Leid und vor dem Sternenhimmel Krieg und Politik entschwinden als die ungeheuerliche summierte menschliche Unzulänglichkeit, als die fortwährend geschwungene Geisel über der gottlosen und damit allem Zufall preis- gegebenen Menschheit."2 Ein echtes religiöses Selbstverständnis ist ihm sehr wichtig. Deshalb relativiert er seine Aussagen selber angesichts seiner (privilegierten) Situation eines vom Krieg, Unglück und Leid verschonten Menschen:

1 Armin Schibler, Texte 1975-82 124f. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 19. Okt. 1944.

147 "Zwar ist es nicht schwer, sich von der äussern Realität abzuschliessen, wenn man das Glück hat, ein völlig geordnetes Friedensdasein zu leben wie ich. Der eigentliche Beweis für wahre Geistesgrösse begänne erst im Martyrium, und erst die Bejahung Gottes, die in der Not erfolgt, ist ganz überzeugend. So muss ich mich stets bereit halten für das Unglück, und nur wenn ich dort den inneren Glauben aufrechterhalten könnte, dürfte ich mir selbst ganz trauen."1 Sein religiös orientiertes Weltinteresse spiegelt sich auch in den Quellen, aus denen sein spirituelles Leben schöpft.

8.2.1 Gottes Gegenwart in schöpferischem Tun Schibler erfährt sein schöpferisches Tun zeitlebens als eine Quelle von religiöser Erfah- rung. Unter dem Eindruck der Kathedralen in Oxford und Cambridge schreibt er - seine naturgegebene Religiosität offenbarend - in seinem Tagebuch an seine zukünftige Frau: "Begreifst du mich: als ich in dem gewaltigen Innenraum der Christ Church weilte, fühlte ich plötzlich, dass das Gefühl, von dem ich ergriffen war, beinahe das gleiche war wie wenn ich am Klavier sitze und komponiere oder wenn ich ganz fest an dich denke. Es ist somit nur ein Unterschied in der Richtung des Gestaltens, nicht aber ein Unterschied der Intensität und der Sublimierung."2 Er erlebt im kreativen Schaffensdrang und in der sich entfaltenden Liebe zutiefst religiöse Dimensionen, nur solche Worte treffen die Tiefe seiner Erfahrung, aus der heraus sich auch sein beruflich-pädagogischer Einsatz für heranwachsende junge Menschen erklärt. Er will ihnen den Zugang zu ihrer eigenen, in ihnen angelegten Kreativität öffnen.3 Das Glück des schöpferischen Schaffens soll nicht nur einer speziellen Kaste von Künstlern vorbehalten bleiben, sondern soll in allen Menschen zugänglich sein, da Kreativität an keine spezielle Begabungen gebunden ist: Jeder Mensch ist schöpferisch und ist darauf angelegt, sich mit Hilfe von schöpferischen Ausdrucksmedien darzustellen, seine innere Welt - einmalig und individuell - zum Ausdruck zu bringen. Ohne diesen Ausdruck verkümmert der Mensch, geht seine innere Welt verloren - sie überlebt zumeist auch nicht in einem unsichtbaren Reservat von Innerlichkeit. Sein Hauptziel ist die schöpferische Förderung junger Menschen, entgegen dem etablierten Trend, das Verständnis anspruchsvoller Musik für eine musikalische Elite zu fördern oder – wie er selber ketzerisch formuliert - Träger und Konsumenten des etablierten Musikbetriebs zu produzieren. Musik vermag beim Hören oder Spielen in uns Menschen ein Abbild jener Harmonie hervorzurufen, welche jenseits der unruhvollen menschlichen Existenz, jenseits von menschlicher Zerstörungskraft, erklingt. Der Mensch ist - um die Erfahrung seiner Einbettung in eine tiefere Dimension zu erleben - nicht nur auf Glauben angewiesen, auch

1 Armin Schibler, Tagebuch, 19. Okt. 1944. 2 Armin Schibler, Tagebuch 21. Aug. 1946. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.125.

148 nicht nur auf die Entfaltung seiner eigenen kreativen Kräfte, sondern auch die Werke grosser Geister, vermitteln diese doch eine Ahnung, einen Klang von diesen Welten.

8.2.2 Mystisches Erleben ursprünglicher Naturlandschaften Hinter den vielfältigen Naturerlebnissen und –beziehungen, von denen in 6.3.1 die Rede war, steht sicher auch Schiblers Bedürfnis, sich vom energiezehrenden Alltag zu erholen. Verbunden damit, doch tiefer gehend, steht die gewaltige spirituelle Kraftquelle, die sich ihm in der Erfahrung unberührter, oft wilder Natur wie Moore, Flüsse, Bergübergänge, Berggipfel, einsame Hochtäler etc. erschloss. Auf seinen Naturgängen erlebt er immer wieder eine spirituelle Verbundenheit und Einheit mit der Natur, wovon seine Tagebuchno- tizen zeugen. Diese spirituellen Erlebnisse sind sehr konkret, wenn er zu Pflanzen und Tieren mystische Verbundenheit erlebt. So schreibt er weiter über die anstrengende Nacht- wanderung auf den Etzel-Kulm, von der bereits auf S. 119 die Rede war: "Freundlich bringt mir die Frau das Essen und den Wein, richtet mir oben eine Kammer. Wieder einmal darf ich die Verantwortung, die Not der Gestaltung vergessen. Ganz wun- derbar kreatürlich sitze ich da, vor mir der Kaffee, in der Linken die Zigarette, in der Rechten das Bleistift im Tagebuch." 1 Und in seiner kreatürlichen Zufriedenheit drängt es ihn zu poetischem Ausdruck: „Ach könnt ich der Buche Bruder sein, ein Vogel im Schnee des Apfelbaums ein Tag nur die Schwester des Windes, der die berstenden Knospen kost, ein Regentropfen der aus den Wolken stürzt in soviel saftenden Aufbruch... O würd ich, unteilbar, ein reines Ganzes wie die Blüte vom Kirschbaum, ein einziger Jubel, ein Singen zartesten Lichts! Doch immer bleibt der Mensch in der Mitte, nie werden wir eins mit Natur, nie eins aber auch mit dem Göttlichen - bis die letzte Stunde den Ring zum Ganzen rundet: Im Tod erst gehn wir in die Ganzheit ein in mütterliche Gott-Natur.“

1 Armin Schibler, Tagebuch 25. August 1953 abends 11 Uhr (Etzel Kulm).

149 Schiblers Sehnsucht nach einer (mystischen) Verbundenheit mit der Natur führt ihn ins Freie. Er erfährt sie im schmerzlichen Bewußtsein, dass Menschen eine solche Ganzheit nur momenthaft zuteil wird, momenthaft im Naturerlebnis wie auch in der (poetisch-künst- lerischen) Reflexion: Auch beim Schreiben erfüllt Schibler 'kreatürliche Zufriedenheit', Einssein, Erfüllung der Sehnsucht. Im Moment des Wahrnehmens und der Reflexion wird er Bruder der Buche, Schwester des Windes, wird Regentropfen, erfährt Ungeteiltheit. Über ähnlich intensive, spirituelle Naturerfahrungen berichtet Schibler am 13. Mai 1953, anlässlich eines Ausflugs in die Hügellandschaft des Bargens in der Nähe von Schaffhausen: "Direkt aus der muffigen Schule zum Bahnhof: ein plötzlicher blau-warmer Maitag nach kalten Frostnächten. (...) Weite, Weite, Erahnung zeitlosen Seins dieser stadtferner Höhenzüge... Und dankbar erkenne ich (...) die Harmonie meines Daseins, die ein gütiges Geschick mir gewährt hat: meine Ehe, Thomas, Christian, meine Blumenwelt, meine Bäume, meine Musik, meine freiwillige Gottesgefolgschaft, die Bindung, die erst die letzte, dem Menschen noch zuträgliche Freiheit (Glück...?) gewährt. Meine Rohrkolben im Lehm- teich sind mir bedeutsamer als die Resonanz meines Schaffens - ja, vor vierzehn Tagen fand ich kurz nach Sonnenaufgang die Mehlprimel am Greifensee, am letzten Mittwoch mit Aerni auf dem Albis die erste Pflanze Frauenschuh."1 Für Schibler ist Natur nicht einfach 'Natur', sondern es sind konkrete Pflanzen, Bäume, Tiere: Rohrkolben, mit denen er lebt, Frauenschuh, dessen Entdeckung er wie eine neue (menschliche) Bekanntschaft feiert, Igel und Frösche, denen er über die gefährliche Stras- sen hilft. Damit ist Natur nicht einfach nur Ressource, welche den von geistiger Arbeit Ausgepowerten wieder aufrichtet, sondern Pflanzen und Tiere sind seine 'Freunde', Mitbe- wohner, welche er pflegt, hegt und Verantwortung trägt (den Lehmteich, in welchem die - seltenen, vom Aussterben bedrohten - Rohrkolben gedeihen, hat er selber angelegt). Genau darin erfährt er auch eine spirituelle Dimension: Verantwortlichkeit, Beziehungshaftigkeit, Einbettung, 'Bruderschaft', Ausgleich. Damit setzt sich Schibler in Widerspruch zu vielen Menschen der Gegenwart, welche Natur konsumieren wie Konsumgüter sonst - und die tragischerweise gerade dadurch die vorgeblich geliebte Natur zerstören. Für Schibler zeigt sich Naturliebe im achtsamen Wahrnehmen und liebevoller Pflege von Natur, sie gründet auf einer religiös-spirituellen Haltung. Wo diese fehlt, herrscht nur Verschleiss.

8.2.3 Religiöse Erfahrungen in der Ekstase Erste ekstatische Gefühlsdurchbrüche erlebt Schibler in der pädagogischen Arbeit mit seinen Schülern, als ihn plötzlich rhythmische Improvisationen packen: "Bei den Proben im Gymnasium, mitten unter einem Dutzend Buben, packt es mich zu rhythmischen Improvisationen, die unter Vermeidung des Jazzidioms... in ein zwischen Strawinsky und Orff gelegenes Neuland führen, dass ich selber staune – Konzessionen?

1 Armin Schibler, Tagebuch 13. Mai 1953 (Auffahrtsmittwoch in Bargen - Schaffhausen).

150 Hundertmal nein - es ist die Freude, die, jahrzehntelang als künstlerisches Gebilde fast unmöglich, gebieterisch nach Durchbruch verlangt, ungeachtet dass wir noch unendlich weit von einer echten Kollektivfreude entfernt sind. Denn wer sich wie ich jeder geistigen Fragwürdigkeit, allen Nuancen der Angst und der Probleme der Zeit hingegeben hat - wer wie ich, wo er kann, teilhaben will an der Verantwortung - wer sollte nicht in gelösten Stunden sich einem ungebrochenen, ungetrübten Daseinsgefühl hingeben dürfen? Warum sollen wir nicht die reinste Stufe des Mensch-Seins, die Kindheit, in die künstleri- sche Ganzheit integrieren?"1 Schibler lässt dieses Thema nicht mehr los. Eine Woche später analysiert er zunächst Bar- toks Konzert für Saiteninstrumente und verfasst anschliessend - aus einem gefühlsmässigen Schwung heraus - einen Hymnus, welcher das Gefühl von Freude in Worte zu fassen ver- sucht. Einmal mehr ist es die religiöse Tiefe des Lebens, ein religiöser Fokus gleichsam, den Schibler auf das Leben und in diesem Fall auf das Gefühl der Freude wirft: "Hymnus O Gnade da zu sein Mensch zwischen den Regionen in der Kälte des Alls auf einem Gestirn von der Hitze der berstenden Sonne tröstlich warm geglüht mit eigener Wärme des Blutes gefügt aus Myriaden planetarischen Zellen geworden in Aeonen der Zeit beglückt mit Wundern der Musik begabt mit Ahnungen des Unendlichen das in uns, in mir zur flüchtigen Blume sich gebar - O Gnade dieses Augenblicks, bevor das Gestirn das uns leuchtet,

1 Armin Schibler, Tagebuch, 19. März 1955.

151 verblutet und zerschellt zu kosmischen Funken deren Widerschein die verfallenen Städte noch einmal aufhellt, am Rande der Wüste."1 Hier besingt Schibler in religiöser Schau die Einzigartigkeit des Lebens, seine Schönheit und Zufälligkeit, dann die mit dem Wunder der Musik begabten Menschen. Freude und Glücksekstase, erst ein Hoch-Gefühl, überbordet in eine Freuden-Improvisation. Ausge- drückt in nüchternen philosophisch-beschreibenden Worten: Die Glücksekstase wird in einen philosophischen Sinnhorizont eingebunden. Der Hymnus selbst steigt aus ekstatischem Leben hervor, er ist die Musik des Gotteslobs. Menschen, die Gott, das Leben nicht (mehr) loben können, sind gefühlsmässig-religiös amputiert: bestenfalls können sie noch klagen oder jammern, schlimmstenfalls nehmen sie es ausdruckslos hin und erdulden es passiv. Den lebendigen Menschen drängt es von Zeit zu Zeit zu Gotteslob, das gehört zu seiner religösen Gesundheit. Ekstatisches Erleben erfährt Schibler nicht nur in der geschlechtlichen Vereinigung der Liebe (nächster Abschnitt) oder wie oben berichtet im Ausser-sich-Geratens durch Improvisation. Er kennt die Ekstase in Tanz, Rhythmus, in der Bewegung allgemein, in überbordender Freude und Ausgelassenheit, in der Musik. Alle diese Ekstase-Formen haben für ihn eine religiöse Qualität: "Das Ekstatische, von vielen heute noch aus gestrigem Bewusstsein heraus als unter- schwellig und triebhaft-minderwertig eingestuft, erweist sich in heutiger Zeit als Rückkehr zu einem immateriellen und damit religiösen Menschenverständnis."2 Das heutige vorherrschende religiöse Selbstverständnis erlaubt dem Menschen, Sinn- gebung und Erfüllung sowie Ekstase in der Körperlichkeit zu finden und nicht mehr wie früher in Randbereichen oder in der Transzendenz – ein echter 'religiöser' Fortschritt.

8.2.4 Religiöse Erfahrungen in Liebe und Sexualität Bereits Kap. 2.2, Zur Bedeutung der Begegnungszeit, welch tief religiöse Erfahrung für Schibler die liebende Hingabe an das menschliche Du darstellt. Daher darf für ihn eine Religiosität der Gegenwart nicht auf Verdrängung und Verteufelung des Körperlichen und der sexuellen Lust aufbauen, sondern hat im Gegenteil an solch intensiven menschlichen Erfahrungen von Ganzheit, Ekstase und Hingabe anzuknüpfen. Dieser Ansatz ist für ihn unumstösslich.

1 Armin Schibler, Tagebuch, 19. März 1955. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.127.

152 In der Vorfreude auf das körperliche Zusammensein mit seiner zukünftigen Frau schreibt er beispielsweise 1946 in England nach einem Abendessen in einem englischen Adelshaus (S. 39) in sein Tagebuch: "Und ich dachte daran, dass auch auf unserm Tisch Kerzen flackern werden, und wir wer- den uns gegenübersitzen, feierlich und tränennah, bevor wir unsere erste gemeinsame Nacht bestehen. Und das wird immer wieder sein, immer wieder mit Feierlichkeit und Trä- nennähe, mit dem flackernden Kerzenlicht in den Augen: unser Abendmahl..."1 An diese kühne Neudeutung des christlichen Abendmahles, des feierlichsten Augenblickes sowohl des protestantischen Gottesdienstes wie auch der katholischen Messe, wird er in späteren Werken wieder anknüpfen (Messe für die gegenwärtige Zeit).

8.3 Entfaltung des Gottesbild in und trotz einer leidvollen Welt

Seine Gottesgewissheit als primäre Quelle religiösen Verständnisses bringt ihn zwangsläufig in kritische Distanz zur christlichen Tradition mit den Schattenseiten ihrer Lehre, eine Herausforderung auch zur künstlerischen Auseinandersetzung, vor allem in bezug auf zwei aus christlicher Sicht wichtigen Themen: 1. Der in seiner Sexualität schuldige Mensch,verdichtet im Symbol der Erbsünde, und 2. das Leiden der Kreatur, eingeschlossen der Mensch, und die Frage nach dem Ursprung dieses Leiden, nach Machtmissbrauch und Mit-Schuld von Menschen. Die letztere Fragestellung bricht übrigens mit Macht in Schiblers Denken und Leben ein angesichts der Verheerungen des Krieges und (in den darauf folgenden Jahren) den Fragen nach dem Leiden des Bruders, nach Machtmissbrauch und Gerechtigkeit insgesamt. Beide Fragenstellungen hängen bei den traditionellen Ausformungen des Christentums für Schib- ler auf problematische Weise zusammen.

8.3.1 Ent-Schuldung der Sexualität Schibler kann sich nicht damit abfinden, dass die offizielle christliche Lehre die Schuld des Menschen hauptsächlich mit seiner Sexualität verknüpft. Für ihn macht sich der Mensch vor allem im Machmissbrauch und in der Zerstörung der Natur und unserer Lebensgrundla- gen schuldig. Auf diesem Gebieten fehlt es – auch kirchlicherseits - an Sensibiliät und damit auch an Verantwortungsgefühl. Angesichts dieses essentiellen Schuldigwerdens ist sexuelle Sünde ein irrelevantes Thema. Er geht noch weiter: Die Heiligung der geschlecht- lichen Vereinigung werte den menschlichen Alltag auf. Das ent-schulde den Menschen in einem der wichtigsten Lebensäusserungen, der durch (vermeintliche) Schuld geknechtete Mensch erhält Freiraum zur kreativen Gestaltung und zur Ausgestaltung der eigenen Beru- fung bzw. Selbstwerdung.

1 Armin Schibler, Tagebuch 27. Aug. 1946, abend 11 Uhr. Zum Umfeld dieses Tagebucheintrags, den ich bereits ausführlicher zitierte, vgl. S. 39.

