DAV Panorama 4/2012

Kleiner Mensch in großen Bergen: Der Autor genießt am Ausstieg der Roseg-Nordostwand den Blick übers . Ameisen im Ballsaal Bergsteigen in der Bernina , Piz Palü, Biancograt – allein die Namen wecken Traumbilder bei vielen Hochtouristen. Die Realität ist noch besser. Aber manchmal auch härter …

Text von Christoph Willumeit, Fotos von Ralf Gantzhorn

ie konnte ich diesen weißen Linie des Biancograts, der jetzt Anblick vergessen: das in der blauen Stunde in gleichmäßiger wunderschöne grüne Val und puderiger Schönheit daliegt. Vor Roseg, die Eisströme von 25 Jahren war ich mit meinen Eltern Tschierva-W und Roseggletscher, rechts hier an der Fuorcla Surlej zum Skifah- die weiten Gletscherflächen der Sella- ren, heute, an einem strahlenden Früh- gruppe und direkt gegenüber das Boll- sommerabend, bin ich zurück. werk dreier Fels- und Eisberge: die So früh im Jahr haben wir den große Eiswand des Piz Roseg, der ge- ganzen gemütlichen Winterraum der zackte Grat des und der Coazhütte für uns und aalen uns in elegante , profiliert von der der Sonne auf der kleinen Terrasse.

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Die Überschreitung der Sella-Grup- auf. Zunächst im Stockdunklen an der pe beginnt glorios: strahlender Son- Flanke des entlang, dann nenschein und blauer Himmel, die über loses Blockgeröll auf den Glet- Landschaft eine sanft geschwungene, scherboden. Ich werde mich nie da- weiße Pracht, vom Piz Glüschaint ein ran gewöhnen, nachts auf Gletschern großartiger Rundblick. Aber in der herumzulatschen. Man weiß nie, was Frühlingssonne verwandelt sich der hinter dem geizig-kurzen Lichtkegel morgens noch begehbare Harsch in der Stirnlampe auf einen wartet. Sulz, unter dem Sella-Gipfel brechen Am Felssporn des Piz Umur, der wir selbst mit Schneeschuhen im- Tschierva- und Scerscengletscher trennt, mer wieder knietief ein. Schluss! Zu- biegt ein Bergführer mit seinem Gast rück zur Hütte, und am gleichen Tag Richtung Scerscen ab; sie wollen die hinunter ins , durch schau- „Eisnase“ machen, die klimabedingt migen Cappuccino-Firn von einem ehemals ed- wühlend, gewürzt mit len Zinken leider zu ei- Schweiß und Flüchen. Die Gipfel sind in ner platten Boxernase de- Wir hoffen auf neue ein unwirklich zartes gradiert wurde – ähnlich Hochtourenziele: Von der Audrey-Hepburn-Pink wie andere einst stolze Hüttenterrasse der Tschier- getaucht. Eisstrukturen hier. In der vahütte aus beob­ achten­ einsetzenden Dämme- wir zwei Seilschaften in der Roseg- rung strahlt das Gletscherfeld ein selt- Nordostwand. Trotz Sonnenschein sam durchsichtiges und fast mysti- erschauere ich beim Anblick die- sches Leuchten ab. ser kleinen, verletzlichen Ameisen Ralf und die anderen beiden Seil- in dem riesigen Eisschild. Vielleicht schaften sind derweil schon fast am sollten wir uns vorher lieber ein wenig Fuß der Wand. Ich gelobe, künftig fit machen … Konditionstraining zu machen, wo- Zimmer und Gipfel mit Aussicht: Vom Piz rauf in meinem Inneren ungläubiges Morteratsch überschaut man im Morgen- Gelächter aufbrandet. Jetzt sind der rot die gesamte Bernina-Parade. Durch die Morteratsch: Vorfreude geweckt Fenster der Tschiervahütte dräut die Roseg- Gipfel und der verschneite Neben- Nordwand herein; der Gipfelgrat belohnt Am nächsten Tag gibt es also ei- gipfel des Roseg in ein unwirkliches mit nettem Fels und Weitblick. ne Gletscherwanderung mit harm- Pink getaucht, dessen Zartheit eher zu loser Kraxelei auf den Piz Tschierva Audrey-Hepburn-Filmen passt als in und tags darauf einen Ausflug auf den krachlederne Bergwelten. Vom Wand- auch nicht viel schwierigeren Piz Mor- fuß hat man einen recht klaren Blick teratsch, der als Aussichtsberg auf die auf die Wand, die zwar an den steilsten Berninagruppe einfach unschlagbar Stellen „nur“ sechzig Grad Neigung ist. Im Sonnenaufgang auf dem Gipfel hat, aber doch sechshundert Meter flüstern wir nur ob der wilden Schön- hoch und breit ist – das Ameisen-Mo- heit, die uns umgibt. Ralf fotografiert tiv steigt wieder vor meinem geistigen den Biancograt in allen Rosa-Abstu- Auge auf. Um mich herum aber unge- fungen, die das morgendliche Licht auf die berühmte Firnlinie projiziert. Das wäre das ideale Ziel für morgen, zumal das Wetter schön bleiben soll. Aber es ist Wochenende, und rund vierzig Hüttengäste spitzen auf den Bi- ancograt – wir sind uns einig, dass die Teilnahme an solcherlei Völkerwande- rungen mit Staugefahr strikt abzuleh- nen ist. Also doch die Roseg-Wand? Drei Uhr morgens. Ich habe kein Auge zugekriegt. Aufregung. Nervosi- tät. Fröstelnd, nicht nur vor Kälte, trete ich in die sternenklare Nacht hinaus. Drei weitere Seilschaften brechen mit