153 Erste kritische Reflexionen zur christlichen Tradition beginnen bei der Besichtigung der gewaltigen Kathedralen von Oxford. Hier begegnet ihm eine zwar architektonisch gross- artige, doch in Stein gehauene, einseitig auf das Gute, Körperlose, nur Geistige ausgerich- tete, letztlich aus Zwang geborene christliche Tradition: "Hier haben einst Menschen ihr ganzes geistiges Wesen in Stein zum Himmel auf gestaltet. Sie haben sich ihren Gott in diese Formen hineingeschaffen und was hier auf mich ein- wirkt, ist der reinste Geist, das beste Gefühl früherer Jahrhunderte und Menschen. Aber das Andere wissen wir nicht; die vernachlässigte Seite dieses Lebens ist mit ihren Bewei- sen untergegangen. Als Ergänzung zum Geist dieser ernststrengen Squares könnte ich mir leicht Grausamkeit denken, ja Sadismus, Kühle des Gefühls, Starrheit und Begrenztheit. Wer weiss, wie der innere Tempel dieser Menschen oft ausgesehen hat, wie verdreht und unterdrückt oft ihre Gefühle und Triebe waren, dass sie das Gute und Geistige in solche gewaltige Formen gestalten können. (...) Und deshalb bedeutet mir dies alles vollkommene Vergangenheit, Äusserung einer andern Lebenskultur, die wir nicht aufrechterhalten dürfen und können, weil unser wissenschaftliches Weltbild eine Projektionsreligion mit Recht unhaltbar gemacht hat und jeder denkende Mensch weiss, dass das Meiste an unsern religiösen Formen ein alter Zopf und völlig unwahr ist. Mein ersehntes Weltbild könnte das religiöse Gefühl unseres 'wissenschaftlichen' Zeitalters ausdrücken - denn nichts von all dem, was ich glaube, ist unbeweisbare Hypothese. Ich baue auf den menschlichen Gegebenheiten und Tatsachen auf, sublimiere sie, (ver)suche in ihnen den tieferen Natursinn. Nenne es eine realistische Gottverkörperung oder wie du willst - es braucht keinen Namen, weil ein Leben nach meinen Grundsätzen ja das Leben wäre, wie es aus sich selbst gedacht erscheint, Verwirklichung des Lebenssinns, der keines Namens bedarf, weil er völlig natürlich ist."1 Dieser tiefere Natursinn, den Schibler zu erkennen sucht, ohne Projektionsreligion, ohne unwahre, Angst einflössende, Lust und Lebensfreude vergällende alte Zöpfe, dieser Natur- sinn wird angesichts der Verheerungen des Krieges, welche er auf Reisen in Deutschland und Frankreich ungeschminkt zu Gesicht bekommt, bohrende Anfragen und Infragestellung erfahren (S. 116). Schibler verfällt jedoch nicht einer Verherrlichung der Sexualität. Wie subtil und differenziert er Sexualtät auffasst, zeigt ein Tagebucheintrag fast ein Jahrzehnt später. Wiederum bei einer Begegnung mit Ausdrucksformen christlicher Frömmigkeit, als er im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Choreographen Juan Tena (4.1, Tanz, Rhythmus und Schlagzeug) Osterzeit 1957 in Barcelona weilt, beobachtet er eine vorüberziehende Prozession: "Heute morgen begegneten wir in einer schmalen Gasse einer Prozession. Singen und dumpfer Trommelschlag kündigten sie von weitem an. Schwankende Kruzifixe, Priester, die unheimlichen schwarzen Verkleidungen der 'Penitentes' flammende Kerzen tragend, alte Frauen, in religiöser Verzückung die Arme ausbreitend, dann Militär mit Gewehren, die

1 Armin Schibler, Tagebuch 21. Aug. (Oxford) 1946.

154 schweren Kolben nach oben tragend, Cornettisten und Trommler, immer wieder das glei- che Signal blasend - eine Vision mittelalterlichen Lebens, wie ich sie noch nie empfunden. Nachher in der Kathedrale, die vom düsteren, braunschwarzen Dämmerlicht erfüllt ist, das Haus eines dunklen Gottes mit Schrecken und Angst. Hier lebt noch europäische Tradition des gebundenen Menschen fort, die Wellen der Aufklärung sind nicht oder nur wenig bis in diese Gassen gedrungen. Ich bin ganz ergriffen vom Anblick von Menschen, die wirklich beten, die Gesichter sind alle erfüllt, gezeichnet von einem inneren Leben, das sie schön macht, echt und ergreifend. In einer Ecke hängen am Kapellgitter gipserne Abbilder von menschlichen Gliedern, ein Ohr, ein Magen, ein Fuss, eine ganze Pyramide, ein Priester betet daneben, dass die Wünsche der Bittenden in Erfüllung gehen mögen. Hier wird über- all AUTORITÄT spürbar, der sich jeder ohne Zweifel unterordnet. Der gebundene Mensch, der Mensch, der Autorität über sich erkennt, Dasein in Demut ertragend - und wenn ich an das andere Extrem denke, den vermeintlich absoluten, freien Menschen, den Pöbel der Grosstädte, an die Sex-Appeal-Welt, die Welt der Materie allein, an Zerfall von Familie und Ehe - dann habe ich vor mir das Spannungsfeld der menschlichen Existenz, in dem es Position, die Position unserer Zeit zu beziehen gilt, immer das Wohl des Menschen, als interpolierendes Ideal, im Auge... Ich komme auf meinen Kerngedanken zurück, der mich seit je bewegt: dass die Zukunft einen religiösen Menschen in Freiheit erfordert. Er verwirklicht sich in der totalen Liebe, in welcher alles Dämonische sich in Harmonie mit dem Idealen zu entfalten vermag. Dies ist keine Utopie angesichts der Tatsache, dass sich unser westliches Dasein in einer gigantischen Weise mit erotischen Idolen durchsetzt hat - (und hier deshalb so wohltuend: dass das Auge einmal ausruhen kann von der ständigen Erotisierung - man sieht keine Büstenhalterreklamen, kein Unterhosen-Männeridol). Die totale Erotisierung des Lebens durch Kino, Reklame und Geschäft endet ebenso im Leeren wie die absolute religiöse Gebundenheit, welche die natürlichen Triebe an der Entfaltung hindert und sie erstickt. Dass die 'unio mystica' der Zeugung zum religiösen Zentrum werden kann, erfordert ebensoviele Bindungen an Absolutes wie Freiheit in der Entfaltung des körperlichen Daseins."1 Die Zukunft erfordert einen religiösen Menschen in Freiheit. Und das heisst: Dieser religiöse Mensch der Freiheit jenseits totaler Erotisierung bzw. sexueller Verdrängung wird seine eigenen Ausformungen des Glaubens finden und gestalten wollen.

8.3.2 Gott und der Ursprung des Leidens in der Welt Viele Tagebucheinträge zeugen von seinem Ringen um dieses Thema, dessen Spannungs- feld einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des Hörwerkes leistet (Kap. 6). Das oft unerträgliche Elend in der Welt widerspreche jedoch nicht der Existenz eines (guten) Gottes, denn Machtmissbrauch wird durch Menschen verübt und kann nicht vorschnell zum Verantwortungsbereich Gottes erklärt werden:

1 Armin Schibler, Karfreitag 19. April, 1957.

155 "In meiner Hand weiss ich die Würde des Menschen: der Brüder, des Mitmenschen, der Alten, der Kinder, der Schwachen und Kranken. Möchten nur bald alle Menschen Helfer Gottes sein!"1 In einer Tagebuchnotiz, geschrieben während einer Teilnahme an den Ferienkursen für moderne Musik in Darmstadt, als Kollegen seiner Musik angesichts der nach wie vor sichtbaren Verheerungen durch den Krieg Weltfremdheit und Flucht vor den Zeitproble- men vorwarfen, legt er seine Auffassung über das Elend in dieser Welt dar (der Anfang dieses Eintrags wurde bereits auf S. 54 zitiert): "Das Verhängnis ist menschenverhängt; das Göttliche ist jederzeit zu neuer Gegenwart in uns bereit. Wir dürfen nicht den Glauben an unsere Möglichkeiten, die Hoffnung auf ein sinnvolles Menschendasein über Bord werfen, weil der Mensch unserer Zeit versagt hat. Das ist der alte Primitivglaube: Wenn Du, Gott, gut zu mir bist, dann glaube ich an Dich. Dass ich auf der Folter widerriefe, ist auch nur menschenbedingt. Ich wäre wahrscheinlich kein Märtyrer, wenigstens so lange nicht, als ein Opfer nicht ungeheuren Sinn für viele hätte. Und trotzdem würde ich in den schlimmsten Folterqualen wissen, dass das Göttliche da ist..."2 Schiblers 'Antworten', die er auf die bohrenden Anfragen findet, sind einleuchtend: Leid, Unrecht, Folterqualen sind menschengemacht. So weit kann, darf die Allmacht des (grau- samen) Menschen nicht gehen, dass dieser bestimmen kann, was alleinige Realität ist. Wer nur Leid und Unrecht gelten lässt, verabsolutiert diese Dimensionen des Lebens, und blen- det so etwas wie Glück, Erfüllung und Liebe aus. Er macht damit den (Unrecht erleidenden oder Unrecht zufügenden) Menschen zum Herrscher über alles. Das ist Schiblers genuine Antwort auf das Theodizee-Problem: Leid und Unrecht stellen den Menschen in Frage, nicht Gott. Damit ist die Frage nach Mitverantwortung und Schuld aufgeworfen, nach Anteilnahme und Mitgefühl. Leid und Unrecht sind und bleiben Anfechtungen, welche auch Schibler zeitlebens persönlich bedrängen. Beredtes klingendes Zeugnis dafür sind seine Hörwerke. Darüberhinaus wagt er sich auch in das Gebiet der Theologie hinein, wenn er z.B. musik- dramatisch christliche Symbole neu deutet. So ist der Christus der Messe für die gegen- wärtige Zeit nicht 'der Sünde Sold', sondern Verkörperung der Möglichkeit des Menschen, beispielhaft zu leben. "An das Beispiel glaube ich unseres Herrn Jesus Christus, der für uns, für unser Heil die Last des Kreuzes trug."3 Dieser Christus ist kein Superheld, der allem unheilvollen Treiben ein Ende zu setzen ver- mag, im Gegenteil:

1 Armin Schibler, Texte 1975-82 124. 2 Armin Schibler, Tagebuch 23. Juli 1953 (Darmstadt). 3 Armin Schibler, Texte 1975-82 123.

156 "Der armselige und beklagenswerte Mensch - zahlreiche Übel zu erleiden wurde er gezwungen. Durch Jahrhunderte und Jahrtausende der Geschichte sind die Taten der Völker eine lange Kette von Kriegen und Krankheit. Auch Jesu Christus nicht, in die Welt geschickt, hat Mord und Frevel vertrieben und überwunden."1 Wenn man den Verlauf von Schiblers religiöser Entwicklung betrachtet, lässt sich feststel- len: Die Entwicklung der religiösen Dimension erfolgt durch eine Entfaltung der (intuitiv erahnten) Anfänge, nicht durch eine Ablehnung derselben, sie erfolgt durch Verkörperung und Konkretion. Gott ist, wird und bleibt eine unverrückbare Tatsache, aus der sich dann Gott in der alltäglichen Bewährung, in der unbezweifelbaren Existenz von grauenvollem Leid in der Welt immer mehr konkretisiert und ein Gott der Nähe wird, auch und sogar im Geruch der Dinge, in der Angst, der Freude, der Ekstase, der Trauer, der Sinnlichkeit, im Versagen und im Mut. Ich sehe deshalb Schibler weniger als grüblerischen, von Menschheitsproblemen bedrängten Menschen, wie es da und dort im Spiegel der Kritik geschah, die ihn beschreibt als "grüblerischen Menschen mit einer höchst empfindsamen Künstlerseele, dauernd auf der Suche nach gültigen Ausdrucksmöglichkeiten und aussagekräftigen Formen, die geeignet sein könnten, die ihn so sehr bedrängenden Menschheitsprobleme aller Welt verständlich zu machen."2 Er erscheint mir eher als ein Mensch der Fülle, von der Sehnsucht erfüllt, diese Fülle (Musik, Klänge, Raunen, Stille, Erzählungen, Inszenierungen) zu verschenken, der dabei den Geruch der Dinge nicht scheut und ihn in vollen Zügen aufsaugt.

8.4 Der innere Auftrag als weltliches Priestertum

In der emphatischen Sprache des Tagebuchs der Frühzeit sieht sich Schibler ausdrücklich zum Prophetentum gerufen (das in 5.2 erwähnte Gedicht Prophetwerdung, S. 79). Im Oktober 1944, knapp 24-jährig, äussert er sich: "Meine Natur hat mir das Erreichen aller weniger wesentlichen Ziele versagt, um mich nur umso mehr auf das Zentrale hinzulenken. Mein ganzes Leben enthüllt sich mir mehr und mehr als eine Priesterschaft (ohne Gewand und Dogma, wie es unserer Zeit entspricht). Ich bin gewaltig verpflichtet - doch bringt das Ausharren auf dieser Linie das einzig wahre Glück, das dem Menschen beschieden sein kann."3 Das Thema seines inneren Auftrages beschäftigt ihn weiter. Monate später schreibt er in sein Tagebuch: "Vor etwa fünf Jahren schrieb ich in einem Wachtraum ein Gedicht: Prophetwerdung. Ich spürte gestern abend, dass jene Perspektiven unverändert bestehen. (...) Ich weiss nicht,

1 Armin Schibler, Texte 1975-82 126. 2 Rezension TA, 18. Sept. 1973, aus: Armin Schibler, Das Werk 1986, S.76. 3 Armin Schibler, Tagebuch 15. Okt. 1944.

157 was mir bevorsteht, und ob sich meine innere Bestimmung ganz in der Musik erfüllen wird."1 Wie er diesen Auftrag konkret versteht, hält er– konfrontiert im Sommer 1957 mit der Zerstörung von Natur bei der Errichtung der Marmorera-Staumauer – wieder in einer Tage- buchnotiz fest: "Ich bitte auch um die weise Lenkung meiner kleinen schöpferischen Welt: Möge ich nicht um des Mit-Leidens willen dazu verurteilt zu sein, ins Tendenzhafte abzugleiten, möge die kranke Welt nicht auch mitbedingen, dass meine Musik krank sei, dürfte ich doch, wenn schon die Ohren der Gegenwart mir verschlossen wären, einer zukünftigen Menschenge- meinschaft ein Abbild jener Harmonie vermitteln, wie sie die grossen Geister seit Jahrtau- senden immer wieder hinter der menschlichen Existenz erlebt haben."2 Schibler nimmt den Auftrag an, er ist ihm so wichtig, dass er bereit ist, diesem sein Leben zu widmen. Er erfährt sich als beauftragten Menschen, als weltlichen Propheten einer musikalischen Botschaft, die eine Brücke von der diesseitigen zur jenseitigen Welt schlägt. Worin besteht denn jedoch diese klingende Botschaft? Was sagt sie aus? Antworten darauf finden sich in Schiblers Kommentaren zu seiner 1. und 2. Sinfonie:

Musik als klingendes Abbild einer jenseitigen Harmonie Nach der Reinschrift seiner ersten Sinfonie schreibt er 1945 in sein Tagebuch: "Heute morgen bin ich mit der Reinschrift der Sinfonie fertig geworden. Sie ist die schönste und monumentalste Verdichtung meines gegenwärtigen Lebensstadiums. (...) Diese Sinfo- nie ist mein Musik gewordenes Weltbild und zugleich der Weg meines Werdens: aus däm- mriger dumpfer Unbewusstheit zum Erwachen des Geistes, der sich umformt und wandelt und seine tiefste Form sucht. Und diese findet er in Dir; der Choral, das Gottesthema, kri- stallisiert sich immer klarer heraus, am Schluss aber geht auch er in der Ewigkeit des E- Dur Dreiklanges auf. Beide Themen, Du und ich haben aufgehört zu sein, wir sind überge- gangen in dieses Ewige, wie wir es, solange wir leben immer wieder in liebender Vereini- gung erleben dürfen; und wie es mit uns geschehen wird, wenn dieses Leben aufhört. Es ist eine tiefe Fügung, dass ich dieses Motiv des ewigen Seins zuerst in der Totengrä- berszene der 'Hochzeit' fand, wo es dann bei der Trauung den Zusammenhang zwischen Tod und Liebe dartut. Und das Gemeinsame von Liebe und Tod ist die Ewigkeit, der wir durch die Liebe zeitlich, durch den Tod für immer angehören. Und dass es doch wieder keine Programmusik ist, wie ich glaube - weil eben tiefste musi- kalische Substanz und ewiger Wert eins sind, bei Bach und Beethoven am klarsten fühlbar - das wird, wie ich erhoffe, die breitere Wirkung des Werkes ermöglichen. Denn jeder Mensch sollte diesen Weg zum Ende hin fühlen und den inneren Aufruf zum Göttlichen spüren...

1 Armin Schibler, Tagebuch 4. April 1945. Das erwähnte Gedicht ist leider verschollen. 2 Armin Schibler, Tagebuch, 16. Febr. 1953, Strela-Berghaus.

158 Aber wie kann ich wissen, ob das Werk so gut ist, wie ich es gestalten wollte...? Überlassen wir es der Zeit, sie wird auch mich richten; und ob ich bestehen kann, hat nichts zu sagen, weil ich bis dahin diese Musik durch mein Leben wahrgemacht haben werde."1 Der E-Dur-Dreiklang, auch in seinen melodischen Rückungen, beinhaltet in Schiblers Frühwerk wie bereits erwähnt eine spezielle Dimension (S. 38). Die religiöse Dimension, Gott ist dem jungen Komponisten fraglos zugänglich, kein Schatten eines Zweifels fällt auf seinen Glauben noch auf seinen künstlerischen Auftrag. Schiblers offizieller Kommentar zu diesem Werk - 40 Jahre später geschrieben - klingt sachlicher, knapper, nüchterner und die religiöse Deutung auslassend. Die einzige Stelle, welche auf die von ihm im Tagebuch verliehene Deutung hinweist, sie jedoch als Selbst- findung und nicht als Gotteserfahrung deutet, findet sich am Schluss: "Dieses musikalische Aufbauprinzip erweist sich als Nachvollzug einer persönlichen, sich jedoch im sozialen Umfeld bewährenden Selbstfindung; in jedem der Unterteile entwickelt sich die motivische Keimzelle zu neuen Bewegungsformen. Sie wird in dieser konstanten Veränderung zu wechselnden Höhe- und Tiefpunkten geführt, sich dabei 'erfüllend' und schliesslich erschöpfend."2 Ebenfalls aufschlussreich unter der in diesem Kapitel gewählten Fragestellung ist Schiblers Tagebuchkommentar zu seiner zweiten Sinfonie. Am 26. Februar 1954 in Guarda im Unterengadin weilend notiert er: "Allmählich streife ich die Schlacken des Romantikers ab - ein schmerzhafter, aber heilsamer Prozess. Umso echter wird der Blick in die Tiefendimensionen unseres Daseins, das es als Gegebenheit hinzunehmen gilt. Niemals misst es einer aus, dieses Dasein, nach oben und unten nicht. Meine zweite Sinfonie, die am letzten Dienstag in der Tonhalle zur Uraufführung gelangte, gibt diesem Übergang in ihrer Struktur und Anlage klaren Ausdruck. Es ist viel Abschied- nehmen in diesem Werk darin. Noch einmal versucht mein Inneres im ersten Satz die Anru- fung des persönlichen Gottes. Der Weg zu ihm ist schwerer geworden, Trümmer von Wel- ten gibt es noch hinwegzuräumen. Aber noch einmal finde ich ihn, auch in diesem Werk, noch einmal schaue ich die Vision des völlig gottgebundenen Menschen, der das Dämo- nische in sich ins Göttliche wendet. Aber es ist der Weg eines Einzelnen, der Weg nur von mir und von einigen wenigen, die mir nicht bekannt sind. Über allem steht das Schicksal, das sich im zweiten Satz meldet, unerbittlicher Vollzug der Natur. Dieser gleiche Vollzug, der das Alte, Morsche hinwegrafft, schafft auch das Neue. Unbe- sonnen stürzt sich denn auch mein Wesen ins Neue hinein, in erregte Rhythmen von Tech- nik, in ein neues Lebensgefühl, das sich an eisernen und beschleunigten Normen prüfen

1 Armin Schibler, Tagebuch 27. Juli 1945. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.44.

159 muss. Wie eine Walze reisst der dritte Satz alles nieder, Urlust der Zerstörung wird zum Jauchzen neuer Zeugung in eine leere Zukunft. Der vierte Satz endlich - sieht er mich nicht bereits jenseits? Aus den Trümmern wird schlichter Baustoff; von Variation zu Variation werden die Ausmasse des Neuen offenbar, wird es erklommen und in Besitz genommen. Der Höhepunkt dieses Satzes erhebt sich wie der Gipfel eines neuen, anders geformten Gebirges in dieselbe Höhe, von der man zurück- sieht auf das Frühere, Vergangene. Mir ist ganz klar, dass ein solches Werk zunächst vorwiegend Befremden auslösen muss. Beste Freunde schütteln den Kopf - ein gutes Zeichen? Ich habe so sehr versucht, alle Möglichkeiten unserer heutigen Situation (das gilt geistig wie für das Musikalische) in ein Ganzes miteinzubeziehen, dass dieses Ganze beim ersten Anhören verwirrend und diver- gent erscheinen mag. Die Sinfonie musste auch deshalb so gross werden. Jahre will ich vergehen lassen, bis ich wieder Ähnliches versuchen will, das heute vielleicht noch verfrüht ist und zu sehr im Gegensatz steht zur tatsächlichen geistigen wie soziologischen Situation. Unüberhörbar das Befremden im Saal, die Stimmung denkbar schlecht. Diese Musik hat kein Publikum, jedenfalls nicht in dem Ausmass, dass es sich lohnen würde, achtzig Musiker zu mobilisieren, die zudem mein Werk mit Widerwillen spielten... Und dabei ist es, gemessen an den grossen Musikwerken unseres Jahrhunderts, eine derart harmlose, einfache Musik. Der 'Sacre' ist ein Hundertfaches an vitalen Urgründen, 'Woz- zeck' ebenso an seelischer Differenzierung, ich zweifle nicht im geringsten daran, dass in zwanzig Jahren diese Sinfonie gehört werden kann wie etwas Altvertrautes, organisch Nachgefühltes. Wenn die Situation dann so sein wird, dass man derartige Werke überhaupt noch aufführen kann..."1 In der 2. Sinfonie sucht er musikalische Formen für Metamorphosen des Neuen. Dieses Neue steht für:

- Erregte, beschleunigte Rhythmen der Technik,

- Zerstörung und Neuwerdung, Schöpfungs- und Verwandlungsprozesse, welche die Trümmer der ersten Welt zu Neuem aufbauen (2. und 3. Satz),

- im vierten Satz wird ein neuer Gipfel erreicht. Der Gipfel des ersten Satzes (die Vision eines gottgebundenen Menschen, der das Dämonische in sich ins Göttliche wendet) wird ersetzt durch den Gipfel, welcher Technik und beschleunigte Rhythmen der Neuzeit aus den Trümmern des Alten aufzutürmen vermögen – höher als der erste Gipfel ist er jedoch nicht (Schibler ist auch da nicht fortschrittsgläubig!) Der schöpferische Prozess rund um diese Sinfonie ist auch nach der Uraufführung noch nicht abgeschlossen: Schibler verwirft den 4. Satz und komponiert einen neuen:

1 Armin Schibler, Tagebuch 26. Febr. 1954, Guarda im Unterengadin.

160 "Die Sinfonie hatte anlässlich der Zürcher Uraufführung einen anderen Schlussatz, nämlich eine etwas langatmige Variationenfolge. Für die Realisation im Südwestfunk komponierte ich einen neuen Finalsatz, der unverkennbar die inzwischen erfolgte Beschäftigung mit Strawinskys Sacre trägt.."1 Der Künstler als 'Gott' einer eigenen musikalischen Welt, in der er erschaffen und zerstö- ren, Harmonien erklingen und verklingen lassen kann...? Auf diesen Aspekt des künstleri- schen Arbeitens aufgrund der Tagebuchnotizen komme ich in einem nächsten Abschnitt zu sprechen. Die zitierten Tagebuchnotizen zur ersten und zweiten Sinfonie belegen es jedoch: Auch da, wo Schibler 'reine Musik' komponiert, komponiert er als Metaphysiker. Es ist nicht nur Musik, sondern für den, der zu hören versteht (bzw. für Schibler selber) klanggewordenes Abbild seines Glaubens und seines Weltbildes. Schibler ist nie nur Komponist, nur Musiker, immer ist er auch Botschafter, religiöser Zeitgenosse mit den künstlerischen Mitteln der Musik. Im Zusammenhang mit Schiblers Werk deshalb von der 'religiösen Dimension' dieses Werkes zu sprechen (neben einer Vielzahl von anderen Dimensionen), zielt am Kern der Sache vorbei: Es ist von Anfang bis Ende, von Opus 1 (Kleiner Psalm) bis zum letzten Werk Nr. 194 (L'homme et la Creation) ein einziges Singen, Jubeln, Klagen und Klingen Gottes. Ein Lob-Dank-Klage-Bittegesang, ein Schrei-Zweifel-Schuld-Klang, ist klingende, disharmonisch und zuweilen harmonische, rauhe und zuweilen süsse Auflehnung gegen und Aussöhnung mit dem Tod, ist Mahnung und Prophetie, Anklage und Versöhnung, ist Hymnus und Kyrie, Freudengeschrei und Klagepsalm. Innerhalb seines Gesamtwerkes gibt es keine Gattung - auch nicht seine absolute Musik - welche ausserhalb des Religiösen angesiedelt werden könnte.

8.5 Werke zu Texten und Themen der christlichen Tradition - Vision einer Religion in Freiheit

In der Auseinandersetzung mit dem traditionellen Christentum entwickelt Schibler wie erwähnt seine Vision einer Religion in Freiheit, als Ergebnis einer mit den Jahren kritisch- anteilnehmenden Beziehung. Die Werke, die in dieser Auseinandersetzung entstehen, nehmen auf vielfältige Weise Bezug auf Bausteine der christlichen Tradition:

- Eines der frühesten Werke überhaupt ist der Kleine Psalm op. 1, inspiriert von Psalm 84.2 Ihm voran geht die Wessobrunner Kantate3, in der er ebenfalls früheste christliche Texte vertont.

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.47. 2 Kleiner Psalm, für dreistimmigen Chor, Alt-Solo und Kammerorchester. Text aus Psalm 84: "Herr, wie lieblich sind deine Wohnungen." Nr. 39 Das Werk 1986, S.58. 3 Wessobrunner Kantate, op. 10, für gemischten Chor a cappella, 1944/45, Nr. 42 Das Werk 1986, S.59. In bezug auf die chronologische Werkfolge beziehe ich mich auf das Werkverzeichnis von Jacques Lasserre, S. 45-48.

161 - Es folgen: Grosser Psalm, 1945/46, mit Bezug auf Psalm 24: 'Die Erde ist Gottes und all ihre Güter' (den Bezug zur Naturmystik S. 149.)

- Das Ungarisches Vaterunser entstand während der Ungarnkrise 19581.

- Vaterunser - zeitgemäss2, entstanden 1964/65. Es erweitert das jesuanische Vater Unser mit eigenen Zusätzen.

- Messe für die gegenwärtige Zeit (1979/80)3 mit einem eigenen Text des Komponisten

- In De Misterio (1982)4 verwendet Schibler Texte von Angelus Silesius und Ernesto Cardenal.

- L'homme et la Creation/Der Mensch und die Schöpfung verwendet ebenfalls einen Text vom Komponisten. Auf die Werke auf Vaterunser - zeitgemäss und Messe für die gegenwärtige Zeit werde ich nun näher eingehen.

8.5.1 Antworten auf existentielle Grundfragen: Messe für die gegenwärtige Zeit Über die Umstände der Entstehung der Messe für die gegenwärtige Zeit schreibt Schibler: "Der Plan, einen das religiöse Suchen junger Menschen ansprechenden Text über die Grundfragen unserer Existenz zu formulieren, hat mich Jahre hindurch beschäftigt. Eine erste (deutschsprachige) Fassung entstand 1975 unter dem Titel Text für ein Ritual. Dieser Text wurde mehrfach von Jugendgruppen, mit spontaner Musik und Bewegung verbunden, zur Darstellung gebracht."5 Der Plan konkretisiert sich: Schibler schreibt - um eine gesellschaftlich zeitgemässe, aber auch um eine ihm persönlich entsprechende Ausdrucksform für seinen Glauben zu finden - einen eigenen Messetext. Dieser Text entwickelt in Auseinandersetzung mit christlichen Glaubensinhalten eine (christliche) Religion in Freiheit: Nicht Zügellosigkeit, Machtmissbrauch, rücksichtslose Ausbeutung der Ressourcen der Erde und Ungebundenheit sollten die Beziehungen der Menschen kennzeichnen, sondern Gerech- tigkeit und Zukunftsfähigkeit - um ein Wort zu gebrauchen, das erst seit der UNO-Umwelt- konferenz von Rio de Janeiro 1992 gebräuchlich wurde, welches Schibler jedoch inhaltlich vorwegnimmt. Eine Aufwertung von Körperlichkeit, der menschlichen Glücksfähigkeit

1 Ungarisches Vaterunser, op. 50a, für gemischten Chor a cappella. Text von Mihaly Babits, Nr. 49 Das Werk 1986, S.65. 2 "Vaterunser - zeitgemäss" für Männerchor und Orchester. Text vom Komponisten ergänzt. Nr. 52 Das Werk 1986, S.67. 3 Messe für die gegenwärtige Zeit, für 3- bis 6stimmigen Jugendchor mit 2 Soli, zwei Flügel und Jazzrockgruppe, Text vom Komponisten, Nr. 54 Das Werk 1986, S.69. 4 De Misterio, Vokalwerk für eine Sprechstimme, Männerstimmen und Orchester. Text von Angelus Silesius und Ernesto Cardenal, Nr. 56 Das Werk 1986, S.70. 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.70.

162 (Teil 7, De vera Felicitate1) und des Wissens des Menschen (Scio) ist jedoch im Vergleich mit dem traditionellen Christentum unumgänglich.

Besonderheiten der Messe Sie lehnt sich formal in ihrer siebenteiligen Gliederung den wesentlichen Teile der lateini- schen resp. lutherischen Messe an, wobei Schibler ihre einzelnen Teile in grosser künstlerischer Freiheit gestaltet. Das betrifft besonders

- Teil 3, das Credo, das ein Scio des Teil 4 unmittelbar ergänzt,

- den thematisch neuen Teil 5, De extremo revertendi Momento (The Point of Return), der die Gefährdung der Welt durch die Machtfülle des Menschen darstellt. Dieser Teil übernimmt gleichsam Funktionen eines Schuldbekenntnisses. Wie immer bei Schibler hat der Mensch eine Möglichkeit, von falschem Tun abzulassen und sich anders zu verhalten!

- Teil 6, De Misterio, der das geschlechtliche Verlangen wahrhaft Liebender preisst, und

- Teil 7, De vera Felicitate, das wahre Glück (Benedictus), der die Glücksfähigkeit des Menschen würdigt.

Inhalt der Messe Drei Schwerpunkte zeichnen den Text der Messe aus: Glaube und Wissen, Verständnis des Abendmahls und Schuld. Der Text lässt den traditionellen Glauben hinter sich und konfron- tiert die christliche Tradition mit wichtigen Anfragen. Schibler wendet sich gegen die Tendenz der christlichen Dogmatik, im Schuldbekenntnis des Menschen den Ansatzpunkt für ein Verständnis des Menschen zu begründen. Sichtbar wird dies daran, dass er – wie bereits erwähnt - neben das traditionelle Credo, in dem der demütig glaubende Mensch die von Gott offenbarten Heilswahrheiten annimmt (so jedenfalls die Tradition), ein selbstbewusstes Scio setzt. Der Mensch des 20. Jahrhunderts glaubt nicht nur, er weiss auch. Das Wissen, das der Mensch weiss, löst sich jedoch gleich wieder in Unwissen auf: "Wie Gott ist, weiss ich... immerfort wird er Geheimnis bleiben." Schiblers Scio darf also nicht als Selbstüberhöhung, als Selbstvergottung des Menschen verstanden werden, diese prangert er im Gegenteil als Grundübel der heutigen Zeit an. Gemeint damit ist die Eigenverantwortung des Menschen: "In unseren Händen liegt das Geschick der Welt ... das Wohl der Völker, die Unversehrtheit der Gewässer, ... In meiner Hand weiss ich

1 Armin Schibler, Texte 75-82 128.

163 die Würde des Menschen: der Brüder, der Mitmenschen, der Alten, der Kinder, der Schwachen und Kranken. Möchten nur bald alle Menschen Helfer Gottes sein!" Gott in einem scheinbar demütigen Akt die Verantwortung für die Schöpfung zuzuschieben bewirkt eine Entlassung des Menschen aus der Verantwortung. Christlicher Glaube (Glaube überhaupt) darf nicht individuell oder kollektiv diese Entlastung begünstigen, dies betont das Scio in Ergänzung zum Credo, das traditionellere (aber ebenfalls nicht orthodoxe) Aussagen der christlichen Dogmatik in bezug auf die Trinität aufnimmt: Das christliche Credo redet von einem Glauben an Gottvater, an Jesus Christus und dem Heiligen Geist, Schiblers Credo spricht dagegen vom Geheimnis, vom Urgrund aller Dinge und von Lebenskraft. Die Wandlung (Kommunion), in der katholischen Tradition die Vereinigung der Gläubigen mit Jesus Christus und damit innerstes Zentrum der traditionellen Messe, bewertet auch Schibler in seiner Messe für die gegenwärtige Zeit als innerstes Schwergewicht, doch er deutet sie neu. De Misterio nennt er die Wandlung, ihr voran geht der Teil De extremo revertendi Momento, in dem Schibler die Macht des Bösen auf dieser Welt gleichsam als Sündenbekenntnis des Kollektivs voranstellt. Die Reihenfolge der verschiedenen Teile ist einleuchtend: die Macht des Bösen kann nun nach dem vorangehenden Scio, in dem der Mensch seine Verantwortung bejaht, nicht mehr delegiert werden an eine mythische Macht, sondern betrifft uns alle. Wir alle sind auf irgendeine Weise mitschuldig am gegenwärtigen Zerstörungswahn, an uns alle (jedenfalls an Menschen aus dem christlichen Kulturkreis) ergeht unüberhörbar der Ruf zur Umkehr, wenn wir uns auf Gott berufen: "Durch das ökonomische Wachstum, durch den Wahn zum grenzenlosen Fortschritt machen wir die Erde unwirtlich und öde. - Weh uns! Schon vermögen wir auszulöschen das menschliche Geschlecht. Wir wachsen rückwärts, zur rohen Barbarei WENN NICHT wir uns zum Besseren verändern, wenn nicht der heutige Tag unser Denken ändert und das Leben wenn nicht endlich Rat und Herrschaft Gott anheimgestellt wird." Wandlung und Kommunion erlebt Schibler im umfassenden Einswerden von Liebenden: "Das geschlechtliche Verlangen hat Gott uns eingepflanzt, damit Leben und Gattung Dauer haben. Indem er einen Leib liebt, indem er die Vereinigung begehrt, wird der Sterbliche teilhaftig am Geheimnis Gottes. Durch die Liebe werden die Liebenden eins, so dass sie erfüllt die höchste Wonne. Die durch Leib und Seele Vereinigten möge verbinden bis zum Tode ihre Treue und Liebe! Wenn Gott gegenwärtig ist, wird die Leidenschaft geheiligt. Als höchste Lust erfüllt die Körper das lautere Sakrament."1

1 Armin Schibler, Texte 75-82 127f.

164 Sakrament ist nicht nur das Teilen von Brot und Wein in der rituellen Handlung, sondern das Einswerden von Körpern in der geschlechtlichen Vereinigung, bei welcher manchmal wortwörtlich Neues entsteht. Wandlung in Form der Vereinigung von Liebenden bedeutet ebenfalls höchstes Sakrament, symbolisiert Abendmahl. Eine revolutionäre Botschaft für eine Kirche, die sich im Ernstnehmen des Geschlechtlichen, des Körpers überhaupt, schwertut! Eine Kirche, die über Jahrhunderte hinweg in Beichtspiegel, Dogmatik und Unterweisung Schuld vor allem definierte als sexuelle Sünde, die die strukturellen Unge- rechtigkeiten vernachlässigte und die damit teilweise zu einem herrschaftsunkritischen Opium für das Volk verkam. Glauben, der sich ausformuliert wie in Schiblers Messe, kann niemals einschläfernde, aufs Jenseits vertröstende Droge in der Hand der Mächtigen sein und bleiben, solcher Glauben rüttelt auf und will die Menschen dazu verleiten, das wahre Glück im Leben zu finden. Der siebte und letzte Teil der Messe heisst folgerichtig auch De vera Felicitate. Sein Leben glücken zu lassen im kreativ-spielerisch-gemeinschaftlichen Tun (und Lassen), ist eine spezielle Kunst, auf welcher der Segen Gottes liegt. Glück und Genussfähigkeit führen nicht von Gott weg, sondern im Gegenteil tiefer zu Gott hin. Wahre Glückseligkeit finden wir im Leben nur dann, wenn wir uns nicht durch Schuldgefühle manipulieren lassen, sondern schuldfrei das Leben und die Liebe geniessen. Solches Glück darf gewiss nicht auf Kosten anderer (oder auf Kosten der Natur) errungen werden, sondern kann nur schuldfrei genossen werden, wenn es auch das Glück der anderen ist, die mit uns leben. Dann gilt Folgendes - und Schibler knüpft damit am lateinischen Benedictus an: "Bevorzugt jener, der gelassen das Leben kostet: spielend, Gedichte und Lieder erfindend, im Gespräch mit Freunden, die Gärten und Äcker bestellend. Glücklich jener, der lacht und sich freut, der zufrieden mit Brot und Wein das Leben geniesst. (...) Ein würdiges Vorbild, der sein höchstes Vergnügen im Glück der andern findet, die mit ihm leben." Der Messetext wendet sich gegen eine Individualisierung und Sexualisierung der Sünde und greift die strukturellen und gesellschaftlichen Dimensionen von Sünde mutig und kompromisslos auf. Er kritisiert damit ein einseitiges Sündenverständnis und knüpft an Dimensionen von Sünden an, wie sie z.B. von Seiten der Befreiungstheologie aufgebracht werden. Dadurch aktualisiert er die traditionelle Form der Messe und stellt sie in einen gesellschaftspolitischen Zusammenhang. Dabei ist ebenfalls eine Entwicklung zu beobach- ten. Das Kyrie (Teil l) fleht Gott um Erbarmen für uns alle an: "Wir sind alle abgeirrt vom Weg, von der Bahn. Wir haben verletzt das Göttliche und Heilige. Wir haben zerstört die unverlierbaren Werte. Wir werden hervorrufen das Ende der Tage." Zunächst sind alle Menschen in ihrer Verantwortlichkeit angesprochen, und benannt wird auch, aus welcher zeitgenössischen Dringlichkeit heraus der flehende Ruf des 'Kyrie' erschallt: Der Mensch ist in der Lage, in einem ökologischen und/oder atomaren Holokaust sich selbst und die Welt zu zerstören. Von dieser bedrohlichen Möglichkeit her - einmalig in der Geschichte der Menschheit - sucht Schibler nach einem Ansatzpunkt der Umkehr, der Besinnung (Teil 5). Im zweiten Teil der Messe wird Schibler jedoch präziser: Es ist

165 ungenau und billig, pauschal alle für gleich schuldig zu erklären. Die Verantwortung ist unterschiedlich verteilt: "Verbrecher herrschen, Gottlose sind an der Macht. Sinnlos und schändlich raffen sie alles an sich: Den Erdkreis verwüsten sie, vor nichts schrecken sie zurück, sie foltern und mo- dern." De Profundis: Schibler spricht damit die besondere Verantwortung von Machtträgern an. Er nennt beim Namen und schuldigt an, statt in gut christlicher Tradition alle (und damit letztlich niemanden?) schuldig zu erklären. Wird eine Messe mit diesem Text vom 'Establishment' (wer das auch immer sein mag) zur Kenntnis genommen werden? Vielleicht nicht. Andererseits: Sollen in einem heutigen Messetext solche Aspekte ausgeklammert bleiben? Würde der Komponist Schibler nicht unglaubwürdig, wenn er 'bei seinem Leisten', d.h. bei seiner Musik, bleiben würde und als Grundlage für eine Vertonung die traditionellen christlichen Texte verwenden würde? Bliebe eine Musik, welche die heutigen Bedrohungen des Lebens ausklammert, nicht weiterhin Ohrenschmaus in den Ohren von Mächtigen, Unterhaltung, religiöse Verbrämung des Status quo? Für Schibler war jedenfalls eine andere Entscheidung nicht denkbar, er wollte mit seinem Messetext Stellung beziehen und herausfordern. Text und Musik werden dadurch anstössig, beunruhigend, ärgerlich und anklagend. Diese Messe will aufrütteln, nicht besänftigen und vertrösten, sie wirbt für die Schönheit des von Gott geschenkten Lebens, und sie will uns wieder dazu bringen, "Gottes Geschöpfe zu sein, dein Volk, damit wir werden endlich bescheiden und massvoll." Schiblers Messe ist ein kühner Entwurf nicht nur für die Ohren des 'Establishments', son- dern auch für traditionell christliche Ohren, ist anstössig für die einen wie für die anderen. Schibler hat sie in weiser Voraussicht deshalb auch für jugendliche Aufführende kompo- niert, in der Hoffnung, dass der jungen Generation Freiräume für Anstössiges und Provoka- tion zugebilligt wird. Die Messe wurde auch erfolgreich und begeistert von Jugendchören aufgeführt, Schiblers Erwartung hat sich in diesem Punkt erfüllt.1

8.5.2 Reflektierte Verantwortung: Vaterunser - zeitgemäss Dieses Werk entstand aus Schiblers Bedürfnis, die affirmative Aussage des jesuanische Vaterunser zu aktualisieren und mit Zwischengedanken zur Gefährdung der tragenden ethischen Werke im Wohlstandsklima zu durchsetzen. Zunächst die Aktualisierung des Gebetes

1 Halbszenische Uraufführung Nov. 1980 in der Aula Rämibühl Zürich und in der Konzerthalle Solothurn. Zweitaufführung und Fernsehaufzeichnung zum Abschluss des Jugendchortags am Schweiz. Gesangsfest in Basel am 12. Juni 1982. Armin Schibler, Das Werk 1986, S.69f.