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rührt geschäftiges Steigeisenanlegen, fuß verwandeln würde. Es ist kaum zu ten im dritten Grad ein Klacks. Im Eisäxtezücken und Zähnefletschen. fassen, aber ich habe keinen Blick für nächsten Firnfeld das gewohnte Bild: Bis ich endlich so weit bin, rennen die Natur, die mit einem hinreißenden keiner zu Hause. Nur Eisfragmente und die anderen schon die Wand hinauf, Sonnenaufgang gerade alles gibt, um gelegentlich vorbeipfeifende Steine be­ als gäb’s oben was umsonst. Riesige uns zu beeindrucken, während Ralf legen, dass ich nicht ganz allein in der Eisbrocken bilden eine Art zusam- von oben hämisch fotografiert. Doch, Wand bin. Von dem schönen Ge- mengepuzzelte Brücke über den Berg- das geht, hämisch fotografieren, zu- danken aufgerichtet, nunmehr in ein schrund. Nach hundert Metern auf mindest wenn der Akteur weit drau- echtes Abenteuer verwickelt zu sein, wunderbarem Firn, der nur gelegent- ßen auf einer Eisplatte herumturnt, dessen Ausgang weder von meinem lich von den schwarzen Pfeffernarben die in etwa so solide und stabil ist wie gesellschaftlichen Ansehen noch von des Steinschlags verunziert ist, führt ein gefrorener Mürbekeks. meinem Kontostand oder meiner kri- eine Eispassage zum ersten Felsrie- minellen Energie abhängt, stapfe ich gel. Dünnes Eis liegt plattig und brü- Schritt für Schritt weiter. Ein Gerät chig auf dem Fels auf. Man darf nicht Roseg: verlassen in der Wand reinhauen, dann das andere, Füße hö- zuhauen mit den Eisäxten, sondern Auf dem Felsriegel beschäftige ich her setzen; Prozedur wiederholen. sie nur ganz vorsichtig in Löcher ha- mich einige Minuten mit der Empfeh- Technisch und intellektuell keine be- ken. Vielleicht ein bisschen heikel und lung eines Bergheroen, sich „Zeit zum sonders große Herausforderung, aber wackelig das Ganze – vor allem mit et- Atmen“ zu nehmen. Nach Umkur- dennoch sorgfaltspflichtig. Ich stehe wa 120 Meter Luft unter meinem Para- vung eines kleinen Hängegletschers mittendrin. Das Erhabene, das ich von dearsch und ohne Seil. Aber viele Al- kommt eine Felspassage, der reinste unten oder von ferne nur erschauernd ternativen zum Weiterklettern gibt es Kinderkram: Für jemanden, der sich in und sehnsüchtig betrachten kann, hat nicht, außer Loslassen, was mich in den Dolomiten schon im siebten Grad seine Larger-than-life-Qualität verlo- ein Goretex-Fleece-Püree am Wand- gefürchtet hat, ist ein bisschen Fürch- ren. Das ist jetzt das Leben – sehr direkt