166 Vater unser, unser Vater Vater aller Menschen und Völker dieser Erde der du bist in dem Himmel möchtest du immer mehr in unseren Herzen sein geheiligt werde dein Name den allzuoft wir mit Wort und Tat entwürdigen zu uns komme dein Reich setze uns Grenzen, dass wir erkennen, was dem Menschen zukommt. All unser Tun ist nichts als Flucht vor uns selber und Flucht vor dir. dein Wille geschehe am und die vielen, die abgefallen sind von dir, berühre sie mit Himmel wie auf Erden Ahnung deiner Grösse; sie sind unsere Brüder, auch wenn sie nicht in deinem Haus wohnen. Gib uns heute unser täglich denn unser sind immer mehr auf der Welt, und ganze Brot Völker verzweifeln in Hunger und Unwissenheit, indes du uns mit Gütern überhäuft hast. vergib uns unsere Schuld wie denn keine Schuld ist zu finden, die wir nicht auf uns auch wir vergeben unsern geladen, noch immer wächst der Berg unseres Verrats Schuldnern führe uns nicht in Versuchung durch das leichtere Leben, damit die Seele keinen Schaden nehme und wir lässig werden in der Bewahrung unserer höchsten Güter Sondern erlöse uns von dem das die Vernichtung will von allem, was du geschaffen Bösen hast denn dein ist die Kraft und die solang der Sonne Feuer dieser Erde Leben schenkt Herrlichkeit in Ewigkeit Amen."1

Schibler erweitert also das Vaterunser mit Hinweisen auf das Unrecht in der Welt und mit Konkretisationen zur Schuld von uns Menschen. Das Gebet wird damit zur selbstkritischen Meditation: "Indem die einzelnen Sätze des Gebets beleuchtet werden, der Betende sich sozusagen selber befragt, ergab sich die Möglichkeit zu einer Vertonung mit dramatischen Gegensätzen zwischen Bejahung und Zweifel."2

8.5.3 Mysterium leidenschaftlicher Liebe: La Folie de Tristan Schibler bezeichnet sein Werk La Folie de Tristan (1980)3, ohne Zweifel der künstlerische Höhepunkt in der Gestaltung der mystischen Frau-Mann-Beziehung, in seinen Überlegun-

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.68f. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.68. 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.25f.

167 gen zur Uraufführung1 als Mysterium, das die Frage nach der Herkunft und dem Sinn des Lebens stellt. Insofern ist dieses Werk ebenfalls ein religiöses Werk, auch wenn Schibler es jenseits vom Christlich-Religiösen ansiedelt, mit herausfordernden Anfragen auch an die christliche Tradition. La Folie de Tristan behandelt die in verschiedenen mittelalterlichen Tristan-Versionen festgehaltene Rückkehr von Tristan an den Hof des König Marc, wo es ihm gelingt, sich mit seiner Geliebten Isolde, unglücklich vermählte Gattin des Königs, nochmals eine Liebesnacht zu verbringen. Der etwas detailliertere Ablauf: Von Liebessehnsucht getrieben, schifft sich der alternde Tristan nach Cornwall ein. Dort verbringt er eine Nacht in den Klippen, wo im Traum Christus mit dem Finger auf ihn deutet. Als Narr verkleidet, gelingt Tristan der Zugang zum Königspaar selbst. Seine Narrenposse, sehr zum Vergnügen Markes, ist voller intimer Anspielungen auf die Liebesgeschichte zwischen ihm und Isolde, die, immer noch ihren Geliebten ersehnend, von der Posse getroffen ist. Tristan gelingt es später, sich Isolde gegenüber als Tristan erkennen zu geben. Sie verbringen eine Liebesnacht, bevor Tristan so plötzlich verschwin- det, wie er vorher aufgetaucht war. Literarische Vorlage ist der Roman Tristan et Iseut von Marie de France in der modernen Fassung von Bédier. Der legendäre Handlungsablauf wickelt sich, den direkten, im franzö- sischen Original belassenen Dialogen von Bédier folgend, als statische Bilderfolge ab, um die herum sich Schiblers erweiternder Text Das Unverlierbare rankt. Dieser Text rückt die Liebesleidenschaft Tristans aus dem Historischen ins Heutige. In der instrumentalen Besetzung folgt Schibler einem besonderen Einfall: Neben der klassischen Besetzung tritt eine Jazzrockgruppe als zweites Ensemble auf. Damit will Schibler den Tristan-Mythos einer Hörerschicht näherbringen, der die klassischen musikalischen Darstellungsform fremd ist. Die tiefere inhaltliche Aufgabe dieser Jazzrockgruppe: tönendes Medium der Libido zu sein, eine Dimension, die für Schibler seit Strawinskys Sacre du printemps unabdingbar für ein ganzheitliches Musikempfinden ist. Gattungsmässig bezeichnet Schibler das Werk als musikalisches Mysterium, konzipiert für unterschiedlichste Aufführungsrealisierungen: als Oper, als konzertante Wiedergabe wie in der Uraufführung in Montreux oder im idealen Fall als totales Theater. Der Schiblersche Text Das Unverlierbare soll in der Sprache des Aufführungsortes dargeboten werden, während die Bédier-Dialoge im Original zu belassen seien.

Zur Botschaft von La Folie de Tristan 1. Die religiöse Tiefe wahrhaftiger Liebesleidenschaft: Aus Liebe zu einem Menschen, aus Liebe zu den Menschen zum Narren werden - dieses Motiv, das Schibler in seinem Tristan zur Hauptaussage seines Werkes wählt, ist eine Aus- sage mit vielfältigen Aspekten. Tristan und Christus sind einander ebenbürtig in ihrem

1 Armin Schibler, Überlegungen zur Uraufführung, S. 1.

168 Prozess des 'zum Narren werden'. Christus wurde zum Narr, weil er wahrhaftig seinen Weg ging, sich nicht an religiöse (und gesellschaftliche) Konventionen hielt. Deshalb wurde er aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestossen, verspottet, verachtet und schliesslich verfolgt und getötet. Der Schiblersche Tristan gleicht diesem Christusbild frappant und nimmt auch ausdrück- lich auf ihn Bezug. In der zehnten Szene, in Tristans Verwandlung/der Traum wird dies eindeutig: "Warum er nicht beten kann, denkt er. Seit er mit Isot aus jenem Becher getrunken hat, kann ihm Gott nicht mehr helfen. Beten, zu wem? Seine Bedrängnis ist jenseits von dem, was gut und böse genannt wird. Der Gottessohn selbst - hat nicht auch er an der Liebe gelitten und sah sich verlassen und verraten, dem Kreuz überantwortet? Er schämt sich des verwegenen Gedankens. Jener hat die Menschen geliebt. Er liebt nur die eine, der er verfallen ist mit allen seinen Sinnen. Ist er ein Verworfener? - Himmlischer Vater, flüstert er, hast du nicht auch mich erschaffen? Kommt sie nicht von dir, diese unstillbare, die unverlierbare Sehnsucht? Knarrend öffnet sich die Pforte. Wie konnte ich ihn so lange vergessen, meinen Ahnensaal! Längs der Mauer die abgedunkelten Bildtafeln, unverrückt die Statuen aus bleichem Mar- mor, zwischen denen ich nun gehe. Noch immer hält Moses die steinerne Tafel. Sokrates hebt den Schierlingsbecher, der düstere Nero senkt die Fackel, legt Feuer an die Ewige Stadt. Tristan grüsst euch, ihr Mächtigen, Weisen und Narren der Vergangenheit! Als ich mich vor dem Gekreuzigten verneige, löst sich vom Balken seine Hand. Beugt sich mir entgegen, der Finger streckt sich aus der blutenden Faust. Er zeigt auf mich! der ich schon fliehe, von Bild zu Bild, vorbei an den starrenden Augen, deren Blicke mir folgen, fordernd und flehend. Draussen vor der Mauer erregte Stimmen, Gröhlen und Gelächter. Fäuste hämmern auf mich ein, stossen mich über steiniges Gelände hügelwärts. Dicht umringt mich die Menge, der ich den Kopf gesenkt halte und mich hochstemme gegen das Gewicht auf der Schulter. Erschöpft bleibe ich stehen. Die Gaffer weichen zurück, eine Gasse tut sich auf. Das Gere- de verstummt. Auf der Hügelkuppe, gegen den brandroten Himmel sich abhebend, sehe ich zwei Kreuze ragen! Hammerschläge dröhnen, oder ist es mein Herz, das zerspringen will? Eine Stimme flüstert meinen Namen. Mir zur Seite steht die schlanke Gestalt. Die kühle Hand berührt meine Stirn, streift über Haar und Wange, schiebt sich unter die leicht wer- dende Last.-"1 Tristan fühlt sich be-zeichnet vom Finger Christi, seiner Berufung Tristans zu irdischer Liebe: "Du bist gemeint. Du und ich gehören zusammen!" Tristans Leidenschaft erhält so den religiösen Adel der Sehnsucht nach dem Unverlierbaren – der Titel, den Schibler den von ihm stammenden Textteilen des Werkes gegeben hat.

1 Armin Schibler, La Folie de Tristan, 10. Szene, aus: Texte 1975-82, S. 98-100.

169 Schibler hat übrigens diesen Traum selbst geträumt, dessen Botschaft ihm ungemein wichtig erscheint. Tatjana Schibler erinnert sich: "Dieser Traum war ihm nicht auszureden, er musste unbedingt ins Werk hinein, obwohl ich ihn nicht passend fand.“ 2. Das Kreuz der leidenschaftlichen Liebe tragen: Menschliche Liebe ist eine Liebe mit Körper, Seele und Geist. Jeder, der auf diese Weise liebt, trägt sein Kreuz, wie Christus sein Kreuz getragen hat. Wer liebt, wird in einer lieb- losen Welt, welche die Götzen Macht und Geld an die Stelle von Liebe setzt, fast automa- tisch auf Widerstand stossen, wird zum Narr, der Normen überschreitet, wird zum Antihel- den, welcher die weltweiten Götzen entmachtet. 'Jedem der liebt, ist ein Kreuz bestimmt...' Wer liebt, erzeugt Widerstand, erfährt Leiden, nicht weil er dieses sucht, sondern weil Lieben ohne Leiden nur selten erlebbar zu sein scheint. Kompromisslos Liebende setzen sich auch heute noch in Widerspruch zu einer Gesellschaft, in der das Streben nach Erfolg und Macht oberste Maxime ist, der (fast) alles geopfert wird. Wer liebt erzeugt Widerstand. "Vous me chassez, beaux Seigneurs; à quoi bon?", fragt Tri- stan schmerzerfüllt am Ende des Werkes (Szene 28). Plötzlich wird der Zuschauer ins Spektakel mit einbezogen, wird Teil der Geschichte - Tristan stellt ihm die bohrende Frage, zeigt mit dem Finger auf ihn: „Wo seid ihr? Vertreibt auch ihr mich aus euren Reihen, aus eurem Leben?“ Der Finger Tristans soll wohl dieselbe Suggestion ausüben wie der Finger Christi, der im Traum auf Tristan zeigte: Er will uns einholen, uns anrufen. Vorher jedoch, am Ende des Kreuz-Weges (Szene 24) die unio mystica, die Chor, Sprech- und gemeinsam gestalten: "Isot ma Drue Isot m'amie en vus la mort en vus la vie (...) Wohin wie weiter-? Hierher-. Liebend ruht du im Geheimnis schöpfst Kraft für den Weg ohne Ende Wohin weiter-? Nach Golgatha. Jedem der liebt ist ein Kreuz bestimmt Trage das deinige entmachte die Götzen

170 lösche die Blutspur der weltweiten Lieblosigkeit."1 3. Eros und Agape – zwei Seiten der einen lebensbegründenden Kraft: Diese beiden Seiten derselben Kraft ergänzen einander, jede Seite führt - die andere einbeziehend - zur Ganzheit. Tristan und Isot sind in dieser Weise nicht nur zwei konkret Liebende, sondern sie sind sowohl Symbole für zwei Seiten in uns selbst („Tristan und Isot - sie sind in dir“, 1. Szene), als auch Symbol für die Vereinigung von Göttlichem und Menschlichem. Diese Vereinigung, in der christlichen Mystik erfahren in der unio mystica - erlebt und zelebriert im Gottesdienst in der Wandlung, im Abendmahl - erfahren die beiden Liebenden in der körperlichen Vereinigung, Symbol für den Drang des Lebens nach sich ausweitender Vielfalt (Szene 24): "Die Lebensspur, das immerfort Werdende, immerfort bedroht Klimastürze Eiszeiten. Lustvoll Lebendiges trotzend dem Schmerz... das ANDERE das Unverlierbare." Das sexuelle Begehren des Menschen ist damit – wie in der Messe für die gegenwärtige Zeit - nicht das ewig Verwerfliche, das Einfallstor des Teufels, welches der Mensch - wenn er wahrhaft gläubig ist - hinter sich lassen müsste. Sexualität wird im Gegenteil zum Symbol und Hinweis für das Geheimnis des Lebens selbst, wird zur Spur des Göttlichen. Damit dürfen nun nicht mehr Körper und Geist, Sexus und Agape, Dogma und Sinnenhaf- tigkeit auseinandergerissen werden, sondern alle diese menschlichen Polaritäten sind aufeinander ausgerichtet und erreichen in der Heiligen Hochzeit ihre Ganzheit: In einzelnen Individuen ('Tristan und Isot sind in dir'), zwischen Liebenden, in einer lebens- zentrierten (nicht todeszentrierten) Gesellschaft. Eros und Agape können nicht auseinandergerissen werden, ohne dass Eros zum blossen Sex, zu triebhafter Abreaktion erstarrt - und Agape ohne Feuer zu trockener Ethik verdorrt. Denn Religion und Erotik sind und bleiben ein wildes Paar. Wie heftig sie miteinander streiten, sich gegenseitig beschimpfen, verwünschen, verfluchen mögen, keine hält es ohne die andere aus. Stirbt die Religion, so magert die Erotik zum Skelett, das heisst zum blossen Sex, ab. Wenn die Erotik stirbt, verdorrt Religion zur abstrakten Metaphysik (wie früher) oder zur trockenen Ethik (wie heute). 4. Unio mystica von Eros und Agape – Liebe als lebensschöpferische Kraft: Tristan, der 'sein Königreich verschenkt für eine Nacht in den Armen einer Frau', wird durch seine Leidenschaft zum Inbegriff des liebenden schöpferischen Menschen: „Gesungen hat er, getanzt! Wir wagten nicht ihn anzurühren. Er drehte sich im Kreise, schlug um sich und sprang. Lachte! Lachte wie einer, der nie Furcht gekannt. Auf und davon. Niemand hat je wieder von ihm gehört“

1Armin Schibler, Texte 1975-82 110-112.

171 erzählen die Wächter später. Die Mythenbildung beginnt bald, bereits unter den Wächtern, sogar sie werden kreativ im Schwelgen in der Erinnerung. Und ihnen und uns bleibt als anstössige, machtkritische Erinnerung: Wirkliche Helden sind nicht die machtstrotzenden Ritter, die Könige, die Militärs bzw. Regierenden unserer Zeit, wahre Helden sind die närrisch Liebenden, die alles aufs Spiel setzen für die Liebe. 5. Überwindung der Verneinung körperlicher Liebe in der christlich-abendländischen Tradition: Jeder, der auf diese Weise liebt, hat Teil am Geheimnis, am Göttlichen, am Unverlierbaren. Schibler weist in seinem Tristan auf die nahe Verwandtschaft menschlicher und göttlicher Liebe hin, ungewöhnlich für die christliche Tradition, doch ein Weg aus Einseitigkeit und Tabuisierung. So bemerkt in der 22. Szene eine heutige Stimme: "Beeile dich, Tristan. Stürze nach oben, der lange Entbehrten entgegen. Der Weg, den du jetzt gehst, ist unser Weg. Mit jeder Stufe, die du nimmst, sinkt ein Jahrhundert ins Vergan- gene. Kein Zaubertrank hat dich vergiftet - du hörtest die andere Stimme, die unsere Stim- me ist. Sie ruft! Wofür zu leben es sich lohnt, spricht sie, vom Sinn in der Verlorenheit..." Die erlösende Botschaft ist die Erfüllung, die Liebe und nicht mehr die Notwendigkeit von Leidenserfahrungen; das Leiden muss nicht mehr gesucht werden. Das überwindet einen latenten Masochismus des Christentums. Tristan wird zum Pionier eines Empfindens, das zwischen Körper und Psyche keine Spaltung kennt; er wird Ahnherr eines auch das Biolo- gische wie das Kosmische einbeziehenden Verständnisses von Liebe 6. Bedeutung für uns heutige Menschen: Der Tristan-Stoff in einer Rückschau auf das Vergangene ist nach Schibler aktuell für eine Epoche, die gefährdet ist, die seelische Sublimation der Liebesbeziehung infolge der Überbewertung des jugendlichen Körpers in der erotischen Verzauberung zu verlieren.

Gegenüberstellung: Wagners Tristan und Isolde - La Folie de Tristan Tristan und Isolde bei Wagner: Um das Spezielle an der Schiblerschen Tristan-Interpretation zu begreifen, ist es hilfreich, sie mit der Wagnerschen Tristan und Isolde-Interpretation zu vergleichen. Allein der Handlungsverlauf zeigt bereits, wie diametral entgegengesetzt die Botschaften beider Werke sind: Bei Wagner sind die Hauptfiguren, Tristan und Isolde, todessüchtige und todessehnsüchtige Charaktere. Schon nach der ersten Liebesnacht mit Isolde stürzt sich Tristan in das Schwert von Melot und will sich umbringen, was ihm leider nicht gelingt (2. Aufzug, 2. Szene). Sein Selbstmord glückt erst am Schluss der Oper: Kurz bevor Isolde mit ihrem Schiff anlegt und er weiss, dass sie kommt, reisst er sich den Verband von der Wunde und sieht mit Glücksgefühlen dem Fliessen seines Blutes und seinem Verbluten zu. Tristans Sehnsucht gilt offensichtlich weniger der gelebten Liebe, sondern dem Tod; der Wagnersche Tristan erfährt Lieben als Sterben. Noch bevor Isolde bei ihm angekommen ist, ist er bereits tot. Sein Tod löst jedoch auch bei Isolde nicht Trauer und Wehmut über all das Ungelebte aus, sondern 'Isolde heftet das

172 Auge mit wachsender Begeisterung auf Tristans Leiche' (Regieanweisung 3. Aufzug, 3. Szene), und sie folgt Tristan in den Tod. Vereint sind damit die Liebenden nicht im Leben, sondern erst im Tod. Der Tod erst bringt Erlösung und Verklärung, Leben bedeutet Anspannung, Schuld und Verstrickung. Tristan und Isolde bei Schibler: Tristan und Isolde sind – im Unterschied zu Wagner – Liebende einer über Jahrzehnte dauernden Liebe (Szene 13), deren Sehnsucht bereits im Leben erfüllt wird. Es ist die Macht des Faktischen, die am Schluss des Werkes Tristan wieder aus den Armen Isots heraus führt, nicht das bewusste Suchen des Leidens und die Freude an Schmerz und Trennung. Anstössig darüber hinaus: Nicht Macht, Herrschaft, Königswürde und die modernen Pendants davon sind wahrhaft lebenserfüllend, sondern gelebte und leidenschaftliche Liebe, auch wenn sie ans Kreuz bringen kann. Tristan und Iseut werden beide als eigenständige, einander begehrende Menschen geschildert, Iseut ist keineswegs nur Objekt der Leidenschaft von Tristan, nur steht in diesem Stück nicht ihr Weg im Mittelpunkt des Interesses, sondern Tristans Weg, der Weg des Mannes, der zum Narr wird als Liebender. Wenn Tristan vorausgeht, um la maison de cristal, fleurie de roses, lumineuse au matin quand reluit le soleil... zu bereiten (letzte Szene, die letzten Worte), bedeutet dies nicht die Verlagerung der Liebessehnsucht und Erfüllung ins Jenseits, sondern viel eher die Transzendierung der Lebens- und Sinnerfah- rung und von gegenwärtigem Glück. Der Kreis schliesst sich, der Traum Tristans von der Begegnung mit Christus erfüllt sich: Irdische, real und körperlich gelebte Liebe hat zutiefst zu tun mit göttlicher Liebe, mit dem Mysterium. Gerade dadurch wird sie zum Unverlier- baren wie es der Titel des von Schibler stammenden Textes ausspricht.

173 9 Das letzte grosse Thema, das sich als roter Faden durch mein Lebenswerk zieht: Der Tod

In diesem Kapitel wird sich zeigen, auf welch vielfältige Weise sich Schibler mit dem Tod auseinandersetzte, der ihn zeitlebens – auch in seinem künstlerischen Werk – herausforderte.

9.1 Das Thema Tod im Leben des jungen Schibler

Das Thema Tod zieht sich wie ein roter Faden durch Leben und Werk von Armin Schibler, dies zeigen bereits frühe Tagebucheinträge. Schibler schreibt am 30. Juni 1946 während seines Englandaufenthaltes: "Im Hause sitze ich wieder an den Flügel, während draussen ein weites, mildes Abendrot am Himmel aufzieht. Ich denke schmerzlos an eine spätere Zeit meines Lebens, da ich mich auf den Tod würde vorbereiten müssen. Und über meinen G-B-Es-Urakkord singe ich eine traurige und doch gefasste Melodie, wie sie einmal in meinem Requiem vorkommen wird..."1 Dieser Urakkord ist musikalisch aus meiner Sicht im Werk von Armin Schibler nicht mehr auffindbar. Schibler hat an anderen Orten (S. 38) den E-Dur-Akkord als Ewigkeitsakkord bezeichnet. Dennoch: die 'Einstimmung' auf den Tod erfolgt hier erstmals musikalisch- improvisierend und damit künstlerisch. Schibler verwandelt den Tod (ähnlich wie die Liebe, vgl. S. 44), indem er ihn als Inspirationsquelle begreift. Aus einem Brief an seine Verlobte Tatjana Berger vom 1. August 1946, ebenfalls aus Eng- land: "Einmal, einmal werden wir das Ende erreichen, wie hier täglich die Autobusse spät in der Nacht zum letztenmal in die Garage einfahren. Es macht mich traurig, selbst wenn ich nicht fähig bin, mir dieses Ende wahrhaft zu denken. Einmal, innig geliebte Njuscha, wer- den wir beide wieder Erdstoff sein. Doch das Unnennbare, Unbegreifliche begibt sich wie- der in der Menschenewigkeit, die nur ein Stück ist in der Ewigkeit der Natur, über welcher sich die Glocke des zeitlosen Sinns wölbt... O sei bald, bald mein, da ja mit jeder Abendröte, jeder Morgenröte ein Teilchen unserer Zeitigkeit sich vollendet. O lass uns bald dieses eine, grosse Gefühl werden, welches den Menschen ins Zeit- und Raumlose, ins Ewige hebt. Oh du - es wird alles unaussprechlich und namenlos..."2 Am 27. Sept. 1946 schreibt Schibler - immer noch in England weilend - zur Schubertschen Musik:

1 Armin Schibler, Tagebuch 30. Juni 1946. 2 Armin Schibler, Tagebuch 5. August 1946.

174 "Durch lange Jahre habe ich unter den Komponisten der Vergangenheit keinen gehabt, der mir näher als die anderen gewesen wäre. Jetzt spüre ich immer mehr, wie Schuberts Musik ein mir Verwandtes ausdrückt. Es wird Stunden, Abende geben, da werde ich hinsitzen und diese Musik spielen. Du selbst hast mir einst gesagt, in einem ganz bestimmten Augenblick unseres Lebens werdest du mich bitten, den langsamen Satz der fis-moll Sonate zu spielen." Tatjana Schibler merkt dazu an, dass sie um dieses Musikstück beten werde, wenn sie ein Kind unter ihrem Herzen trägt. Auch in Zeiten höchsten Glückes ist das 'memento mori' gegenwärtig, Leben und Sterben bilden eine untrennbare Einheit für den, der genau hinzu- hören vermag: "Es wird dann sein, wenn unser Glück so hoch, so wunderbar andauert, dass eine bange Traurigkeit in uns kommt, dass die Zeit auch in uns wirkt wie in einer reifen Frucht, und dass auch einmal unser Glück zu Ende gehen muss. Wir werden zusammen weinen, in der Stille der Nacht, und die Kerzen zu unserer Seite werden leise flackern und dann wieder still und rein brennen. Nur dann und wann dringt ein Nachtgeräusch gedämpft zu uns, als wäre draussen auf den Strassen ein grosser Schneefall. In diesen Tränen werden wir wohl allmählich reif für den Tod, und die traurig-milde Gegenwart des Todes in Schuberts Musik ist es wohl, die mich so erschüttert. Ich ahne deutlich, wie nach Liebe und Ehe ein neuer Kreis in mein Leben treten wird: der des Todes. O lieber Schubert. Träumend hast du Teil an neuen, höheren Welten. Aus dumpfem Dasein reisst dich uralt-ehernes Symbol und glüht dich rein im Tiegel des Gefühls: dein göttlich Wesen reift. Liebend suchst du dir den ersten süssen Tod. Und sich erfüllend, eins mit ewig kreisender Natur, stillt Frauenschoss dein suchend Übermass: im Zweisein wirst du tiefer eins. Sterbend schliessest du den angemessnen Kreis, und dein Gefäss zerfällt. Die letzte Stufe wird dir fassbar:

175 heimgefunden, urerlöst gehst wieder ein ins All."1 Träume und Liebe sind Vorboten und Vorbereiter auf den Tod. Diesem Gedanken geht Schibler auch vor seinem 'grossen Tag' nach. In der Nacht vor dem Hochzeitsfest meditiert Schibler Anfang und Ende des Lebens, Geburt, Ich-Werdung und Tod weiter in seinem Tagebuch (in Fortsetzung des Eintrags von S. 41): "Nun kommt die letzte Nacht. Einst war es die letzte Nacht im Mutterleib, der erste, der letzte Tag in der Schule, nun die letzte Nacht im Elternhaus. Ebenso gut und lieb wird der letzte Tag des Lebens sein, die letzte Erdennacht vor der Auflösung ins Ewige. Leises Raunen der Vergänglichkeit in der Brust, und leise wogen Freude und Schmerz durcheinander im guten Wechsel. (...) Urgrund des Lebens, heiliger Ehekreis! Den Sternen gleich bist du Gesetz, in dem unser Anfang und Ende ruht."2 Ähnliche Gedanken erfüllen ihn, als sein erster Sohn das Licht der Welt erblickt: "Ja, was das Leben mir nun noch bringen kann, das sei ein bewusstes, beglücktes Hinreifen zum Tode. Wenn die Geburt, das Reifen eines Menschen so beglückend den Zwiespalt der Zeugung löst, wie muss dann erst der letzte der drei Übergänge ein ungeahnter und herrlicher sein, von dem nur wenige Auserwählte ahnen? Die 'Passacaglia', ohne Worte und deshalb mit rein musikalischen Mitteln dasselbe zum Ausdruck bringend. Unverrückbar, unbesiegbar schreitet das Bassthema einher, in seinen gesteigerten Phasen den Abschnitten eines Lebens, ganzer Generationen gleich, bis es sich erfüllend auflöst an das Ewige, das vorher war und nachher sein wird."3 (S. 179.) Schiblers Beschäftigung mit dem Tod erlischt für einige Zeit, andere Probleme rücken an erste Stelle. Angesichts eines weiteren unwiederbringlichen Überganges, der bewussten Loslösung von Vater und Mutter, wird das Thema Tod wieder aktuell. Zwei Jahre später, am 27. Mai 52, schreibt er über den Besuch seiner Heimatstadt Kreuzlingen: "Wieder einmal an den Orten, wo ich Kind war: noch ganz leise ist die Befangenheit da, noch haftet ein Zauber an vielen Dingen, wie lange noch? Zum ersten Mal spüre ich: wie ich mich von Vater und Mutter gelöst, so nun auch vom Jugendland. Ich bin kein Anderer - aber an die Stelle der romantischen Beziehung tritt immer mehr die Schau aus der Ungebundenheit: die Dinge sind nüchterner geworden, wahrer, aber wo sie harmonisch sind, verzaubern sie immer noch. (...) Abends. Eben hörte ich das Violinkonzert von Frank Martin. Solange es solche Musik gibt, ist mir nicht angst.

1 Armin Schibler, Tagebuch 27. Sept. 46. 2 Armin Schibler, Tagebuch Freitag 23. Mai 1946. 3 Armin Schibler, Tagebuch, Frühling 1950.

176 Das, hierhin ist mein Weg. Auch Martin scheute den rauhen Weg durch die Gebirge und Einsamkeiten nicht. Er ist nun drüben. Ich werde in zwanzig Jahren auch dorthin gelangen, das weiss ich. 'Patience, patience, patience dans l'azûr. Chaque atôme de silence est la chance d'un fruit mûr...' Diese herrlichen Worte sage ich mir jetzt oft. Und sogleich wird es ruhig in mir."1 Zwei Wochen danach, sein zweiter Sohn Christian ist gerade geboren, setzt er den letzten Gedanken fort: "So sicher und gefasst sein zu dürfen, so voller Sonne und kindlicher Freude auf das werdende Leben wie Tatjana. so müsste ich einst vor der letzten Stunde, vor der letzten Frage bestehen können. So schön, so selbstverständlich müsste auch jener andere Übergang, der vom Leben in den Tod, sein können."2 Es sind die bedeutungsschweren Übergänge, die Schibler an den Tod denken lassen: der Abschied von seiner Jugendzeit, Momente intensiver Liebessehnsucht, die Hochzeit, die Geburt seiner Kinder. Gedanken an den Tod melden sich weiterhin beim Hören von Musik - Beispiele waren Franz Schubert und Frank Martin - aber auch beim Improvisieren. Das Geheimnis Musik mit all seinen religiösen Bezügen, immer wieder in dieser Arbeit ange- sprochen, hat für Schibler einen engen Bezug zum Reich des Todes, das als Teil der jensei- tigen Welt den Lebenden verschlossen ist, aus dem jedoch dank Musik Klänge herüberwe- hen, eine heilsame Relativierung der erlebten Gegenwart, worauf das Werk Un Signal d'Espoir (S. 180) verweist.

9.2 Gesichter des Todes in Schiblers Werk

Für Schibler hat der Tod viele Gesichter, die sein Werk zeichnet:

- Der Tod ist friedlicher Natur, doch vorher als allgegenwärtiger Stein des Anstosses eine stetige Herausforderung und Infragestellung des Menschen.

- Der Tod ist nie Sünde Sold oder Strafe wie im Christentum. Für Schibler bricht er über den Menschen herein als Folge eines Tun-Ergehen-Zusammenhanges. In Tod Enkidus begrenzt der Tod den menschlichen Fortschrittswahn: Gilgamesch versteift sich zwar auf den Kampf gegen den Tod ('und lachend begann er den Kampf gegen den Tod'), doch dieser Kampf ist vergeblich.

1 Armin Schibler, Tagebuch 27. Mai 1952. Die zitierten Verse sind Verse von Paul Valery, welche er Jahrzehnte später in seinem Werk für Oboe als Texteinlage verwenden wird. 2 Armin Schibler, Tagebuch 8. Juni 1952.

177 - Tod als Auftraggeber/Inspirator künstlerischer Werke, wofür Amadeus und der graue Bote (S. 182) ein Beispiel ist. Durch Verdrängung wie auch Bewältigung des Todes entstehen künstlerische Werke, entsteht Kultur.

- Der Tod stellt den Narzismus und den Selbstdarstellungstrieb des Menschen in Frage. Tiefe Demut und Dienst am Werk ist notwendig (Amadeus und der graue Bote).

- Der Tod wird dadurch zum Trost; indem er Gegenpol zur Verhaftung im Sog und der Hektik der Gegenwart ist. Der Tod relativiert auf heilsame Weise das eigene Tun, er ruft dem Menschen memento mori zu. Schiblers Musik als Botschaft des Zeitlos-Göttlichen (Kap. 7.1) singt das memento mori. Dieses klanggewordene memento mori mahnt uns, die Schönheit, Kostbarkeit, Endlichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens täglich neu als Geschenk zu empfangen.

9.3 Werke der Auseinandersetzung mit dem Tod

9.3.1 Übersicht Das Werkverzeichnis führt folgende, das Thema Tod betreffende Werke auf1:

- Das frühe Hauptwerk für grosses Orchester, die Passacaglia (1949).

- 1955 vertont Schibler in einem Hörwerk das Andersen-Märchen Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen2. Der Inhalt: Ein kleines Mädchen verfeuert in der Silvester- nacht seinen ganzen Vorrat an Schwefelhölzern, den es eigentlich verkaufen müsste, dafür jedoch keine Kunden findet und visioniert im Lichtglanz der Hölzer ein Weih- nachtsmahl mit seiner verstorbenen Grossmutter, welche es liebevoll in paradiesische Verhältnisse aufnimmt - am nächsten Morgen wird es erfroren aufgefunden.

- 1966/67 schreibt er den symphonischen Zyklus Huttens letzte Tage3 nach dem gleichnamigen Gedichtzyklus von C.F. Meyer. Inhalt: Der religiöse Dissident Hutten verbringt als Vertriebener auf der Insel Ufenau seine letzten Tage mit Selbst- und Glaubenszweifeln. Bevor er stirbt, kann er sich mit seinem Auftrag und Lebenswerk aussöhnen.

- 1970/72 entsteht das Hörwerk Enkidus Tod4 nach Texten von Alfred Goldmann. Inhalt: Der einstige Tier-Mensch Enkidu und sein Freund Gilgamesch töten den Himmelsstier, worauf göttlicher Fluch sie trifft. Gilgamesch muss mitansehen, wie sein Freund

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.16. 2 Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen. Melodrama nach Andersen für eine Sprechstimme und Kammerorchester, op. 45 (1955), Nr. 61 Das Werk 1986, S.76. 3 Huttens letzte Tage, Sinfonischer Zyklus für tiefe Stimme und Orchester auf 12 Gedichte aus dem gleichnamigen Zyklus von C.F. Meyer, op. 84, Nr. 35 Das Werk 1986, S.53. 4 Enkidus Tod, für gem. Chor, Kammersprechchor, Gesangs- und Sprechstimmen und Orchester. (1970/72) Text von Alfred Goldmann, Nr. 51 Das Werk 1986, S.66. Schibler nennt dieses Werk auch mehrmals Der Tod Enkidus.

178 Enkidu nach Siechtum stirbt. Die narzistische Kränkung durch die menschliche Sterblichkeit treibt Gilgamesch zur – vergeblichen – Revolte gegen den Tod.

- 1974 komponiert er das symphonische Werk Trauermusik1 mit einem eigenen Text (S. 181).

- 1975 entsteht das Hörwerk Der Tod des Einsiedlers2, in dem Simplizius Simplizissimus seinen Freund und Ziehvater begräbt und sich von nun an allein dem Leben gegenübergestellt sieht.

- Die Komposition des Violinkonzertes Un Signal d'Espoir3 (1983) orientiert sich an einem eigenen Text, in dem der Tod als Geiger, eine tröstliche Melodie spielend, auftritt (S. 180).

- 1985 schreibt er - als Requiem und Kammeroper zugleich - die Musik zu Amadeus und der graue Bote4, einem Einakter von Thornton Wilder (S. 182). Es sind verschiedene künstlerische Formen, absolute/symphonische Musik, Oratorien, Musik mit Texten und natürlich Hörwerke, in denen sich Schibler mit dem Tod befasst. Als wichtige Werke erachtete ich die Passacaglia, Media in Vita (besprochen in 5.4), Huttens letzte Tage, Trauermusik und Un Signal d'Espoir.

9.3.2 Überwindung des Todes: Passacaglia Zu seinem frühen Hauptwerk, der Passacaglia, schreibt er: "Die eigentliche Passacaglia wird von 16 Wiederholungen des Bassthemas fundamentiert, wobei dieses im Verlauf von drei Steigerungen auch auf die Oberstimmen übergreift. Die Nebenmotive verdichten sich zu einem Gegenthema, das in einem Fugato zeitweise das Bassthema in den Hintergrund drängt, bis dieses in Akkordblöcken ausharmonisiert, das 'letzte' Wort zu tönen scheint. Den Werkhöhepunkt bildet jedoch die mysteriöse Episode der Einleitung, die jetzt sieghaft den Themawiederholungen ein Ende setzt. - Im Epilog löst sich das Thema wieder in seine Bestandteile auf, wird 'Erinnerung'. Eine aufsteigende Passage der Solovioline führt zum ins Kosmische weisenden Schluss. Erstmals erscheint die in meiner Arbeit immer wichtiger werdende gegenläufige 'chroma- tische Rückung'. Wo dieses ursprünglich hochromantische Prinzip an Quart und Quint angewendet wird, gewinnt es einen antisubjektiven, ins Harmonikal-Kosmische zielenden Ausdrucksgehalt."5

1 Trauermusik, für Flöte, Klarinette, Fagott, rituelles Schlagzeug, Sprechstimme und Streichorchester. Nr. 33 Das Werk 1986, S.53. 2 Der Tod des Einsiedlers, Szene aus 'Die Abenteuer des Simplex Simplizissimus' von Grimmelshausen, für Sprechstimme, Bassolo, Knaben- und Frauenchor und Kammerensemble Nr. 53 Das Werk 1986, S.69. 3 Un Signal d'Espoir Konzertante Ballade für Violine und Orchester mit Sprechstimme ad lib., Nr. 117, Das Werk 1986, S.100. 4 Amadeus und der graue Bote, Kammeroper in einem Akt für 3 Sänger, Chor ad lib. und Orchester. Text von Thornton Wilder, Nr. 9, Das Werk 1986, S.32. 5 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.45.

179 Das Bassthema - den Tod symbolisierend? - wird zunächst überlagert von den Nebenmoti- ven, sich zum Fugato verdichtend - musikalisches Symbol der Vielfalt des Lebens. Das Bassthema siegt jedoch, nun ausharmonisiert, der Tod behält Überhand. Wirklich? Musika- lisch setzt die 'mysteriöse Episode der Einleitung' der Bassthemawiederholung ein Ende: Symbol der Auferstehungshoffnung, der Überwindung des Todes? Im Epilog wird das Thema in seine Bestandteile zerlegt - Auflösung ins Ganze, Erinnerung (und Vergessen.) Die Musik endet im Kosmischen. Erreicht wird dies durch das Mittel der chromatischen Rückung, auf welches ich in anderem Zusammenhang (S.86) eingegangen bin.