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und ohne Schleier. Ich bin der Protago- Meditationstechniken­­ erreichbar.) Auf nist in meinem ganz eigenen Bergdra- dem Hauptgipfel treffe ich Ralf wieder: ma, nur guckt keiner zu. Oder viel- Handschlag, ein Lächeln, dann zurück leicht doch: Vielleicht bin ich gerade über den Gipfelgrat, einen Schnee- die Ameise für jemanden, der von der hang, abseilend über den Eselsgrat Terrasse der Hütte aus mit wohligem zum Gletscher, und bald ist man wie- Schauer meinen mühsamen Progress der so weit, dass fettige Hände vom durch die riesige Wand verfolgt? Sonnencremenachtrag als ernstes Pro- Auf dem Vorgipfel müsste in mei- blem empfunden werden. Die Hütte nem Inneren eigentlich eine Großkund­ ist wieder leer, weil die Wochenendler gebung nebst Tanz in den Straßen statt- via Biancograt abgereist sind. finden – aber was fühle ich? Nichts. Ich sitze im Schnee, trinke Wasser, esse Landjäger und Käse und fühle Bernina: vom Sturm gepeitscht mich gut, nichts zu fühlen. (Aller- Am nächsten Morgen, wieder um dings sind solcherlei Zustände auch drei Uhr früh, ist es zwar windig und mit deutlich weniger aufwändigen bewölkt, aber man sieht einige Sterne.

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Einsamkeit in der Eiswelt: Also auf zum Biancograt! Der Glet- man sei an diesem Punkt der Marco-e- Beim Abstieg vom Piz Roseg (oben) ist die feine Firnlinie des scher unterhalb der Fuorcla Prievlu- Rosa-Hütte auf der anderen Seite des Biancograts immer im Blick. sa ist ein designiertes Auffangbecken Grates ohnehin näher als der Tschierva, Im rosa Morgenlicht verspricht für Steinschlag; wir rennen den Firn- also könne man genauso gut weiter- sie Genuss – aber die Eisschicht auf der Marco-e-Rosa-Hütte hang zur Scharte hinauf, um dieser al- gehen. Das tun wir auch; die Wolken zeugt von der Gewalt des pinen Selbstschussanlage möglichst hüllen uns komplett ein und wir sind Schneesturms. Für den Abstieg schnell zu entkommen. Oben schlägt allein hier oben. über die Bellavistaterrasse ist gute Sicht wichtig. uns der Wind entgegen, dass die Ga- Tief geduckt kämpfen wir uns ge- maschen nur so flattern. Es ist hell ge- gen den Wind den Firngrat voran zum worden, aber das Wetter klart nicht Biancogipfel. Bei der Felskletterei am auf, sondern wird schlechter. Am Be- Grat zum Piz Bernina zerrt der Sturm ginn der Gratkletterei machen sich so heftig an uns herum, als wolle er zwei junge Männer an uns wie eine riesige, un- einem Felstürmchen zu sichtbare Klaue vom Grat schaffen, als ob sie es mit Als Eismumien reißen. Auf dem Gipfel ihrem Seil so einwickeln erreichen wir den Fuß gehen wir ohne Hand- wollten, dass es nicht des Spallagrats im schlag weiter; er wäre entwischen kann. Als wir to­talen White-out. ver­­früht, solange wir den Beginn des eigent­ nicht auf der Hütte sind. lichen Biancograts erreichen, hat sich Ein etwas verwahrlost aussehendes das Wetter endgültig entschieden und Schlangennest aus alten Schlingen er- ist von „zickig“ zu „definitiv wütend“ weist sich als falsche Abseilstelle; mit übergegangen: Der Wind pfeift uns in Pickel und Seil wühlt sich Ralf wieder Sturmstärke um die Ohren. Ein bay­ herauf, als ein Windstoß für ein paar erischer Bergführer mit Gast und zwei Sekunden das heulende Weiß auf­ Schweizer kehren um; Ralf meint, reißt, finden wir einen soliden Metall- ring. Als Eismumien, komplett von Schnee überkrustet, erreichen wir den Fuß des Spallagrats im totalen White­ out: Selbst die eigenen Füße sind nur schwer zu erkennen. Jetzt beginnt der spannende Teil der Veranstaltung: die Hütte zu finden. Karte und Kompass werden hervorge- holt, ein Kurs bestimmt, Ralf geht über den Kompass geduckt voraus. Nach zwei oder drei Metern verschluckt ihn die weiße Watte, das Seil verschwin- det im Nichts, vom Wind zitternd wie ein Stromkabel unter Hochspan- nung. Nach einer mulmigen halben Stunde erhöht Ralf beträchtlich das Tempo, aber erst aus rund zehn Meter Entfernung kann ich das Rifugio Mar- co e Rosa als dunklen Schatten aus- machen. Die beiden Hüttenwirte gu- cken uns an wie Verrückte. Der Sturm tobt noch 36 Stunden weiter, wird so- gar noch schlimmer, so dass die ganze Hütte wackelt, aber das Essen ist blen- dend, die Musik gut und Wein hat es auch in ausreichender Menge. Am übernächsten Morgen wüh- len wir uns bei strahlendem Sonnen- schein durch kniehohen Neuschnee über die Bellavistaterrassen. Ein paar-