9.3.3 Der Tod als Künder einer anderen Welt: Un Signal d'Espoir Im Jahre 1980 macht sich Schibler an die Aufgabe, ein zweites Violinkonzert anlässlich der 500-Jahrfeier des Kanton Solothurns zu komponieren. Er hat grundsätzlich nur je ein solistisches Werk für jedes Instrument komponiert: "Ein zweites Konzert für die Geige – niemals, es würde mir nichts Neues einfallen, das war meine erste Reaktion, als das Angebot eines Auftragswerkes an mich herangetragen wurde."1 Schibler geht aber dann doch auf die Suche nach einer Idee für das Werk: "Eine Jugenderinnerung kam mir zuhilfe: im Schlafzimmer meines Vaters, der häufig krank war - hatte sich mir Arnold Böcklins Selbstporträt mit dem hinter ihm stehenden, Geige spielenden 'Freund Hein' eingeprägt. Ihn hörte ich plötzlich spielen, jene Klänge, jenes Signal aus der anderen Welt, die für den am Menschen Verzweifelnden wirklich die letzte Hoffnung darstellt. Schon klang mir das Signal als doppelgriffiges, das ganze Werk bestim- mendes Hauptmotiv im Ohr, der Einstieg war gefunden."2 Musik kündet vom Einbruch einer anderen Welt - einer Klangwelt. Freund Hein - in der Aufführungspraxis der Geiger Yehudi Menuhin - spielt gleichsam die Todesmelodie. So spielt im Konzert der Tod selber mit einer tröstlichen, alles Irdische relativierenden Musik auf. Schibler geht noch weiter. Er entscheidet sich, mitten im Werk, am Ende des langsamen Mittelteils, Sprache hinzutreten zu lassen, und zwar einen eigenen Text, welcher das Werk endgültig aller Assoziationen an das Konzertsaal- und Starklischee enthebt: "Quel poids dans mes pies ralentit mes pas!? Fatigué je m'arrête. Le chemin ardu a débou- ché sur la porte mistérieuse qui me sépare encore du but de mon voyage. La lutte est termi- née, le bruit du monde s'est évanoui. De derrière le mur, j'entends la mélodie paisible du violon, cet appel irrésistible qui me fait savourer les délices du retour dans le pays natal. Je te sens proche; ami ménestrel, qui met fin a cette Odyssée avec tant d'erreurs et d'impasses! Ouvre ta porte que je me jette dans tes bras."3

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.100. 2 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.101. 3 Armin Schibler, Texte 1975-82 163.

180 Der Tod als Geiger, eine friedliche Melodie spielend, empfängt den Menschen am Ende seines Lebens, ja ruft ihn zu sich mit einer verführerische Melodie. Musik bringt Trost, indem sie Irdisches zu relativieren vermag. Und wieder einmal beinhaltet Musik die Möglichkeit, zu sich selber zu kommen, auf Tieferes hinzuweisen und von einer transzendenten Dimension des Lebens zu künden.

9.3.4 Schönheit des Lebens und Transzendenz: Trauermusik Im fünfteiligenWerk Trauermusik (1974) mit einem eigenen Text erfährt ein Mensch zunächst in Teil 1 die Realität des Todes, als ein geliebter Mensch stirbt. Er "folgt einem andern Ruf, dem das Lebendige verschrieben ist, dem Gesetz der Erde. Das Band ist zerrissen, du stehst allein." (Teil 1)1 In Teil 2 tauchen - metapherhaft - Rhythmus und Harmonik als Hinweise auf eine trans- zendente Welt auf: "Das Tönende führt dich auf die Spur. Du ahnst, dass hinter jener Ferne, in die sein Blick gerichtet war, ein Unzerstörbares ist. Mehr: du weisst jetzt, dass er lebt. Dass sein Wesen nur die Hülle von sich stiess, um heimzukehren in den Ursprung, dorthin, wo alles seinen Anfang nimmt."2 Teil 3 beschreibt, was Sterben und Tod im Anteilnehmenden auslösen: Schock, Erwachen aus Befangenheit, ein Schleier zerreisst. Die Relativierung des Gegenwärtigen vollzieht sich. "Der Horizont einer anderen Wirklichkeit tut sich auf. Was du bis anhin erstrebtest, plötzlich fragwürdig und bedeutungslos. Der Schein der Dinge, die ameisenhafte Geschäf- tigkeit täuscht dich länger nicht. Die Frage, ob wir nicht das Wesentliche verfehlen und die kostbare Zeit vergeuden, die uns geschenkt ist."3 Teil 4 beschreibt den Schmerz des Trauernden: "Der vergebliche Versuch, an einer Mauer zu klagen, bei jemand Trost zu suchen: es gibt keinen Trost ausser jenem, den die Einsicht in das Unabänderliche gewährt."4 Schliesslich gewinnt in Teil 5 die Botschaft des Todes, der Anderswelt Klang und Stimme: "Wo er jetzt ist. Ein Wissender. Wenn er zu uns redete. Hörst du die Stimme? - Das Geheimnis, das ihr sucht, liegt in euch, sagte er. - Ihr seid ein Versuch des ewigen Willens, im Zeitlichen zu blühn, tastbar, greifbar zu werden , Kreatur. Die Stimme sagt: - Was ihr Leben nennt, seine lustvolle, seine leidvolle Spur im Vergänglichen. Jedes pochende Herz nährt das Wagnis: dass die Leere sich mindere, in der Verlorenheit eine Insel der Gebor- genheit sei. Ob der Sinn sich erfülle - es liegt an euch..."5 Der Tod verweist erneut auf das Leben, auf seine Grösse, seine Schönheit, seine Lust und sein Leid. Der Sinn des Lebens ist quasi das schöpferische Werk jedes einzelnen von uns,

1 Armin Schibler, Texte 1971-74 13o. 2 Armin Schibler, Texte 1971-74 13o. 3 Armin Schibler, Texte 1971-74 131. 4 Armin Schibler, Texte 1971-74 131. 5 Armin Schibler, Texte 1971-74 132.

181 uns aufgegeben. Das Werk Trauermusik beschreibt und setzt in Klang die unwiederbring- liche, dazu das Leben transzendierende Dimension des Todes.

9.3.5 Dienst am künstlerischen Werk, ein Requiem: Amadeus und der graue Bote1 Schibler hat - trotz frühen Plänen - kein traditionelles Requiem geschaffen: Media in Vita lässt sich als Requiem und Schöpfungsoratorium in einem ansehen, während Amadeus und der graue Bote2 von der Form her eine ist. Nach Tatjana Schibler ist diese Kammeroper, zwischen 1982 und 1985 entstanden, Schiblers eigentliches Requiem. Dieses Stück, ein zu einer Kammeroper erweiterter Einakter-Text von Thornton Wilder, nimmt eine musika- lische Sonderstellung im Schiblerschen Werk ein: "Wilder umkreist, motivisch sich an die überlieferten Fakten zur Auftragserteilung für das Requiem haltend, das schöpferische Geheimnis Mozarts und deutet dessen existentielle Demütigung als Voraussetzung für die Wahrhaftigkeit seines Lebenswerkes."3 In dieses Werk baut Schibler Original-Passagen aus Mozarts intimsten Klavierstücken ein: den dramatischen Ablauf von Mozarts c-moll-Fantasie für Klavier, das Menuett D-Dur und das Adagio h-moll. Schibler konzipiert dieses Werk auch als Vorgabe zum Mozart- Requiem - bei gleicher Orchesterbesetzung. "Mozart zu seiner eigenen Musik auf der Bühne als schöpferisches Phänomen von einem der bedeutendsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts gedeutet - muss das nicht jeden aufgeschlossenen Regisseur ansprechen?"4 In Wilders Stück drängt ein Graf, verkleidet als grauer Bote, Mozart zum Auftragswerk des Requiems, das er jedoch unter eigenem Namen als eigenes Werk ausgeben und damit Ruhm ernten will. Der kranke Mozart braucht Geld und sagt zu, obwohl er sich über den Missbrauch, der mit seiner Musik getrieben werden wird, im Klaren ist. Der graue Bote kehrt nachts zurück, diesmal ist es jedoch der Tod selber. Mozart und der Tod ringen miteinander um Schöpfung und Leben. Mozart, dem Tod natürlich in keiner Weise gewachsen, hat nur eine letzte Bitte: Wenn ich schon sterben muss, darf ich wenig- stens mein Requiem zu Ende komponieren? Die unerbittliche Antwort: Nein! Nur der demütige Dienst am schöpferischen Werk zählt. Erfolgssucht, Selbstdarstellung, Eitelkeit, ja sogar Lebenslust und Lebensfreude vergehen, es bleibt das Werk, der Dienst am Wesentlichen. Nicht einmal dieses kann angesichts des Todes zu Ende geführt werden, es bleibt ein unvollendetes Requiem, dessen Schluss vom Tod selber hinweggerafft wird (ein Freund Mozarts wird nach dessen Entwürfen das Requiem vollenden.)

1 Amadeus und der graue Bote, Das Werk 1986, S.32. 2 Tatjana Schibler, Doppelfuge 1, 17: "Eine Art weltliches Requiem wird er schon früh, mit 46 Jahren, in 'Huttens letzte Tage' schreiben, so auch wie oben erwähnt 'Media in Vita', beide nach Texten von C.F. Meyer. Aber das eigentliche Requiem, das ihm noch vergönnt war zu schreiben (noch im Spital waren wir auf Suche nach geeigneten Requiem-Texten), ist für mich auf eine symbolische Art 'Mozart und der graue Bote' nach Thornton Wilder geworden. Auf selbstlose Art unterordnete er sich darin der Musik Mozarts, ein sich Verneigen vor dem grössten Genie aller Zeiten." 3 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.32. 4 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.32.

182 Mit diesem Werk tritt Schibler hinter das Genie Mozarts und Wilders, indem er voller Ach- tung auf sie verweist. Er dient beiden Künstlern mit der eigenen Begabung ohne Angst vor Selbstaufgabe. Falls Amadeus und der graue Bote als Schiblers eigentliches Requiem zu verstehen ist, enthält es auch die Botschaft der Kontinuität schöpferischer Inspiration über Generationen und künstlerischer Medien hinweg: Immer wieder dienen Menschen dem schöpferischen Geist, immer wieder inspiriert sie der Tod zu den grossartigsten Werken und nimmt sie gleichzeitig zurück in seine Gewalt.

9.4 Genug ist genug: Armin Schiblers Sterben

Ein Jahr vor seinem Tod schreibt Armin Schibler unter dem Titel Ergänzung der Selbst- darstellung über seinen eigenen Weg: "Bald dürfte die Zeit gekommen sein, da ich mich auf jenes letzte grosse Thema konzen- trieren kann, das sich als roter Faden durch mein Lebenswerk zieht und wie kein zweites geeignet ist, diese momentan erneut so wahnhafte und gefährdete Wirklichkeit zu relati- vieren."1 Diese hellsichtige Vorausschau wird sehr bald Wirklichkeit werden, und zwar anders, als er es erhofft: Nicht die erneute künstlerische Auseinandersetzung mit dem Tod ist ihm vergönnt, sondern es kommt zu einer unmittelbar existentiellen Auseinandersetzung angesichts einer tödlichen Krankheit, die er unter Schmerzen und Leiden durchzustehen hat. Sein Todesjahr 1986 beginnt er mit einem gebetsähnlichen Text: "Gebet für das Jahr 1986 Gott (so flüstert mein Mund das Unbenennbare) Gott (Wortchiffre für das Unbegreifliche) Gott (das Geheimnis: warum wir sind)"2 Schibler ahnt seine körperliche Bedrohtheit. Er, der nun nach Jahren des unermüdlichen beruflichen Einsatzes für junge Menschen seinen verdienten Lebensabend geniessen könn- te, für den er noch so viele künstlerische Pläne bereithält - endlich Zeit und Freiraum für Kompositionen! - kann ihn nicht alt und lebenssatt feiern, wie so manch anderer Künstler der Gegenwart. Ihn trifft das Nein des Todes machtvoll ins Mark. „Genug ist nicht genug. Gepriesen sei die Fülle“, vertonte er in Media in Vita in der Mitte seines Lebens die Verse

1 Armin Schibler, Das Werk 1986, S.16. 2 Armin Schibler, 1985 oder 1986, unveröffentlichtes Manuskript, Paul Sacher Stiftung, Basel.

183 von C. F. Meyer. Nun ist die Zeit des Abschieds, die Zeit des Genugs, obwohl für sein Lebensgefühl noch nichts zu Ende ist: Sein Leben sollte in schöpferischer Fülle immer weiter gehen. Angesichts des Todes vergehen Schibler erneut vordergründige Wünsche nach beruflichem Erfolg. Kein Wort eines (persönlichen) Wunsches, dass dieser Kelch an ihm vorübergehen möge, kein (noch so verständlicher) Wunsch, sein Werk möge Erfolg und Resonanz finden! Die ärztliche Diagnose lautet Krebs. Schibler kämpft kurze neun Monate lang heftig gegen diese Krankheit, doch er unterliegt. Noch im Spital notiert er neue Werkpläne, wagt sich an ein neues Projekt: Er konzipiert das Textbuch zu einer Oper mit dem Stoff Nächstes Mal in Jerusalem von Andre Kaminsky. Doch die Kräfte nehmen ab, die körperlichen Beschwer- den und Schmerzen werden immer grösser. Erneut steht Schibler vor einem Übergang, erneut untergehende Sonne, Todesahnung und Hoffnungsverheissung unter Glockengeläut (S.Fehler! Textmarke nicht definiert..) Tatjana Schibler schreibt über die letzten Stunden mit ihrem Ehemann am Sonntag, den 7. Sept. 1986: "In der Samstag Nacht mein Traum: Ich bin in einem von Scheinwerfern ausgeleuchteten Saal und esse allein unter vielen die Resten von Armins Mahl. Er ist fort und ich bin eifer- süchtig, dorhin kann ich nicht gehen. Nasser, wertvoller Teppich zu meinen Füssen. Ich weiss, das ist das Ende. Ich ziehe mich an. Schwester Elisabeth telefoniert. Im Morgen- grauen eile ich das Wolfbachtöbeli hinauf. Armin erkennt mich noch kurz, wendet sich aber ab von mir, wie wenn er sagen möchte: 'Lass mich gehen'. Ich halte seine erkaltenden Hän- de, eine Kerze brennt. Sein letzter Wunsch: Musik. Ich stelle die Musik aus 'Media in Vita' ein."1 Gemeinsam hören sie das Werk bis zu Teil 2 Vision, beim vierzehnten Stück Neujahrs- glocken hört Schibler zu atmen auf. Vom gemischten Chor gesungen, geleiten folgende Zeilen des Gedicht von C. F. Meyer Schibler in den Tod: In den Lüften schwellendes Gedröhne Leicht wie Halme beugt der Wind die Töne: Leis verhallen, die zum ersten riefen, Neues Geläute hebt sich aus den Tiefen. Grosse Heere, nicht ein einzler Rufer! Wohllaut flutet ohne Strand und Ufer.2 Die Musik zu diesem Vers ist selber Wohlklang und Glockengeläut. Schiblers Sterbezim- mer ist erfüllt von fülligen Klängen und Gesängen, die über den Tod hinausklingen. Tatjana Schibler:

1 Tatjana Schibler, Doppelfuge 4, 74. 2 C.F. Meyer, Neujahrsglocken, aus: Plattenhülle zu Media in Vita, 1982, Pan Verlag.

184 "Elf Uhr dreissig schläft er für immer ein unter den Klängen von Media in Vita und dem Sonntagsgeläut der nahen Fluntern-Kirche. Schwester Elisabeth eröffnet mir noch, dass sein letztes Wort 'Eisprung' war. Ich halte Totenwache, bis meine Kinder um 16 Uhr aus dem Molino kommen. Abends wird zu seinem Gedenken am Schweizer Fernsehen sein Werk ‚...später als Du denkst‘ ausgestrahlt. Die Tonhalle-Gesellschaft stellt an drei aufeinanderfolgenden Abonnements-Konzerten Schiblers Trauermusik auf das Programm, ohne Sprecher, Text auf Beiblatt. Am 12. Sept. 15 Uhr ist die Abdankung im Grossmünster mit Pfarrer Gysel. Musik aus Media in Vita 'Wir Toten sind grössere Heere als ihr auf der Erde und ihr auf dem Meere'."1 Schiblers Sterben findet in einem trostreichen, gehaltenen Umfeld statt: Er ist gehalten durch das eigene Werk, dessen Schaffung er nie als eigenes Verdienst, sondern als Geschenk empfunden hat. Gehalten ist er aber auch durch die Anwesenheit seiner Lebens- gefährtin, mit der er alle Höhen und Tiefen, Erfolge und Misserfolge seines Lebens teilte - und die schliesslich auch bei seinem Sterben anwesend ist. Ihr gab er tags zuvor auch letzte Botschaften mit, wie Tatjana Schibler berichtet: "Armin richtete an seine Schwiegermutter, die ihn immer sehr geliebt hat, ins Sanitas-Spital, wo sie nun hospitalisiert ist, folgenden Ausspruch aus: 'Ich armes welsches Teufel, bin müd' vom Musizieren.'“ Genug ist genug! Was bleibt, ist - das Werk.

1 Tatjana Schibler, Doppelfuge 4, 74.

185 10 Armin Schibler im Spiegel der Zeit

In diesem Kapitel werde ich darstellen, in welcher Art und Weise das musikalische Estab- lishment Schiblers Musik aufgenommen hat und wie sich sein Werk in heutige Zeitströ- mungen einordnen lässt. Es würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit bei weitem spren- gen, wollte ich zu diesem Zwecke die zahlreichen Kritiken zu den Aufführungen der einzelnen musikalischen Werke Schiblers sichten. Ich beschränke mich daher auf Würdigungen seines Gesamtwerkes anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Zürich (1980) und anlässlich seines Todes (1986) sowie auf Kritiken zur Uraufführung der Hörwerke Epitaph auf einen Mächtigen (S. 123) und La Folie de Tristan (S.167). Zur Einordnung Schiblers in heutige Zeitströmungen ziehe ich in einem weiteren Abschnitt postmoderne Trends heran.

10.1 Armin Schibler und seine Zeit

Die zitierten Kritiken spiegeln ebenso den Geist einer Zeit mit ihren Vorlieben, Moden und Tabus wie sie vermeintlich Objektives über das beurteilte Werk oder/und den kritisierten Künstler aussagen. Die Zitate werden zudem die polarisierende Wirkung von Person und Werk Schiblers deutlich herausstellen, Zeichen für den starken Eindruck, den das Phänomen Schibler hinterliess.

10.1.1 Resonanz auf das Wirken Schiblers Pierre Wenger zeichnet anlässlich eines Gedächtniskonzertes zu Ehren Armin Schiblers ein Portrait, das Verständnis für die polarisierende Wirkung geben könnte: "Ich kann mir vorstellen, dass Armin Schibler bei jenen Menschen, vor allem bei Aus- senstehenden, die nur die äusseren Wirkungen seiner Art sehen, einen zwiespältigen, oft ablehnenden Eindruck hervorruft; denn eine leicht fanatisiertmissionarische Gebärde seines Wesens, ein Überzeugenwollen, das oft als ein hektisches Bemühen um die Geltung des eigenen Werkes angesehen wird, reizen zum Widerspruch, zur Kritik, man vermutet hinter seiner scheinbaren Sendungsüberzeugung ein geschicktes Managertum, einen übertriebenen Ehrgeiz; er ist zudem vielen verdächtig, weil er in technischer Hinsicht gleichsam alles kann und mit leichter Hand das Werk elegant hinzaubert, man kann ihn nirgends eingliedern, denn mit seiner stupenden Fähigkeit im Formalen, im Handwerklich- Gekonnten ist er in der Schulmusik, im Theater, in der absoluten Musik gleichermassen zu Hause, er wurzelt in der Tradition und steht zugleich an der vordersten Front der zeitge- nössischen Musik, etwas Schillerndes, nicht Fassbares umgibt seine schlanke, sehnige, jungwirkende Gestalt, die kaum einen Fettansatz zeigt und sich wohlfühlt im modischen Schnitt der Kleidung."1

1 Pierre Wenger, Armin Schibler, Eine Lebensskizze. Unveröffentlichtes Manuskript., Paul Sacher Stiftung, Basel.

186 Wie haben Menschen auf die Persönlichkeit Schibler reagiert? Hauptansatzpunkte der Reaktionen sind:

- Innerer Romantiker, eine von innerer Strahlkraft erfüllte Persönlichkeit1

- Fanatischer oder missionarischer Einsatz

- Alttestamentlicher Prophet. 1. Der innere Romantiker ist eine Kennzeichnung Max Frischs: "Ich glaube, dass Sie den Romantiker in sich nicht umbringen sollen und werden; Sie werden - nicht im Sinn eines Kompromisses, sondern im Sinn eines Spannungsfeldes - beide Bereiche erhalten und nebeneinander ausbauen."2 2. Missionarischer oder fanatischer Einsatz, den Joseph Auchter, Kollege und Mitarbeiter, bewundert, wenn er das so ausdrückt: "Du hast als Lehrer und Musikpädagoge während 42 Jahren und als Mensch ein ganzes Leben lang für Deine Ideale gekämpft, hast Dich auslachen und als Hansdampf und Naivling bezeichnen lassen. Die Antwort auf Deinen sprichwörtlichen Ehrgeiz und die Unbeirrbarkeit, nach Wegen der Vermittlung und letztlich der Versöhnung feindlich gestimmter Lager zu suchen, liegt in Deinen Erfahrungen als Lehrer."3 Den Fanatiker vermeint Brodbeck zu erkennen im Zusammenhang mit Schiblers fast fanatischem Einsatz für Stilverbindungen4. Zum offensichtlich von gewissen Zeitgenossen missionarisch und sendungsbewusst empfundenen Wesenszug Schiblers äussert sich P. Wenger in der Fortsetzung seiner gerade zitierten Lebensskizze: "(Er) verkörperte in seiner Werkbesessenheit für manche etwas Mönchisches, und überspitzt formuliert, er könnte in der Uniform des im Glaubenseifer zehrenden Jesuiten stehen. Aber gerade dieses Bekennerische, Sendungshafte seiner Art, für viele aufdringlich selbstbewusst, ist für mich (...) Zeichen der Kraft,.. das innere Feuer seiner ursprünglichen Begabung."5 3. Alttestamentlicher Prophet: Auf diese Charakterisierung kommt Alfred A. Häsler, für den Schiblers Hörwerken, allen voran die Messe, religiöse Züge tragen, in einem Interview mit Schibler6: "In den von Ihnen verfassten Texten zu Ihren Tonwerken finden Sorge und Zorn über die vielfachen von uns Menschen selbst verursachten Gefährdungen der Umwelt, überbordenden Konsum, über Macht und Habgier, Entfremdung, Diktatur usw.

1 Jürg L. Steinacher, Auszeichnung eines Würdigen, Musikpreis der Stadt Zürich, Züri Leu 17. Okt. 1980. 2 , 19.3.51, zitiert aus: Armin Schibler, Das Werk 1986, S.9. 3 Joseph Auchter, Abschied von Armin Schibler. "Natürlich ermangelte es nicht kritischer Stimmen, die Dich verdächtigten, die Jugend für Deinen missionarischen Eifer zu missbrauchen." Neue Zürcher Nachrichten, Do. 11. Sept. 1986. 4 Roman Brodbeck, Das Ideal einer Maxi-Music, dissonanzen, Schweiz. Musikzeitung, Zürich 1986. 5 Pierre Wenger, Eine Lebensskizze 1. 6 Musik der Hoffnung, Interview Alfred A. Häsler mit Armin Schibler, es libris März 1982 S. 7.

187 beredten Ausdruck. Manchmal erinnert Ihre Sprache an die der alttestamentlichen Propheten. Sind Sie ein zorniger Mann, ein Ankläger?" Schibler antwortet darauf, es liege ihm fern, den Propheten spielen zu wollen, er sei realistischer Optimist, dennoch frage er sich, "was der Beitrag eines schöpferischen Musikers, der nach alter Tradition bisweilen auch zum Wort greift, an die sich heute stellende wichtigste Zukunftsaufgabe des 'Überlebens' sein könnte."1 Schibler bezeich- net sich im weiteren Verlauf als literarischen Komponisten, denn es sei immer ein Text, eine dramatische Szene, eine Vorstellung, die Musik in ihm auslöse. Diese Grenzüber- schreitung, mit der er den eng begrenzten Kreis einer künstlerischen Disziplin sprengt, ja sogar Grenzen zwischen den Disziplinen Kunst und Religion/Theologie überschreitet, stösst - entsprechend seiner grenzüberschreitenden Persönlichkeit - auf Widerstand.

10.1.2 Resonanz auf das Werk Schiblers Vor den Spiegel der künstlerischen Kritik stelle ich die beiden Hörwerke Tristan (S.167) und Epitaph auf einen Mächtigen (S.123), weil sich bei ihnen die beiden aufs Künstlerische bezogenen kontrovers diskutierten Hauptpunkte der Kritik bündeln:

- in Tristan der Stilpluralismus der Kompositionen Schiblers und

- in Epitaph auf einen Mächtigen das Zusammenwirken von Text und Musik im Kunst- werk. Beim Thema Stilpluralismus gebe ich Schibler nochmals die Gelegenheit, auf die Kritik einzugehen, handelt es sich doch hier um eines der tragenden Konzepte seines Werkes. Und nun zu ausgewählten repräsentativen Stimmen der Musikkritik: 1. Stilpluralismus: Schiblers Versuch einer Synthese verschiedener Stilrichtungen polari- siert oder - wie es eine Zeitung formuliert: "Hommage à Armin Schibler - pluralistisch. Schiblers Stilpluralismus gab lange Zeit Anlass zu Kritik wie zu Bewunderung."2 Stich- worte der Kritiken: Stilopportunismus, Unschlüssigkeit, Synthese von Gegensätzen, die Erhabenstes neben das Gewöhnliche stellt.3 Roman Brodbeck bemängelt die unreflektierten Stilverbindungen zwischen E- und U-Musik: "Die Tatsache, dass so viele Menschen Pop/Rock - andauernd - hörten, war ihm Garant für ein echtes und nicht vom Markt diktiertes Bedürfnis. Schibler sah hier ein Beispiel für die Macht der Musik, und zwar durchaus positiv. Was das für eine Macht ist und mit welchen Mitteln sie arbeitet, hinterfrug er wenig. Es fehlte hier ein dialektisches

1 Musik der Hoffnung. 7. 2 Züri-tip, 27. Okt. 1985. 3 Thomas Gartmann, Gedenkkonzert Armin Schibler, Zürichsee-Zeitung, 25.9.1987.

188 Denken, das Popularität und Qualität, Wirkung und Abhängigkeit schärfer voneinander trennt."1 Ähnlich tönt auch die Kritik zur Uraufführung von La Folie de Tristan: kein harmoni- sches Ganzes in Schiblers Musik: die Musik stecke voller Widersprüchen, die Rockmu- sik sei zu laut: "Dadurch entsteht unwillkürlich der Eindruck der Collage, der noch verstärkt wird, dass die Rockmusik und die vom Orchester gespielten Partituren klanglich schlecht ausbalanciert sind"2 während ein anderer Kritiker das Werk als steriles Stilsammelsurium deklassieren, in dem Rockmusik überhaupt fehle!: "Schiblers Klänge, die eine bessere Filmmusik abgeben, ..... übernehmen Anleihen aus dem Kulturschatz des Abendlandes, aus der gregorianischen Pentatonik und Gregoria- nik in den Chören. Ebenso Charleston-Rhythmen und - nur schüchtern swingende – Jazzmusik (vom versprochenen 'Rock' war nichts zu hören), wie auch Clusters, Tonsäu- len der Avantgarde. Schibler gelang es leider nicht, aus den vielfältigen heterogenen Elementen eine Synthese zu vollziehen, so dass das Oratorium gegen den Schluss lang- fädig und monoton wurde."3 Der Musikwissenschaftler F. Klausmeier hält dem, auf die musikalische Gestaltung der Botschaft von La Folie de Tristan eingehend, entgegen: "In 'La Folie de Tristan' übernimmt der auch die freie Improvisation einbeziehende Part der Rockgruppe den libidinösen Aspekt von Tristans Liebesbesessenheit. Wie in keinem Werk zuvor finden sich die Spuren der gesamten kompositorischen Entwicklung von Schibler und verschmelzen durch den die übergeordnete Einheit stiftenden Text und die Handlung auf eine Weise, in der das Vergangene gegenwärtig, das Gegenwärtige zeitlos wird. Falls Schibler als leitende Vision seit seinen Anfängen das Ziel vor Augen hatte, mit den Mitteln der Musik das Geheimnis der Existenz, die Fragen des Woher, Warum, Wozu des Menschen zu umkreisen, dann ist er in diesem Werk dem Ziel nahe. Die Folgerichtigkeit und Zielstrebigkeit in der Suche nach dem entsprechenden musika- lischen Handwerk ist beeindruckend. Mir scheint, das Oeuvre Schiblers, das erst jetzt seine Dimension erkennen lässt, belege aufs Neue, dass nicht die Noten die Musik aus- machen, sondern die Ergriffenheit vor dem Wunder des Daseins."4 Armin Schibler hat sich zu dieser Kritik an seinem Stilpluralismus, die neben seinem Tristan auf viele weitere Werke zielten, an verschiedenen Orten argumentiert.5 Im

1 Roman Brockbeck, Das Ideal einer Maxi-Music. Brockbeck vernachlässigt mit diesem Vorwurf die umfangreichen, kritischen Auseinandersetzungen Schiblers mit der Musik der Gegenwart. 2 Probleme und Widersprüche, spk., Uraufführugn von Armin Schiblers 'La folie de Tristan', Solothurner Zeitung 19. Sept. 1980. 3 Steriles Stilsammelsurium, Schiblers 'La folie de Tristan' in Montreux, Berner Zeitung 19. Sept. 1980. Auffallend, dass in den beiden zitierten Rezensionen Rockmusik so unterschiedlich wahrgenommen wird: von nicht-existent bis zu übermässig laut! Solche Einschätzungen deuten vermutlich auf die damalige Brisanz des Einbezugs dieser Musikgattung in den klassischen Musikbetrieb hin. 4 Friedrich Klausmeier, Laudatio zur Übergabe des Zürcher Kunstpreises 7/8. 5 Vgl.4.1/5.2/5.3 sowie 'Die Gegenwart im Spiegel der Musik', Ansprache an die Maturanden des Realgymnasiums Zürichberg, Juniheft Volkshochschule Zürich, 1965.

189 Artikel Musik für Amateure bettet Schibler seinen Stildualismus bzw. -pluralismus in die Tradition ein: "(Pluralismus) passt nicht ins Konzept all jener, die in der Spezialisierung auf ein bestimmtes Kompositionsverfahren die Zukunft der Musik sehen. Ich sehe aber in die- sem Pluralismus keineswegs etwas Neues oder Ungewöhnliches. Auch die Klassiker haben 'pluralistisch' gearbeitet, sie haben gewusst, dass die verschiedenen Bereiche mit jeweils anderen Mitteln zusammengehen. Mozart schrieb kleine 'Schlager', anspruchs- lose Gebrauchsmusik, wenn es die Gelegenheit verlangte; jener Beethoven der Neunten Sinfonie mit ihrem unverhüllten Appell an die breiteste Hörerschicht ist ein völlig ande- rer als der Beethoven der subtilen Kammermusik. Und erst recht heute - denken wir nur an Strawinsky und Picasso - scheint mir die pluralistische Arbeitsweise geradezu zum Zeichen fruchtbarer schöpferischer Begabung geworden zu sein."1 Schibler sieht keinen anderen Weg als einen pluralistischen: "Ich sehe keinen anderen Weg als diesen; die auseinandergebrochene Einheit der Musik wieder, sei es auch nicht mehr in ein und demselben Werk möglich, zu integrieren. Alle spezialisierten Positi- onen - etwa die serielle Arbeitsweise - sind längst hoffnungslos in einer Sackgasse fest- gefahren."2 Auch F. Klausmeier deutet die Tendenz Schiblers, auf Gefahren der Vereinseitigung der musikalischen Sprache mit der Erweiterung der Tonsprache zu reagieren, in der Darstellung von Schiblers Lebenswerk als künstlerisch notwendig: "Wenn ich Ihnen in der Folge so knapp wie möglich weitere Stationen seines vielschichtigen Schaffens aufzähle und sich dabei immer deutlicher die Absicht Schiblers herausschält, über möglichst viele stilistischen Idiome dieses zu spezialisierten Teilergebnissen tendierenden Jahrhunderts zu verfügen, so weise ich zunächst darauf hin, dass neben diesen - zu unrecht schon als epigonal eingestuften - Exkursen immer wieder Werke entstanden sind, die, von der Orchesterpassacaglia von 1949 ausgehend, die hinzugewonnenen strukturellen Handwerkserfahrungen in den persönlichen Stil hereinholen, der sich damit laufend bereichert und differenziert. Man stelle der erwähnten Passacaglia das Lyrische Konzert von 1952, diesem das Violinkonzert von 1958 und schliesslich die sechs Jahre später entstandenen 'Metamorphoses ebrietatis' gegenüber, und man erkennt, wie sehr die Gefahr des Epigonalen gebannt ist durch die Verschmelzung des Neuen mit dem 'Eigenen'. Dieses Eigene sehe ich vor allem in der Kraft zur formalen Bewältigung, im Festhalten an der grossformalen Planung im Sinn der sinfonischen Tradition. Schibler greift hier immer wieder zum grossen sinfonischen Bogen, der die einstigen Satzteile zu Unterteilen reduziert und diese gleichzeitig einer einheitlichen motivisch-thematischen Durcharbeitung unterzieht."3

1 Armin Schibler, Musik für Amateure, Interview mit dem Künstler, S. 18, Sacher Archiv Basel. 2 Armin Schibler, Musik für Amateure, S. 19. 3 Friedrich Klausmeier, Laudatio zur Übergabe des Zürcher Kunstpreises 5.

190 Schibler dürfte in seinem Stilpluralismus, eingefügt in eine ihm eigene unverwechsel- bare Tonsprache, seiner Zeit weit voraus gewesen sein, enthüllt er doch Aspekte, welche erst Jahrzehnte später für das musikalische Establishment akzeptabel werden, ja sogar als Bereicherung angesehen werden. In diese Entwicklung passt eine kritische Stimme von 1985 zu den ausführlichen Diskussionen der Jahre von 1950 bis1980 um die Linientreue kompositorischer Techniken: "Solche Diskussionen um stilistische Linientreue sind spätestens mit dem Einsetzen der Postmoderne müssig geworden. Das ermöglicht eine vorurteilsfreie Begegnung mit Schiblers späterem Werk, das sich zunehmend mystischen Themen zuwendet, und die Anerkennung seiner eben nicht nur 'absorbierenden', sondern durchaus auch 'anregen- den' Wirkungshaftigkeit..."1 Abschliessend meine persönliche Bemerkung zum Vorwurf, Schibler habe sich wahllos und unreflektiert verschiedenster Musikstile bedient: Angesichts des kompositorischen Werkes (schon nach wenigen Takten erkennt das Ohr das ‚Schiblersche‘ in seiner Musik) und der Reflexionen in den musiktheoretischen Schriften Schiblers halte ich dieses Urteil für mindestens ignorant und auf jeden Fall für falsch (die in Kap. 4 und 5 dargestellte Intensität und Dynamik in der Entwicklung von Schiblers Stilpluralismus). 2. Das Zusammenwirken von Text und Musik: Auch die Art, wie Schibler Text – sei es eigenen oder fremden - in seine Musik einbezieht, stösst auf Zustimmung und Ableh- nung. Gleiches gilt auch für die inhaltliche Ausrichtung: Sein Engagement in politisch- sozialen Fragen, seine Äusserungen zu religiösen Problemen finden sowohl ein loben- des als auch ein missbilligendes Echo. So lauten ausgewählte Reaktion auf die Urauf- führung von Epitaph auf einen Mächtigen: Schiblers Sprache wirke klischeehaft und penetrant, überdeutlich und naiv, so dass man ihrer müde werde. "Auch die Musik bewegt sich in ähnlichen Klischees, ist durchweg eklektisch und strebt nicht eine Symbiose mit der Sprache an, sondern erscheint als blosse plakative Illustration."2 Ein weisender Zeigefinger hebe die Wirkung eindring- licher Passagen gleich wieder auf. Andere Kritiker jedoch äussern sich durchaus aner- kennend zum Werk: "Bei der Aufführung durch den Südfunkchor Stuttgart und die beiden hervorragenden Pianisten Carol Morgan und Robert Hiller erhielt man den Eindruck eines Werkes von bedeutender Ausdrucksdichte und schöner textlicher und musikalischer Geschlossenheit. Zusammen mit seinen exzellenten Interpreten durfte der Komponist reichen, begeisternden Beifall entgegennehmen."3

1 Michael Eidenbenz, Hommage â Armin Schibler, Pluralistisch, 27. Nov. 1985, züri-tip TagesAnzeiger, Zürich. 2 TagesAnzeiger, ps., Chorkonzert mit Schibler-Uraufführung, Zürcher Juni-Festwochen 1977. Die Kritik der Neuen Zürcher Nachrichten erfährt das Werk jedoch keinesfalls moralisierend. Andere wichtige Zeitungen (NZZ) verzichten gänzlich auf eine Kritik. 3 Neue Zürcher Zeitung zur Uraufführung vom 6.6.1977.

191 Und auch Schiblers Intention, durch seine Verknüpfung von Wort und Musik die künstlerische Aussage zu intensivieren, findet Anerkennung: "Der Text, der wieder vom Komponisten stammt, nimmt Bezug auf das Problem der Menschenrechte und ihre Verwirklichung. Charakteristisch für die sehr dicht und kom- plex wirkende Komposition sind die Silben- und Wortspiele des Chors, die Ablösung von leisen Klängen und mitunter dramatischen Steigerungen sowie der Wechsel zwischen Chor- und Klavierpart (Solisten Carol Morgan und Robert Hiller.) Der Südfunkchor Stuttgart stand wieder unter Voorbergs Leitung, der Werkanspruch und Interpretation in vollkommenen Einklang brachte."1

10.2 Künstlerischer Wahrheitsanspruch und postmoderne Trends

Heute, etwa eineinhalb Jahrzehnte nach Schiblers Tod, ist Werk und Person Armin Schib- lers weitgehend in Vergessenheit geraten, Aufführungen sind selten. Vergangen sind damit - im Abstand der Zeit - die polarisierten Auseinandersetzungen. Wie könnte in heutiger Sicht das Werk Schiblers eingeordnet werden? Die Antwort auf diese Frage könnte Hinweise enthalten, was zeitenüberdauernde Qualitäten des Schiblerschen Werkes sind und was für zukünftige Generationen die Musik Schiblers hörenswert machen könnte. Ausgangspunkt der Erörterung ist eine Charakterisierung der Postmoderne, die Manfred Geier in seinem Buch Das Glück des Gleichgültigen gibt. Ich zitiere einige für die Frage- stellung erhellende Passagen: 1. Der Glaube an die Möglichkeit einer einheitlichen Weltdeutung, einer absoluten Wahr- heit ist verloren gegangen: "Die Postmoderne, initiiert in der amerikanischen Literaturdebatte Ende der 50er Jahre und vor allem von französischen Denkern propagiert, versteht sich als Absage an alle Einheitsträume und an alle 'grossen' Erzählungen, mit denen einst integrierende und abschliessende Deutungen versucht worden sind."2

1 Zürichsee-Zeitung zur Uraufführung vom 6.6.1977. 2 Manfred Geier, Das Glück des Gleichgültigen: von der stoischen Seelenruhe zur postmodernen Indifferenz, Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg 1997, S. 218.