43 mal sprinten wir regelrecht über la- Cambrena mit seiner „Eisnase“ und Bernina-Hochtouren winenverdächtige Hänge hinweg, je- danach, wenn das Wetter es zulässt, Die Berninagruppe, oft mit südalpin gutem den Moment mit dem scharfen Knall der Piz Palü. Die -Bahn Wetter gesegnet, bietet Hochtouren jeden rechnend, der das Lösen eines Schnee- baggert uns nach oben zur geräumigen Kalibers, von der gehobenen Gletscherwan- bretts ankündigt. Ralf verschwindet Bergstation, die voll auf die skifahren- derung bis zu anspruchsvollen Klassikern. zur Hälfte im Boden, ich ramme den den Wintergäste ausgelegt ist. Wir Meist sind die Verhältnisse ab Mitte/Ende Pickelstiel ein, aber mit engagierten stehen früh auf, damit uns das warme Juni gut; ab August ist mit mehr Blankeis Schwimmbewegungen befreit sich Wetter keinen Strich durch die Rech- und ausgeaperten Stellen zu rechnen. Hüttenöffnungszeiten Juni bis Oktober. mein Seilgefährte aus der unter ihm nung macht. Aber schon vom Pers- gähnenden Spalte. Nach dem Absei- gletscher aus ist zu sehen, dass wir uns Talort: len über den Fortezzagrat be­ginnt ei- über zu viel, zu tiefen oder zu weichen , 1805 m, an der Straße von St. ne übermütige Talfahrt, jauchzend Schnee keine Gedanken machen müs- Moritz zum Berninapass. Bahnverbindung auf dem Hosen­boden. sen: Der Grat zum Cam- durch Inntal und Engadin. Per Pkw durchs Der Übermut wird et- brena ist gänzlich freige- Engadin oder von Chur über den Julierpass. was gedämpft durch den Scharf wie eine Messer- blasen – nur blanker Fels. Anblick des ausgeaper- schneide führt der Und die berühmte Eis- Tourist-Info: ten, traurig-grauen Mor- Zuckerbäcker-Grat durch nase hat sich genauso in Via Maistra 133, CH-75094 Pontresina, teratschgletschers, dem den blauen Himmel. Tropfen aufgelöst wie ih- Tel.: 0041/(0)81/838 83 00, man beim Schrumpfen re Schwester drüben am Fax: 0041/(0)81/838 83 10, [email protected], pontresina.ch förm­lich zusehen kann. Auf der Ter- Scerscen – selbst der entschlossenste rasse der Bovalhütte werden uns neu- Eingriff eines göttlichen Schönheits- Hütten gierige Blicke zuteil, denn mit unseren chirurgen kann hier nichts mehr ret- n Coazhütte (2610 m), 5 Std. v. Pontresina, sonnenverbrannten Gesichtern, un- ten, höchstens eine neue Eiszeit. So ist 1 2 /2 Std. von Corvatschbahn; seren Bärten, den auf die Rucksäcke die Tour leider ihres Höhepunkts be- Tel.: 0041/(0)81/842 62 78, geschnallten Eispickeln und Steigei- raubt: Wo es früher ein oder zwei inte- [email protected], coaz.ch sen verbreiten wir klischeehafte Berg- ressantere Eisseillängen gegeben hat, n Tschiervahütte (2583 m), 4 Std. von steigerromantik. Ein Mitglied einer Pontresina; Tel.: 0041/(0)81/842 63 91, belgischen Wandergruppe fragt uns [email protected] ehrfürchtig, wie wir denn den Sturm n Bovalhütte (2495 m), 2 Std. v. Station da oben überlebt hätten. Wir erwi- Morteratsch an der Berninastraße; Tel.: dern, Wein und Käse seien so gut 0041/(0)81/842 64 03, [email protected] n Berghaus Diavolezza (2973 m), gewesen, dass rein kulinarisch zu Seilbahn von der Berninastraße; keinem Zeitpunkt Lebensgefahr be- Tel.: 0041/(0)81/839 39 00, standen hätte. [email protected], diavolezza.ch Was jetzt noch fehlt, ist die ande- re Seite: der Nordwestsporn des Piz Touren n Piz Glüschaint (3594 m) – La Sella (3584 m), Normalwege F, Gletschertouren, 3 Std. v. Coazhütte (1000 Hm), Überschreitung der gesamten Gruppe AD, III-, 7-8 Std. n Piz Tschierva (3546 m), F, Gletschertour, 3-4 Std. v. Tschiervahütte (950 Hm) n Piz Morteratsch (3751 m), PD, II, 45°, 4-5 Std v. Boval (1250 Hm) oder Tschierva (1150 Hm) n Piz Roseg (3937 m), Nordostwand, AD+, 55°, III, 7-9 Std. v. Tschiervahütte, 1400 Hm n Piz Roseg (3937 m), Eselsgrat, AD, III, 45°, 6-8 Std. v. Tschiervahütte, 1400 Hm n Piz Scerscen (3971 m), Eisnase, AD, III, 50°, 7-8 Std. v. Tschiervahütte, 1500 Hm n Piz Bernina (4049 m), Biancograt, AD, III, 50°, 7-8 Std. v. Tschiervahütte, 1500 Hm n Piz Cambrena (3604 m), Eisnase, PD, 45°, 4-6 Std. v. Diavolezza, 700 Hm n Piz Palü (3901 m), Überschreitung O-W, PD, II, 50°, 6-7 Std. v. Diavolezza, 1000 Hm