192 2. An die Stelle eines militanten Atheismus ist religiöse Indifferenz getreten: "Der Atheismus hat seine erschreckende Gewalt eingebüsst und macht einem religiösen Indifferentismus Platz, der weder zu einem Glauben noch zu einem Unglauben verpflichtet."1 3. Fragen der Ethik und Sinnsuche gelten als überholt: "Absolute Wert- und Sinnprobleme, die auf eine Ordnung jenseits von Zeit und Veränderung intendierten, sind nicht nur für die meisten Zeitgenossen obsolet geworden, sondern auch für die Philosophen. Langsam aber sicher haben wir uns seit den 50er Jahren von Theologie und Metaphysik befreit. Man ist nicht mehr enttäuscht über die Nichterfüllbarkeit der grossen Sinnerwartungen, die von der philosophisch- theologischen Tradition hervorgebracht worden sind. Wen interessieren noch essentialistische Fragen nach dem Wesen des Menschen und dem absoluten Sinn der Welt?"2 4. Unterhaltung, Zerstreuung und Coolness sind die dominierenden Orientierungspunkte: Die Postmoderne verliert jene Dramatik, in der es noch um alles geht: "Das Absurde, das Nichts und die Leere haben an semantischer Kraft verloren. An ihrer Stelle sind Unterhaltung, Zerstreuung und Coolness getreten."3 Ohne mit dem Modewort Postmoderne ganz getroffen zu sein, prägt die Konsum-, Massen- medien- und Unterhaltungskultur der Gegenwart zweifelsohne eine Tendenz zur Indiffe- renz, Beliebigkeit und Vermarktung aller Aspekte des Seins. Die Position Schiblers zu diesen Trends lässt sich folgendermassen skizzieren: Schibler hat sich als Künstler nie für einen rein philosophisch-metaphysischen oder theologisch- dogmatischen Zugang zur Wahrheit interessiert. Insofern hätte er den Ansatz der Postmoderne, den Anspruch auf absolute Wahrheit aufzugeben, unterstützt. Wenn er öfters in poetischer Weise von Wahrheit sprach oder schrieb, ging es ihm nie um metaphysische Wahrheitsansprüche. Metaphysische, absolute Wahrheitsansprüche waren für ihn aus künstlerischer Sicht in der Tat unerfüllbar und damit obsolet. In dieser Hinsicht könnte Schibler ein Künstler der Postmoderne sein. Die Philosophie der Postmoderne hebt aus Sicht seiner Kunst auf wohltuende Weise Wahrheitsansprüche auf, die sowohl Theologie als auch Philosophie auf diese Weise nie erfüllen konnten (S. 158). Zusätzlich anerkennt Schibler - vgl. dazu die Ausführungen zu seiner Oper Der Teufel im Winterpalais (S. 109) - durchaus den Wert des schönen Scheins und damit den Unterhal- tungswert von Musik und Kunst insgesamt. Musik kündet von einer bunteren, glänzende- ren, harmonischeren Welt, Musik vermag zu trösten und – ja, auch das ist erlaubt! - zu amüsieren, zu unterhalten, zu zerstreuen, vom Grau des Alltags abzulenken und es bunt zu zaubern.

1 Manfred Geier, Das Glück des Gleichgültigen, S. 217. 2 Manfred Geier, Das Glück des Gleichgültigen, S. 218. 3 Manfred Geier, Das Glück des Gleichgültigen, S. 218.

193 Neben diesen Berührungspunkten zur Postmoderne gibt es jedoch gewichtige Gegensätze:

- Schibler ist einer der letzten musikalischen Figuren der Einheit, des Bezugs zur Tradi- tion, der Bezogenheit von U- und E-Musik aufeinander und der Weigerung, sich nur einer musikalischen Richtung oder einer musikalischen Spezialität zu verschreiben.

- Schibler kreiert in seinen Werken suchende Akteure und behandelt metaphysische Themen wie Liebe, Tod, Gott oder Sinn des Lebens.

- Schibler ist zusätzlich überaus intensiv an moralisch-ethischen Themen interessiert und stellt mehrere seiner Werke in den Dienst humaner Anliegen. Ihn interessieren ein ethisch verantworteter Umgang mit Macht (S. 123), die Endlichkeit von Ressourcen der Natur und die Grenzen des Wachstums. Schibler selber ist, ebenso wie die Hauptperso- nen seiner Werke, das Gegenteil eines gleich-gültigen Menschen. Er bezieht in seinem Werk Stellung, versucht aufrütteln. Er verwendet - jedenfalls in der Auswahl künstleri- scher Formen - manchmal eindringlich-mahnende Stilmittel wie die alttestamentlichen Propheten (Alfred A. Häsler S. 188): Elemente der Klage, der Mahnung, der Anklage und des Weherufes. Er verweist auf moralische Normen, auch wenn er sie nicht metaphysisch, sondern im Mitgefühl verankert.

- In den letzten Jahrzehnten stellte sich im Musikleben die von Schibler prognostizierte Entwicklung ein: Vielerorts kam es zu einem radikalen Bruch mit der musikalischen Tradition. Als Folge beobachtet man heute eine Zersplitterung in hundert Musikarten und tausend Musikszenen, jede von ihnen hat ihre Liebhaber, jede Musikgattung spezialisiert sich auf eigene Ausdrucksweisen, bis zum totalen Bruch mit der Vergan- genheit.12 Schibler wollte dieser Spezialisierung mit seiner Synthese von Sprache und Musik in Gestalt eines Gesamtkunstwerkes gegensteuern, indem er Stilelemente europäischer Musiktradition in seine Kompositionen – gegebenenfalls in veränderter Form - aufnahm. Man würde deshalb Schibler nicht gerecht, würde man ihn - im Gegensatz zum postmo- dernen Künstler - als einen rückwärtsgewandten Metaphysiker und Moralisten verstehen. Schibler ist ebenso Vordenker wie Integrator und Weiterentwickler der Tradition, wenn auch durchaus - übrigens im Sinne der Postmoderne - mit den Mitteln der Kunst und nicht denjenigen der Metaphysik und Theologie. Was Schiblers Position bezüglich der persönlichen Wahrheit aus spiritueller Sicht betrifft, so ist sie diametral zur Postmoderne– auch wenn er selber wie gesagt nichts von absoluter

1 Zwei Beispiele: In der sog. 'minimal music' wird das Element der musikalischen Entfaltung und Entwicklung unbenutzt gelassen, nur die Repetition, angereichert mit minimalen Veränderungen, wird als Stilelement verwendet. Die Disko-Kultur andererseits kennt beispielsweise keine genuine Kreativität mehr, sondern kreiert Kunstwerke als Mixtur von bestehenden Werken und mischt dabei ohne Hemmungen Musikstücke aus allen Musikrichtungen und Musikarten aller Jahrhunderte zusammen - um sie dank neuer elektronischer Möglichkeiten mit neuem Sound und Beat zu versehen. Der Disk-Jokey ist dabei Kult- und Symbolfigur: Er kreiert in einer gekonnten Mischung und Veränderung der Tradition sein Eigenes. Der Mythos des einsamen, aus inneren Quellen der Kreativität, aus sich selbst heraus Grosses schaffenden, schöpfenden Musikers fällt.

194 Wahrheit hält. Persönliche, individuell erfahrene Wahrheiten äussern sich nach Schibler häufig mit Stimme, Klang und im Gesang des Schmerzes und stossen oft in einer Welt geforderter Anpassung auf heftige Widerstände. In der Kurzgeschichte Der Mime ist der 'Mund der Wahrheit'1 der Mund eines Mimen (welcher Gegensatz!), welcher den von Menschen an Menschen begangene alltägliche, unfassbare Verrat in Worte fasst. Über Wahrheit heisst es in Problematik des Einschleichens: "Endlich wirst du dann im Kreise der Auserwählten stehen, es wird still werden im belü- sterten Saal und du willst anheben und aus dir herausschleudern, was sich jahrzehntelang in dir angestaut hat, die Wahrheit, was endlich und unaufschiebbar geändert werden muss."2 Wahrheit kann sich also in Menschen anstauen, und sie drängt nach Ausdruck, zum genuin künstlerischen Ausdruck nota bene. Die Kunst verwandelt Wahrheit paradoxerweise nicht in Fiktion oder Phantasie im üblichen Sinne (obwohl Kunst selbstverständlich fiktiv ist), sondern zu tieferer Wahrheit, welche sich Tendenzen der Kommerzialisierung sowie der Anpassung verweigert. Die Geschichte fährt deshalb auch fort: "Deinem Mund entfährt die erste Silbe, als dir bewusst wird, dass das Wort dein Anliegen vor ihnen nicht verständlich machen kann, dass sie eine andere Sprache sprechen als du, und du stehst getroffen von der fürchterlichen Einsicht, dass die Wahrheit eine Ware ist, die zwischen den Menschen um den Preis der Nützlichkeit gehandelt wird, und du hast vergessen, was du sagen wolltest."3 Persönliche Wahrheit muss gesungen, erzählt, gedichtet werden, um 'wahr' zu sein. Auch diese poetische Wahrheit steht immer in Gefahr, als Ware, als Unterhaltung, Zerstreuung und Amüsement vereinnahmt zu werden. Schon deshalb gilt 'Wahrheit' nie absolut, sondern muss immer wieder neu errungen werden, sie ist - im Gegensatz zur Postmoderne - weniger ein Produkt des Amüsements und der Unterhaltung, sondern öfters ein Produkt der Not, des Leidens und Mitgefühls. Für Schibler kommt deshalb folgerichtig das 'Tönende aus der Not und Musik von Müssen'. Eine solche Haltung ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit, sie beruht auf Mitgefühl, welches, wie Schibler kritisch anmerkt, ebenfalls nicht hoch im Kurs steht: "Was Deine Töne nährte, dein Mitleid, hatte niemals Kurswert."4 Schiblers musikalische 'Wahrheit' hat zu tun mit verschwiegenen, ungesungenen und ungehörten Lebens-, Schmerzens- und Freudengesängen von Menschen. Schibler kann also gewiss nicht als Anhänger der Postmoderne bezeichnet werden, dazu hielt er zu stark an ethischen Grundwerten fest. Als schöpferischer Mensch ist er sich bewusst, dass er keinen philosophisch-intellektuellen, sondern einen zutiefst kreativen Weg zur Wahrheit anbietet. Als schöpferischer Mensch erschafft er eigene Welt und damit seine

1 Die Kurzgeschichte Der Mime, aus: Texte 1971-74 26. 2 Armin Schibler, Problematik des Einschleichens, aus: Texte 1971-74 30. 3 Armin Schibler, Problematik des Einschleichens, aus: Texte 1971-74 30. 4 Armin Schibler, Problematik des Einschleichens, aus: Texte 1971-74 30.

195 eigene Wahrheit, er bietet anderen Menschen seine Sicht der Wirklichkeit dar, welche berühren und bewegen will.

10.3 Ein Schlusswort

Ich erachte es nicht als meine Aufgabe, das Werk Armin Schiblers abschliessend zu würdi- gen, das soll anderen Zeiten und Menschen überlassen bleiben. Viele Punkte der Kritik an Schibler und seinem Werk werden sich mit zunehmender zeitlicher Distanz als überholt erweisen. So ist es kaum vorstellbar, dass Diskussionen über die musikalische Stilreinheit der 50erJahre auch im 21. Jahrhundert stattfinden, hat doch die Postmoderne dem Stilpluralismus das Tor geöffnet. Ebenso werden Neid und Missgunst verschwinden, die sein Talent, seine Vielfalt, sein Taten- und Schaffensdrang in der kleinräumigen, dem Mittelmass zugeneigten Schweiz erregten (10.1.1, Resonanz auf das Wirken Schiblers). Schiblers Werk ist in Vergessenheit geraten – nicht zuletzt wegen des nach wie vor dodekaphon geprägten E-Musikbetriebs und dem postmodernen Zwang zu Unterhaltung, Zerstreuung und Coolness. Es bleibt zukünftigen Zeiten überlassen, dieses Werk wiederzuentdecken. Solange existentielle, religiöse und ethische Fragen die Menschen umtreiben – sie tun es ja auch in der Gegenwart, wie die Existenz eines umfangreichen Esoterik-Marktes und das Wiedererwachen des philosophischen wie ethischen Interesses beweist – besteht die Aussicht, dass spätere Hörer sich von Schiblers Werk und der genuinen, persönlich ansprechenden Botschaft seiner Musik faszinieren lassen, einem Gesamtkunstwerk, das persönliche Wahrheit künstlerisch vergegenwärtigt, indem es auf eine absolute Erklärung des Seins verzichtet. Ich erhoffe mir, dass die vorliegende Arbeit Leser und Leserinnen neugierig macht, Schiblers Werk vorurteilsfrei mit eigenen Ohren1 zu erhorchen, um selber zu entscheiden, ob und was es ihnen zu geben vermag.

1 Leider existiert auf CD derzeit nur eine Einspielung eines Schiblerschen Werkes, La Folie de Tristan, so dass heutige Hörer das Werk Schiblers nur von Langspielplatten hören können.

196 11 – Discographie- und Literaturverzeichnis

11.1 Discographie

Alle in diesem Abschnitt aufgeführten Schallplatten sind – ausser sie sind vergriffen - über das Armin Schibler-Archiv, Wolfbachstr. 33, CH 8032 Zürich, Schweiz, erhältlich. Schibler, Armin, Fantasia notturna (Sinfonie Nr. 3), Lyrisches Konzert für Flöte und Orchester, Kammerballet Le Prisonnier, AMADEO AVRS 6098 1958. Schibler, Armin, „Greina“ – Kontradiktorisches Hörwerk für Stimmen und Instrumente, Julien-Francois Zbinden, Plaun la Greina, Eulenburg Disc ELSC 01. Schibler, Armin, Concerto 1959 – Musik zu einem imaginären Ballett, ELSC 02. Schibler, Armin, Concert pour la jeuness, op. 76, Konzert für Schlagzeug und Klavier, op. 63a, Ex Libris EL 16505 (vergriffen). Schibler, Armin, Epitaph auf einen Mächtigen (ne horror reveniat), Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen, ELSC 03. Schibler, Armin, Konzertantes Duo, Armin und Tatjana Schibler spielen Armin Schibler, 1. und 3. Streichquartett, ELSC 04. Schiber, Armin, Vier Schweizer Solisten spielen Armin Schibler, „Remanebit misterium incommutabile“ für Orgel, „Fantaisie Concertante“ für Harfe allein, „Un homme seul“ für Gitarre allein, Tokkata für Klavier, ELSC 05. Schibler, Armin, Werkspur 1949 – 1980, Passacaglia für grosses Orchester, Konzertante Fantasie, Der da geht, ELSC 06 1980. Schibler, Armin, Schweizer Orchester spielen Armin Schibler, Lyrisches Konzert für Flöte und Orchester op. 40 (1953), „Iam manet ultima spes“ (sechs Stücke für Streichorchester op. 92 (1968), Double Concerto für Flöte, Harfe und Orchester op. 83 (1965/66) DA CAMERA MAGNA SM 91501. Schibler, Armin, Messe für die gegenwärtige Zeit, PAN 130031 1981. Schibler, Armin, Media in Vita. Sinfonisches Oratorium nach Gedichten von C.F. Meyer, PAN-Disc 130 066, Zürich 1982. Schibler, Armin , La Folie de Tristan, Mystère Musical, PAN-Disc, Ex Libris und Pan- Verlag 1983, Zürich. Schibler, Armin, La Folie de Tristan, Mystère Musical, CD Jecklin-Edition, JD 695.2, 1994. Schibler, Armin, My own Blues, Rolf Wangler, Gitarre, Da Camerra 95041. Schibler, Armin, Un homme seul op. 77a und The black Guitar, auf: Han Jonkers, While my guitar was gently weeping, Cadenza 800 914.

197 11.2 Veröffentlichte Schriften Armin Schiblers

Schibler, Armin, Zur Oper der Gegenwart, Bodensee-Verlag Amriswil, Amriswil 1956 Schibler, Armin, Der E-Komponist und die U-Musik, ex libris Heft Nr. 5, Mai 1968, Zürich. Schibler, Armin, Die Musik im Leben des Menschen. SJW-Heft undatiert. Schibler, Armin, Texte 1971 - 74, Verlag Eulenburg, Adliswil/Zürich 1975. Schibler, Armin, Antoine und die Trompete, Texte 1975 - 82, Alkun-Verlag, Adlis- wil/Lottstetten, 1982. Schibler, Armin, Das Werk 1986, Selbstdarstellung - Werkliste und Werkdaten - Doku- mente zur Realisation - Werkstattexte - Biographisches, Adliswil und Lottstetten 1985. Musiknoten: Ausführliche bibliografische Angaben in Das Werk 1986 und Lasserre, Jacques, Werkverzeichnis von Armin Schibler.

11.3 Unveröffentlichte Schriften Armin Schiblers

Alle Artikel und unveröffentlichten musiktheoretischen Schriften (ausgenommen Tagebücher) befinden sich im Archiv der Paul Sacher Stiftung Basel. Schibler, Armin, Überlegungen zur Uraufführung von La Folie de Tristan, unveröffent- lichtes Manuskript, undatiert. Schibler, Armin, Selbstdarstellung, undatiert. Schibler, Armin, Ein paar Gedanken zur 'Inneren Biographie', undatiert. Schibler, Armin, Zur Zwölftontechnik: Aspekte und Erfahrungen, undatiert. Schibler, Armin, Aspekte einer Begegnung von Sinfonik und Jazz, undatiert. Schibler, Armin, Vom Volkslied zum Schlager - Das zeitkritische Lied, undatiert. Schibler, Armin, Die Gegenwart im Spiegel der Musik, undatiert. Schibler, Armin, Der Terror im Kunst- und Musikleben von heute, undatiert. Schibler, Armin, unveröffentlichte Tagebücher 1944 - 1966, Armin Schibler-Archiv Zürich. Schibler, Armin, Rundschreiben Ferienkurse, 1953 Paul Sacher Stiftung, Basel. Schibler, Armin, 'Aktualität' und 'Zeitlosigkeit' in der Musik, Bauriss vom 23. Mai 1957, Libertas et Fraternitas Zürich. Schibler, Armin, Gustav Mahler heute, Jan. 1962.

198 Schibler, Armin, Komponisten in eigener Sache, Manuskript für Radiosendung Bayrischer Rundfunk München, 11.2. 1965. Schibler, Armin, Zur Eröffnung der Aula Rämibühl, Frühling 1971. Schibler, Armin, Die Gefährdungen des individuellen geistigen Lebens in der heutigen Zeit - Einsichten und Anregungen. 1972. Schibler, Armin, Die Gefährdung des individuellen geistigen Lebens in der heutigen Welt, Einsichten und Anregungen 1972. Schibler, Armin, Grenzgang zwischen Musik und Sprache, Manuskript zu seiner gleich- lautenden Radiosendung, Koproduktion mit Peter Keller, Radio Basel 1973. Schibler, Armin, Vom Körper zum Schlagzeug - rhythmisch-kreative Grundschulung in der Schulklasse mit dem Körperschlagspiel. Edition Eulenburg Adliswil-Zürich 1973. Schibler, Armin, Zur Problematik musikalischer Resonanz, Manuskript zur Radiosendung 'Resonanzen' 1979. Schibler, Armin, Ein Blick in meine Werkstatt - Der Komponist A.S. erzählt. Manuskript zur Schulfunksendung 'Aus der Werkstatt eines Komponisten', 1979. Schibler, Armin, Neue Musik und das Tanztheater, 1985.

11.4 Sekundärliteratur zu Armin Schibler

Briner, Andres, Schibler, Armin, 1920 - 1986, Zur Musik, 175. Neujahrsblatt der Allge- meinen Musikgesellschaft Zürich, Zürich 1992. Häsler, Alfred A., Musik der Hoffnung, Gespräch mit dem Komponisten und Musikerzie- her Armin Schibler, ex libris Zürich März 1982. Klausmeier, Friedrich, Laudatio zur Kunstpreisübergabe, 1985. Lasserre, Jacques, Werkverzeichnis von Armin Schibler, Edition Kunzelmann, Lottstet- ten/Adliswil. Metzger, Hans-Rudolf, Schibler, Armin, 1920 - 1986, Leben und Persönlichkeit, 174 Neujahrsblatt der Allgemeinen Musikgesellschaft Zürich, Zürich 1991. Schibler, Tatjana, Doppelfuge 1 - 4, unveröffentlichte Lebenserinnerungen in vier Bänden, im Besitz der Autorin, Armin Schibler-Archiv Zürich.

199