44 Hohe Laufstege für Kenner und Könner: Der DAV Panorama 4/2012 Bernina | Unterwegs Übergang vom Ost- zum Hauptgipfel des Piz Palü ist noch gemütlich; die Fortsetzung wird span- nender. Die Sonnenterrasse der Diavolezzahütte kombiniert kulinarische und optische Genüsse; der Biancograt zeigt sich hier aus neuer Perspektive, aber nur scheinbar flach.

ihm aber auch nicht zu den fehlenden zu gehen, nur ein leises Lüftchen und 99 Metern verhelfen konnte, die ihn das Geräusch der eigenen Schritte im zum Viertausender machen würden. Ohr. Vom Westgipfel seilen wir wie- Es bleiben also allein seine Wuchtig- der über den Fortezzagrat ab – und keit und die bestechende Symmetrie erreichen nach dem übl(ich)en Ge- seiner drei Pfeiler, die ihn zu einem genanstieg gerade noch die letzte Seil- Ziel für Bergsteiger machen. bahn an der Diavolezza. Wir schauen uns noch einmal um, nach dieser unwahrscheinlichen Palü: krönende Gratwandelei Landschaft, die wir in den letzten Eigentlich wollen wir über den Ost- Tagen durchstreift haben. Und ne- pfeiler aufsteigen, aber weil das unna- ben dem üblichen Besitzerstolz auf türlich warme Wetter Lawinen- und die alpi­nistischen Neuerwerbungen Eisschlaggefahr bedeutet, bescheiden ergreift uns eine gewisse Wehmut: wir uns mit der Überschreitung. Bis Überall drauf gewesen, war das jetzt zum Hauptgipfel ist es ein etwas müh- das Ende? Für mich steht fest: In ganz samer Gletscherspaziergang, häu- unverhohlener Sentimentalität wer- fig tief durch den Firn einbrechend. de ich wieder einmal hierherkommen, Der Grat vom Haupt- zum Westgip- um mich zu fühlen wie eine Ameise – marschiert man heute aufrecht über fel allerdings stellt hohe Anforderun- mitten in diesem Chaos aus Schnee, leicht geneigtes Gelände. gen an physische und mentale Balan- Eis und Fels, diesem pathetisch- Der Palü aber steht noch aus, dieses ce: Scharf wie eine Messerschneide schönen Landschaftswunder, das die Trumm, das seinen mythischen Ruf führt diese göttliche Zuckerbäckerei Bernina immer bleiben wird. o ja auch Arnold Fanck und Leni Rie- etliche hundert Meter durch den blau- Zwei Preußen für die Alpen: In seinem Buch „Wie fenstahl verdankt, die diesen eigent- en Himmel, während rechts und links man Kletterer wird“ (Panico Verlag) beschreibt Chris­ lich nicht so schwierigen Gipfel mit Abgründe durchaus gähnen. Dennoch toph Willumeit noch mehr seiner speziellen Begeg- nungen mit den Bergen. Ralf Gantzhorn fo­to­grafiert dem Film von der „weißen Hölle“ in ist es ein Genuss, wenn auch ein vor- bevorzugt die wildesten Flecken von Patagonien, wildem Pathos überhöht haben. Was sichtiger, über dieses Naturwunder aber gern auch alpine Klassiker in Fels und Eis.

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